Wir haben über die grundlegenden Dinge gesprochen, die wir benötigen, bevor wir die Bodhisattva-Gelübde ablegen. Dabei ging es um die Grundlagen des Lam-rim, des Stufenpfades, und darüber, wie wir durch Meditation eine Bodhichitta-Motivation aufbauen. Außerdem haben wir über die verschiedenen Stufen der Entwicklung von Bodhichitta gesprochen: die anstrebende Stufe des Bodhichitta, die sich aus der Stufe des Wünschens und der Stufe des Versprechens zusammensetzt; und über die dafür notwendigen fünf Arten von Übungen, um die Schwächung unserer Entwicklung von Bodhichitta in diesem und in zukünftigen Leben zu verhindern. Wir sprachen über die Notwendigkeit, als Grundlage eine Ebene des Pratimoksha-Gelübdes zu haben, entweder als Laie oder als Mönch oder Nonne. Basierend darauf, legen wir, wenn wir den Zustand des ausübenden Bodhichitta entwickeln, die Bodhisattva-Gelübde ab.
Haben Sie irgendwelche Fragen zu diesen Themen, die wir bis jetzt behandelt haben, bevor wir damit fortfahren, über die Gelübde zu sprechen?
Sie sagten, wir wären, wenn wir diese ersten Pratimoksha-Gelübde ablegen, nicht verpflichtet dazu, unserem Lehrer genau zu sagen, welche Gelübde wir ablegen. Legen wir sie denn nicht vor dem Lehrer ab?
Ja, wir legen die Gelübde vor dem Lehrer ab, aber oft handelt es sich um eine große Gruppe von Menschen, die zusammen die Gelübde ablegen. In so einer Situation haben wir nicht die Möglichkeit, irgendetwas zu sagen und sogar wenn wir die Gelübde allein vor dem Lehrer ablegen, ist es nicht Teil des Rituals zu sagen, wie viele der Gelübde man ablegt. Natürlich kann man es dem Lehrer auch mitteilen, aber man ist nicht dazu verpflichtet. Wir mögen auf der anfänglichen Ebene unserer Entwicklung vielleicht nur drei oder vier dieser Gelübde ablegen können und uns dann später bereit dazu fühlen, auch die anderen oder ein weiteres Gelübde abzulegen. Es ist auch möglich, sie erneut abzulegen, denn diese Zeremonien finden öfters statt, und dann beim zweiten Mal noch ein Gelübde hinzufügen. Oder wir machen es umgekehrt: Wenn wir alle fünf abgelegt haben und merken, dass wir eines davon nicht wirklich einhalten können, legen wir beim zweiten Mal nur vier Gelübde ab. Dafür müssen wir uns nicht schämen.
Aber je mehr Gelübde wir einhalten, desto stärker ist natürlich unsere Disziplin. Tsongkhapa sagte, wenn wir ein voll-ordinierter Mönch oder eine voll-ordinierte Nonne sind, haben wir die beste Grundlage dafür, Verwirklichungen zu erlangen, denn wir haben, neben unserer spirituellen Praxis, keine anderen Verpflichtungen (obwohl es auch in einem Kloster Verpflichtungen gibt). Aber das bedeutet nicht, dass es für uns unmöglich ist, Verwirklichungen zu erlangen, wenn wir weniger Pratimoksha-Gelübde abgelegt haben. Es geht einfach darum, ob es uns leicht fällt oder nicht. Zu unserem eigenen Wohl wird unser spiritueller Fortschritt um so leichter sein, je stärker unsere ethische Disziplin ist. Wenn wir mehr Gelübde einhalten, geschieht das zu unserem eigenen Wohl, und dann sind wir fähig, anderen besser von Nutzen sein zu können. Wir machen es nicht, um unseren Lehrer oder den Buddha damit zu erfreuen.
