Dr. Alexander Berzin: Vortragsreisen & Projekte für Seine Heiligkeit den Dalai Lama

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Weltweite Vortragsreisen 

Schon bald nach Serkong Rinpoches Tod wurde auch ich eingeladen, in vielen der Dharma-Zentren Vorträge zu halten, an denen wir zusammen waren und schließlich wurde ich auch von anderen Zentren in Westeuropa, Nordamerika, Australasien und Südasien eingeladen. Sogar die tibetische Gemeinschaft, die wir in Lindsay, Canada, besucht hatten, lud mich ein und bat mich, zu ihren Kindern über den Dharma zu reden, da die Kinder keinen Bezug zur der traditionellen Weise hatten, wie er von den Geshes dargestellt wurde. 

Im Laufe der vielen Jahre, in denen ich auf solche Vortragsreisen ging und fast immer allein reiste, betrachtete ich sie als Bodhichitta-Retreats. Wenn ich in Dharamsala Hindernisse und geistige Blockaden beim Übersetzen eines Textes oder beim Schreiben eines Buches hatte, wusste ich, dass ich mehr positive Kraft (so genanntes „Verdienst“) aufbauen musste, um diese Blockaden zu durchbrechen. Anderen den Dharma als Geschenk darzubringen, war die perfekte Weise dies zu tun. Meine persönliche Erfahrung ist, dass es funktioniert und ich habe es seitdem stets als Richtlinie betrachtet. 

Einmal entschied ich mich zu versuchen, eine meiner Reisen mit einem Assistenten zu machen und so lud ich meinen indischen Nachbarn Rajinder Dogra ein, mich zu begleiten. Letzten Endes entschloss ich mich jedoch, dass es besser war, allein zu reisen. Rajinder lehrte im tibetischen Kinderdorf in Lower Dharamsala und lebte in einer baufälligen Gartenhütte im Garten unterhalb meiner Hütte. Durch das Teilen eines gemeinsamen Wasserhahns waren wir Freunde geworden. Seine Hütte war undicht und hatte mehrere Löcher in den Wänden und so wohnte er während mancher Winterstürme bei mir und wärmte sich an meinem elektrischen Heizer. Als er für zwei Jahre in Bangkok, Thailand, lebte, wohnte ich im Gegenzug bei ihm, um den kalten Winterwochen in Dharamsala zu entfliehen. In diesen Tagen hatte ich einen Hund, der Tsultrim hieß. Wenn ich nicht da war, brachte ich Tsultrim zu der Familie von Rajinders Verlobten Renu, die eine örtliche Lehrerin war. Ich lernte viel über die indische Dorfgemeinschaft, indem ich meine Freizeit mit Rajinders und Renus Freunden und ihren Familien verbrachte. 

Im Laufe der Jahre, in denen ich weltweit in den Dharma-Zentren unterrichtete, hielt ich Seine Heiligkeit stets darüber auf dem Laufenden, wie sich diese Zentren entwickelten. Vielleicht schickte mich Seine Heiligkeit deshalb auch nach Südindien in die Klöster Ganden, Drepung und Sera zu den Mönchen, die anstrebten, im Westen Lehrer und Übersetzer zu werden. Ich erklärte ihnen, was sie dort erwarten würde und wie sie sich vorbereiten konnten [Siehe: Rat für Tibeter bevor sie im Westen unterrichten]. Ich wurde auch gebeten, für junge Tibeter, die gern Dharma-Übersetzer werden wollten, ein Seminar über Methoden des Übersetzens zu geben, was ich mit Freude in Delhi tat [Siehe: Bericht über ein Arbeitstreffen für Tibeter, die den Dharma übersetzen].

Beginn des Lehrens in kommunistischen Ländern 

Bei der Kalachakra-Initiation, die Seine Heiligkeit 1985 in Rikon in der Schweiz erteilte und bei der ich gebeten wurde, jeden Tag Erklärungen dazu zu geben, kam eine tschechische Frau auf mich zu, die aus ihrem Land geflohen war. Sie sagte mir, dass es in der Tschechoslowakei viele Menschen gab, die ein Interesse am Buddhismus aber keinen Zugang zu den Lehren hatten und fragte mich, ob ich einmal hingehen könnte, um sie kennenzulernen. Serkong Rinpoche reiste immer an abgelegene Orte, die niemand besuchen wollte, um zu lehren. Er begab sich sogar mit dem Yak zur indo-tibetischen Grenze in Spiti, um den tibetischen Soldaten in der indischen Armee Belehrungen zu erteilen. Ich wollte seinem Beispiel folgen und so willigte ich trotz der möglichen Gefahren ein, als ein Amerikaner illegale „religiöse“ Aktivitäten hinter dem Eisernen Vorhang auszuführen.  

Die erste Reise, die ich wenige Monate später unternahm, war erfolgreich und es sprach sich in anderen osteuropäischen Ländern herum, dass ich bereit war dorthin zu kommen und verdeckt Belehrungen zu geben. Schnell bekam ich Einladungen und im darauffolgenden Jahr reiste ich in fast all diese kommunistischen Länder. Wo immer ich auch hinging, überall war es riskant. Ich erinnere mich, dass ich die tschechisch-polnische Grenze zu Fuß überqueren und mich darauf verlassen musste, dass mich die Leute, die mich eingeladen hatten, am Ende der Straße abholen würden. Um keinen Verdacht zu erwecken, änderten wir jeden Tag den Ort unserer Treffen und manchmal hatten wir Bierflaschen neben uns stehen und gaben vor, Karten zu spielen, falls die Polizei an die Tür kommen würde. 

Der einzige Ort, an dem ich Probleme bekam, war allerdings ein paar Jahre später Kuba. In dieser Zeit war die Nahrungsmittelsituation katastrophal und in manchen unserer Treffen gab es lediglich Kräcker und Mayonnaise zum Essen. Nach meinem zweiten Besuch wurde ich von zwei großen und gefährlich aussehenden Polizisten abgeführt und verhört, als ich am Flughafen für meinen Flug nach Kanada einchecken wollten (Amerikanern war es nicht erlaubt, nach Kuba zu gehen und aus Amerika gab es keine Flüge). Einer der Leute, die an unseren Treffen teilgenommen hatten, war ein Informant gewesen, der daraufhin mit einer größeren Nahrungsmittelration belohnt wurde. Die Polizisten hatten die Namen von allen, die zu unseren Treffen gekommen waren, und sogar eine Aufnahme einer unserer Sitzungen. Es war schlimm genug, dass es illegal war, was ich tat, aber noch schlimmer war, dass ich es als Amerikaner getan hatte. Nachdem sie mir furchtbare Angst eingejagt und verboten hatten, jemals nach Kuba zurückzukehren, brachten sie mich wieder zum Flugzeug zurück, kurz bevor es losflog. 

