Missverständnisse über Ngöndro

Grundlegende Missverständnisse darüber, wie wir existieren

In Bezug auf den Buddhismus gibt es zahlreiche Missverständnisse, und diese beziehen sich nicht nur auf unsere Auffassung und unser Verständnis des Buddhismus. Dieser Verständnismangel ist ein zentrales Problem, das man in Bezug auf alle Bereiche der buddhistischen Lehre findet. Wir verstehen die Realität nicht richtig. Wir missverstehen, wie wir und alle anderen existieren, und deshalb projizieren wir allen möglichen Unsinn, dem wir dann auch noch unwissend Glauben schenken. Wir glauben, dass diese Projektionen der Realität entsprechen. Missverständnisse über den Buddhismus aufzuklären kann uns hier dabei helfen zu verstehen, wie wir solchen Unsinn nicht nur auf die Lehren, sondern auch auf uns selbst, auf andere und auf verschiedene Situationen, denen wir in unserem Leben begegnen, projizieren.

Missverständnisse über Karma

Eines dieser Themen, über das es viele Missverständnisse gibt, ist Karma. Viele von uns neigen dazu zu denken, dass Karma etwas mit Schicksal zu tun hat. Wenn uns etwas Schlechtes widerfährt, sagen wir: „Das ist unser Karma.” Wir denken vielleicht, dass wir in früheren Leben oder zuvor in diesem Leben unanständig waren und wir es deshalb verdienen, etwas Schlechtes zu erleben, da wir uns falsch verhalten haben und deswegen schuldig sind. Das ist alles eine Projektion gewisser Gedankengerüste der westlichen Denkweise, die nichts mit der eigentlichen buddhistischen Lehre zu tun haben. Da diese aber unbewusst tief in uns drin sind, fühlen wir uns miserabel. Unser Glauben an solche Gedankengerüste tendiert dazu, unseren Glauben an ein festes Selbst, das inhärent schlecht ist, nur noch zu verstärken. Dies ist sicherlich keine buddhistische Lehre. 

Schaut man sich an, was der Begriff „Karma” eigentlich bedeutet, so ist das tibetische Wort dafür das umgangssprachliche Wort für eine „Handlung”. Wenn wir Unterweisungen über Karma hören, wird der Begriff auch häufig damit übersetzt. Das macht eigentlich überhaupt keinen Sinn, denn dann würde daraus absurderweise folgen, dass, wenn die Ursache all unserer Probleme im Leben in unseren Handlungen liegt, wir einfach damit aufhören könnten, etwas zu tun, und somit befreit wären. Wir könnten einfach herumsitzen, nichts tun und all unsere Probleme würden verschwinden. Offensichtlich bedeutet Karma nicht nur Handlung an sich, auch wenn sich das umgangssprachliche Wort im Tibetischen darauf bezieht. 

Tatsächlich geht es bei Karma um Zwanghaftigkeit – den Drang, der uns dazu treibt, auf bestimmte Weise zu handeln, zu sprechen oder zu denken. Unser Handeln baut ein gewisses Potenzial, gewisse Neigungen und Gewohnheiten auf; die westliche Wissenschaft spricht von neuronalen Bahnen. Diese karmischen Hinterlassenschaften unserer Handlungen reifen zu verschiedenen Dingen heran – darüber sprechen wir später noch im Detail. Eines dieser Dinge, wozu sie heranreifen besteht darin, dass uns danach ist, etwas zu tun. Wir haben das Gefühl, etwas tun oder sagen zu wollen. Wenn dies geschieht, kommt Karma ins Spiel. Karma ist der Zwang, der uns dazu treibt, das, wonach uns ist, tatsächlich zu tun. Das gilt es zu überwinden. 

Wir müssen den Moment erwischen, in dem uns danach ist, jemandem etwas Gemeines zu sagen, bevor wir dies tatsächlich auch aussprechen. Sind wir dazu in der Lage, eröffnet uns das die Möglichkeit, unser unterscheidendes Gewahrsein zu gebrauchen, um zu entscheiden, ob das, was wir tun oder sagen wollen, hilfreich oder schädlich ist. Dieses Unterscheidungsvermögen ist es, was uns von Tieren unterscheidet – dass wir nicht einfach nur von unserem Instinkt getrieben werden oder aus Gewohnheit handeln.

