Etwas verstehen: Rückblick zum Thema Begreifen

Was heißt es, etwas zu verstehen? Das ist eine wirklich wichtige Thematik, denn es gibt so viele Dinge, die wir verstehen müssen. Die Rede ist nicht einfach nur davon, die verschiedenen Punkte im Dharma zu verstehen. Auch in unserem täglichen Leben spielt diese Frage eine wichtige Rolle. Es ist notwendig, die Sprache zu verstehen und das, was die Menschen sagen. Wir müssen andere Menschen und ihre Probleme verstehen können. Wie verstehen wir das, was sie zu uns sagen? Verstehen wir nur die genauen Worte oder erfassen wir die tiefere Bedeutung dahinter? Manchmal ist es notwendig zu verstehen, wie wir einen neuen Computer benutzen. Wir müssen uns selbst und unser Verhalten verstehen, um es verbessern zu können, wenn es in irgendeiner Weise fehlerhaft ist. Es ist wichtig zu verstehen, warum ich auf diese Weise und der andere auf jene Weise handelt. Dabei geht es nicht um irgendein esoterisches Thema der Erkenntnistheorie, welches interessant sein mag oder auch nicht. Die Rede ist von ganz maßgeblichen Dingen, die notwendig sind, um mit Angelegenheiten des täglichen Lebens umgehen zu können.

Geistige Aktivität ist bloße Klarheit und Gewahrsein

Grundlegende geistige Aktivität ist das Erscheinen eines geistigen Hologramms und einer geistigen Beschäftigung – eine Art kognitives Sichbefassen damit. Dies sind zwei Arten, das gleiche Ereignis zu beschreiben. Es ist nicht so, dass ein Gedanke erscheint und wir ihn dann erst denken; mit dem Erscheinen des Gedankens, denken wir ihn auch. Und das ist alles, was geschieht; es gibt kein getrenntes Ich, welches ihn kontrolliert oder beobachtet.

Übrigens ist das etwas ausgesprochen Wichtiges, wenn wir Achtsamkeitsmeditation praktizieren, was Sie hier wahrscheinlich auch tun. Es geht darum, diese Komplikationen zu vermeiden, die während dieser Meditation entstehen könnten. Denn wenn wir das Erscheinen der verschiedenen Gedanken, Emotionen, Sinnesempfindungen oder Ähnlichem beobachten, besteht die Gefahr zu denken, es gäbe ein getrenntes Ich, das all diese Dinge wahrnimmt. Alles, was passiert, ist das Erscheinen dieser Empfindungen als geistiges Hologramm, ein kognitives Sichbefassen damit und es wird von Gewahrsein und Aufmerksamkeit gegenüber dem begleitet, was da ist; aber das ist einfach nur ein anderer Geistesfaktor. Es gibt kein Ich, welches von all dem getrennt ist und hinten in unserem Kopf als Beobachter sitzt. Das Problem ist natürlich, dass es sich so anfühlt. Es fühlt sich so an, als gäbe es da dieses kleine Ich, welches hinten in unserem Kopf sitzt und alles beobachtet. Das ist eine trügerische Erscheinung. Es ist trügerisch, denn es führt uns in die Irre und lässt uns denken, es würde der Realität entsprechen.

Was bedeutet es, etwas zu begreifen?

Es gibt viele Möglichkeiten, Objekte zu kennen oder wahrzunehmen. Die Wahrnehmung kann korrekt und sie kann fehlerhaft sein. Wir könnten uns über etwas sicher und wir könnten uns über etwas unsicher sein. Es könnte sich einfach nur um eine Vermutung handeln: „Ich vermute, das ist dein Problem. Ich weiß es nicht genau, aber ich vermute es.“ Es gibt viele verschiedene Arten der Wahrnehmung. Einige Arten der Wahrnehmung werden jedoch als „Begreifen“ bezeichnet und das Begreifen wir definiert als eine korrekte und entschiedene Wahrnehmung von etwas.

Wir können das anhand des folgenden Beispiels betrachten. Jemand sagte „ja,“ wir haben „ja“ gehört und sind uns sicher, das die Person „ja“ gesagt hat. Es ist nicht so, dass die Person „ja“ gesagt hat, wir aber „nein“ gehört haben oder dass wir uns nicht sicher sind, was sie gesagt hat (ob sie „ja“ oder „nein“ gesagt hat). Und nur weil es sich um ein korrektes und entschiedenes Begreifen handelt, heißt das nicht, wir hätten verstanden, was die Person damit gemeint hat, als sie „ja“ sagte.