Sobald ich in Montreal gelandet war, kontaktierte ich das Privatbüro in Dharamsala und bat die Leute dort, Seine Heiligkeit zu informieren und um Gebete zu bitten, damit meine Schüler keine Probleme bekommen würden. Zum Glück wurde niemand verhaftet. Im darauffolgenden Jahr kam dann in Mexiko City einer der Kubaner, die bei meinen Belehrungen gewesen waren, zum Dharma-Zentrum, an dem ich lehrte. Die Situation war recht heikel, da es ganz offensichtlich der Informant war, aber keiner von uns sagte etwas. Als ein Künstler war er zusätzlich belohnt worden, seine Arbeiten in Mexiko ausstellen zu dürfen. 

Knüpfen erster Kontakte für Seine Heiligkeit und die Tibeter 

Am Ende meiner ausführlichen Osteuropatour im Jahr 1987 kam ich nach Dharamsala zurück und bekam eines Tages, als ich über alle meine Reiseerfahrungen nachdachte, eine Idee. Ich erinnerte mich daran, wie Serkong Rinpoche einen ersten Kontakt für Seine Heiligkeit mit Papst Johannes Paul II knüpfte und dachte, dass es vielleicht hilfreich wäre, wenn ich etwas Ähnliches versuchen würde. Mit meinem Harvard-Doktortitel könnte ich an den Universitäten in der kommunistischen Welt und vielleicht in anderen nicht-westlichen Ländern, wie Lateinamerika und Afrika Vorträge halten. Auf diese Weise könnte ich für Seine Heiligkeit erste Kontakte mit Akademikern und vielleicht auch mit religiösen und politischen Anführern dieser Länder knüpfen. Als Flüchtlinge hatten die Tibeter keine richtigen Reisepässe, sondern nur indische Reisedokumente für Flüchtlinge. Um ein Visa für irgendein Land zu bekommen, brauchten sie eine Einladung und sie kannten in diesen Ländern noch niemanden. Außerdem wusste ich, dass die Tibeter die Unterstützung dieser Länder bei den Vereinten Nationen benötigten. 

In den nächsten Jahren unternahm ich umfangreiche Reisen um die Welt und knüpfte Kontakte für Seine Heiligkeit. Ich habe Vorträge zu einer großen Auswahl buddhistischer Themen und über die tibetische Kultur gehalten, zuerst in der kommunistischen Welt, dann in ganz Lateinamerika, den englischsprachigen Ländern von Süd- und Ostafrika, dem Mittleren Osten und nach dem Zerfall der UdSSR in den meisten der ehemaligen europäischen und zentralasiatischen Sowjetrepubliken – in insgesamt etwa siebzig Ländern. Während dieser Reisen habe ich auch weitere Vorträge in Dharma-Zentren und gelegentlich an Universitäten in den westlichen Ländern und Südostasien gehalten. Mehrere wohlhabende Förderer, die von meinen Tätigkeiten erfahren haben, boten mir die notwendige finanzielle Unterstützung dafür an. 

Alle Vorkehrungen für diese Reisen habe ich selbst getroffen, indem ich das ABC-Buch des Flugverkehrs im örtlichen Reisebüro in Dharamsala nutzte. Das war lange bevor man Flüge am Computer buchen konnte. Für gewöhnlich kaufte ich mir ein Volltarif-Flugticket für eine Hin- und Rückreise nach Santiago in Chile, mit dem man mit allen Fluggesellschaften fliegen und unbegrenzt viele Zwischenstationen einlegen konnte, und fügte 15% Flugkilometer hinzu. Der einzige Vorbehalt war, dass ich nicht an Orten landen konnte, an denen der Preis für einen Hin- und Rückflug von Delhi teurer war, als von Delhi nach Santiago. Ich stellte die Reiseroute zusammen und buchte bis zu dreißig Zwischenlandungen. Meine erste Station war stets Prag und dort ging ich zu einem Reisebüro, um das Ticket neu auszustellen und die Orte hinzuzufügen, die ich bei der ursprünglichen Buchung nicht miteinbeziehen konnte. Da das Ticket handschriftlich neu ausgestellt werden musste und es für die Angestellten im Reisebüro zu viel Arbeit war, die Tarife von Delhi bis zu jedem zusätzlichen Ort nachzuprüfen, fügten sie einfach alle hinzu und auf diese Weise konnte ich immer überall zwischenlanden, wo ich wollte. 

Die längste Vortragsreise, die ich auf diese Weise macht, dauerte fünfzehn Monate ohne Unterbrechung, wobei ich normalerweise zwei bis drei Städte die Woche besuchte und fast immer bei den Menschen zu Hause wohnte. So entwickelte ich eine große Flexibilität, um mich an die Bräuche, das Klima und die Nahrung an jedem Ort anzupassen, von Tasmanien bis Island, von Sibirien bis Tahiti, von Zimbabwe bis Bolivien und so weiter. Meine festgelegte Meditation, die ich überall jeden Morgen ausführte, gab mir Stabilität auf meinen Reisen in diesem schwindelerregenden Tempo. In meiner Morgenpraxis gab es somit immer einen vertrauten Ort, an den ich zurückkehren konnte.

Die Menschen, die ich auf diesen Reisen traf und die, ohne dass ich es wusste, die richtigen Verbindungen hatten, boten mir an, die notwendigen Vorkehrungen für mich zu treffen, um die wichtigen spirituellen Autoritäten in ihren Ländern kennenzulernen. Auf diese Weise war ich in der Lage, für Seine Heiligkeit den ersten Kontakt mit dem Anführer der östlich-orthodoxen Kirche, dem Patriarch Bartholomäus I von Konstantinopel, zu knüpfen. Er lebte in einem Palast auf einer kleinen Insel in der Nähe von Istanbul und hatte gerade dieses hohe Amt angenommen. Ich war der erste Buddhist, den er traf. Er war recht ungezwungen und erzählte mir, dass er demnächst eine japanisch-buddhistische Delegation treffen würde und fragte mich, was er über den Buddhismus lesen könnte, um sich darauf vorzubereiten. Ich empfahl ihm eines der Bücher Seiner Heiligkeit. 

Dann leitete ich einen buddhistisch-muslimischen Dialog für Seine Heiligkeit ein. Ich dachte an den gemeinsamen nomadischen Hintergrund der buddhistischen und muslimischen Bevölkerung Zentralasiens, sowie an die zukünftige Entwicklung dieser geopolitischen Region, hielt Vorträge und traf mich mit Gelehrten an Universitäten in Usbekistan, Kirgisistan und Kasachstan, sowie in Ägypten, Jordanien und der Türkei. Von den Studenten, die ich traf, erfuhr ich wie gern sie etwas über die Welt da draußen erfahren würden und ein klares Zeichen dafür war, dass über dreihundert von ihnen an meinem Vortrag in der Universität von Kairo teilnahmen. Es war ziemlich ironisch, eine jüdische Herkunft zu haben und vor Muslimen über den Buddhismus zu sprechen.   

