Etwas verstehen: einfach oder schlussfolgernd

Gerade hat mich jemand in der Pause darauf hingewiesen, dass ich die Neigung dazu habe, ins Extrem zu gehen, wenn ich Beispiele oder Standpunkte, also buddhistische oder westliche Sichtweisen, erkläre. Es gibt eine Methode, die in der buddhistischen Analyse benutzt wird, die darin besteht, sich die absurden, logischen Konsequenzen anzusehen, die folgen würden, wenn wir einen bestimmten Standpunkt vertreten. „Wenn alles eine wahrhaft begründete Existenz hätte, würde nichts funktionieren können.“ Hiermit gehen wir ins Extrem und sehen uns die absurde Schlussfolgerung an. Das ist eine Methode und natürlich besteht die Herausforderung darin zu wissen, wann wir sie anwenden können und wann nicht. In manchen Situationen kann sie sehr hilfreich sein, aber in anderen ist sie vielleicht nicht gerade angebracht. Ich gebe zu, dass ich sie mitunter auf unpassende Weise einsetze. 

Aber ich finde sie im Grunde recht hilfreich. Natürlich könnte man sagen, es wäre nicht fair gegenüber der Tradition, denn dort wird es nicht unbedingt auf diese Weise erklärt. Man kann es jedoch in allen Texten finden. Nehmen wir zum Beispiel die Darstellung des Hinayana im tibetischen Mahayana. Dort geht man ins Extrem, wenn man sagt, es wäre ziemlich selbstsüchtig, an der eigenen Befreiung zu arbeiten. Das ist nicht fair, denn natürlich gibt es im Theravada auch Meditationen über „Metta“ und über Liebe und Mitgefühl. Was ist jedoch wichtiger? Ist es wichtiger, fair zu sein oder in dieser Situation den Menschen zu helfen, ihre Selbstzentriertheit zu überwinden? Was hat in diesem Kontext mehr Bedeutung, wenn wir jemanden helfen oder uns selbst schulen wollen?

Besteht die Hauptaufgabe darin, gegenüber allen Traditionen fair zu sein und sie authentisch zu präsentieren, so wie sie sind (wie beispielsweise in einem Kurs in vergleichender Religionswissenschaft an der Universität)? Oder besteht das eigentliche Ziel nicht in vergleichender Religionswissenschaft, sondern darin, sich zu üben, um Befreiung und Erleuchtung zu erlangen (wozu es notwendig ist, Selbstbezogenheit zu überwinden)?

Wenn es unser Ziel ist, Befreiung und Erleuchtung zu erlangen, können diese anderen Traditionen ruhig Extreme anführen, die wir vermeiden sollten. Ja, das ist nicht fair. Gewiss ist die Mahayana-Darstellung des Hinayana nicht fair gegenüber allen Dinge im Hinayana. Wenn wir die Tradition lediglich auf diesen extremen Standpunkt reduzieren würden, wäre das ein Problem und keine gültige Sichtweise. Wir unterscheiden zwischen unterschiedlichen Merkmalen für verschiedene Zwecke. Es ist also ausgesprochen wichtig, nicht naiv in Bezug auf diese Darstellung anderer Traditionen zu sein, die wir im Buddhismus haben. Grundsätzlich geht es darum, Einwände hervorzubringen, um mehr Sicherheit auf dem Pfad der persönlichen Entwicklung zu bekommen.

Genauso verhält es sich mit westlichen religiösen Traditionen, über die wir gesprochen haben. Wir gehen mit einem bestimmten Punkt ins Extrem und sehen, inwieweit uns das weiterhelfen kann. Wie kann es hilfreich sein, die Parameter eines anderen Systems auf den Buddhismus zu projizieren, die nicht wirklich passend sind?

Nun gut, lassen Sie uns mit unserer Analyse weitermachen.

Schlussfolgernde und einfache Wahrnehmung

Das Begreifen – wir reden immer noch über das Begreifen – erfolgt entweder mit gültiger, einfacher Wahrnehmung (tib. mngon-sum tshad-ma) oder gültiger, schlussfolgernder Wahrnehmung (tib. rjes-dpag tshad-ma).