Wenn jedoch von einem Verständnis die Rede ist (natürlich sollte es ein zuverlässiges Verständnis sein), begreifen wir es auch. Anders ausgedrückt, muss unser Verständnis korrekt und entschieden sein. Wir könnten die Dinge natürlich auch völlig falsch verstehen und wir könnten meinen: „Nun, ich denke, ich habe dies verstanden, bin mir aber nicht sicher.“ Das ist auch nicht zuverlässig. Und wir könnten vollkommen überzeugt davon sein, dass unser Verständnis korrekt ist, obwohl es tatsächlich falsch ist. Daher ist es äußerst wichtig, diesen grundlegenden Faktor des Begreifens zu verstehen, wenn wir uns einfach nur mit dem Begreifen oder dem Verstehen auseinandersetzen wollen.

Begreifen ist fehlerfrei

Ein fehlerfreies Begreifen oder Verstehen muss drei Kriterien erfüllen.

1. Es muss eine gewisse Konvention geben.

Hier können wir das Beispiel der Leerheit im Dharma nutzen. Ist im Dharma die Rede von Leerheit? Ja, es gibt die Konvention, dass im Dharma über Leerheit gesprochen wird.

Das führt zu einer komplizierten Sache, die mir gerade eingefallen ist. Denn die meisten von uns befassen sich in der Regel mit dem Dharma in einer übersetzten Sprache und dann stoßen wir auf Wörter mit starker christlicher Prägung, die für buddhistische Begriffe benutzt werden, wie beispielsweise das Wort „Sünde.“ Wir könnten fragen: „Gibt es da diese Konvention?“ Und wenn man sich die Menge an Übersetzungen ansieht, muss man sagen: „Ja, denn viele Übersetzer haben diese Konvention benutzt. Aber besteht diese Konvention auch in den ursprünglichen Sprachen?“ Nun, das ist das Problem. Nur weil eine Gruppe von Übersetzern diese Konvention angenommen hat, heißt nicht, es würde sich um eine korrekte Übersetzung handeln. Wir müssen uns also das zweite Kriterium ansehen:

2. Sie steht nicht im Widerspruch zu einem Geist, der konventionelle Wahrheit als gültig wahrnimmt.

Sehen wir uns die Definition des Wortes „Sünde“ an. Was ist die Bedeutung des Wortes in unserer Sprache? Worauf deutet sie hin? Sie deutet darauf hin, dass es eine Reihe von Gesetzen gibt, die von einer höheren Autorität, von Gott, festgelegt wurden. Und wenn wir das Gesetz brechen, wenn wir es nicht befolgen, machen wir uns schuldig; es ist eine Sünde und wir müssen bestraft werden. Konventionell sehen wir uns daraufhin all die buddhistischen Texte an. Können wir irgendetwas in dieser Richtung in den buddhistischen Schriften finden? Gibt es einen Richter und Gesetze? Werden Wesen als schuldig oder nicht schuldig bezeichnet? Auch wenn wir uns eine Vielzahl der ursprünglichen Texte ansehen, können wir nichts dergleichen finden. Es gibt nichts in dieser Hinsicht. Es ist einfach nichts vorhanden.

Was heißt das im Allgemeinen, in Bezug auf diesen Begriff in allen Texten? Was bedeutet dieser Begriff? Für unseren tibetischen Studenten heißt das Wort auf tibetisch „Digpa“ (tib. sdig-pa). Es handelt sich um eine negative Kraft, ein negatives Potenzial, das entsteht, wenn wir aus Unwissenheit und Verwirrung hinsichtlich der Realität auf schädliche Weise handeln. Es entsteht aus Verwirrung, nicht aus Missachtung eines Gesetzes: „Ich wusste nicht, dass es zu Problemen und Leiden kommen würde, wenn ich auf diese Weise handele.“

Wenn wir diesen Begriff als „Sünde,“ mit all der christlichen Bedeutung, verstehen, steht das im Widerspruch zu einem Geist, der die Texte auf gültige Weise liest, den Buddhismus studiert und die konventionelle Wahrheit der Lehren kennt. Daher ist es von großer Wichtigkeit, einen kritischen Geist hinsichtlich der übersetzten Begriffe zu haben, wenn wir den Buddhismus in einer übersetzten Sprache studieren, denn viele dieser Begriffe sind irreführend. Zum Beispiel Worte wie „Segen“ – „Segne mich, damit ich es verstehen kann“ – das ist wirklich kein buddhistisches Konzept, sondern ein christliches.