Ich traf mich auch mit religiösen Anführern einheimischer Traditionen in Südafrika, Bolivien und Brasilien. In einer Hütte in Bophuthatswana, einer der zehn Heimatregionen der schwarzen Südafrikaner während der Apartheid-Periode, traf ich das traditionelle spirituelle Oberhaupt der Zulus. Er war ein mächtiger, majestätisch aussehender Mann und ein ehemaliger Künstler. Mein Gastgeber sagte mir, dass eine Bande von Ganoven ihm beide Daumen gebrochen hatte, damit er nicht mehr malen konnte, und ihm einen mit Benzin gefüllten Reifen um den Hals gelegt hatte, um ihn zu verbrennen und somit zu töten. Erstaunlicherweise hat sich das Benzin nicht entzündet und so konnte er fliehen. 

Als ich ihn traf, saß er auf einem unbequem aussehenden Eisenstuhl und erzählte mir von dem Zulu-Mythos, dass Außerirdische sie in früheren Zeiten besucht und ihnen die Wissenschaft des Erstellens von Kalendern gelehrt hatten. Er wollte wissen, ob die Tibeter etwas über diese Dinge wussten und ich erzählte ihm eine ähnliche Geschichte, die es in den Kalachakra-Lehren gab und von der mir Serkong Rinpoche einmal berichtet hatte. Er war sehr interessiert daran, diesem Thema weiter nachzugehen. 

Nicht alle Treffen waren jedoch fruchtbar. In La Paz, Bolivien, erzählte mir der Aymara-Indianerhäuptling von ihrer Feier zur Sommersonnenwende und wollte Seine Heiligkeit dazu einladen. Doch weil für das Ritual die Plazenta eines Lamas benötigt wurde, lehnte man in Dharamsala die Einladung auf diplomatische Weise ab. Und als der Candomblé-Priester, den ich in Rio de Janeiro traf, mir von ihrer Praxis der Tieropfer erzählte, habe ich erst gar kein Treffen vorgeschlagen.

Nach jeder Reise gab ich Seiner Heiligkeit zusammenfassende Informationen und reichte in seinem Privatbüro und der Abteilung für Informationen und internationale Angelegenheiten ausführliche Berichte über die Geschichte, Bräuche, religiöse Glaubensvorstellungen und dergleichen von jedem Ort ein, den ich besucht hatte, wie dass es bei einem möglichen Treffen mit dem spirituellen Oberhaupt der Zulus beispielsweise als unhöflich galt, ihn direkt anzusehen, und auch, wenn er einen direkt ansehen würde. An all diese Orte zu reisen ermöglichte mir auch, meinen Kindheitstraum zu erfüllen, ein universelles Wissen über die Denkweisen der Menschen zu erlangen.

Seine Heiligkeit war schließlich in der Lage, viele dieser Länder zu besuchen und kurz darauf begannen seine Repräsentanten, in diesen verschiedenen Regionen tibetische Vertretungen einzurichten. Momentan gibt es dreizehn solcher Vertretungen. Dort werden, ein wenig wie in Botschaften, bilaterale Beziehungen zu Ländern in deren Region sowie zur Europäischen Union und den Vereinten Nationen gepflegt. 

Nachdem der Dalai Lama 1989 den Nobelpreis bekam, wuchs das Interesse eines Besuches von ihm enorm. Infolgedessen organisierten die neuen Freunde, die ich weltweit kennengelernt hatte, für mich Treffen mit den Ministern und anderen hohen Regierungsbeamten in ihren Ländern. Durch diese Treffen war ich in der Lage zu helfen, Besuche für Seine Heiligkeit in der Tschechoslowakei, in Bulgarien und Ungarn zu organisieren und diente bei ihnen allen als Kontaktperson und Übersetzer. Ich half auch, seine Besuche in den baltischen Ländern und Südamerika zu organisieren, aber begleitete ihn nicht dorthin. 

Das denkwürdigste Ereignis während all dieser Reisen war, für Seine Heiligkeit zu übersetzen, als er dem Präsidenten Vaclav Havel grundlegende Meditationsmethoden beibrachte, um ihm und seiner Belegschaft zu helfen, einen Monat nach dem Zerfall des Kommunismus mit dem daraus resultierenden Stress umzugehen, wobei Havel und seine Mitarbeiter alle in Trainingsanzügen zusammen mit Seiner Heiligkeit auf Kissen am Boden saßen. Als Seine Heiligkeit während seines Besuches erfuhr, dass sich die älteste Synagoge Europas in Prag befindet, bekundete er großes Interesse, sie zu besuchen. Als wir dort ankamen, war die Andacht am Samstagmorgen gerade im Gange und als mich Seine Heiligkeit bat, ihm die Andacht zu erklären, war ich wirklich dankbar, diesen Unterricht im Hebräischen gehabt zu haben.

Das Organisieren des Benutzens tibetischer Medizin zum Behandeln von Tschernobyl-Patienten

Das von mir am häufigsten besuchte Land war die UdSSR und dann, nach dessen Zerfall, die Russische Föderation. Von 1987 bis 2020, als Covid ausbrach, reiste ich jedes Jahr ein- oder zweimal dorthin. Obwohl ich schnell die kyrillische Schrift und viele russische Wörter lernte, habe ich nie wirklich die Sprache gelernt. Viele Leute nehmen jedoch wegen meinem russisch-klingenden Namen an, dass ich Russisch spreche, und vielleicht auch, weil ich die englische Übersetzung von Nikolai Kuleshovs „Russia’s Tibet File: Unknown Pages in the History of Tibet’s Independence“ aus dem Russischen bearbeitet habe. Doch dazu war ich durch meinen Einfallsreichtum in der Lage, wie ich es im Sinologie-Forschungsseminar in Harvard gelernt hatte. Wenn es eine Passage gab, die im Englischen keinen richtigen Sinn ergab, fand ich genügend verwandte englische Wörter der russischen Übersetzung, sodass ich mich immer im Originaltext zurechtfinden konnte. Mit einem russischen Wörterbuch konnte ich dann herausfinden, wann die Übersetzer die falsche Übersetzung für ein Wort gewählt hatten, das mehrere Bedeutungen hatte. Dieselbe Methode nutzte ich, um fragwürdige tibetische Übersetzungen aus dem Sanskrit zu überprüfen.

Im Jahr 1989 hielt ich dann in Leningrad den ersten öffentlichen Vortrag über den Buddhismus in der UdSSR und niemand wurde danach verhaftet. Andrey Terentyev, der russische buddhistische Gelehrte und Organisator der Veranstaltung, beschrieb ihn als wichtigen Wendepunkt in der Geschichte des Buddhismus der UdSSR. Die Nachricht verbreitete sich und danach hatten sowjetische Buddhisten nicht mehr das Gefühl, dass es gefährlich war, sich öffentlich in Gruppen zu treffen. Verschiedene Gruppen begannen, eine offizielle Registrierung zu beantragen und in der Folge wurde ich 1990 durch Terentyevs Verbindungen vom Moskauer Büro des zentralen buddhistischen Gremiums der Buddhisten in der UdSSR eingeladen, in der Hauptstadt öffentliche Vorträge über den Buddhismus zu halten. Obwohl das Gremium vom KGB bewacht wurde, wollten es seine Unabhängigkeit geltend machen. Auch hier gab es keine Probleme. 

