Wenn wir die Bodhisattva-Gelübde ablegen, versprechen wir zwei Kategorien von Handlungen zu unterlassen. Obwohl wir sie in unseren westlichen Sprachen üblicherweise als Wurzelgelübde der Bodhisattvas und Nebengelübde der Bodhisattvas bezeichnen, handelt es sich dabei nicht um die eigentlichen Begriffe der Ausgangssprache. Es gibt achtzehn Handlungen, die als „Übertretung der Wurzelgelübde“ bezeichnet werden, wenn man sie begeht. Mit der Übertretung der Wurzelgelübde verlieren wir die Bodhisattva-Gelübde und es wird im Englischen als „downfall", oder Abstieg, bezeichnet, weil es zu einem Rückgang in unserer spirituellen Entwicklung führt und das Anwachsen der guten Eigenschaften verhindert wird. Mit dem Wort „Wurzel“ (engl. „root“) beziehen wir uns in dem englischen Wort „root downfall“ auf die Wurzel, die wir beseitigen wollen. Wir möchten die Wurzel ausreißen, die uns zum Abstieg führen würde. Deshalb wird es laut den Kommentaren so genannt. Im Westen bezeichnen wir sie als die Wurzelgelübde der Bodhisattvas, aber genau genommen geht es darum, die achtzehn Übertretungen der Wurzelgelübde zu vermeiden.
Dann gibt es sechsundvierzig Arten „fehlerhaften Verhaltens“ (das ist die wörtliche Übersetzung des Begriffs) und bei ihnen handelt es sich für gewöhnlich um die „Nebengelübde der Bodhisattvas.“ Übertreten wir eins der Wurzelgelübde der Bodhisattvas, mit allen Faktoren, die notwendig sind, um die Gelübde zu verlieren, verschwinden sie aus unserem geistigen Kontinuum. Das hört sich vielleicht ein bisschen komisch an, aber ich hoffe, Sie verstehen, was damit gemeint ist. Anders ausgedrückt gibt es vier Dinge, die in unserem Verhalten da sein müssen, während wir eins dieser Wurzelgelübde übertreten, damit alle Gelübde aus unserem geistigen Kontinuum verschwinden. Dann ist man nicht länger in Besitz der Bodhisattva-Gelübde, aber es gibt auch zwei Ausnahmen. Bei diesen Ausnahmen handelt es sich um zwei Gelübde, bei denen nicht einmal alle vier Faktoren vollständig vorliegen müssen und wenn man sie übertritt, verliert man die Gelübde. Bei den sechsundvierzig Arten des fehlerhaften Verhaltens ist es jedoch so, dass man die Bodhisattva-Gelübde nicht verliert, auch wenn die vier Faktoren vollständig vorliegen. Das ist der Unterschied.
Übrigens sollte ich hier erwähnen, dass wir, wie bereits gesagt, die Bodhisattva-Gelübde für all unsere Leben ablegen, bis hin zur Erleuchtung. Sagen wir einmal, wir haben sie in einem vergangenen Leben abgelegt und in diesem Leben haben wir sie noch nicht abgelegt, aber alle Faktoren sind vollständig vorhanden. Wenn wir sie in diesem Leben abgelegt hätten und alle Faktoren vollständig vorhanden wären, würden wir die Gelübde aus unserem geistigen Kontinuum verlieren. Wenn sie aber schon vollständig vorhanden waren, bevor wir die Gelübde in diesem Leben abgelegt haben, würden wir die Bodhisattva-Gelübde nicht verlieren. Wenn wir sie aber in diesem Leben das erste Mal ablegen, wird sich das, was wir in vergangenen Leben bereits abgelegt haben, verstärken.