Wenn wir „Ngön-sum“ mit „bloßer Wahrnehmung“ übersetzen, bezieht sich das auf die Verwendung dieses Begriffs in den Schulen des Sautrantika, Chittamatra und Svatantrika. In ihnen besteht der Unterschied darin, dass bloße Wahrnehmung nicht-konzeptuell und schlussfolgernde Wahrnehmung konzeptuell ist. „Bloße“ heißt also, ohne das Medium konzeptueller Wahrnehmung. Darum geht es hier nicht. Das ist ein Unterschied zu Tsongkhapas Version des Prasangika.

Gemäß Tsongkhapas Darstellung des Prasangika, bedeutet „Ngön-sum tschä-ma“ einfache Wahrnehmung: sie stützt sich nicht direkt auf eine Argumentationskette und sie kann konzeptuell oder nicht-konzeptuell sein. Sie ist einfach: sie beruht nicht auf einer Kette von Argumenten. Schlussfolgernd ist konzeptuell; sie stützt sich direkt auf eine Argumentationskette. Ich werde Ihnen ein einfaches Beispiel geben.

Konzeptuell heißt, beruhend auf einer Kategorie. Beispielsweise haben wir die Kategorie „Hund,“ wir sehen ein einzelnes Tier und würden es in der Kategorie „Hund“ wahrnehmen. Das wäre konzeptuell, nicht wahr? Wir stecken es in die Schublade „Hund.“

Wenn wir uns auf Leerheit konzentrieren, geht es zunächst um das Schlussfolgern, also die Argumentationskette – ich werde hier nicht weiter ins Detail gehen – „weder eins noch viele“ und somit gelangen wir zur Leerheit. Das ist schlussfolgernde Wahrnehmung.

Mit der schlussfolgernden Wahrnehmung richten wir uns durch die Kategorie „Leerheit“ auf die Leerheit. Ist es nicht so? Egal worauf wir uns richten, alles passt in diese Kategorie der „Leerheit.“ Wir haben also eine Kategorie direkt vor uns und sehen durch sie hindurch das, worauf wir uns richten und stecken es in diese Kategorie oder Schublade. Das ist konzeptuell.

Wir entwickeln das, indem wir uns auf die Argumentationskette stützen. Das ist schlussfolgernd. Und dann sind wir so vertraut damit geworden, dass wir keine Überlegungen mehr anstellen müssen, sondern ohne Umschweife, jedoch immer noch durch eine Kategorie, dorthin gehen können. Das ist konzeptuelle einfache Wahrnehmung. Und schließlich ist es uns möglich, nichtkonzeptuelle einfache Wahrnehmung zu haben. Dabei stützen wir uns nicht auf eine Kette von Argumenten und zudem gibt es keine Kategorie; wir stecken es nicht in eine Schublade.

Dieser Punkt ist sehr wichtig und diese Unterscheidung ist wirklich sehr hilfreich. Wie entwickeln wir Mitgefühl? Nun, zu Beginn gehen wir die Zeilen durch: „Jeder ist gleich. Jeder möchte glücklich sein. Niemand will unglücklich sein.“ Wir arbeiten uns heran, aber schließlich ist es nicht mehr notwendig, diese Zeilen durchzugehen; wir haben es einfach verinnerlicht. Daher ist diese Unterscheidung, in Bezug auf unsere Praxis und wie wir uns tatsächlich entwickeln, äußerst wichtig. Wir können uns bewusst darüber sein, dass es unterschiedliche Ebenen des Begreifens und unterschiedliche Ebenen des Verstehens sind. Wie verstehen wir etwas? Nun, wir müssen uns selbst durch all diese Schritte durcharbeiten, um eine Überzeugung zu erlangen; und dann können wir es verstehen. Oder wir verstehen es einfach, ohne all diese Schritte durchgehen zu müssen, jedoch sind diese Schritte die Grundlage. Diese Sache in Bezug auf die Schritte, wie unser Verständnis mehr und mehr Tiefe entwickelt, ist wirklich wichtig.

Verstehen Sie diesen Unterschied und wie das in der Praxis aussehen würde? Wir senden jemandem eine SMS, eine E-Mail oder etwas anderes und bekommen beispielsweise nicht sofort eine Antwort. Wir müssen darüber nachdenken, um nicht gleich wütend zu werden. Um das zu vermeiden, überlegen wir: „Warum hat mir die Person nicht sofort geantwortet?“ Wir gehen eine Kette von Argumenten durch: „Ich bin nicht das Einzige, was in dem Leben der dieser Person geschieht. Im Leben eines jeden geschehen viele Dinge. Ich bin nicht das Zentrum des Universums. Es könnte viele Gründe geben, warum sie mir nicht sofort geantwortet hat. Ich muss also Geduld haben.“ Wir entwickeln somit Geduld auf Grundlage einer Kette von Argumenten.