Wenn wir ein Gelübde ablegen, werden wir unter anderem von unentschlossenem Schwanken befreit. Wenn wir uns beispielsweise dazu entschlossen haben, keinen Alkohol mehr zu trinken, oder mit dem Trinken aufzuhören, müssen wir trotzdem jedes Mal, wenn man uns etwas anbietet, entscheiden, ob wir es annehmen oder ablehnen. Hierbei handelt es sich um einen gestörten Geisteszustand. Unentschlossenes Schwanken ist eine störende Geisteshaltung. Wir sind nicht im Frieden mit uns, denn wir wissen nicht wirklich, was wir tun sollen. Wenn wir jedoch ein Gelübde abgelegt haben, ist es klar. Dann haben wir ein für alle Mal die Entscheidung getroffen. Sogar auf einer anfänglichen Stufe werden wir damit von unentschlossenem Schwanken befreit. Es ist sehr hilfreich für die individuelle Befreiung; Pratimoksha. Befreiung bezieht sich hier auf die Befreiung von Samsara. Aber auch auf einer oberflächlichen Ebene werden wir von unentschlossenem Schwanken befreit, zumindest von unentschlossenem Schwanken in Bezug auf eine bestimmte Art von Verhalten.
Macht es Sinn zu versuchen, Tantra zu praktizieren, wenn man den tantrischen Guru nur einmal im Jahr für fünfzehn Minuten sieht? Ist es effektiv, wenn wir nur ein paar Bücher über tantrische Praktiken lesen und keinen Lehrer haben, mit dem wir die ganze Zeit zusammen sind.
Ja, das kann trotzdem sehr effektiv sein. Die meisten von uns haben keinen langjährigen und andauernden Kontakt mit dem spirituellen Lehrer oder dem tantrischen Meister. Die wesentliche Funktion eines tantrischen Meisters ist es, uns die Ermächtigung und die Gelübde zu erteilen, uns zu inspirieren und das ist auch die eigentliche Funktion aller spirituellen Meister. Von dem tantrischen Meister bekommen wir auch mündliche Übertragungen verschiedener Lehren und Erklärungen. Was aber die tägliche Praxis betrifft, ist es notwendig, auch andere darüber zu befragen. Es gibt viele Bücher über Tantra, auch auf Tibetisch. Jeder Tibeter kann also losgehen und sich ein Buch kaufen oder aus der Bücherei holen, in dem so viele Dinge über die tantrische Praxis beschrieben werden.
Wie Seine Heiligkeit scherzhaft sagte, kann man sogar jene Lehren finden, die niemals aufgeschrieben werden sollten. Manchmal kann man sie auf Tibetisch finden und oft ist es so, dass sie nicht nur niedergeschrieben und gedruckt wurden, sondern man kann sogar zu Beginn des Buches den Satz finden: „Dieser Text darf nicht gedruckt oder niedergeschrieben werden.“ Das ist wirklich absurd. Es sind also nicht nur Westler, die solche geheimen Lehren über Tantra zur Verfügung stellen, sondern die Tibeter haben das auch getan. Wie Seine Heiligkeit sagte, ist es besser, korrekte Informationen zu haben, als fehlerhafte, wenn sie schon einmal da sind.
Die Gefahr dabei, dass all diese Informationen zur Verfügung stehen und man sich einfach ein Buch in einem Geschäft kaufen oder es im Internet herunterladen kann, besteht darin, dass wir einen falschen Eindruck bekommen und denken könnten, man könne Tantra ohne eine Lehrer praktizieren, was man dann auch als „Do-it-yourself-Tantra“ bezeichnet. Das ist sehr gefährlich, denn wir machen nicht nur Fehler in unserer Praxis und können uns an niemanden wenden, wenn wir Probleme oder Fragen haben, sondern uns fehlt auch eine lebendige Quelle der Inspiration. Die Rolle der Inspiration des Lehrers sollte nie unterschätzt werden. In jedem einzelnen Text wird darüber gesprochen, wie wichtig das ist.