3. Sie steht nicht im Widerspruch zu einem Geist, der tiefste Wahrheit als gültig erkennt.

Die tiefste Wahrheit ist, dass alles in Abhängigkeit entsteht – alles entsteht abhängig von geistigem Zuschreiben. Nun, was bedeutet das? Diese Dinge zu verstehen, ist nicht so einfach. Was sind Dinge? Dinge sind frei davon, auf unmögliche Weise zu existieren.

Worum geht es hier, wenn wir uns auf diese Dinge beziehen, die konventionell als „Sünde“ oder „negatives Potenzial“ bezeichnet werden? Was rechtfertigt diese Dinge? Was ist eine Sünde? Eine Sünde ist das, worauf sich das Wort oder Konzept für „Sünde“ bezieht. Nichts auf der Seite des Objektes legt es als eine Sünde fest. Es gibt ein Konzept der Sünde, dass diesem Objekt zugeschrieben wird: „Es ist eine Sünde.“ Man hat jemanden getötet, gelogen, oder was auch immer. Es ist einfach die Handlung des Tötens, Lügens usw., nicht wahr? Es gibt nichts Innewohnendes, das es aus eigener Kraft zu einer Sünde macht.

Was ist eine Sünde? Nun, da gibt es das Konzept „Sünde“ und es ist das, worauf es sich, beruhend auf dieser Handlung, bezieht. Es erscheint als Sünde nur auf der Grundlage dieses Konzeptes einer Sünde. Und vielleicht handelt es sich um eine fehlerhafte geistige Benennung, denn wir könnten es auch als „negative Kraft“ oder „negatives Potenzial“ bezeichnen. Und auch das ist nur eine Konvention – aber eine genauere, denn sie entspricht der konventionellen Wahrheit, dem, was in den verschiedenen Texten gesagt wird.

Würden wir also denken, Sünde wäre, unabhängig von dem im christlichen Kontext erschienenen Konzept von „Sünde", das richtige Wort für „Digpa,“ stände das im Widerspruch zu einem Geist, der tiefste Wahrheit gültig wahrnimmt.

Durch so einen Prozess können wir zu einem korrekten Verständnis von etwas gelangen. Denken Sie darüber nach. Diese ganze Sache, dass Dinge abhängig vom geistigen Bezeichnen erscheinen, ist nicht einfach zu verstehen. Wenn Sie jedoch über diese Erklärung nachdenken, könnte das vielleicht etwas Klarheit bringen.

Ich fasse es noch einmal zusammen, um Ihnen dabei zu helfen, es zu verstehen. Sünde ist nur eine Konvention. Die gewöhnliche Bedeutung des Wortes „Sünde“ steht nicht im Einklang mit den Schriften und den Erklärungen in den Schriften. Und es handelt sich nur um eine Konvention. Es könnte also andere Konventionen und andere geistige Zuschreibungen geben. Nichts auf der Seite der Handlung macht es zu einer Sünde.

Auf diese Weise können wir kritische Überlegungen anstellen, um etwas zu verstehen.

Begreifen ist entschieden

Und entschieden heißt dann, dass wir alles andere ausgeschlossen haben. In gewissem Sinn ist das wie bei der Leerheit. Leerheit ist die Abwesenheit von unmöglichen Existenzweisen, von unmöglichen Arten etwas zu begründen. Wenn wir alles ausgeschlossen haben, was unmöglich ist, was bleibt uns dann? Auf der einen Seite bleibt uns einfach eine Abwesenheit aller Unmöglichkeit. Darauf richten wir bei der Leerheit unsere Aufmerksamkeit. Richten wir uns auf die Abwesenheit von allem, was unmöglich ist – nun, was bleibt uns dann? Uns bleibt einfach diese Abwesenheit. Das ist also die Abwesenheit von allem. Wenn wir aber alles ausschließen, was unmöglich ist, dann bleibt uns das, was möglich ist, nicht wahr?

Wie bestimmen wir etwas? Wie erlangen wir Gewissheit darüber? Indem wir alles ausschließen, was es nicht ist; also ist es nichts anderes als das, was es ist.

Wir haben Sünde ausgeschlossen und wir haben alle anderen merkwürdigen Dinge ausgeschlossen, die es sein könnten, und dann sind wir uns sicher, dass es negative Kraft bedeutet. Wir verstehen, was es bedeutet. Wir verwechseln es nicht mit etwas anderem. Es ist wichtig, über all die möglichen Bedeutungen nachzudenken – natürlich nicht über alle im gesamten Universum, aber über all jene, die für einen Begriff im Buddhismus wahrscheinlich sind und schließen sie dann aus.