Darum geht es beim Karma. Es kann ein zwanghafter Impuls sein, ein gewisses Verhalten zu wiederholen, das wir zuvor an den Tag gelegt haben, oder der Drang, in eine gewisse Situation zu geraten, in der uns etwas Bestimmtes widerfährt. Wenn uns beispielsweise danach ist, in ein Einkaufszentrum zu gehen, begeben wir uns zwanghaft dorthin, was dazu führen könnte, dass wir von einem Auto erfasst werden. Manche Resultate von dieser Art des Dranges, mit dem wir handeln, sind nicht immer ganz offensichtlich, auch wenn sie gravierend sein mögen. 

Ziel ist es, unserem Karma nicht mehr hilflos unterworfen zu sein. Wir möchten es loswerden und ebenso auch die Ursache dafür, diese verschiedenen Gewohnheiten aufzubauen. Wir haben allerlei destruktive und genauso auch positive Gewohnheiten, die zum Teil ziemlich neurotisch sein können, wie zum Beispiel perfektionistisch veranlagt zu sein, immer saubermachen zu wollen, ständig jeden zu korrigieren oder ein Grammatikfanatiker zu sein. Diese perfektionistischen Verhaltensmuster – wenn wir projizieren bzw. uns einbilden, perfekt sein zu können – können zu großen Schwierigkeiten führen. Zum Beispiel ist unser Haus dann nie sauber genug, egal wie häufig wir es putzen – es braucht immer mehr, sodass unser Geist niemals zur Ruhe kommt. 

Missverständnisse über Tantra: der „einfache“ Pfad zur Erleuchtung 

Wir wollen uns nun hauptsächlich auf Tantra konzentrieren. Tantra ist eine der Methoden, die wir dafür nutzen können, die Zwanghaftigkeit unseres Karmas zu überwinden. Dass Tantra, Mahamudra oder Dzogchen einfache Wege zur Erleuchtung sind, ist eines der Missverständnisse. Niemand hat jemals gesagt, diese Praktiken wären leicht – auch wenn sie sehr effizient sein mögen, sind sie äußerst anspruchsvoll. 

Es ist unmöglich, Ursache und Wirkung zu umgehen, obgleich Tantra auch als „Ergebnisfahrzeug“ bezeichnet wird, da man in einer Weise praktiziert, die dem Ergebnis des Pfades – das, was man als Buddha erreichen wird, sprich, Buddhaschaft – entspricht. Man stellt sich vor, die Form einer buddhistischen Meditationsgottheit, eines Yidams, anzunehmen, und sich wie ein Buddha zu verhalten, der allen Wesen helfen kann. Unsere Rede ist ein Mantra, unser Umfeld ein reines Mandala und wir genießen Sinneseindrücke auf glückselige Weise, ohne geistige Verwirrung. Auch wenn unsere Praxis dem Resultat, das wir erlangen wollen, ähnelt, wird dieses Resultat in Wirklichkeit nicht zustande kommen, wenn wir nicht die Ursachen dafür schaffen.

Es ist absolut unmöglich, Ursache und Wirkung zu umgehen. Erleuchtung geschieht nicht einfach so in einem Augenblick. Trotzdem hören wir oft, besonders in der höchsten Tantra-Klasse, dass Tantra uns dazu befähigt, in einem Leben Erleuchtung zu erlangen, und das nicht nur in einem Leben, sondern in drei Jahren und drei Mondphasen. Eine Mondphase ist die Zeitspanne zwischen Neu- und Vollmond bzw. umgekehrt und drei solche Phasen ergeben eineinhalb Monate. Wir denken wirklich, dies wäre ein gutes Geschäft, Erleuchtung günstig zu erwerben, und wählen deshalb den Pfad des Tantra. 

Seine Heiligkeit der Dalai Lama nennt dies manchmal „buddhistische Propaganda”, da es uns dazu ermutigt, Erleuchtung in einem einzigen Leben erlangen zu können, was in Wirklichkeit nur sehr wenigen gelingt. Nur auf Grundlage einer enormen Menge positiven Potenzials, das man in vorhergehenden Leben aufgebaut hat, könnte das gelingen.