Auch wenn wir Schwierigkeiten in unserer Praxis haben und Fehler machen, besteht natürlich das Problem darin, dass wir oft nicht die Möglichkeit haben, zum Lehrer zu gehen und der Lehrer hat nicht die Möglichkeit, wirklich zu sehen, was wir machen und es zu hinterfragen. Tatsächlich ist so eine enge Beziehung zwischen Lehrer und Schüler recht selten. Wir reden von der heutigen Zeit hier im Westen, in der Lehrer kommen und vor großen Versammlungen Initiationen geben und dann weiterreisen, und niemand für uns vor Ort ist, der qualifiziert genug wäre, uns anzuleiten.
In Tibet war es so, dass die meisten ernsthaften Praktizierenden im Kloster lebten. Oder, wenn sie nicht im Kloster lebten, waren es Laien, die in der Nähe des Kloster wohnten. In diesem Fall gab es dann immer genug Menschen, die man fragen konnte. Für uns ist es schwieriger und was es noch gefährlicher macht, ist die Tatsache, dass es unqualifizierte Menschen um uns herum gibt, die uns auf unsere Fragen irreführende Ratschläge geben und so tun, als wüssten sie, was zu tun ist. In dieser Situation müssen wir wirklich abwägen, wie ernsthaft wir in unserer Praxis sind. Wie viel Zeit und Mühe sind wir bereit, dafür zu investieren? Und ist es das Wichtigste in meinem Leben?
Bei den meisten Menschen im Westen ist das leider nicht der Fall. Aus der Sichtweise eines tibetischen Lehrers ist es schwierig, solche Schüler ernst zu nehmen, für die ihre Dharma-Praxis zweitrangig oder nur so etwas wie ein Hobby ist, dem sie sich in ihrer Freizeit widmen. Wenn der Schüler aber wirklich ernsthaft ist und es das Wichtigste in seinem Leben ist, muss er sich bemühen und versuchen, eine Verbindung mit dem Lehrer aufzubauen und dorthin gehen, wo die Lehrer sind. Schauen wir uns an, welche Bemühungen die Tibeter in der Vergangenheit unternommen haben und den ganzen Weg bis nach Indien gegangen sind, um Belehrungen zu bekommen; oder wie viel Mühe Milarepa investieren musste, um Belehrungen von Marpa zu erhalten. Es gibt also keinen Grund zu erwarten, die Lehren und persönlichen Unterweisungen einfach so vorgesetzt zu bekommen. Wir müssen dem Lehrer zeigen, dass wir uns wirklich dafür bemühen wollen. Und auch wenn wir dorthin gehen, wo die Lehrer sind – wenn wir beispielsweise Ermächtigungen von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama erhalten haben – heißt das nicht, dass wir jemals die Möglichkeit für eine individuelle, persönliche Belehrung von Seiner Heiligkeit bekommen werden, besonders jetzt, wo er so alt ist. Aber es gibt andere qualifizierte Lehrer von niedrigerem Rang als Seiner Heiligkeit, die uns anleiten können.
Wenn wir uns also auf Bücher stützen, um Anweisungen und Belehrungen zu bekommen, sollten wir das nicht als Ersatz einer Beziehung mit einem spirituellen Lehrer betrachten. Jedoch brauchen wir in der buddhistischen Praxis keinen Lehrer, der die ganze Zeit unsere Hand hält und uns auf jedem kleinen Schritt anleitet. Der Lehrer gibt uns die Unterweisungen und dann sind wir auf uns gestellt. Es liegt bei uns selbst, diese Lehren in die Praxis umzusetzen. Es ist nicht die Aufgabe des Lehrers, uns zum Praktizieren zu animieren und uns ständig zu beobachten. Letztendlich liegt es an unserer eigenen Bemühung, ob wir etwas erreichen.