Sehen wir uns an, um was es bei diesen Übertretungen der Wurzelgelübde, den so genannten „Wurzelgelübde der Bodhisattvas“ geht. Auch wenn es viele verschiedene Kommentare und Erklärungen diesbezüglich gibt, die alle leichte Unterschiede hinsichtlich ihres Schwerpunktes haben, werden wir dem Kommentar von Tsongkhapa folgen. Es gibt übrigens mehrere Traditionen von Bodhisattva-Gelübden, die aus verschiedenen Sutren des Buddha stammen. Die Tibeter folgen der indischen Tradition eines Sutras (ich habe leider nicht nachgeschaut, um mich daran zu erinnern, um welches Sutra es sich hierbei handelt), aber in den chinesischen Traditionen und jenen, die aus ihnen abstammen, gibt es eine andere Gruppe von Bodhisattva-Gelübden, die aus einem anderen Sutra stammen, so wie auch die monastischen Gelübde des Vinaya in den tibetischen und chinesischen Traditionen leichte Unterschiede aufweisen. Und obwohl im Theravada und wahrscheinlich auch in anderen Hinayana-Traditionen behauptet wird, dass es Bodhisattvas gibt und dass man erst einmal ein Bodhisattva ist, bevor man ein Buddha wird und es sich nicht nur um einen Pfad handelt, den die meisten von uns folgen würden, habe ich noch nie von einer Theravada-Version der Bodhisattva-Gelübde gehört, die solche Bodhisattvas ablegen würden. Gewiss gibt es auch im Theravada Geschichten aus den vergangenen Leben des Buddha.
Nun also zu den achtzehn Wurzelgelübden der Bodhisattvas. Es handelt sich hierbei um die achtzehn negativen Handlungen, die zu einer Übertretung der Wurzelgelübde führen würden, wenn alle Faktoren vollständig vorhanden sind. Wir sollten verstehen, dass es bei jeder dieser negativen Handlungen bestimmte Dinge gibt, die in Bezug auf ihre genaue Bedeutung festgelegt sind.
Die erste negative Handlung, die wir vermeiden wollen und die wir versprechen zu unterlassen, ist, sich selbst zu loben und/oder andere herabzusetzen. Bei der Person, gegenüber der wir solche Worte benutzen, muss es sich um jemanden in einer untergeordneten Stellung handeln. Unsere Motivation ist auf der einen Seite Verlangen und Gier nach materiellem Profit, nach Lob, Liebe und Respekt von dieser Person; und auf der anderen Seite Eifersucht gegenüber der Person, die wir herabsetzen. Die Dinge, die wir diesbezüglich zu der anderen Person sagen, wenn wir uns selbst loben und sie herabsetzen, können entweder wahr oder falsch sein; das spielt keine Rolle.
Im Grunde versuchen wir also, etwas von dieser Person in der untergeordneten Stellung zu bekommen, sei es Respekt, Geld oder was auch immer, indem wir ihr zu verstehen geben, wir seien die Besten und alle anderen wären völlig nutzlos. Ein Beispiel wäre ein Psychologe, der darauf aus ist, möglichst viele Klienten zu haben und Werbung macht, indem er behauptet, ein buddhistischer Psychologe und nur daran interessiert zu sein, anderen zu helfen. All diese anderen Psychologen, wären keine Buddhisten und hätten es nur auf das Geld abgesehen. Aber seine Motivation besteht lediglich darin, selbst mehr Klienten zu bekommen. Oder jemand behauptet, er sei der beste und höchste Lehrer und alle anderen wären nicht so gut wie er. Aber alles was er eigentlich will, ist mehr Schüler zu bekommen. Leider gründet unser ganzes System der Demokratie auf diesem Prinzip, sich selbst in den Wahlen zu loben und den Gegner herabzusetzen, um Stimmen und Macht zu erlangen. Daher wäre dieser ganze Aspekt der Demokratie und der Wahlen für Tibeter sehr schwer in die Praxis umzusetzen, denn sie würden niemandem trauen, der von sich behauptet, der beste Kandidat zu sein und den anderen als nutzlos erklärt, denn auf diese Weise verletzt man die Bodhisattva-Gelübde. Die meisten Tibeter wären sehr demütig und würden sagen: „Ich bin nicht wirklich qualifiziert, ich weiß nicht, wie man das macht,“ usw. Sie wären sehr demütig und natürlich würde sie niemand wählen. Daher ist dieses System der Wahlen in einer Demokratie für Tibeter sehr schwer zu nachzuvollziehen.