Wir erklärt man sich nun die Dauer von drei Jahren und drei Mondphasen? Das kommt aus dem Kalachakra-Tantra. „Kalachakra” bedeutet Zeitzyklen und ist ein System, das den Atem sehr genau analysiert. Er fließt zu gewissen Zeiten am Tag hauptsächlich durch ein Nasenloch und das wechselt zwölf Mal pro Tag. Während dieses Wechsels von einem zum anderen Nasenloch atmet man 56,25 Mal gleichmäßig durch beide. An diesem Punkt fließen die subtilen Energien, die hinter der Atmung stehen, in den Zentralkanal. 

Ziel ist es, die gesamte subtile Energie der Atmung, die in der indischen Literatur als „Prana“ und in der chinesischen Literatur als „Qi“ bezeichnet wird, in den Zentralkanal zu bringen und dort aufzulösen, da die Zwanghaftigkeit unseres Karmas von dieser im Westen als „neurotisch“ bezeichneten Energie getrieben ist, die unkontrolliert durch unseren Körper fließt. Dadurch fühlen wir uns nervös, gestresst und angespannt. Im System des Kalachakra bezeichnet man sie als „karmische Winde”, die man alle in den Zentralkanal zu bringen versucht. 

Dabei müssen wir nun geschickt rechnen können. Es gibt 56,25 Atemzüge, die während der zwölf Wechsel von einem zum anderen Nasenloch pro Tag gleichmäßig durch beide Nasenlöcher fließen. Dann nimmt man die Zahl der Atemzüge, die in einer Lebensspanne von einhundert Jahren in den Zentralkanal fließen, und teil diese. Wenn wir diese gleichmäßigen Atemzüge hintereinander machen würden, würde das eine Zeitspanne von drei Jahren und drei Mondphasen ergeben. Daher kommt also diese Dauer; sie ist nicht einfach beliebig gewählt und bezieht sich darauf, all diese Winde in den Zentralkanal bringen zu wollen. 

Dies zu verstehen ermutigt uns, aber wir sollten nicht naiv sein und denken, dass eine dreijährige Klausur alles ist, was wir tun müssen, um Erleuchtung zu erlangen. Die Wahrscheinlichkeit ist dann hoch, dass wir am Ende sehr enttäuscht sein werden, besonders wenn wir einen Großteil der Zeit damit verbracht haben, geistig umherzuschweifen. Wir sollten uns nicht dem Irrglauben hingeben, es würde einfach werden und wir könnten deshalb in unserer Praxis faul sein. Wir wollen einen einfachen und schnellen Weg, auf dem wir uns die harte Arbeit sparen können. Wir sind so beschäftigt, haben kaum Zeit und brauchen die Erleuchtung deshalb möglichst günstig. 

Gewöhnliche vorbereitende Übungen

Betrachten wir den gesamten Korpus der Lehren, egal welcher Tradition wir folgen, so betonen sie alle, dass wir ohne die sogenannten „vorbereitenden Übungen“ keinen Fortschritt im Tantra machen können. Es gibt immer zwei Arten der vorbereitenden Übungen, die beide unabdingbar sind. Eine davon sind die allgemeinen oder gewöhnlichen vorbereitenden Übungen – jene, die Sutra und Tantra gemeinsam haben. Wir verbinden das Wort „gewöhnlich” vielleicht mit etwas Einfachem, als würden wir es nicht wirklich brauchen, aber tatsächlich bedeutet es hier „gemeinsam“.

Demgegenüber stehen die außergewöhnlichen vorbereitenden Übungen, die es nur im Tantra gibt. Es ist allgemein wichtig, sich vor Augen zu führen, dass viele Missverständnisse das Ergebnis von Übersetzungen sind. „Vorbereitend“ als „vorläufig” zu verstehen könnte den ein oder anderen dazu bringen zu denken, dass man auch ohne diese Übungen zurechtkommen könnte, um direkt mit den interessanten Dingen anzufangen. „Vorbereitung“ trifft das Ganze besser, denn beim Ngöndro handelt es sich um vorbereitende Übungen, und wir müssen uns definitiv vorbereiten. Einer meiner Lehrer hat dies anhand eines Vergleichs mit dem alten Tibet verbildlicht: Wenn man mit einer Karawane auf eine lange Reise aufbrechen möchte, muss man sich gut vorbereiten. Das Gepäck muss gut organisiert und gepackt werden, sodass es auf den Rücken der Yaks passt und so weiter. 