Mit Terentyev schickten sie mich dann zu den drei traditionell buddhistischen Republiken in der UdSSR – Burjatien und Tuva in Sibirien, sowie Kalmückien am Kaspischen Meer – und in die Mongolei. Dadurch bekam ich die Möglichkeit, etwas über die gegenwärtige Situation des Buddhismus, der unter Stalin größtenteils ausgelöscht worden war, in diesen Regionen zu lernen und erstattete Seiner Heiligkeit Bericht, um herauszufinden, was er tun konnte, um dessen Wiederbelebung zu unterstützen. In Tuva und Kalmückien hielt ich dort die ersten öffentlichen Vorträge über den Buddhismus seit der Zeit vor der Unterdrückung. 

Das umfangreichste Projekt, an dem ich in der UdSSR arbeitete, war mit dem sowjetischen Gesundheitsministerium. Hier half ich, den Gebrauch von tibetischer Medizin zu organisieren und zu koordinieren, um die nahezu eine Millionen Opfer der Katastrophe von Tschernobyl zu behandeln. Natalie Lukyanova, die Direktorin im Zentrum für traditionelle Medizin im Ministerium, traf mich während dem Besuch im Jahr 1990 und bat mich, Hilfe vom „Tibetan Medical and Astro Institute“ in Dharamsala zu organisieren. Bis dahin hatte kein anderes medizinisches System funktioniert. Im Geiste von Perestroika organisierte sie für mich eine Reihe von fünf öffentlichen Vorlesungen über tibetische Medizin und Buddhismus im Ministerium selbst zu halten. 

Ein paar Monate später kam ich mit dem persönlichen Arzt Seiner Heiligkeit, Dr. Tenzin Choedrak, um einen klinischen Versuch an einer Gruppe von Patienten durchzuführen, der außerordentlich erfolgreich war. Da die Zahl der potenziellen Patienten so groß war, mussten wir Quellen für die pflanzlichen Inhaltsstoffe der Medikamente in den Altai-Bergen Sibiriens finden, eine Fabrik bauen, um sie herzustellen und eine Medizinschule gründen, um eine ausreichende Anzahl von Ärzten auszubilden. Boris Yeltsin, der damals Vorsitzender des Obersten Sowjets (des Parlaments) von Russland war, stand hinter dem Projekt und stellte uns alle Gebäude und Ressourcen zur Verfügung, während Lukyanova und ich alles organisierten. Unsere Ärzte behandelten sogar die Mitglieder des Obersten Sowjets, die sich wegen der sich rapide ändernden politischen Situation unter großem Stress befanden. 

Leider musste das Projekt Ende 1991, nach der Auflösung der UdSSR, aufgegeben werden. Die Tschernobyl-Katastrophe betraf Menschen in der Russischen Föderation, der Ukraine und in Weißrussland, doch keines der drei Länder wollte miteinander kooperieren. Sie alle wollten ihr eigenes Projekt, doch das war unmöglich. Trotz dieses Rückschlags konnte ich durch das Organisieren solch eines riesigen Projektes Erfahrungen sammeln und die Überzeugung aufbauen, das enorme Projekt der Berzin Archive und Study Buddhism Webseite zu verwirklichen.     

Nach dem Zerfall der Sowjetunion half ich dort weiter, den Buddhismus wiederzubeleben. Als zum Beispiel die erste Gruppe von Jugendlichen aus Kalmückien nach Dharamsala kam, kümmerte ich mich um sie, bevor sie ins Drepung Gomang Kloster in Südindien zogen, um Mönche zu werden und zu studieren, damit sie dann in Kalmückien Belehrungen geben konnten. In den wenigen Monaten, bevor sie nach Gomang gingen, kamen sie mehrere Male die Woche zu mir in meine Hütte, wo ich ihnen half, sie auf ihr vor ihnen liegendes Leben vorzubereiten. Sie waren noch nie von zu Hause fort, alles um sie herum war fremd für sie und sie hatten keine Ahnung, was sie erwartete. Manche waren erst 12 Jahre alt und brauchten eine väterliche Zusicherung, dass alles gut werden würde, die ich ihnen gern gab. 

Ein westafrikanischer Sufi-Anführer kommt nach Dharamsala 

Im Laufe der Jahre hat mich Seine Heiligkeit gebeten, so genannte „Mission Impossible“-Aufgaben, also scheinbar aussichtslose Unterfangen, für ihn zu erledigen. Dazu gehörte, ihm einen westafrikanischen Sufi-Anführer zu bringen, mit dem er Methoden zum Entwickeln von Mitgefühl vergleichen konnte, die Veröffentlichung der ersten Übersetzungen buddhistischer Lehren in die moderne Umgangssprache zu organisieren und mich mit Akademikern und Gelehrten des Buddhismus in Universitäten in Beijing zu treffen, um über den Buddhismus zu reden. Seine Heiligkeit ahnte, dass ich in der Lage sein würde, seine Bitten zu erfüllen, denn es zeigte sich, dass alle drei nicht sonderlich schwer zu organisieren waren.

Auf meiner nächsten Vortragsreise traf ich einen deutschen Diplomaten aus Afrika und erzählte ihm von dem Wunsch Seiner Heiligkeit. Er sagte: „was für ein Zufall“ und teilte mir dann mit, dass er ein Freund von Dr. Tirmiziou Diallo war, dem angestammten religiösen Sufi-Oberhaupt Guineas in Westafrika und derzeitigen Professor an der Freien Universität in Berlin, Deutschland. In kontaktierte Diallo und erzählte ihm von dem Wunsch Seiner Heiligkeit. Er schrieb zurück, dass es ihm eine Ehre wäre, Seine Heiligkeit zu treffen. Er plante gerade eine Reise nach Indien und hatte ein paar freie Tage, bevor er eine ayurvedische Badekur machen würde. Und er war gerade zu der Zeit in Delhi, als ich nach Indien zurückkehren wollte. Ein paar Monate später trafen wir uns dann in Delhi und ich begleitete ihn nach Dharamsala zu seiner Privataudienz.  

Der in weißen Roben gekleidete, majestätische, spirituelle Anführer Afrikas war so bewegt, als er das erste Mal zu Seiner Heiligkeit kam, dass er begann zu weinen. Ohne seinen Assistenten zu bitten, wie er es normalerweise tat, ging Seine Heiligkeit ins Vorzimmer und brachte ein Taschentuch, welches er dem Sufi-Meister reichte, um seine Tränen zu trocknen. Diallo bot Seiner Heiligkeit einen traditionellen muslimischen Kopfschmuck an, den Seine Heiligkeit ohne Zögern aufsetzte und für den Rest der Audienz aufbehielt.