Was aber den Bodhisattva-Pfad betrifft, ist es in Bezug auf diese Gelübde sehr wichtig zu verstehen, auf welche Weise ein Übertreten der Gelübde unserer Fähigkeit, anderen zu helfen, schadet. Das gilt es zu verstehen. Wie würde es also unserer Fähigkeit, anderen zu helfen, schaden? Wir analysieren es und denken darüber nach. Wenn wir jemanden treffen würden, der von sich behauptet, der Beste zu sein und alle anderen wären nutzlos, würden wir so jemandem vertrauen? Ich weiß es nicht. Vielleicht würden viele Menschen im Westen Vertrauen in so eine Person haben, denn unser ganzes System der Werbung beruht doch darauf, nicht wahr? „Dies ist das beste Waschmittel für ihre Kleidung; alle anderen taugen nichts. Kaufen Sie dies!“ Wenn wir es aber genau untersuchen, können wir sehen, dass sie uns damit eigentlich nur das Geld aus der Tasche ziehen wollen. Wir sollten uns gut überlegen, ob wir uns selbst so präsentieren wollen: „Ich bin der beste Bodhisattva. Ich kann dir am besten helfen. Ich werde alle deine Probleme lösen. Komm zu mir. Niemand ist so gut wie ich.“ Auch wenn es der Fall sein mag, deutet es doch auf eine sehr materialistische Motivation hin. wenn es einfach nur darauf gründet, mehr Schüler zu bekommen. Wir sollten also aufpassen.
Wie ist es, wenn wir sagen, der Buddhismus ist der beste spirituelle Pfad und all die anderen wären nicht so gut? Würden wir damit dieses Gelübde brechen? Was denken Sie?
Es hängt von unserer Motivation ab.
Das stimmt, aber was wäre denn eine angemessene Motivation, so etwas zu sagen?
Anderen zu nutzen.
Wäre das vielleicht naiv? Ist der buddhistische Pfad wirklich für jeden in diesem Moment der beste? Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagte in Bezug auf diese Theorie der einen Wahrheit und der einen wahren Religion, dass er nur für sich selbst sagen könne, der Buddhismus wäre das Beste, nicht für andere. In jeder Tradition geht es um ein bestimmtes spirituelles Ziel. Im Christentum wird nicht behauptet, man würde die buddhistische Erleuchtung erlangen, wenn man dem christlichen Weg folgt, sondern das man ein christliches Ziel erreicht. Es hat also keinen Sinn, dies zu bestreiten. Einfach ausgedrückt, kommt entweder in den buddhistischen oder in den christlichen Himmel, je nachdem was man anstrebt. Man betet nicht, um in den buddhistischen Himmel zu gelangen und landet dann im christlichen Himmel, um es ganz schlicht auszudrücken. Die verschiedenen spirituellen Pfade mögen vielleicht für andere in diesem Moment angemessener sein. Seine Heiligkeit ist immer ausgesprochen respektvoll gegenüber anderen spirituellen Traditionen und das Einzige, was er diesbezüglich sagt, ist, dass die buddhistische Tradition offensichtlich die beste ist, um das buddhistische Ziel zu erreichen, also Befreiung und Erleuchtung zu erlangen, so wie es im Buddhismus definiert wird.
(1) Uns selbst loben und/oder andere herabsetzen
Das ist also das erste Gelübde, zu vermeiden, sich selbst zu loben und andere herabzusetzen, wenn die Motivation in Verlangen und Gier auf der einen Seite und Eifersucht auf der anderen Seite besteht. Das ist natürlich recht schwierig in die Praxis umzusetzen, wenn wir Geschäfte machen wollen. Wie sollen wir Werbung machen? Wenn wir negative Werbung benutzen, um zu zeigen, wie schlecht andere Produkte sind, dann steht das mit Sicherheit nicht im Einklang mit diesem Gelübde. Und wenn wir uns selbst loben – wie wunderbar unser Produkt ist und das es besser als alles andere ist, steht das wahrscheinlich auch nicht im Einklang damit. Wie werben wir also für unsere Produkte? Was ist unsere Motivation, wenn wir Werbung machen? Wollen wir eine Menge Profit machen, oder wollen wir die Produkte anderen anbieten, weil sie nützlich und hilfreich für sie sind? Was Sie schon gesagt haben, hängt wirklich alles von der Motivation und das ist ziemlich wichtig.