Auch wenn wir natürlich in Norwegen oder im Westen keine Karawanenreisen mit Yaks machen, begeben wir uns trotzdem auf eine große innere Reise, auf die man sich genauso vorbereiten muss – auch hier müssen wir unsere Taschen packen. Auf einer solchen Reise müssen wir unser Verständnis der grundlegenden Lehren immer bei uns haben. Dieses schafft nämlich die Rahmenbedingungen für unsere Tantra-Praxis. Hätten wir das nicht, wäre Tantra ein absolut verrücktes Unterfangen. Dann könnten wir uns nämlich genauso gut auch vorstellen, Micky Maus oder die blaue Fee zu sein und alle ins Disneyland zu führen – das ist nun wirklich nicht Tantra. 

Voreilig Ngöndro praktizieren

Die allgemeinen oder gewöhnlichen vorbereitenden Übungen sind absolut essenziell. Sie zu überspringen führt zu einem weiteren Missverständnis, mit dem man direkt mit den außergewöhnlichen vorbereitenden Übungen des Ngöndro beginnt. Das tibetische Wort „Ngöndro” bedeutet eigentlich „vorausgehend” und bezieht sich üblicherweise auf 100.000 Niederwerfungen und andere Praktiken, die man ebenfalls 100.000 Mal durchführt. Tatsächlich wird es zu einem großen Problem, wenn man sich diesen direkt, ohne vorher die allgemeinen vorbereitenden Übungen gemacht zu haben, widmet. In der Kagyü-Tradition werden diese allgemeinen Übungen auch als die „vier Gedanken, die den Geist dem Dharma zuwenden“ bezeichnet und spielen generell eine zentrale Rolle; so weit, dass Dharma-Praxis ohne sie keinen Sinn ergeben würde.

Ein kurzer Überblick über die vier Gedanken, die den Geist dem Dharma zuwenden

Um diese vier Gedanken kurz zu umreißen: Wir verfügen über eine kostbare menschliche Wiedergeburt und müssen uns Tod und Unbeständigkeit vor Augen halten, damit wir unsere Zeit nicht verschwenden; das sind die ersten beiden Gedanken. Weiterhin geht es darum, all die positive Dinge, die wir in unserem Leben haben, wertzuschätzen und uns nicht die ganze Zeit über unsere Schwierigkeiten zu beschweren. Sicherlich ist Samsara beschwerlich und alles andere als ideal, aber sich zu beklagen wird da auch nicht weiterhelfen. Stattdessen sollten wir uns auf das Positive konzentrieren und uns das zunutze machen. Dieses kostbare Leben wird nämlich nicht ewig andauern und sollte nicht als selbstverständlich betrachtet werden. Das ist essenziell für jegliche Art von Praxis, die wir machen.

Als nächstes kommen die Gesetzmäßigkeiten von Karma, der dritte Gedanke, der unseren Geist dem Dharma zuwendet. Hier geht es darum, den grundsätzlichen Mechanismus von verhaltensbedingter Ursache und Wirkung zu verstehen, denn dies führt uns zu einem Verständnis von Karma und zu der Notwendigkeit, von destruktivem Verhalten abzusehen. Wir haben eine Vielzahl schlechter Gewohnheiten aufgebaut, und wenn wir uns anschauen, wie viel Zeit wir jeden Tag mit nutzlosen oder negativen Gedanken und Verhaltensweisen verschwenden, so überwiegen diese weitaus gegenüber den positiven. Das ist besonders offensichtlich, wenn wir das an unserer gesamten Lebensspanne messen, ganz zu schweigen von unseren früheren Leben. Deshalb ist es wichtig, von destruktivem Verhalten Abstand zu nehmen, und nicht unter dem Einfluss von Gier, Selbstsucht, Ärger etc. zu handeln, wenn uns danach ist. Wir sind vielleicht naiv und unterbrechen unsere Bekannten die ganze Zeit in dem, was sie tun, mit Textnachrichten, in der Annahme wir wären der wichtigste Mensch der Welt und meinen, die anderen müssten auf der Stelle alles fallenlassen, um uns zu antworten. Tun sie das nicht, regen wir uns auf und werden wütend. Hier müssen wir unterscheiden: Ist unser Verhalten nützlich oder schädlich? Wie in diesem Beispiel sollten wir uns überlegen, ob jemand beschäftigt ist oder nicht, bevor wir ihn unterbrechen, wann immer wir möchten. Dadurch bauen wir Disziplin auf, die wir für unsere Tantra-Praxis brauchen werden. 