Manche Menschen sagen, der Lehrer, vor dem wir die Pratimoksha-Gelübde, die fünf Laien-Gelübde, ablegen, wäre nur wie ein Zeuge, vor dem wir diese Gelübde ablegen und die eigentliche Kraft würde aus unserem eigenen Entschluss kommen, diese Gelübde abzulegen. Wenn wir also diese Pratimoksha-Gelübde ablegen, brauchen wir den Lehrer nur als Zeugen. Wenn es keinen Lehrer gäbe, würden wir nur uns selbst betrügen; aber wenn ein Lehrer anwesend ist und wir die Gelübde übertreten, würden wir uns selbst und den Lehrer betrügen. Das heißt, dass der Lehrer nur wie ein Zeuge ist und nicht jemand, von dem wir etwas bekommen. Ist diese Sichtweise korrekt?
Da kommen wir ein wenig in die technischen Bereiche. Was die Pratimoksha-Gelübde betrifft, legen wir sie im Grunde vor Buddha, Dharma und Sangha ab. Wir geben die Versprechen also gegenüber Buddha, Dharma und Sangha, und der Lehrer ist nur das Medium, durch den wir dies tun. Außerdem ist der Lehrer eine Repräsentation der ungebrochenen Übertragungslinie. Es ist sehr wichtig, dass es eine ungebrochene Übertragungslinie gibt. Die Übertragungslinie ist vermeintlich rein, aber es ist sehr schwierig, tatsächlich zu garantieren, dass jeder in der Linie alle Gelübde völlig rein gehalten hat. Das ist schwer nachzuprüfen, nicht wahr? Jedenfalls handelt es sich um eine Grundvoraussetzung, dass die Übertragungslinie intakt und, theoretisch, rein und ungebrochen ist. Darin besteht das Problem bei der Wiederherstellung der vollständigen Nonnen-Gelübde, der Bikshuni-Gelübde, in der tibetischen Tradition, da die Übertragungslinie immer wieder gebrochen wurde. Aber, ohne hier weiter in technische Einzelheiten zu gehen, kann man sagen, dass die ungebrochene Übertragungslinie wichtig ist.
Was nun die tantrischen Gelübde betrifft, betrachten wir den Guru als tantrische Figur und in diesem Sinne legen wir die Gelübde in der Anwesenheit des Lehrers in Buddhagestalt ab. Das Problem in Bezug auf die Frage besteht in unserem Verständnis davon, was es bedeutet, ein Gelübde abzulegen. Ein Gelübde ist nicht etwas, wie ein Fußball, den der Lehrer hat, uns übergibt und den wir dann am Ende in den Händen halten. Es handelt sich nicht um eine „Sache,“ die jeder Lehrer hat, die wahrhaft als etwas Solides existiert und die er uns einfach geben und die wir empfangen und irgendwie annehmen können, als würde er uns etwas zuwerfen und wir würden es auffangen. Vielmehr entstehen diese Gelübde in unserem geistigen Kontinuum, als etwas, das in Abhängigkeit von vielen Umständen, Ursachen und Bedingungen in Erscheinung tritt. Das führt uns zu dem Thema, über das ich als nächstes sprechen möchte, nämlich die Gelübde.
Was ist ein Gelübde? Es handelt sich nicht um eine wahrhaft vorhandene Sache, die durch eigene Kraft, aus sich selbst heraus existiert, die es nur auf der Seite des Lehrers gibt und die dann zu unserer Seite übergeht. Das müssen wir widerlegen. Das ist eine unmögliche Existenzweise eines Gelübdes, ähnlich der Geisteshaltung: „Ich habe es so rein gehalten, und nun übergebe ich es an dich und du musst es auch rein halten und dann an deine Schüler weitergeben.“ So ist es nicht, obwohl es sich hierbei um unsere kindische Sichtweise handeln mag. Wie gesagt, geht es eher um etwas, dass als abhängiges Phänomen entsteht. Wovon hängt es ab? Es hängt von einer ungebrochenen Übertragungslinie ab, der Repräsentation einer ungebrochenen Übertragungslinie, dessen Gegenwart dieses Gelübde hervorbringen wird.