Viele Geschäftsleute haben Probleme mit diesen Gelübden. Wie betreibt man ein Geschäft auf der Grundlage von buddhistischer Ethik? Das ist keine einfache Frage, wenn unser einziges Motiv darin besteht, Profit zu machen. Ich denke, ein gutes Beispiel ist das amerikanische Gesundheitssystem, denn in den letzten Jahrzehnten war es darauf ausgerichtet, medizinische Einrichtungen zu schaffen, um Profit damit machen zu können. Krankenhäuser befinden sich im Eigentum von Konzernen, die Anteile an den Krankenhäusern haben und die ganze Idee ist, den Anteilseignern immer mehr Profit zukommen zu lassen. Sie wollen so viel Geld wie möglich an den Patienten verdienen und daher behält man sie so kurz wie möglich im Krankenhaus. Die Betten sollen wieder frei werden, damit mehr Patienten kommen können. Damit entfernt man sich scheinbar davon, den Patienten eine wirklich gute Behandlung zukommen zu lassen und so sehen wir oft, dass die Qualität der medizinischen Versorgung nachlässt. Wenn wir anderen helfen und unser Motiv einzig der Profit ist, scheint die Qualität dieser Hilfe immer schlechter zu werden. Daher ist es sehr wichtig, dass wir, wenn wir dem Bodhisattva-Pfad folgen, es nicht tun, um etwas für uns selbst zu bekommen, besonders wenn es auf Kosten anderer Praktizierender, anderer Lehrer usw. geschieht.
(2) Dharma-Lehren und Besitz nicht mit anderen teilen
Das zweite Bodhisattva-Gelübde, die zweite negative Handlung, die wir vermeiden wollen, besteht darin, die Dharma-Lehren oder unseren Reichtum, nicht mit anderen zu teilen. Hier ist die Motivation Anhaftung und Geiz. Vielleicht haben wir Dharma-Notizen oder einen Computer, mit Dateien, die wir nicht mit anderen teilen wollen und finden alle möglichen Vorwände es nicht zu tun. „Wenn ich dir mein Buch ausleihe, wirst du vielleicht Kaffee darüber kippen und deswegen gebe ich es dir lieber nicht.“ Natürlich können wir auch possessiv sein und unser Geld nicht mit anderen teilen wollen. Manchmal wird gesagt: „Du kannst an diesem Dharma-Kurs nicht teilnehmen, weil du nicht das Geld dafür hast.“ Auf diese Weise behalten wir die Dharma-Lehren in gewissem Sinn für uns; wir teilen die finanzielle Möglichkeit, an einem Kurs teilnehmen zu können, nicht mit anderen.
Wir können auch an unserer Zeit hängen und sie nicht mit anderen teilen, um ihnen zu helfen. Es gibt beispielsweise Menschen, die sich sehr an ihr Wochenende klammern: „Das ist mein freier Tag. Bitte frag mich nicht an diesem Tag, dir zu helfen.“ Das ist etwas, was man oft sehen kann. Ich habe dieses Projekt der Webseite und manchmal gibt es verschiedene Dinge, die von Freiwilligen oder Helfern erledigt werden müssen. Oft sagen die Leute dann: „Frage mich bitte nicht am Wochenende, denn diese Zeit ist mir heilig.“ Das ist nicht gerade das Verhalten eines Bodhisattvas, nicht wahr? Wenn jemand unsere Hilfe benötigt – und dabei geht es nicht darum, ständig dem anderen die Zeit zu stehlen – sondern, wenn jemand wirklich unsere Hilfe braucht, sollten wir der Person bei Tag oder Nacht, und auch am Wochenende helfen. Wenn beispielsweise unser Baby schreit oder wenn es aus dem Bett gefallen ist, sagen wir auch nicht: „Es tut mir leid, ich werde dich morgen früh hochheben, aber jetzt muss ich erst mal schlafen.“ Wenn wir dann tatsächlich dem anderen helfen, sollten wir es tun, ohne ständig zu klagen. Aus der Sichtweise des Bodhisattva-Verhaltens sollten wir überaus glücklich sein, wenn andere uns um Hilfe bitten. Das ist es, was wir durch unsere Praxis erreichen wollen: anderen immer als ein Buddha behilflich sein zu können. Wenn jemand also tatsächlich um unsere Hilfe bittet, ist das wunderbar. Und wenn jemand etwas von uns lernen will, oder möchte, dass wir unsere Dharma-Notizen oder etwas anderes mit ihm teilen, sind wir glücklich, wenn wir das tun können; natürlich nur, wenn der andere ernsthaft ist und wenn diese Lehren geeignet für ihn sind. Manche Menschen haben vielleicht eine etwas merkwürdige Motivation, wenn sie um etwas bitten.