Auf der Grundlage unseres Verständnisses von karmischer Ursache und Wirkung nehmen wir Zuflucht. Zuflucht ist äußerst wichtig und auch darüber gibt es alle möglichen Missverständnisse. Wir neigen oft dazu, sie zu trivialisieren, obwohl Zuflucht eigentlich das Gegenteil davon ist, trivial zu sein. Es geht nicht nur darum, sich ein paar Haare abzuschneiden zu lassen, einen tibetischen Namen zu bekommen und ein rotes Band zu tragen, ganz nach dem Motto, dass wir jetzt dem buddhistischen Klub beigetreten sind. Zuflucht zu nehmen heißt, eine positive und sichere Richtung in unserem Leben einzuschlagen, die Buddha, Dharma und Sangha vorgeben, denn diese drei repräsentieren das, wonach wir streben – sie sind unsere Vorbilder. Mit der Überzeugung, dass wir dies tatsächlich auch erreichen können, schlagen wir deren Richtung ein. Dies gibt unserem Leben einen Sinn.

Es ist wichtig, dass wir ein Ziel und einen Sinn in unserem Leben haben. Zuflucht dient dabei als stabile Grundlage für all unsere Dharma-Praxis. Besonders im Tantra brauchen wir ein solch starkes, aktives Gefühl für die Zuflucht. Man sollte Zuflucht nicht mit der passiven Einstellung „Oh Buddha, rette mich!“ angehen und dann nur dasitzen, sich öffnen und darauf warten, gerettet zu werden. In anderen religiösen Traditionen mag das so funktionieren, nicht aber im Buddhismus. 

Wenn man in der buddhistischen Tradition anderen helfen und Erleuchtung oder auch nur Befreiung erlangen will, muss man dafür zunächst die Ursachen schaffen, um dann ein Resultat zu erhalten. Wir müssen tätig werden und aktiv in die Richtung gehen, die unsere Zuflucht vorgibt. Das bedeutet, dass wir in unserem Leben wirklich in diese Richtung gehen sollten, so wie es Buddha, Dharma und Sangha vorgeben.

Als nächstes führt man sich die Nachteile von Samsara vor Augen und das ist der vierte Gedanke, der unseren Geist dem Dharma zuwendet. Wenn wir wirklich Tantra und den Dharma im Allgemeinen eingehend praktizieren wollen, ist es sehr wichtig, uns ernsthaft auf das Konzept von Wiedergeburt einzulassen. Natürlich kann man auch das, was ich „Dharma light” nenne, praktizieren und nur auf dieses Leben gerichtet dafür arbeiten, seine störenden Emotionen und Projektionen zu beseitigen und gütig zu anderen zu sein. Das ist absolut in Ordnung aber nicht die vollständige Variante des Dharma. Es schleichen sich allerdings viele Fehler und Probleme ein, wenn wir den Dharma so missverstehen, dass es nur um dieses Leben geht. 

Stellen wir uns beispielsweise vor, wir hätten ein Baby und es stirbt. Sicherlich hat es nichts Negatives oder Schlechtes getan; warum ist es dann gestorben? Das stellt uns vor ein Problem, denn Karma im Sinne von Kausalität ergibt keinen Sinn, wenn man es nur auf dieses Leben beschränkt. Nochmal: Es ist nicht so, dass das Baby in einem vorherigen Leben unartig war und dies als Strafe verdient. So ist es überhaupt nicht. Karma ist viel komplexer.

Aus buddhistischer Perspektive sind unsere vorherigen Leben anfangslos, was nicht so ganz einfach zu verstehen ist, aber ohne dieses Verständnis werden wir Probleme haben, die Natur und Reinheit des Geistes nachzuvollziehen. Hat der Geist einen Schöpfer? Wäre das der Fall, würden sich daraus zahlreiche logische Widersprüche ergeben. Es ist sehr schwierig, die Lehren über Leerheit zu begreifen, wenn wir das Leben nur als etwas betrachten, was einen absoluten Anfang und zum Todeszeitpunkt ein absolutes Ende hat. 