Beim Bodhisattva-Gelübde ist es anders als bei den Pratimoksha- und tantrischen Gelübden. Es gibt zwei Arten, die Bodhisattva-Gelübde abzulegen. Entweder vor einem Lehrer, der anwesend ist, oder indem man einfach Buddha und Bodhisattvas visualisiert. Sogar hier, bei den Bodhisattva-Gelübden, ist die Anwesenheit eines Lehrer nicht unbedingt notwendig. Aus irgendeinem Grund ist jedoch die ungebrochene Übertragungslinie bei den Pratimoksha- und tantrischen Gelübden und damit die Rolle und Anwesenheit des Lehrers von großer Bedeutung. Bei den Bodhisattva-Gelübden ist es notwendig, sie vor jemandem abzulegen, der seine Bodhisattva-Gelübde nicht gebrochen und rein gehalten hat. Man kann die Bodhisattva-Gelübde jederzeit erneuern. Tatsächlich können wir sie selbst täglich, mit einer Visualisation und einer kleinen zeremoniellen Rezitation, erneuern. Wir legen sie vor den Buddhas und Bodhisattvas ab, denn ihre Bodhisattva-Gelübde sind ungebrochen. Das ist also anders und ich kann nicht wirklich sagen, warum das so ist, dass man sie ohne die Anwesenheit eines Lehrers ablegen kann. Ich habe diesbezüglich nie eine eindeutige Erklärung oder Begründung gehört.
In der Regel brauchen wir jedoch jemanden, der seine Gelübde nicht gebrochen hat, ob es sich nun um den persönlichen Lehrer handelt, oder, wie in diesem Fall, um Buddhas und Bodhisattvas. Bei den Pratimoksha-Gelübden ist es natürlich wichtig, eine gewisse Ebene der Entsagung zu haben und die Entschlossenheit, frei zu sein. Bei den Bodhisattva-Gelübden ist es unbedingt notwendig, Bodhichitta entwickelt zu haben, insbesondere den Zustand des ausübenden Bodhichitta und beim Tantra sind sogar noch mehr Voraussetzungen notwendig – zusätzlich zur Entsagung und zum Bodhichitta, sollten wir ein grundlegendes Verständnis der Leerheit haben, der vorbereitenden Übungen und es gibt noch viele andere Dinge, die wir dafür benötigen. Und wir müssen eine sehr bewusste Absicht haben, diese Gelübde in unserem geistigen Kontinuum hervorzubringen, sowie die Absicht, sie so gut wir können einzuhalten. Bei Mönchs- und Nonnen-Gelübden ist es außerdem noch notwendig, dass bestimmte Menschen beim Ritual anwesend sind. Aber darum geht es uns hier nicht, wie man Mönchs- und Nonnen-Gelübde ablegt.
Was ist nun eigentlich ein Gelübde? Dazu gibt es zwei Auffassungen. Eine finden wir in der Sautrantika-Schule. Nach Ansicht dieser Schulen besteht ein Geistesfaktor (ein Gelübde ist ein Geistesfaktor) darin, von einer bestimmten Art nachteiligen Verhaltens abzulassen und während einer spezifischen Zeremonie legen wir formell das Versprechen ab, uns davon zu enthalten. In gewissem Sinne ist dies also eine stärkere Form der ethischen Selbstdisziplin, die auf einem starken Versprechen basiert, welches in einer Zeremonie abgelegt wird. Aber nach Ansicht der Vaibhashika-, der Chittamatra, der Sautrantika-Svatantrika- und der Prasangika-Madhyamaka Sichtweise, ist ein Gelübde eine nicht-offenbarende Form im geistigen Kontinuum einer Person, die die gleiche Funktion hat, wie dieser Geistesfaktor und die unser Verhalten formt.