Als ich einmal für meinen Lehrer, Serkong Rinpoche, übersetzte, kam ein Hippie zu ihm, der unter Drogen stand, und sagte: „Ich würde gern die Sechs Yogas von Naropa lernen. Bitte unterrichten Sie mich darin.“ Das war in der Hippie-Zeit. Rinpoche nahm ihn jedoch sehr ernst und sagte: „Sehr gut, dass du das lernen willst. Es ist ein wunderbares Ziel. Aber wenn du es lernen möchtest, musst du zuerst dies lernen und jenes praktizieren, und einen bestimmten Vorgang durchgehen, damit du dorthin gelangst.” Er war also nicht geizig mit dem Dharma, in dem Sinne, dass er diesem Hippie nicht die Sechs Yogas von Naropa lehren wollte. Natürlich war er noch nicht bereit dafür, aber Serkong Rinpoche gab ihm Anleitungen, die in schließlich zu dieser Dharma-Belehrung führen würden und das war die angemessene Weise, mit ihm umzugehen.
Erinnern wir uns an das allgemeine Prinzip, auf das ich mich vorhin bezogen habe: ein Bodhisattva auf einer niedrigeren Stufe der Verwirklichung versucht nicht, die Praktiken eines höher entwickelten Bodhisattvas auszuüben, wenn er selbst noch nicht fähig dazu ist. Wenn uns jemand um Hilfe bitten und wir einfach nicht fähig dazu sind, sollten wir nicht so tun, als würden wir helfen können. In diesem Fall sollten wir sagen: „Ich wünschte, ich könnte es tun, aber ich bin wirklich nicht qualifiziert dafür.“ Würden wir dies zu einem Tibeter sagen, ist es meist so, dass er es einfach als Demut betrachten würde, aber denken würde, wir wären eigentlich in der Lage dazu. Wir sagen dann: „Nein, nein, ich bin nicht qualifiziert. Ich kann es nicht tun,“ und der andere versucht es weiter. Aber dann müssen wir hart bleiben und mit Nachdruck betonen, dass es nicht darum geht, demütig zu sein, sondern dass wir wirklich nicht dazu in der Lage sind.
Hier ist ein Beispiel: In einem Dharma-Institut in Italien, dem „Lama Tzong Khapa Institute“, gibt es ein so genanntes Masters Programm, in dem man die wichtigsten Themen des monastischen Trainings lernen kann. Es ist sowohl für Laien, als auch für Ordinierte bestimmt und das Programm dauert sechs Jahre. Es gibt dort einen Geshe, der das erste Thema dieses Kurses unterrichtet hatte, aber als es an der Zeit war, mit dem zweiten Thema, Madhyamaka, zu beginnen, sagte er, dass er nicht qualifiziert wäre, dies zu unterrichten. Natürlich bestanden alle darauf, es trotzdem zu tun und meinten, er wäre einfach nur bescheiden. Er aber sagte: „Nein, ich bin wirklich nicht qualifiziert.“ Sie erkundigten sich bei seinen Klassenkameraden und Lehrern und fanden heraus, dass er wirklich nicht qualifiziert war; es war einfach nicht sein Gebiet, obwohl er ein Geshe war. Jedoch bot er an zu bleiben und zu helfen, wenn sie einen qualifizierten Geshe finden und herbringen könnten, um zu unterrichten. Sie fanden also einen anderen Geshe, der nun kommt und eingewilligt hat, dieses Thema zu unterrichten. Und der erste Geshe, der meinte, er wäre nicht qualifiziert, ist auch geblieben, um zu helfen. Der erste Geshe übertrat nicht seine Bodhisattva-Gelübde, als er die Dharma-Lehren nicht teilen konnte; tatsächlich folgte er dem Training auf der Stufe des Versprechens des anstrebenden Bodhichitta, indem er nicht vorgab, Qualitäten zu haben, die er nicht hatte.