Wenn wir dann über die Nachteile von Samsara – der vierte Gedanke, der den Geist dem Dharma zuwendet – nachdenken, beginnen wir, den gesamten Prozess der Wiedergeburt zu verstehen. Das ist ausschlaggebend für die Tantra-Praxis, da man in der höchsten Tantra-Klasse den gesamten Wiedergeburtsprozess transformieren und sich von diesem sich unkontrolliert wiederholenden Zyklus befreien möchte. Und Samsara bedeutet genau das: sich unkontrolliert wiederholende Wiedergeburt mit all den Problemen, die mit diesem begrenzten Körper und Geist einhergehen. Wir werden irgendwann zwangsläufig krank, alt, schwach, gebrechlich und unser Geist ist verwirrt, und es dauert jedes Mal so lange, aus dem hilflosen Säuglingsalter herauszuwachsen. Das Ganze ist einfach fürchterlich.

Wir sind der sich unkontrolliert wiederholenden Wiedergeburt unterworfen und stehen unter dem Einfluss von Karma. All das ist unter dem Hintergrund unserer störenden Emotionen und unseres begrenzten Geistes zu verstehen. Wir werden ärgerlich und das triggert unser zwanghaftes Verhalten. Deshalb ist es notwendig, dass wir die zwölf Glieder des abhängigen Entstehens verstehen, denn sie erklären, wie dieser Wiedergeburtsprozess funktioniert.

Ebenso wichtig ist es, die vier edlen Wahrheiten zu verstehen. Das erlaubt uns, die am tiefsten sitzende Art von Leiden, die letztendliche Ursache von Leid und die Tatsache, dass wir uns von diesen befreien können, zu erkennen. Auf Grundlage unseres Verständnisses von der Reinheit des Geistes wächst in uns die Überzeugung, dass es tatsächlich möglich ist, alles Leiden zu überwinden. Dieser Zustand, in dem man das erreicht hat, ist Gegenstand der dritten edlen Wahrheit. Darüber hinaus gilt es, den Pfad zu erkennen, der einen tatsächlich an dieses Ziel bringt – das ist die vierte edle Wahrheit. Ohne diese Überzeugung stellt sich generell die Frage, was man überhaupt mit Dharma-Praxis – ganz zu schweigen von Tantra-Praxis – macht. Eine feste Überzeugung, unser Ziel zu kennen und zu wissen, dass wir dieses Ziel auch erreichen können – diese Dinge sind essenziell. Dann werden wir nämlich später keine Zweifel haben, wenn es darum geht zu praktizieren, ohne dabei zu denken, dass es absolut verrückt ist, sich in irgendeiner komischen Form zu visualisieren, und man sich deshalb fragt, wofür man das Ganze überhaupt tut. Haben wir mit den vorbereitenden Praktiken keine stabile Grundlage geschaffen, wird genau das passieren. 

Entsagung und Bodhichitta

Basierend auf dem Verständnis der Nachteile von Samsara benötigen wir Entsagung. Wir möchten uns von dem Einfluss von Ärger und von zwanghaftem negativem Verhalten befreien, denn diese verursachen immer mehr Probleme und wiederholen sich nicht nur in diesem Leben, sondern auch darüber hinaus. Wir werden diese Krankheit nicht los, wenn wir nicht etwas dagegen unternehmen. Deshalb brauchen wir Entsagung, den Wunsch, von all dem frei zu sein. Dabei geht es jedoch nicht nur um uns allein; wir müssen uns genauso um andere kümmern, denn unser Leben ist von dem der anderen nicht isoliert. Warum praktizieren wir denn nun Tantra? Wir tun es, um anderen von Nutzen zu sein. Darum streben wir den erleuchteten Zustand eines Buddhas an, und Bodhichitta ist hier absolut zentral. 

Was ist Bodhichitta? Ein häufiges Missverständnis ist, dass Bodhichitta und Mitgefühl einfach dasselbe sind. Das ist jedoch nicht der Fall. Mitgefühl und Liebe sind Faktoren, die als Ursache dafür wirken, dass wir Bodhichitta entwickeln können. Beim Bodhichitta selbst geht es um unsere eigene Erleuchtung; nicht um Buddhas Erleuchtung oder um Erleuchtung allgemein, sondern um unsere eigene, individuelle Erleuchtung, zu der es noch nicht gekommen ist, die aber auf der Grundlage unserer Buddha-Natur stattfinden kann. Wir konzentrieren uns dabei also auf unsere Erleuchtung, die noch nicht eingetreten ist, und auf den Wunsch, dass diese jetzt geschehen möge, sodass wir jedem von Nutzen sein können, da unser Leben und das der anderen voneinander abhängen und wir miteinander verbunden sind. Wir leben nämlich nicht in einem abgeschlossenen Vakuum; stattdessen sind wir auf die Güte anderer angewiesen, um zu überleben. 