Worum handelt es sich nun bei einer nicht-offenbarende Form (rig-byed ma-yin-pa’i gzugs)? Es ist eine ausgesprochen subtile Form. Sie besteht nicht aus Atomen und wird als „nicht-offenbarend“ bezeichnet, weil sich die anfängliche Motivation, mit der die Handlung ausgeübt wurde, nicht erkennen lässt. Die nicht-offenbarende Form beginnt am Anfang der Handlung und geht weiter, nachdem wir die Handlung beendet haben – sie verbleibt in unserem geistigen Kontinuum solange, wie wir die Absicht haben, diese Art der Handlung zu wiederholen. Wenn wir uns entscheiden, diese Handlung nie wieder auszuüben, verlieren wir diese nicht-offenbarende Form.
Was ist nun aber die Funktion dieser nicht-offenbarenden Form? Beim Gelübde geht es darum, negative oder nachteilige Handlungen zu unterlassen. Dieses Gelübde wird als Ursache dafür wirken, die Art von Verhalten nicht zu wiederholen und wir verlieren dieses Gelübde, wenn wir uns unter anderem entscheiden, es nie wieder zu tun.
Wenn wir beispielsweise ein Gelübde ablegen, nach dem Mittag nichts mehr zu essen, wird dadurch die Ursache für mich erzeugt, am Nachmittag nichts mehr zu essen. Wenn ich mich entscheide, dass es völlig dumm war, dies zu tun, dieser Disziplin nicht mehr zu folgen und ab jetzt immer Abends noch etwas zu essen, halte ich dieses Gelübde nicht mehr. Das ist also die Bedeutung eines Gelübdes und es ist diese sehr subtile Form, die im geistigen Kontinuum fortgeführt wird. Diese subtile Form ist nicht eine Sache, wie ein Fußball, der vom geistigen Kontinuum des Lehrers oder der Buddhas und Bodhisattvas, an unser geistiges Kontinuum weitergegeben wird. Es ist nicht so, dass sie uns etwas geben und wir es von ihnen nehmen würden.
Auf Tibetisch heißt es, man „empfängt“ ein Gelübde im geistigen Kontinuum. Das bedeutet nicht unbedingt, wir würden etwas von jemandem bekommen, wie beispielsweise einen Brief. Es geht mehr in die Richtung, etwas zu „erlangen.“ Es wird auf der Grundlage von zahlreichen Faktoren hervorgerufen, die anwesend sein müssen, wie ich bereits erklärt habe. Es wird also in unserem geistigen Kontinuum erzeugt und dann versuchen wir, es so gut wie möglich zu erhalten. Diese ganze Terminologie, die wir normalerweise benutzen, wenn wir sagen, wir würden ein Gelübde „brechen“ ist ziemlich irreführend, denn wenn wir dieser Art des Verhaltens nicht mehr folgen, welches wir gelobt haben zu befolgen, schwächen wir das Gelübde. Ich denke, es zu „übertreten“ ist der beste Ausdruck dafür. Wenn wir es übertreten, gehen wir über die Grenze des Gelübdes hinaus. Und es gibt verschiedene Faktoren, die bewirken, wie sehr wir ein Gelübde schwächen. Wenn wir das Gelübde geschwächt haben, hat es weniger Kraft, um eine bestimmte Art des Verhaltens zu bewirken, welches wir gern ständig ausüben würden, wie nichts mehr nach dem Mittag zu essen.
Sagen wir einmal, wir würden ganz strikt nichts mehr nach dem Mittag essen wollen, aber dann tun wir es doch, und dann wieder. Auf diese Weise würden wir es schwächen, denn wir sehen selbst, dass wir uns nicht immer daran halten. Wir müssen verstehen, was es bedeutet, die Kraft des Gelübdes zu schwächen. Es wird weniger Energie besitzen, immer wieder eine ähnliche Art des Verhaltens zu erzeugen. Es sind zahlreiche Faktoren notwendig, die sich zusammenfinden müssen, um tatsächlich dieses Gelübde aus unserem geistigen Kontinuum zu verlieren. Aber dazu kommen wir später.