Wenn uns also jemand um Erklärungen von Dharma-Lehren oder um unsere Notizen bittet, können wir sagen: „Du kannst meine Notizen gern haben, aber sie sind nicht besonders gut und deutlich,“ oder: „Mein Verständnis in Bezug darauf ist nicht wirklich ausreichend.“ Wir sollten ehrlich sein und wenn wir etwas nicht verstehen, sagen wir: „Ich verstehe es nicht. Ich kann es dir nicht erklären.“ Auch beim Teilen unserer Zeit mit anderen, ist es wichtig, unser unterscheidendes Gewahrsein zu benutzen. Es ist Teil der Bodhisattva-Schulung zu wissen, wann wir eine Pause brauchen, damit wir genug Kraft haben, anderen weiterhin hilfreich sein zu können. In solchen Fällen sagen wir: „Ich würde dir wirklich gern helfen, aber ich bin völlig erschöpft und brauche eine Pause. Ich kann wirklich nicht.“
Es ist auch schwierig, wenn uns viele Leute auf einmal um Hilfe bitten. Wir können uns nicht in tausend verschiedene Formen teilen, um allen gleichzeitig zu helfen. Wir sind noch keine Buddhas. Wir können nicht allen zur gleichen Zeit helfen. In solchen Fällen müssen wir uns leider entscheiden. Wie und nach welchen Prioritäten treffen wir eine Entscheidung? Seine Heiligkeit der Dalai Lama hat diesbezüglich einige Richtlinien aufgestellt. Er sagte, wir sollten darauf achten, für welche Sache wir am qualifiziertesten sind und bei welcher es nicht so viele andere gibt, die das Gleiche tun könnten – darauf sollten wir unseren Schwerpunkt setzen. Und bei den Dingen, die andere genauso gut tun können, wie wir selbst, sollten wir die anderen weiterempfehlen. Wir richten unseren Fokus auf das, was wir am besten tun können. Wenn beispielsweise jemand zu mir kommt und mich bittet, ihm Tibetisch beizubringen, versuche ich ihm andere Lehrer zu empfehlen. Es gibt so viele andere Menschen, die Tibetisch unterrichten und es gibt viele andere Dinge, die ich lehren kann und wo es nicht viele Leute gibt, die das unterrichten können. In solchen Situationen sage ich dann, dass es andere Lehrer dafür gibt, wenn man Tibetisch lernen möchte, besonders auf der Anfänger-Stufe.
Ein anderes Prinzip, nach dem wir entscheiden können, wem wir helfen sollten, wäre, wenn wir ein ganz besondere Verbindung zu jemandem haben und diese Person besonders empfänglich uns gegenüber ist. Hier ist ein schönes Beispiel: Seine Heiligkeit der Dalai Lama hatte Lehrer und nun gibt es die Reinkarnation des Senior Tutor, Ling Rinpoche, und die Reinkarnation des so genannten Assistenz-Tutor, meines eigenen Lehrers, Serkong Rinpoche. „Assistenz-Tutor“ war nicht der eigentliche Titel von Serkong Rinpoche, sondern „Meisterhafter Debattier-Partner.“ Aber es ist nicht notwendig hier in alle Einzelheiten zu gehen. Es reicht zu wissen, dass er ein Lehrer Seiner Heiligkeit war. Beide jungen Reinkarnationen sind etwa nur ein Jahr auseinander, also fast gleichaltrig. Als sie noch klein waren, ich glaube sie waren drei und vier Jahre alt, gab Seine Heiligkeit ihnen den ersten Unterricht im tibetischen Alphabet. Natürlich wurde Seine Heiligkeit nicht ihr Lehrer, der ihnen das Alphabet und Lesen beibrachte. Aber weil er diese sehr besondere und enge Beziehung zu seinen Lehrern hatte, war er es, der ihnen, nachdem man sie als Reinkarnation entdeckt hatte, den ersten Unterricht erteilte.