Ähnlich geht man in der Medizin vor. Wie diagnostiziert man etwas? Man testet verschiedene Dinge und sieht: dies ist es nicht, jenes ist es nicht, das ist es auch nicht und dies auch nicht. Schließlich bleibt einem das, was es sein muss. Einfach nur eine Diagnose zu erstellen, ohne andere Möglichkeiten auszuschließen, ist keine sehr sichere Methode. Man muss sicherstellen, ob es ein Problem gib und wo es liegt.

Ein einfaches Beispiel: Ich fühlte mich schwindelig und da ich hohen Blutdruck habe, vermutete ich, dass meine Medikamente neu eingestellt werden müssten. Ich ging also zu einem Kardiologen und tatsächlich war es so, dass die Medikamente neu eingestellt werden mussten. Um aber andere Möglichkeiten auszuschließen, schickte er mich noch zu einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt, der überprüfte, ob es vielleicht ein Problem mit meinem Innenohr gab. Außerdem musste ich noch zu einem Neurologen, um zu überprüfen, ob es vielleicht ein Problem mit Blut im Gehirn gab. All das wurde ausgeschlossen und dann konnten wir sicher sein, wodurch das Problem hervorgerufen wurde. Auf diese Weise erlangen wir Gewissheit.

Wenn wir etwas lernen, ist es sehr wichtig, Einwände hervorzubringen. Auf diese Weise können wir sehen, was es noch bedeuten könnte und dann jene Dinge ausschließen, die falsch sind, indem wir sie untersuchen. Wir schränken es einfach immer weiter ein und schließlich ist unser Verständnis korrekt und entschieden: „Ich bin mir sicher, was es bedeutet.“ Das ist wirklich wichtig.

Es passiert so leicht, Sachen nicht wirklich richtig zu verstehen. Wir wissen, dass alles durch geistiges Zuschreiben existiert: wir können Dinge nur begründen, indem wir sie geistig bezeichnen. Wir könnten also denken, Raum und Zeit wären lediglich geistige Konzepte und es würde so etwas, wie Raum und Zeit nicht geben, sondern alles würde unabhängig von Raum und Zeit existieren. Es gibt einige indische Philosophien, in denen das behauptet wird; im Buddhismus gibt es diese Behauptung jedoch nicht. Ich erinnere mich ziemlich gut an die Zeit, als ich an der Universität all die verschiedenen indischen Philosophien studierte. Damals dachte ich, es würde sich hierbei tatsächlich um eine Behauptung des Buddhismus handeln (in jenen Tagen hatte ich noch nicht wirklich viel bei echten buddhistischen Meistern gelernt). Das war also ein fehlerhaftes Verständnis, welches beseitigt werden musste. Als ich später mein Wissen vertiefte, musste ich diese Dinge ausschließen.

Wir müssen es also immer überprüfen. Was verstehen wir und welche Schlussfolgerungen ziehen wir daraus? Sehr oft ist es so, dass wir Dinge aus anderen Philosophien in die buddhistischen Vorstellungen und Konzepte mit einbringen. Wir haben die buddhistischen Lehren nicht genug präzisiert. Oder wir vermischen sogar innerhalb der buddhistischen Lehren die Erklärungen verschiedener Schulen.

Beispielsweise studieren wir tibetischen Buddhismus und sagen: „Im Buddhismus wird dieses oder jenes behauptet,“ aber im Theravada-, Zen-, oder Reine-Land-Buddhismus werden diese Behauptungen keinesfalls aufgestellt werden. Es handelt sich um die indisch-tibetische Tradition, in der zahlreiche Punkte anders sind.

Und wenn wir innerhalb der Gelug-Schule Madhyamaka-Prasangika studieren, denken wir oft: „Im Prasangika wird dies gesagt,“ dabei handelt es sich lediglich um die Gelugpa-Version des Prasangika, in der es diese Behauptung gibt. In jeder der tibetischen Schulen gibt es ein gänzlich anderes Verständnis des Prasangika. Und sogar innerhalb des Gelugpa-Prasangika gibt es verschiedene Lehrbücher der einzelnen Klöster und somit unterschiedliche Traditionen. Auch sie unterscheiden sich. Wenn wir beginnen, Erklärungen einer Schule mit denen einer anderen zu vermischen, sehen wir, dass sie nicht unbedingt so gut zusammen passen und werden Widersprüche finden. Wenn wir Dinge vermischen und aus allem einen großen Eintopf machen, führt das einfach nur zu Verwirrung. Es ist, als würde man sagen, alle Religionen wären gleich.