Ist das jetzt etwas klarer? Es ist nicht einfach und ziemlich subtil, aber ich denke, es ist sehr wichtig zu verstehen, was ein Gelübde ist. Es ist eine subtile Form, die wir in unserem geistigen Kontinuum erzeugen und die unser Verhalten in der Zukunft formen wird. Es ist etwas sehr Mächtiges, denn wir haben es auf der Grundlage eines starken Versprechens hervorgebracht.
Im Abhidharma gibt es eine Abhandlung zu den Gelübden; dort ist die Rede von einer Art Anti-Gelübde (es ist wirklich schwer zu übersetzen) und einem Gelübde, das dazwischen liegt. Ein Gelübde ist also etwas, das von Buddha Shakyamuni erwähnt wurde, also ganz spezifisch Pratimoksa-, Bodhisattva- und tantrische Gelübde. Es geht hier nicht um ein christliches Ehegelübde oder so etwas. Das würde in dieser Klassifizierung nicht als Gelübde betrachtet werden, sondern eher in die mittlere Kategorie passen, die dazwischen liegt. Ein Anti-Gelübde (wie gesagt ist es schwierig, eine gute Übersetzung dafür zu finden) ist etwas, bei dem es um schädliche Dinge geht, beispielsweise der Armee beizutreten und zu geloben, den Feind zu töten. Im Grunde gelobt man etwas zu tun, bei dem es sich um das genaue Gegenteil handelt, also etwas, was man in den buddhistischen Gelübden verspricht, nicht zu tun. Und ein Gelübde, welches sich dazwischen befindet, wäre ein Versprechen etwas zu tun, was normalerweise in keine dieser zwei Kategorien passt und sozusagen dazwischen liegt.
Nehmen wir als Beispiel ein Gelübde der Sexualethik. Bei dem Gelübde, unangemessenes sexuelles Verhalten zu unterlassen, gibt es eine lange Liste von Dingen, die unangemessen sind. Vielleicht sind wir dazu bereit, von einigen Dingen dieser Liste Abstand zu nehmen, beispielsweise jemanden zu vergewaltigen. Natürlich tun wir das nicht, aber dann gibt es vielleicht andere Dinge, auf die wir nicht bereit sind zu verzichten. Wir sagen dann: „Ich möchte nur einen Teil des Gelübdes ablegen.“ Aber in Bezug auf das Gelübde funktioniert das nicht. Entweder man legt das Gelübde vollständig ab, oder nicht. Niemand zwingt uns dazu, es abzulegen. Wir könnten jedoch das Gelübde in dieser mittleren Kategorie ablegen und dann wäre es ein festes Versprechen, ein Teil der Dinge in diesem Gelübde zu vermeiden. Das hat zwar nicht so viel Kraft wie das Ablegen eines buddhistischen Gelübdes, aber immer noch mehr, als es nur ab und zu einzuhalten. Es ist etwas sehr Positives, dieses feste Versprechen zu geben, beispielsweise niemanden zu vergewaltigen und wir bauen dadurch viel mehr positive Kraft auf, als es einfach nicht zu tun. Wir geloben es, aber es hat nicht die gleiche Kraft, als wenn wir es als Teil des gesamten buddhistischen Gelübdes ablegen würden, unangemessenes sexuelles Verhalten zu vermeiden.
Ist mein Verständnis korrekt? Wenn ich denke, dass ein Gelübde falsch oder dumm ist und ich es nicht mehr halten kann, verliere ich es? Aber wenn ich es nur manchmal, in gewissen Umständen, nicht einhalten kann, es aber beim nächsten Mal wieder einhalte, schwäche ich es nur und verliere es nicht?
Das ist richtig. Es gibt noch mehr dazu zu sagen und wir werden später mehr darüber reden, damit wir ein genaueres Verständnis davon bekommen.