Unsere eigene, individuelle Erleuchtung, auf die wir hinarbeiten, wird von Buddha-Formen repräsentiert. Was ist es nun genau, worauf wir abzielen? Wir stellen uns etwas vor, das noch nicht eingetreten ist, aber das basierend auf den Faktoren unserer Buddha-Natur eintreten kann. Tantra-Praxis ist eng mit Bodhichitta verbunden und deswegen visualisieren wir bzw. stellen uns vor, jedem Wesen zu helfen, indem wir Licht ausströmen, das alle von ihren Leiden befreit. Haben wir dabei jedoch kein Gefühl von Liebe und Mitgefühl für andere, stellt sich wieder die Frage, was wir da überhaupt tun. Das wäre albern.

Die sechs Paramitas oder weitreichenden Geisteshaltungen

Dann gibt es da auch noch die sechs weitreichenden Geisteshaltungen oder Paramitas. Wir möchten großzügig gegenüber anderen sein und darüber hinaus ist Disziplin absolut notwendig. Tantra umfasst vielerlei Gelübde, und wenn wir nicht die Disziplin haben, sie einzuhalten, werden wir anderen niemals helfen können. Bei diesen Gelübden geht es nicht nur darum, von negativem Verhalten abzusehen; genauso gibt es da nämlich die bindenden Praktiken (Skt. samaya, Tib. dam-tshig), um positiv zu handeln, und es ist diese Disziplin, die wir brauchen, um anderen zu helfen. Man stellt sich nicht einfach nur vor, wie man jemandem hilft oder großzügig ist, und vermeidet dann im echten Leben den Kontakt mit anderen. Das wäre keine angemessene Praxis. Eine angemessene Praxis bedeutet stattdessen, diese im echten Leben anzuwenden und es nicht nur dabei zu belassen, sich etwas auf dem Meditationskissen vorzustellen. Das Kissen ist ein Ort, an dem wir üben können, damit wir eine Idee davon bekommen, wie wir davon ausgehend fortfahren können. Es bleibt aber natürlich nicht nur beim Einüben – wir müssen das Eingeübte auf der Bühne des Lebens aufführen. 

Darüber hinaus benötigen wir ein Verständnis von Leerheit, ansonsten wäre das, was wir in unserer Praxis tun, verrückt, so wie ein Schizophrener, der denkt, dass er Jesus oder Kleopatra – oder in unserem Fall Tara, Avalokiteshvara oder Chenrezig – ist. Das wäre wirklich ziemlich verrückt, wenn man nicht versteht, worum es dabei geht, und dass eine solche Form wie beispielsweise Tara in Abhängigkeit von den Faktoren unserer Buddha-Natur und dem Kausalitätsprinzip etc. entsteht. Wir werden in dem Moment noch nicht wirklich zu Tara. Wir müssen die Realität dessen, was wir da tun, begreifen, ansonsten können unsere Missverständnisse zu sehr ernsten psychologischen Problemen führen. 

Die Vorbereitung all dieser Komponenten ist wie das Packen unseres Gepäcks für eine Reise. Wir möchten alles tatsächlich auch anwenden. Dies ist unsere Vorbereitung.

Spezielle vorbereitende Übungen oder Ngöndro

Wir praktizieren sie, um positive Kraft aufzubauen und negative abzuschwächen. Das Konzept „Karma“ bezieht sich auf das Aufbauen von positivem oder negativem Potenzial als Resultat unserer Handlungen. Positiv kann entweder neurotische positive Kraft bedeuten, wie in dem Beispiel eines Perfektionisten, oder positive Kraft, die man mit Bodhichitta widmet, damit sie als Ursache für Erleuchtung wirken kann. Diese beiden Formen gilt es zu unterscheiden. Mit unserer Ngöndro-Praxis wollen wir durch positive Handlungen, die wir unserer Erleuchtung widmen, mehr neuronale Bahnen schaffen, um dies einmal fachlich auszudrücken.