Seine Heiligkeit eröffnete den Dialog, indem er erklärte, dass ein fruchtbarer und offener Dialog möglich wäre, wenn sowohl Buddhisten als auch Muslime flexibel in ihrer Denkweise wären. Die Begegnung war äußerst warm und emotional berührend. Seine Heiligkeit stellte zahlreiche Fragen zur traditionellen Sufi-Meditation, insbesondere bezüglich der westafrikanischen Linien, in denen die Praxis von Liebe, Mitgefühl und Dienst betont wird. Es gab viele gemeinsame Dinge, welche diese zwei Männer teilten. Sowohl Seine Heiligkeit als auch Diallo verpflichteten sich, den islamisch-buddhistischen Dialog in der Zukunft fortzusetzen. 

Das Erstellen umgangssprachlicher mongolischer Bücher über den Buddhismus 

Was die mongolische Mission betraf, so bereitete ich mich darauf vor, indem ich mir ein ostdeutsches Lehrbuch zum Lernen der mongolischen Sprache besorgte, da ich sie seit meinen Tagen in Harvard studieren wollte. Ich versuchte mir die Sprache anhand dieses Lehrbuches anzueignen und obwohl es mir leicht viel, die Grammatik zu lernen, konnte ich mir die Wörter nicht merken, da es keine Ähnlichkeiten zu Sprachen gab, die ich bereits gelernt hatte. Als ich in jungen Jahren Chinesisch und Tibetisch lernte, war das zwar genauso, aber nun, mit über fünfzig, stellte dies ein großes Hindernis dar. Ich entschied, dass es sich nicht lohnte, mich weiter in diese Richtung zu bemühen. Im Laufe der Jahre hatte ich ein paar Dharma-Begriffe auf Mongolisch gelernt und das musste reichen. 

Seine Heiligkeit bat Richard Gere, den Schauspieler und Förderer der tibetischen Sache, sein mongolisches Projekt zu finanzieren. Gere, der bei verschiedenen meiner Dharma-Vorträge war, die ich in der Vergangenheit gegeben hatte, kontaktierte mich daraufhin und bot mir die finanzielle Unterstützung an, um das Projekt zu koordinieren. Sobald ich in der Mongolei war, traf ich Kushok Bakula Rinpoche, den indischen Botschafter, der bereit war, einige seiner Vorträge dort zusammenzutragen und zu veröffentlichen. Sein Assistent Sönam Wangchuk traf alle Vorkehrungen und so waren wir erfolgreich darin, das Projekt vollenden zu können. 

Vorträge in den Universitäten in Beijing 

Um mich in Beijing mit Akademikern zu treffen, ernannte mich Thurman zu einem „Research Scholar“ des „American Institute of Buddhist Studies“ der Columbia Universität, dessen Präsident er war, damit ich für die chinesischen Autoritäten die entsprechenden Berechtigungen besaß. Das Privatbüro Seiner Heiligkeit schlug mir dann vor, Sander Tideman zu kontaktieren, der in dieser Zeit der Manager des Beijing-Zweigs der niederländischen ABN-Bank war und später ein leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Erasmus Universität wurde. Durch seine Verbindungen war er in der Lage, meine Treffen mit buddhistischen Gelehrten in der Universität von Peking zu arrangieren. Es stellte sich heraus, dass sie gern etwas über Tantra lernen wollten und ich erklärte es ihnen auf eine akademische Weise. Ich bat sie im Gegenzug, ihre Forschungen in Bezug auf die Anpassung der Mandschus an den tibetischen Buddhismus mit mir zu teilen. Durch diesen Austausch erfuhr Seine Heiligkeit von dem ernsthaften Interesse, den es in China unter den buddhistischen Gelehrten gab.

Hilfe bezüglich Konferenzen und Treffen 

Zusätzlich zum Erfüllen der Missionen, um die mich Seine Heiligkeit ausdrücklich bat, unternahm ich auch mehrere auf eigene Initiative, und eine bestand darin, Seiner Heiligkeit Leute zu bringen, die interessant für ihn sein würden. Während ich beispielsweise 1985 in der Schweiz bei der Kalachakra-Initiation Seiner Heiligkeit war, konnte ich eine Audienz für Boszormenyi-Nagy arrangieren, der mit Catherine auf einer Vortragsreise war, die als sein Dolmetscher arbeitete. Seine Heiligkeit hatte nie zuvor einen Familientherapeuten getroffen und da der zentrale Punkt der kontextuellen Therapie die zwischenmenschliche Ethik war, hatte ich das Gefühl, dass er ein großes Interesse daran haben würde, etwas darüber zu erfahren. 

Während der Audienz, bei der auch Catherine anwesend war, wollte Seine Heiligkeit wissen, was der Unterschied zwischen buddhistischer und zwischenmenschlicher Ethik war und ihm wurde mitgeteilt, dass die buddhistische Ethik sich durch vorgegebene Werte definiert, während die zwischenmenschliche Ethik auf einer gegenseitigen Fürsorge und einer zwischenmenschlichen Definition der Gerechtigkeit beruht. Das bedeutet, dass der Grad an Gerechtigkeit oder Ausbeutung in einer bestimmten Beziehung durch einen Dialog definiert werden muss, in dem alle Teilnehmer festlegen müssen, was für sie ein fairer Umgang oder umgekehrt eine Ungerechtigkeit ist, und jeder muss eine Bereitschaft zeigen, die Sicht des anderen als genauso wertvoll wie die eigene zu respektieren. In der Eltern-Kind-Beziehung werden die Eltern aufgefordert, ihre Kinder zu beschützen und sie nicht auszubeuten. 

Damit war Seine Heiligkeit einverstanden, aber er konnte noch immer nicht den Unterschied zwischen buddhistischer und zwischenmenschlicher Ethik erkennen, da er davon ausging, dass Eltern, besonders Mütter, doch immer gütig und fürsorglich gegenüber ihren Kindern sind.  Ihm wurde mitgeteilt, dass dies nicht immer der Fall sei und Kinder in bestimmten Familien von ihren Eltern sogar sexuell missbraucht werden. Seine Heiligkeit war so schockiert von der Vorstellung des Inzest, dass es schwer für ihn war, die Konversation fortzuführen. Stattdessen begann er, Boszormenyi-Nagy über sein Leben zu befragen und als er herausfand, dass er als politischer Flüchtling aus dem kommunistischen Ungarn in die Vereinigten Staaten geflohen war, lächelte er ihn an, schüttelte seine Hand und erklärte damit: „darin sind wir gleich“. Auf diese Weise endete das Treffen und hier wurde mir bewusst, wie schwierig es oft war, die Arbeit westlicher Spezialisten in die Weltsicht zu übersetzen, mit der Seiner Heiligkeit vertraut war.  