Heißt das, wir sollten keine Erklärungen anderer Schulen studieren? Nein, das bedeutet es nicht. Wenn wir die Fähigkeit haben, uns davon nicht verwirren zu lassen, können wir – ohne die verschiedenen Standpunkte zu verwechseln – es so betrachten, dass man etwas auf eine, auf eine andere oder auf eine dritte Weise erklären kann. Dadurch bekommen wir eine viel breitere Sicht der verschiedenen Möglichkeiten, wie etwas erklärt oder verstanden werden kann. Beispielsweise gibt es verschiedene Ebenen. Wenn wir von Ebenen reden, könnte man denken, die eine wäre besser als die andere. Vielmehr gibt es jedoch verschiedene Standpunkte und jeder von ihnen hat seine Gültigkeit. Das bereichert unser Verständnis, wenn wir sie nicht verwechseln.

Hier ist ein Beispiel, das ich sehr hilfreich finde. In Bezug auf die verschiedenen Geistesfaktoren, wie die störenden Emotionen usw., finden wir in den Abhidharma-Texten von Vasubandhu und in den Abhidharma-Texten von Asanga etwas unterschiedliche Definitionen. Lernen wir beide Definitionen, wird das unser Verständnis bereichern. Und in den Texten von Buddhagosha in der Theravada-Tradition gibt es wieder andere Definitionen dieser gleichen Geistesfaktoren. Dadurch erlangen wir weitere Einsicht und wiederum Gewissheit. Gewissheit bedeutet nicht, dogmatisch zu sein und zu denken: „Nur so kann man es verstehen.“

Vergleich westlicher und dharmischer Religionen

Es gibt einen Unterschied zwischen unseren westlichen Religionen und jenen des Dharma, den so genannten Religionen des Hinduismus und Buddhismus. Ich entnehme das der Analyse eines Buches, „Being Different“ von Rajiv Malhotra, einem indischen Autor. Er weist darauf hin, dass sich unsere westlichen Traditionen immer auf die Geschichte beziehen.

Was bedeutet das? Es bedeutet, dass die Zeit einen Anfang und ein Ende hat. Für eine historische Person gab es ein historisches Ereignis, als ihr die letztendliche Offenbarung der Wahrheit Gottes zuteil wurde (also entweder Moses, Jesus oder Mohammed hat die Gesetze Gottes empfangen). Dabei ist die Lebensgeschichte dieser drei Personen von essenzieller Bedeutung. Es handelt sich um die letztendliche Wahrheit und schließlich liegt es an uns, diese Wahrheit zu akzeptieren. Es handelt sich nicht um etwas, das wir selbst herausfinden könnten. Wenn wir es selbst herausfinden könnten und sagen würden: „Oh, ich hatte eine Offenbarung Gottes“ – nun, was ist mit vielen dieser Menschen geschehen, die hervorgetreten sind und das behauptet haben? Sie wurden als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Sie galten als „vom Teufel besessen.“

In den dharmischen Traditionen (Hinduismus und Buddhismus) sieht das ganz anders aus. Sie sind nicht historisch orientiert und fokussieren sich nicht auf dieses Ereignis. Jeder von uns ist fähig, die Wahrheit der Realität selbst zu verstehen und zu erkennen. Das ist die ganze Grundlage der Dharma-Tradition, nicht wahr? Verschiedene Lehrer, einschließlich dem Buddha, konnten uns den Weg weisen, aber jeder muss es selbst herausfinden. Das ist etwas völlig anderes. Und logischerweise gibt es zahlreiche gültige Erklärungen, die auf den Erfahrungen verschiedener Menschen beruhen.

In den indischen Traditionen herrscht ein großes Durcheinander. Das ist jedoch kein Problem, denn es gibt eine große Vielfalt und so ist ja auch das Universum aufgebaut. Wenn Sie jemals in Indien waren oder dort gelebt haben, wissen Sie, dass dort, von unserer Sichtweise aus betrachtet, überall Chaos herrscht, aber es funktioniert perfekt. Niemand hat ein Problem damit, während in den abrahamitischen Traditionen Chaos als Bedrohung angesehen wird. Es stellt gegenüber der Autorität der einen Wahrheit eine Bedrohung dar. Und dann muss man es kontrollieren, es beherrschen und sicherstellen, dass alles einheitlich ist, dass alle das gleiche glauben, eine Wahrheit usw. Das ist etwas völlig anderes, nicht wahr? Wenn wir uns dem Dharma nähern und sehen: von einem Autor wird es auf eine Weise erklärt, von einem anderen Autor auf eine andere Weise und: in dieser Schule wird es so gelehrt und in jener anders, ist unsere typische westliche Erwiderung darauf, zu denken: „Aber was bedeutet es denn nun wirklich?” Wir können einfach nicht mit Chaos umgehen. Wir müssen alles kontrollieren und alles muss sich unter unserer Kontrolle befinden: die eine Wahrheit – das was es nun wirklich bedeutet. Wenn wir auf diese Weise an den Dharma herantreten, werden wir Probleme bekommen.