Mein Freund Alan Turner hatte eine sehr enge Beziehung zu Serkong Rinpoche. Alan hat nie wirklich Tibetisch gelernt, aber Serkong Rinpoche hat ihm eine erste Lektion unterrichtet, um die Samen der tibetischen Sprache bei ihm zu säen. Natürlich hat er das nicht für alle gemacht und auch Seine Heiligkeit hat niemandem sonst Lektionen in Tibetisch unterrichtet, außer seinen eigenen Lehrern, zu denen er so eine enge Beziehung hatte. Wir setzten also Prioritäten. Und auf welche besondere Notwendigkeit achten wir? Wenn wir einer Person etwas beibringen, sollten wir schauen, inwieweit wird sie dadurch anderen von Nutzen sein kann. Was unsere Zeit betrifft, geht es darum, ob wir wirklich eine enge Beziehung zu der Person haben. Ist sie wirklich offen und empfänglich mir gegenüber? Oder ganz allgemein: Wo liegen meine Qualitäten und was kann ich tun, was nicht so viele andere Menschen tun können? Und wenn andere uns um unsere Zeit bitten, könnten wir versuchen, ein wenig zu helfen und ihnen dann Empfehlungen geben. Wir werden nicht einfach wütend und sagen: „Lass mich in Ruhe. Gehe bitte.“ Das wäre ein Widerspruch zum Bodhisattva-Verhalten.
Einmal stellte ich Ringu Tulku diese Frage – er ist ein großer Kagyü-Meister. Seine Antwort war, dass wir auch in Betracht ziehen sollten, was wir selbst gern tun würden. Das fand ich sehr interessant, denn wir sind immer noch samsarische Wesen, wir sind noch keine Buddhas. Wenn unsere Motivation ein klein wenig selbstisch ist, dann ist das vertretbar, denn es hilft uns, mehr Kraft und Enthusiasmus dafür zu haben, natürlich nur, wenn es sich dabei nicht um die einzige Erwägung handelt.
Es gibt also eine Gruppe von Faktoren, die wir in Betracht ziehen können, wenn es darum geht, wie wir unsere Zeit dafür nutzen, anderen zu helfen und Dinge zum Nutzen anderer zu tun.
Außerdem sollten wir abwägen, ob wir es einhalten und umsetzen können. Sind wir fähig es zu tun, wenn wir die Bodhisattva-Gelübde ablegen? Werden wir sie einhalten können oder nicht? Wir versuchen also zu vermeiden, uns selbst zu loben und andere herabzusetzen, aus Anhaftung und Gier, sowie Eifersucht gegenüber anderen. Und wir vermeiden, die Dharma-Lehren, unseren Besitz und Reichtum, sowie unsere Zeit aus Anhaftung und Geiz nicht zu teilen.
Wenn wir Dharma-Lehren aus anderen Motivationen nicht teilen, wie Faulheit oder Feindseligkeit, wenn wir denken: „Ich mag dich nicht und deswegen werde ich dir nicht helfen oder nichts mit dir teilen,“ dann gehört das zu den Nebengelübden des Bodhisattvas, dies zu vermeiden. Es ist kein Wurzelgelübde. Die Frage stellt sich, warum das so ist. Warum handelt es sich bei dem einen um ein Wurzelgelübde und bei dem anderen um ein Nebengelübde? Nun, als ein Bodhisattva müssen wir dazu bereit sein, allen zu geben und Dinge nicht nur für uns zu behalten. Wenn wir Anhaftung haben und geizig sind, also nicht teilen wollen, richtet sich das tatsächlich gegen das eigentliche Ziel eines Bodhisattvas. Sind wir lediglich zu faul, ist das eine ganz andere Einstellung, nicht wahr? „Ich würde dir gern helfen, aber ich bin zu faul dazu.“
(3) Die Entschuldigungen anderer nicht annehmen oder andere schlagen