Da ich das Interesse Seiner Heiligkeit an Wissenschaft und Geist kannte, brachte ich 1987 Michael Goldstein, meinen alten Zimmergenossen in Princeton, der mittlerweile ein herausragender Kinderneurologe war, zu einer Audienz. Er kam mit seiner Frau und drei kleinen Kindern, die alle mit ihm an der Audienz teilnahmen. Er erklärte Seiner Heiligkeit anhand eines Plastikmodels des Gehirns die Funktionsweise aller Teile. Ich hatte keine Ahnung, dass nur wenige Monate später die ersten „Mind & Life“-Dialoge mit Wissenschaftlern stattfinden würden.

Im Jahr 1983 hatte Seine Heiligkeit an einer Konferenz über Bewusstsein teilgenommen, wo er Francisco Varela, einen in Chile geborenen Biologen und Neurowissenschaftler mit einem starken Einfluss auf die Kognitionswissenschaft, kennengelernt hatte, sowie R. Adam Engle, einen amerikanischen sozialen Unternehmer. Da er das Interesse Seiner Heiligkeit an der Wissenschaft kannte, bot Engle an, einen Dialog mit Gruppen anderer Wissenschaftler mit ihm zu organisieren und zu finanzieren. Die ersten „Mind & Life“ Dialoge, die Vorreiter des „Mind & Life Institute“ fanden im Herbst 1987 mit sechs Wissenschaftlern statt, zu denen auch Varela gehörte. Auch ich hatte das große Glück, zusammen mit einigen anderen an diesem historischen Treffen als Beobachter teilzunehmen. An den Abenden nach den Treffen konnte ich während der lebhaften Diskussionen beim Abendessen den Wissenschaftlern, wenn notwendig, die buddhistischen Hintergrundinformationen liefern. Eine ähnliche Rolle spielte ich in den Treffen, die Seine Heiligkeit 1990 mit jüdischen Anführern hatte. 

Meinen Wohnsitz zwischen den Auslandstouren in Dharamsala zu haben, bot mir die Gelegenheit, an weiteren Treffen teilzunehmen. Im Jahr 1993 nahm ich an der ersten Konferenz des Netzwerks westlicher buddhistischer Lehrer mit Seiner Heiligkeit teil. Eines der Hauptthemen war der sexuelle Missbrauch von Studenten durch buddhistische Lehrer in westlichen Dharma-Zentren. Seine Heiligkeit ordnete an, die Skandale an die Öffentlichkeit zu bringen, wenn die Lehrer ihr Verhalten nicht änderten, nachdem sie darauf angesprochen wurden. Daraufhin verfassten Stephen Batchelor und ich gemeinsam den offenen Brief zu ethischen Richtlinien für Dharma-Lehrer, den wir am Ende der Konferenz herausgaben. 

In einer der Sitzungen kam das Thema von niedrigem Selbstwertgefühl und Selbsthass hoch, das es unter den Westlern gibt. Wie im Fall von Inzest waren dies Dinge, die Seine Heiligkeit nie zuvor gehört hatte. Seine Heiligkeit fragte jeden von uns im Raum, ob wir gegenüber uns selbst solche negativen Gefühle hegten und wir alle gaben zu, dass wir sie hatten. Genau wie damals, als er das erste Mal etwas von Inzest hörte, war Seine Heiligkeit schockiert, denn es war etwas völlig Neues für ihn. 

Das Dokumentieren der Situation der Mongolen in China 

Im Jahr 1994 unternahm ich eine umfangreiche Reise durch die Innere Mongolei, die Regionen der südlichen Mandschurei und der Dzungar-Mongolei im Norden von Xinjiang in der Nähe des Altai-Gebirges. Die Dzungars sind mit den Kalmücken verwandt und so knüpfte ein kalmückischer Professor, den ich in Kalmückien getroffen hatte, die Kontakte für mich. Seine Heiligkeit verfügte über ausreichende Informationen, was die Situation des Buddhismus in den tibetischen Regionen von China betraf, doch ihm fehlten Informationen darüber, wie sie mit der Situation des tibetischen Buddhismus unter den verschiedenen mongolischen Gruppen vergleichbar war. Ich wollte ihn darüber informieren und auch zeigen, wie die Situation des Buddhismus und der Buddhisten in China im Allgemeinen mit der Situation der Muslime zu vergleichen war. Dazu besuchte ich auch die Heimat der Hui-Muslime in Gansu und die Institutionen der Uiguren-Muslime in Urumchi, Xinjiang. Die Schlussfolgerung war, das die Mongolen damals viel weniger Zugang zu den buddhistischen Lehren als die Tibeter hatten und die Buddhisten unter viel größeren Einschränkungen als die Muslime litten. Viele der buddhistischen Klöster, die wir in der Inneren Mongolei besuchten, waren wie Altenheime, in denen wir nirgends junge mongolische Mönche antrafen.

Zusammen mit Ernesto Noriega, einem peruanischen Anthropologen, der sich darin spezialisiert hatte, den Einheimischen zu helfen ihre Traditionen zu bewahren, und Igor Berhin, einem ukrainischen Übersetzer vom Russischen und Chinesischen, unternahm ich eine lange Reise, die Zentraltibet umfasste, sowie Amdo, die zentralasiatischen islamischen Republiken, die Mongolei und Burjatien. Noriega wohnte zu der Zeit in Dharamsala und arbeitete an einem Projekt, die traditionelle tibetische Architektur zu dokumentieren und zu bewahren, und interessierten tibetischen Studenten Vorträge dazu zu halten. Er nahm an dieser Reise teil, um die architektonischen Merkmale und Details in den Klöstern, die wir besuchten, zu fotografieren. Berhin war mein Übersetzer in Donetsk in der Ukraine, die ich gleich nach dem Zerfall der UdSSR mehrere Male besucht hatte. In China besuchte er meistens seinen Kampfkunstlehrer in der Mandschurei. 

In dieser Zeit war das Reisen in China nicht gerade angenehm. Auf den langen Zugreisen gab es an den Bahnhöfen fast nur Würstchen aus Eselfleisch, weswegen wir bei den Instant-Nudeln blieben, die überall zu haben waren. Als wir in der Inneren Mongolei ankamen, mieteten Ernesto und ich uns ein Taxi, das uns zu einem Kloster in der Gobi-Wüste bringen sollte. Vor der Abfahrt hatten wir uns auf einen Preis geeinigt, doch auf halben Weg, mitten im Nirgendwo, hielt der Fahrer das Taxi an und verlangte den doppelten Preis. Meine Tendenz war, Konflikte zu vermeiden, und ich hätte es einfach bezahlt, aber Ernesto ging nicht darauf ein. Nach einer heftigen Auseinandersetzung mit dem Fahrer, der nicht zurückstecken wollte, stürmte Ernesto aus dem Taxi und ich folgte ihm betreten. Glücklicherweise waren wir in der Lage, den Rest unserer Expedition per Anhalter zu bewältigen und strandeten nicht irgendwo, wie ich befürchtet hatte. 