Das ist eine Ebene des Verständnis, auf der wir uns etwas wirklich erarbeiten müssen, um zur Ruhe kommen zu können. Irgendwann werden wir dieses Verständnis jedoch – wie wir es mit westlichen Begriffen ausdrücken würden – verinnerlicht haben. Wenn uns die Person dann nicht antwortet, müssen wir das nicht immer alles durchgehen, verstehen Sie? Natürlich kann der andere gerade beschäftigt sein. Es gibt so viele Dinge, die ihn daran hindern könnten, mir sofort zu antworten. Und warum sollte er mir auch unmittelbar eine Antwort geben?

Wenn wir eine nichtkonzeptuelle, einfache Wahrnehmung haben, wie wissen wir dann, dass wir nicht eigentlich die Bedeutung von etwas vergessen haben?

Nun, da gibt es wiederum Kriterien: Ist es korrekt? Ist es entschieden? Das sind die Kriterien, die wir immer erwägen müssen. In Bezug auf dieses Beispiel des Entwickelns von Geduld, weil der andere nicht sofort antwortet, fragen wir uns: „Habe ich wirklich Geduld? Oder bin ich immer noch verunsichert und frage mich, warum der andere nicht geantwortet hat?“ Wir schauen uns das in ganz alltäglichen Situationen an: Wie oft sind wir genervt, wenn wir nur den Anrufbeantworter dran haben und die Person nicht erreichen können? Es passiert ganz leicht, dass wir uns dann ärgern, nicht wahr? Und wir werden noch wütender, wenn der andere nicht einmal einen Anrufbeantworter hat.

Wir denken vielleicht, wir hätten eine einfache, nichtkonzeptuelle Wahrnehmung, aber vielleicht sind wir auch einfach nur verwirrt, wenn wir beispielsweise keine Antwort bekommen.

Ja, es könnte sein, dass wir uns an ein falsches Verständnis gewöhnt haben und denken, wir hätten etwas verstanden – wir hätten es sogar nichtkonzeptuell verstanden – dabei haben wir es tatsächlich völlig falsch verstanden. Wir könnten uns an ein falsches Verständnis gewöhnt haben und denken: „Nun, ganz offensichtlich mag mich die Person nicht und deshalb antwortet sie mir nicht sofort. Das ist mein Verständnis und meine Sichtweise, ich reagiere dementsprechend, ich bin mir absolut sicher und muss es nicht logisch ausarbeiten.“ Wir haben es nicht begriffen, denn was wir wahrnehmen ist nicht korrekt.

Nun, lassen Sie uns weitermachen.

Schlussfolgernde Wahrnehmung

Schlussfolgernd ist immer konzeptuell und stützt sich auf eine Argumentationskette. Es gibt drei Arten:

  1. Die erste Art der Schlussfolgerung ist die so genannte deduktive Logik (tib. dngos-stobs rjes-dpag). „Wo Rauch ist, muss auch Feuer sein. Hier gibt es Rauch, also muss es auch ein Feuer geben.“ Wir leiten etwas von der Natur der Dinge ab – wo Rauch ist, muss auch Feuer sein. Wir leiten es logisch ab: hier gibt es etwas Rauch, also muss es auch Feuer geben. Wir schlussfolgern etwas von dem Prinzip, wie die Dinge sind, von der Natur der Dinge, von einem Beispiel.
  2. Die zweite Art ist Bekanntheit (tib. grags-pa’i rjes-dpag). Wir hören ein Geräusch und beruhend darauf, dass es sich laut Konvention um den bekannten Klang eines Wortes handelt, folgern wir, dass es der Klang eines bestimmten Wortes ist und daraus leiten wir eine konkrete Bedeutung ab. Wie wissen wir, dass ein Geräusch irgendeine Bedeutung hat oder das es sich um ein Wort handelt? Die geschieht durch Schlussfolgerung, durch eine Konvention. Der ganze Vorgang des Verstehens einer Sprache geschieht durch Schlussfolgerung, indem wir bestimmte Konzepte von Worten und deren Bedeutungen erkennen.
  3. Die dritte Art der Schlussfolgerung ist die so genannte Schlussfolgerung beruhend auf Überzeugung (tib. yid-ches rjes-dpag). Da wir wissen, dass die Quelle der Information zuverlässig ist, können wir daraus schlussfolgern, dass das, was er oder sie sagt, wahr ist. Seine Heiligkeit der Dalai Lama führt das beste Beispiel an: Wie können wir unseren Geburtstag kennen? Es ist nicht möglich, es selbst zu wissen. Wir müssen uns auf eine zuverlässige Informationsquelle stützen – unsere Mutter oder die Geburtsurkunde. Auf irgendjemanden müssen wir uns verlassen und wir müssen überzeugt sein, dass es sich um eine verlässliche Quelle von Informationen handelt, von der wir wahre und korrekte Auskunft bekommen. Das ist die Schlussfolgerung.