Anhand der zahlreichen Erklärungen, die alle gültig sind – wir reden von gültigen Erklärungen, nicht von verrückten – können wir etwas begreifen. Es kann korrekt, es kann entschieden, aber individuell sein. Wie in dem klassischen Beispiel, in dem Menschen etwas als Wasser, Geister als Eiter und Götter als Nektar betrachten. Sie alle liegen richtig. Sie sind fehlerfrei, korrekt und entschieden. Dann fragen wir: „Aber ist es nun wirklich...?“ Es stammt aus einem völlig anderen kulturellen Umfeld.
Wir können es aber auch auf ein Beispiel anwenden, mit dem wir eher etwas anfangen können, als mit dem Eiter/Wasser/Nektar-Phänomen. Was ist zum Beispiel das? Für Erwachsene ist es eine Uhr. Für ein Baby ist es ein Spielzeug. Was ist es nun wirklich? Ist das Eine gültiger als das Andere? Denken Sie darüber nach.

Das ist das wesentliche Prinzip einer Familientherapie, bei der es im Rahmen dieses Therapiezweigs um das Prinzip multidimensionaler Fairness geht. Man versammelt alle Familienmitglieder und fragt jeden, wie er oder sie die Situation sieht und was seiner oder ihrer Meinung nach das Problem ist. Man ist gegenüber jedem in der Familie gleichermaßen fair. Der Punkt ist, dass sowohl die Wahrnehmung des Kindes, als auch die der Mutter und des Vaters gültig sind. Und um die Situation wirklich verstehen zu können, muss man die Sichtweise von allen kennen. Das ist wie in dem Beispiel mit dem Wasser, Eiter und Nektar.

Es gibt also viele verschiedene Aspekte in Bezug auf das Verstehen, aber jeder muss korrekt und entschieden sein, um Verlässlichkeit und Gültigkeit zu haben. Alles klar? Denken Sie darüber nach.

Fragen

Ich habe einen Einwand in Bezug darauf, dass Verstehen Entschiedenheit haben muss. Auf diese Weise bekommt eine bestimmte Geisteshaltung eine zusätzliche Ebene der Anhaftung. Ich bin mir nicht sicher, warum es notwendig sein sollte. Wenn Korrektheit schon da ist, denn schließt es doch bereits mit ein, sich über etwas sicher zu sein.

Ich habe das Beispiel angeführt: Ich denke, der andere hat „ja“ gesagt, bin mir aber nicht sicher. Es könnte eine korrekte Vermutung sein. Wenn die Person „ja“ sagt und wir verstehen „ja,“ sind uns aber nicht sicher, wäre es nicht entschieden. „Ich dachte, ich hätte dich gestern gesehen, bin mir aber wirklich nicht sicher.“ Das könnte eine korrekte Vermutung sein. Wenn wir die Antwort vermuten, könnten wir entweder die korrekte Antwort erahnen oder die falsche. Wenn es eine korrekte Antwort ist, liegen wir richtig, aber es ist eine Vermutung: wir sind uns nicht sicher.

Wir haben über die drei Merkmale gültiger Wahrnehmung gesprochen und darüber, dass eine andere Art des Begreifens gültig sein kann. Wie stehen diese Dinge zueinander in Beziehung? Gelten diese drei Merkmale nicht für eine Gruppe von Menschen als Ganzes, sondern für einzelne Personen?

Das beginnt, ziemlich kompliziert zu werden und das ist nur eine Vorwarnung. Ich werde versuchen, es zu erklären, aber seien Sie gewarnt, dass es etwas kompliziert werden kann.

Es gibt bestimmte Kriterien. Nehmen wir an, das Kind denkt, wir hätten „nein“ gesagt. Tatsächlich haben wir jedoch „ja“ gesagt und somit widerspricht sich die Aussage. Das Kind hat also ein fehlerhaftes Verständnis der Situation. Sehen wir uns das Beispiel mit dem Eiter/Wasser/Nektar-Phänomen an, wie es im Text beschrieben und erklärt wird. Es gibt in der Tat definierende Charakteristika des Phänomens. Sie haben nicht die Kraft, das Phänomen als dieses oder jenes festzulegen, aber konventionell handelt es sich um charakteristische Merkmale. Man kann sie nicht finden, aber sie sind da. Vonseiten des Objektes sind sie nicht auffindbar.