In Amdo hatte ich eine erstaunliche Erfahrung im Gonlung (dGon-lung) -Kloser in der Region der Monguor-Mongolen in der Nähe von Xining. Das Kloster war bekannt als ein Gelugpa-Bildungszentrum. Es war der Sitz hochrangiger Lamas, einschließlich der Übertragungslinien von Changkya (lCang-skya), Jamyang zhepa (‘Jam-dbyangs bzhad-pa) und Tuken (The’u-kvan) Rinpoche. Die Gebäude und die Umgebung schienen mir äußerst vertraut, als hätte ich dort in einem früheren Leben gelebt.

Um mein seit langem bestehendes Interesse an Zentralasien zu befriedigen, besuchten wir auch die wichtigsten Orte entlang der Seidenstraße in Xinjiang und den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens, in denen der Buddhismus einst blühte. Die geografische Lage dieser Oasenstädte zu sehen, machte ihre Geschichte für mich lebendiger. In Khotan hatte ich eine ähnliche Erfahrung wie in Gonlung. Khotan liegt am Fuße der sich auftürmenden Kunlung-Berge, die dort dramatisch von der tibetischen Hochebene zum Rand der Taklamakan-Wüste abfallen, die unter dem Meeresspiegel liegt. Die Ruinen waren an dem Tag, als ich dort war, völlig verlassen. Noriega war im Hotel geblieben, weil er sich nicht wohl fühlte, und der chinesische Taxifahrer wartete im Auto. Während ich durch die Ruinen wanderte, fühlte ich mich merkwürdigerweise wie zu Hause. 

Xinjiang war zu der Zeit noch immer voller traditioneller Elemente. In Khotan gab es einen farbenfrohen einheimischen Markt, zu dem die Bauern und Schafhirten in ihrer traditionellen Kleidung von den Bergen herunterkamen, um ihre Produkte zu verkaufen. Von Khotan nahmen wir einen Minibus, der uns auf einer Nachtfahrt bis nach Kashgar brachte. Im Morgengrauen erreichten wir den Stadtrand und dort gab es einen Stau von Eseln, die einheimische Güter zu einem ähnlichen Markt brachten. 

Unsere Reise war nicht ohne Gefahren. In Gansu begaben wir uns in den Distrikt, in dem die gelben Uiguren leben. Es waren Turk-Völker, die wie die Mongolen in der Umgebung den tibetischen Buddhismus angenommen hatten. Das Gebiet war für Ausländer verboten, da es sich in der Nähe des chinesischen Raumfahrtzentrums befand. Als die örtlichen Behörden unsere Anwesenheit bemerkten, las uns die Polizei auf, gab uns eine strenge Verwarnung, brachte uns zur Bushaltestelle und schickte uns fort.  

Das Dokumentieren postkolonialer Strategien in Afrika 

Nach einem kurzen Aufenthalt in Dharamsala, um über dieses chinesische Abenteuer zu berichten, machte ich mich nach Afrika auf, um dort auf einer ausgedehnten Reise an den Universitäten der englischsprachigen Länder im Süden und Osten des Kontinents Vorträge zu halten und Gelehrte zu treffen. Ich fand heraus, dass in den meisten dieser Länder AIDS die Bevölkerung dezimiert hatte. In Uganda erklärten mir meine Gastgeber zum Beispiel, dass eine durchschnittliche Familie zehn oder mehr Kinder hatte, doch aufgrund dieser Epidemie die Eltern und manche der Kinder gestorben waren. Als die Friedhöfe voll waren, wurden tote Familienmitglieder einfach im Hinterhof begraben. Die Großeltern übernahmen dann die überlebenden Enkelkinder, doch wenn sie sich um mehrere Dutzend kümmern und sie versorgen mussten, suchten sie verzweifelt nach Hilfe. Leider war ich nicht in der Lage, wie die christlichen Missionare finanzielle Unterstützung anzubieten, um Waisenhäuser zu bauen und somit zu helfen, das Leiden zu mindern. 

Was die afrikanischen Gelehrten betraf, die ich auf dieser Reise kennenlernte, so fokussierte ich mich darauf, von ihnen etwas darüber zu erfahren, welche Schritte die Menschen unternommen hatten und wie effektiv sie darin waren, ihre Länder in ihrer postkolonialen Periode wieder aufzubauen. Die Erfahrung war in jedem Land anders, wie ich es auch in den ehemaligen Sowjetrepubliken beobachtete, die ich nach dem Zerfall der UdSSR besucht hatte. Ich analysierte und präsentierte Seiner Heiligkeit die Lektionen, die man von den afrikanischen Erfahrungen, sowie jenen der ehemaligen Sowjetrepubliken lernen konnte, um zu helfen, für eine postkoloniale Periode in Tibet vorauszuplanen. 

Initiieren eines buddhistisch-muslimischen Dialogs 

Die Strategie, die ich nutzte, um einen buddhistisch-muslimischen Dialog mit den islamischen Historikern zu beginnen, die ich an den Universitäten im mittleren Osten und Zentralasien traf, an denen ich Vorträge hielt, bestand darin, sie nach der muslimischen Geschichte der Begegnung mit den Buddhisten in Zentralasien und dem indischen Subkontinent zu fragen. Ich erwähnte, dass die britische Geschichtsschreibung die frühen muslimischen Eroberer lediglich als religiöse Fanatiker und Zerstörer des Buddhismus präsentierte. Die Briten wollten zeigen, wie wohlwollend ihre Herrschaft über Indien im Vergleich zu diesen frühen muslimischen Eindringlingen und den Moguls, die ihnen folgten, war. Die chinesische dynastische Geschichte malte ein ähnlich voreingenommenes Bild. Meine Hypothese war, dass die eigentliche treibende Kraft der Eroberungen meist wirtschaftlicher Natur war, obwohl es immer auch einige religiöse Fanatiker gab. Hier ging es darum, Kontrolle über die Seidenstraße und den lukrativen Handel in Indien zu bekommen, um von den Steuern zu profitieren. Die islamischen Gelehrten bestätigten meine Hypothese und waren äußerst dankbar für meine unvoreingenommene Herangehensweise. 

Der Text „Die historische Begegnung zwischen den buddhistischen und islamischen Kulturen vor der Zeit des mongolischen Reichs“, der in drei Teilen neu veröffentlicht wurde und mit Buddhistisch-muslimische Kontakte: Kalifat der Umayyaden beginnt, ist das Ergebnis dieser Diskussionen. Um diese Diskussionen zu ergänzen, durchstöberte ich die Sekundärliteratur, die es im Jahr 1990 zu diesem Thema in den Bibliotheken gab, die ich weltweit besuchte. Die wichtigste Bibliothek, die ich konsultierte, war die „Widener Library“ in Harvard, an der ich meine Forschungskompetenzen nutzte, die ich während meiner weiterführenden Studien dort erlangt und mit dem Forschungsprojekt über chinesische Kultur, an dem ich zwischen Stapeln von Büchern arbeitete, verfeinert hatte. Im Laufe der Jahre habe ich umfangreiche handgeschriebene Notizen von weit über tausend Büchern und Artikeln in einer Vielzahl von Sprachen über zentralasiatische Geschichte und Religionen erstellt. Sie bilden einen Teil des Materials, das ich später „The Berzin Archives“ nannte. 