Begreifen in konzeptueller Wahrnehmung

Wir können etwas entweder mit einfacher oder schlussfolgernder Wahrnehmung begreifen.

Wir begreifen also das Geräusch unseres weinenden Babys. Das ist ein Beispiel des Begreifens in der Kategorie nichtkonzeptueller einfacher Wahrnehmung. Es ist korrekt, entschieden und wir hören es.

Dann schlussfolgern wir: das Baby weint, folglich muss es einen Grund geben, warum es weint (es fühlt sich nicht gut oder braucht etwas) und daher muss ich aufstehen und mich um das Baby kümmern. Das ist Begreifen beruhend auf Schlussfolgerung und Argumentationsketten.

Wenn es gerade mitten in der Nacht ist und wir noch im Bett liegen, ist es vielleicht notwendig, eine Kette von Argumenten durchzugehen, weil wir nicht wirklich aufstehen wollen. „Das Baby weint. Vielleicht gibt es ein Problem. Ich werde wohl aufstehen müssen.“ Dann versuchen wir es mit Logik zu durchdenken. Aber vielleicht haben wir es schon so verinnerlicht, dass wir gar nicht darüber nachdenken müssen und einfach aufstehen.

Wie man sehen kann, stützen wir uns entweder auf eine Kette von Argumenten, oder auch nicht.

  • „Das Baby weint. Das heißt, irgendetwas stimmt nicht. Ich muss wohl aufstehen,“ auch wenn wir faul sind und nicht aufstehen wollen.
  • Oder es könnte eine andere Ebene sein, auf der wir nicht darüber nachdenken müssen, sondern es direkt verstehen und aufstehen.
Ist es aber nichtkonzeptuell oder konzeptuell, denn es gibt immer noch die Konzepte von „Baby“ und „Weinen?“

Nun, das stimmt, das ist das Konzept von „Baby“ und das Konzept von „Weinen.“ Es könnte konzeptuell oder nichtkonzeptuell sein. Den Unterschied zwischen diesen zwei haben wir noch nicht beschrieben. Das wird später kommen.

Das führt uns zum Thema: Zeit fürs Mittagessen. Wie können wir das wissen? Wir schauen auf diese zwei schwarzen Linien, im Innern dieses flachen, runden Gegenstandes aus Glas, der sich an unserem Handgelenk befindet. Wie können wir wissen, was es bedeutet? Wir schlussfolgern. Es gibt eine Konvention, dass es „13:00 Uhr“ bedeutet, was immer das heißen mag. Nun, es beruht auf einem Konzept oder einer Konvention und wir schlussfolgern daraus, dass es Zeit zum Essen ist.

Wenn wir beispielsweise hungrig sind, was ist das?

Das ist ein gutes Beispiel. Wir haben eine Sinnesempfindung. Was ist diese Sinnesempfindung? Was empfinde ich? Ich weiß nicht was ich empfinde.

Immer wenn ich dieses Gefühl habe, nehme ich es durch die Kategorie „Hunger“ wahr. Und durch eine Schlussfolgerung, muss ich, wenn ich diese Sinnesempfindung habe, biologisches Material in meinen Mund schieben, es kauen und in den Magen befördern, um frei von diesem Gefühl zu werden. Ich werde eine Art so genannter „Nahrung“ aufnehmen müssen, um dieses Gefühl loszuwerden. 

Woher um alles in der Welt können wir das wissen? Nun wird es interessant: Wie kann ein Säugling das wissen?

Oder ein Tier?

Ein neu geborenes Tier hat dieses Wissen gleich nach der Geburt. Nun kommen wir zum Instinkt und all diese Dinge. Aber lassen Sie uns zunächst zum Mittagessen gehen.

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