Ich benutze hier folgendes Beispiel, welches vielleicht etwas verständlicher ist: Nehmen wir an, wir hätten zwölf Eier und möchten ein Omlett zubereiten. Zwölf Eier kann man in drei Gruppen von jeweils vier, in vier Gruppen von jeweils drei und in sechs Gruppen von jeweils zwei unterteilen. Es ist eine Charaktereigenschaft der zwölf Eier, dass sie durch drei, durch vier, durch sechs und durch zwei geteilt werden können. Kann man dieses Merkmal bei den zwölf Eiern selbst finden? Wo? Diese zwölf Eier haben jedoch diese Charaktereigenschaften, diese definierenden Charakteristika. Denken Sie darüber nach. Ich liebe dieses Beispiel.

Es ist nicht einfach nur ein Konzept, dass sie durch vier, drei und sechs teilbar sind. Natürlich ist es ein Konzept, aber es bezieht sich auf etwas, das tatsächlich zutrifft. Der Punkt ist, dass es viele gültige charakteristische Eigenschaften eines jeden Phänomens gibt. Natürlich wird es durch geistige Zuschreibung festgelegt; konventionell gibt es jedoch zahlreiche definierende Charakteristika, die gültig sind.

Nehmen wir das Beispiel der Familie und den bestimmten Verhaltensweisen – jemand mag sich mit dem einen charakteristischen Merkmal auseinandersetzen und eine andere Person in der Familie mit einem anderen. Beispielsweise sagt das Kind: „Du sagst nie, dass du mich liebst.“ Und es stimmt, der Vater sagt es wirklich nicht. Es könnte also korrekt sein. Dann sagt der Vater: „Nun, aber ich arbeite und gebe dir ein Zuhause, Geld und alle möglichen Dinge.“ Das ist korrekt. „Kleidung, Nahrung – all das stelle ich dir zur Verfügung.“ Wir haben also zwei definierende Charakteristika im Verhalten des Vaters. Eine besteht darin, dass der Vater nicht sagt, er würde das Kind lieben und die andere, dass er dem Kind alles Materielle zur Verfügung stellt. Man richtet also auf jede dieser Eigenschaften entschieden und exakt seine Aufmerksamkeit – beide sind korrekt. Bei beiden handelt es sich um eine korrekte Beurteilung der Situation. Der Unterschied entsteht, wenn sie interpretiert werden.

Das bringt uns zum Schlussfolgern. „Du sagst nicht, dass du mich liebst. Daraus schlussfolgere ich, dass du mich nicht liebst, weil du es nicht sagst.“ Darauf antwortet der Vater: „Aber ich stelle dir all diese Dinge zur Verfügung. Ich liebe dich. Wenn ich dich nicht lieben würde, würde ich dir nicht all das geben.“ Die objektiven Fakten der Situation wären, dass jede Person es auf gültige Weise begreift, aber die geistige Benennung (wie sie es verstehen) ist: Es ist korrekt, dass sich das Kind nicht geliebt fühlt und der Vater meint, er würde es lieben. Von ihrer Sichtweise aus gesehen, ist es korrekt. Haben sie jedoch ein Verständnis für den jeweils anderen? Hierbei geht es um den Austausch. „Für mich fühlt es sich so an, als würdest du mich nicht lieben, denn du sagst es nie.“ Daraufhin sagt der Vater: „Aber ich liebe dich.“

In so einer Situation – und besonders bei Partnern – ist es wichtig zu lernen, verschiedene Währungen zu akzeptieren (wie es von einem Psychologen, dem Gründer dieser Schule, ausgedrückt wird). Das Kind will vielleicht in Dollar ausgezahlt werden (also Zuneigung) und der Vater bietet ihm Euros an (Fürsorge). Wir müssen also lernen, dass es in Ordnung und gültig ist, in jeder Währung zu zahlen. Das ist der Trick.