Das Schreiben von Büchern und Erstellen von Artikeln 

Während dieser Periode des intensiven Reisens von 1984 bis 1997 schrieb ich auch zwischen den einzelnen Touren in Intervallen mehrere kommerziell veröffentlichte Bücher und erstellte die Artikel für mehrere weitere. Aus meinen Erfahrungen des Lehrens und Kennenlernens von Schülern in Dharma-Zentren weltweit merkte ich, dass es einige Themen gab, die nicht besonders gut verstanden wurden, vor allem die Beziehung zu einem spirituellen Lehrer. Ich nutzte also die Lektion, die mir Professor Kaufman in Princeton erteilt hatte, las ausführlich wichtige Quellen zum Thema in allen vier tibetischen Traditionen und schrieb: „Zwischen Freiheit und Unterwerfung: Chancen und Gefahren spiritueller Lehrer-Schüler-Beziehungen“ (im Englischen: „Relating to a Spiritual Teacher: Building a Healthy Relationship“; in der zweiten Edition umbenannt: „Wise Teacher, Wise Student: Tibetan Approaches to a Healthy Relationship“).

Ein weiteres Problem, das ich auffiel, war, dass viele langjährige Studenten in ihrer Praxis eine Ebene erreicht hatten und keinen weiteren Fortschritt machten. Sie rezitierten vielleicht jeden Tag ein tantrisches Sadhana, schienen jedoch nicht zu wissen, wie man den Dharma auf emotionale Probleme, wie in persönlichen Beziehungen, im täglichen Leben anwendet. Die begrifflichen Bezugssysteme des Dharma und der westlichen Psychologie waren einfach zu verschieden. So gibt es beispielsweise keine Dharma-Begriffe für Unsicherheit, niedriges Selbstwertgefühl, Unsensibilität, Überempfindlichkeit und so weiter. Es gibt nicht einmal ein Wort für Emotionen. 

Da mein Anliegen immer darin bestand, eine Brücke zwischen den Kulturen zu schlagen, und Erfahrungen darin hatte, Seiner Heiligkeit fremde begriffliche Bezugssysteme zu erklären, schrieb ich: „Ausgewogene Sensibilität entwickeln“, um diesen Bedarf zu decken. In diesem Buch wird ein strukturierter Ansatz geboten, ein Gleichgewicht in unserer Sensibilität gegenüber unseren eigenen Gefühlen und den Gefühlen anderer, sowie den Auswirkungen unseres Verhaltens auf uns und andere zu erlangen. Es stellt ein umfangreiches Ausbildungsprogramm mit 22 Übungen zur Verfügung. Eine weitere Motivation zum Entwickeln dieses Programms war, an meiner eigenen mangelnden Sensibilität gegenüber anderen zu arbeiten.

Während dieser Reisen ging ich auch weiter meinem lebenslangen Interesse nach, ein universales Verständnis der Denkweisen zu erlangen. Mehrere Male traf ich zum Beispiel in Zollikon in der Schweiz die Psychologin Dora Kalff, eine persönliche Schülerin von Carl Jung und Begründerin der Sandspieltherapie. Zusammen mit den Erklärungen zu ihrer Arbeit, brachte sie mir auch das mittelalterliche System der Numerologie bei, das sie während ihrer Tage mit Jung erlernt hatte. Sie nutzte es in Verbindung mit Astrologie, um eine erste Vorstellung davon zu bekommen, wie man sich nicht kommunizierenden Patienten nähern konnte. Dadurch bekam ich eine andere Perspektive, die Lehren der Astrologie und des Numerologie-ähnlichen Systems „Entstehung aus den Vokalen“ im Kalachakra zu betrachten. Es waren Werkzeuge, die halfen, gegen den inneren Kampf der „barbarischen“ Kräfte der destruktiven Emotionen und Geisteszustände vorzugehen.

Der Tod meiner Mutter 

Während dieser Reisen gab es in meiner Familie eine persönliche Tragödie: meine Mutter bekam langsam Alzheimer. Sie war in Rente und lebte in einer Seniorengemeinschaft in Florida. Als ich sie 1991 auf einer Reise durch Amerika besuchte, begann sie gerade einen Pappkarton mit Milch auf einem Herd aufzuwärmen und ich erkannte, dass es zu gefährlich für sie war, dort weiter für sich allein zu leben. Ich begleitete sie zum Haus meiner Schwester in North Carolina zu einem Thanksgiving Dinner und mit ihrer Zustimmung entschieden wir, sie in ein Pflegeheim zu geben. Dort verschlechterte sich ihr Zustand rapide und bald war sie nicht mehr in der Lage, Worte zusammenzufügen und konnte sich nicht einmal selbst ins Bett legen. Da ihre allgemeine Gesundheit gut war, lebte sie noch vier Jahre, bis sie im Jahr 1995 verstarb.  

Ich befand mich gerade in Costa Rica, als sie starb, doch niemand wusste, wie man mich erreichen konnte. Mein nächster Aufenthalt war Caracas in Venezuela, wo ich bei meinen alten Freunden aus Dharamsala, Roberto und Elayne Slimak, einem Paar reicher Geschäftsleute, wohnte. Meine Schwester kannte ihre Telefonnummer und rief an. Rechtzeitig flog ich nach New Jersey, um ihre Asche an den großen Wasserfällen des Passaic-Flusses in Paterson, unserer Heimatstadt, zu verstreuen. Es war einer der Lieblingsorte meiner Mutter gewesen. Ich hatte jedoch einen Vorlesungsplan und Flugtickets für den Rest meiner Südamerika-Tour und musste unverzüglich nach Caracas zurückkehren. So war ich nicht in der Lage, zusammen mit meiner Schwester einen Teil der Asche auf das Grab unseres Vaters zu streuen und konnte auch nicht an der Trauerfeier der Familie teilnehmen. 

Was mir half, auf meine Tour zurückzukehren, war, mich an Seine Heiligkeit zu erinnern, als seine Mutter im Jahr 1981 starb. Es passierte während einer Belehrung, die er in Bodh Gaya gab und bei der ich als Übersetzer tätig war. Seine Heiligkeit teilte die Nachricht ihres Verscheidens mit der Zuhörerschaft und während dem Rest dieser Sitzung rezitierten wir alle das „Om mani padme hum“-Mantra für sie. Doch aus Rücksicht gegenüber all den Leuten, die von weit her gekommen waren, um seine Belehrungen zu hören, führte Seine Heiligkeit sie am nächsten Tag fort und ich tat das ebenfalls.

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