Beim dritten Bodhisattva-Gelübde geht es darum zu vermeiden, die Entschuldigung anderer nicht anzunehmen, oder andere zu schlagen. Hier geht es um zwei Dinge. Erstens, die Entschuldigung anderer nicht anzunehmen und zweitens, andere zu schlagen. Die Motivation ist in beiden Fällen in erster Linie Wut. Das erste bezieht sich auf eine Situation, in der wir jemanden anschreien oder schlagen, beispielsweise unser ungezogenes Kind, und entweder bittet diese Person uns um Vergebung oder jemand anderes, wie unsere Frau, bittet uns, damit aufzuhören und wir verweigern es. Bei dem anderen geht es einfach darum, jemanden zu schlagen. Wenn wir die Entschuldigung anderer verweigern, nachdem es passiert ist und wir wütend auf sie sind, handelt es sich um ein Nebengelübde des Bodhisattvas. Hier gibt es zwei Situationen. Wir schreien jemanden an und schlagen ihn, oder sind aus Wut gemein gegenüber ihm und er bittet uns um Vergebung und sagt: „Bitte hör auf mich anzuschreien.“ In diesem Moment sind wir ein Bodhisattva, auch wenn wir wütend werden. Die andere Person sagt: „Bitte hör auf. Es tut mir leid.“ Natürlich müssen wir aufhören, ihm vergeben und die Entschuldigung annehmen. Obwohl es sich beim Vergeben um ein recht merkwürdiges Konzept handelt. Ich glaube es gibt nicht einmal ein tibetisches Wort dafür. Im Grunde geht es darum, nicht mehr wütend zu sein und aufzuhören, den anderen zu schlagen. „Vergeben“ klingt so, als läge es in unserer Macht, die andere Person von ihren karmischen Konsequenzen zu befreien, aber das ist kein buddhistisches Konzept. Es geht ganz einfach darum, nicht mehr wütend auf den anderen zu sein, ihn nicht mehr anzuschreien, zu schlagen oder ihn zurückzuweisen und damit aufzuhören, wenn wir es gerade tun.
Das Nebengelübde bezieht sich auf die Zeit danach, wenn wir noch wütend auf den anderen sind, Groll ihm gegenüber hegen und er dann später sagt, dass es ihm leid tut und wenn wir dann die Entschuldigung nicht annehmen oder unseren Groll oder Ärger loslassen. Ich denke, der Unterschied besteht darin, entweder sehr wütend zu sein, was dazu führt, tatsächlich eine schädliche Handlung zu begehen, wie jemanden anzuschreien, ihn zu schlagen oder etwas anderes Negatives zu tun, oder einen Groll zu hegen, die Wut in sich zu behalten und sie nicht auszuleben.
Offensichtlich ist es notwendig, wenn wir anderen helfen wollen, auch wenn wir nur vorübergehend wütend werden, diesen Ärger oder Groll loszulassen. Und der andere Aspekt dieses Gelübdes besteht darin zu vermeiden, andere aus Wut zu schlagen. Es mag Situationen geben, in denen es notwendig und hilfreich ist, andere zu schlagen, jedoch sollte dies nicht aus Wut getan werden. Um ein indisches Beispiel zu benutzen: Wenn wir einen Wasserbüffel dazu bringen wollen, sich zu bewegen und irgendwohin zu gehen, müssen wir ihn eventuell auf den Rücken schlagen. Wenn man ihm nur sagt: „Bitte geh dort rüber,“ wird der Wasserbüffel das wahrscheinlich nicht verstehen. Wir schlagen ihn nicht aus Wut. Ein Wasserbüffel ist ein Tier, das man überall in Indien und Nepal finden kann. Es ist riesengroß, viel größer als eine Kuh. Es ist schwarz, hat Hörner und gibt sehr reichhaltige Milch. Wahrscheinlich hat niemand hier einen Wasserbüffel und daher wissen Sie vielleicht gar nicht was ein Wasserbüffel ist. Und die meisten von uns haben auch keine Pferde oder Kamele, die man manchmal schlagen muss, um sie zum Laufen zu bringen. Aber sogar wenn wir ein ungezogenes Kind haben, müssen wir manchmal zu harten Mittel greifen und es am Kragen packen oder schlagen, damit es nicht über die Straße läuft, wenn Gefahr droht und es überfahren werden könnte. Das tut man auch nicht aus Wut heraus. Die Wirkung verschiedener Handlungen hängt also sehr stark von der Motivation ab; und hier ist die Motivation Wut oder Böswilligkeit. Wir wollen der anderen Person wehtun und wenn sie dann sagt: „Bitte tu das nicht, bitte hör auf damit,“ verweigern wir es und übertreten damit dieses Gelübde. Das ist also das dritte Bodhisattva-Gelübde.