So kann man es in der Beziehung mit anderen anwenden und auch vom Standpunkt des Dharma aus, ist dies eine wirklich gültige Form der Analyse. Es gibt verschiedene Erklärungen, verschiedene Arten des Verstehens und alle sind gleichermaßen gültig. Wir müssen lernen, dass es sich einfach um eine andere Form des Verständnisses handelt (also im Grunde um eine andere Währung). Dies trifft besonders auf Meditations-Methoden und diese ganze Sache der Mantra-Meditation zu. Denken Sie darüber nach. Die Tibeter lieben Mantras und sagen, sie sind eine großartige Sache, um den Geist zur Ruhe kommen zu lassen, ihn zu fokussieren usw. Fragen wir jedoch jemanden, der Theravada praktiziert, würde er antworten: „Oh, befasse dich bloß nicht mit Mantras. Das ist nur geistiges Geschwätz. Wir sollten daran arbeiten, den Geist zu beruhigen.“ Wie geht man nun damit um? Beide Seiten beziehen sich auf ein anderes charakteristisches Merkmal der Mantra-Rezitation, beide haben ein anderes Verständnis und innerhalb jedes dieser Systeme ergibt es einen Sinn. Wenn wir wirklich ein Verständnis von Mantra-Rezitation bekommen wollen, ist es hilfreich, diese verschiedenen Auffassungen zu kennen. Dann können wir erkennen, was für uns am nützlichsten ist.

Vielleicht machen wir mehrere verschiedene Meditationen, wie es auch hier praktiziert wird. An einem Abend machen wir die Tara-Meditation und rezitieren Mantras, an einem anderen Abend widmen wir uns der Achtsamkeitsmeditation, im Grunde wie im Theravada. Wenn wir die Tara-Meditation machen, ist es notwendig die Entschiedenheit zu haben, dass es nützlich ist. Wir denken nicht: „Vielleicht ist es nützlich, aber im Theravada sagen sie, dass es nur störende Geräusche in unserem Kopf sind und wir den Geist beruhigen müssen.“ Auf diese Weise hätten wir nicht die Entschiedenheit, dass es sich hierbei um eine geeignete Meditation für uns handelt. Und natürlich profitiert man auf diese Weise nicht wirklich davon. Wir sind nicht überzeugt von dem was wir tun und stellen es in Frage. Wenn wir den Tara-Mantra oder irgendeinen anderen Mantra rezitieren, verstehen wir, dass es richtig ist und wir sind entschieden: „Es ist sinnvoll und hat diesen und jenen Nutzen.“ Wir konzentrieren uns auf ein charakteristisches Merkmal des Mantras, welches darin besteht, uns dabei zu helfen, einen bestimmten Geisteszustand zu erzeugen usw.

Wenn wir uns bei einer anderen Gelegenheit der Achtsamkeitsmeditation widmen, lassen wir uns völlig darauf ein. Wir richten uns auf die andere charakteristische Eigenschaft, die darin besteht, dass es sich bei einem Mantra, der in unserem Kopf auftaucht, nur um geistiges Geschwätz oder ein störendes Geräusch handelt, welches vorüberzieht. Wir richten unsere Aufmerksamkeit also korrekt und entschieden auf eine jeweils andere charakteristische Eigenschaft von Mantras.

Beide charakteristischen Eigenschaften sind gültig, wie in dem Beispiel, in dem Dinge durch vier oder drei teilbar sind. Alles ist im jeweiligen Kontext gültig und daher herrscht hier kein Chaos. Im Kontext der Hungergeister ist es Eiter, in dem der Menschen ist es Wasser. Im Kontext der Tara-Meditation ist das Mantra eine Sache. Im Kontext der Achtsamkeitsmeditation ist das Mantra etwas anderes. Das ist kein Problem und auch kein Widerspruch.

Wenn wir nun im Buddhismus denken: „Buddha hat wie Moses eine Offenbarung von wer weiß wem bekommen und gesagt, wir sollten Mantras rezitieren, oder Vajradhara hat uns aufgetragen, Mantras zu nutzen und dies wäre die einzige Wahrheit,“ werden wir jede Menge Probleme mit der Vielzahl von Meditationen haben, die gemacht werden. Es ist nicht so, dass Buddha die Wahrheit verkündet hat und das wars. Buddha hat viele Dinge gesagt.

Darin besteht das Problem, wenn wir Buddha nur als eine historische Figur sehen. Dann denken wir: „Nun, historisch gesehen hat Buddha dies nicht gemacht.“ Und dann haben wir die Mahayana-Version eines Buddha und die Tantra-Version eines Buddha und sind vollkommen verwirrt, nicht wahr? Es ist so, weil wir es nur auf diese lineare Weise sehen und meinen, es müsste ein historische Figur geben und ein historisches Ereignis wäre so wichtig.

Ich hatte ein sehr schönes Gespräch mit einem indischen Freund und er wies mich darauf hin, dass die meisten Inder nicht einmal an die Geschichtsschreibung oder an historische Dinge glauben. Das ist eine interessante Bemerkung, nicht wahr?

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