Unser Gehirn weißt eine gewisse Neuroplastizität auf, durch die es sich selbst umorganisieren kann. Denkt beispielsweise an die negativen Strukturen, die wir durch unsere negativen Gewohnheiten aufgebaut haben, besonders unter dem Gesichtspunkt unserer anfangslosen Leben. Seit jeher handeln wir unter dem Einfluss von Ärger, Selbstsucht, Gier und Naivität und denken dabei, dass wir der wichtigste Mensch der Welt sind und immer das bekommen sollten, was wir wollen. Wir sollten uns all diese negativen Gewohnheiten einmal vor Augen führen, auch wie wir beispielsweise ignorieren, dass auch unsere Mitmenschen Gefühle haben. Andere in dieser Weise zu ignorieren zeugt von einer Naivität bezüglich der Realität und der Wirkung unserer Handlungen, als könnten wir andere immer schlecht behandeln, ohne irgendwelche Konsequenzen tragen zu müssen. Viele denken zum Beispiel, dass es keine Rolle spielt, wenn man im Beisein eines Säuglings streitet, da er es ja sowieso nicht verstehen kann. 

Diese neuronalen Bahnen, durch die wir gewohnheitsmäßig handeln, sind tief in uns verankert, da wir uns immer wieder in einer gewissen Weise verhalten haben. In dieser Analyse geht es darum, die Nachteile von Samsara auf einer anderen Ebene zu verstehen – auf der unseres sich unkontrolliert wiederholenden Verhaltens, denn das ist Karma: etwas, das sich unkontrolliert wiederholt und zwanghaft ist. Um dem zu entkommen, müssen wir positive neuronale Bahnen schaffen und das ist kein einfaches Unterfangen. Es verlangt ebenso häufige Wiederholungen, da man nur so neue Bahnen aufbauen kann. Deshalb ist es auch nicht genug, etwas 100.000 Mal zu wiederholen. Letztendlich geht es einfach darum, eine möglichst hohe Zahl an Wiederholungen zu erreichen. 

Mit solchen Repetitionen arbeiten wir in Richtung unseres Ziels, mehr positive Strukturen aufzubauen, und aus diesem Grund machen wir auch die vorbereitenden Ngöndro-Übungen, mit denen wir positive Kraft aufbauen und negatives Potenzial schwächen. Wenn wir unsere Praxis zu sehr zurückgelehnt angehen und manchmal meditieren und manchmal nicht, erreichen wir diese Zahl an Wiederholungen nicht. Man braucht wirklich konstante und konsequente Wiederholungen, um eine neue Bahn zu schaffen. Im Sutra spricht man davon, dies über eine Zeitspanne von drei unzähligen Äonen zu tun; „unzählig“ ist die größte Zahl im mathematischen System Indiens. Man könnte genauso auch drei Myriaden sagen, auch wenn das ziemlich vage wäre. Jedenfalls müssen wir sehr viel Potenzial aufbauen, um dem negativen Potenzial, das wir seit anfangsloser Zeit aufgebaut haben, entgegenzuwirken, und dem müssen wir eine enorme Menge Zeit widmen. 

Ermutigung aus den Mahayana-Sutras

Nur als Randbemerkung: In den Mahayana-Sutras wird immer wieder erwähnt, dass sehr viel positive Kraft aufgebaut wird, wenn man diese Sutras liest oder ein bestimmtes Mantra rezitiert, und dadurch das in 60.000 Äonen angesammelte negative Potenzial reinigt. Dass diese Sutras voll von solch unglaublich hohen Zahlen sind, mag einem vielleicht komisch vorkommen, sodass man sich fragt, worum es dabei überhaupt geht. Vielleicht schämt man sich sogar dafür, dies vor anderen Leuten zu erwähnen. Buddha war jedoch nicht dumm; es gibt in der Tat einen Grund dafür. Manche Leute nehmen diese Zahlen wörtlich, aber ich denke, dass uns das einfach nur ermutigen soll. Wenn wir so etwas wie „drei Myriaden“ oder „unzählige Äonen“ an positiver Kraft hören und dann denken, dass wir mindestens 60.000 davon abarbeiten können, indem wir ein bestimmtes Mantra rezitieren, ist diese Zahl nicht mehr so abstrakt und wir können tatsächlich etwas tun. Das ermutigt uns. 

Es ist wichtig, die beiden Extreme zu vermeiden: es sich entweder zu einfach zu machen, genug positive Kraft aufzubauen, oder es als unmöglich zu betrachten. Die Mahayana-Sutras helfen uns dabei, in sehr großen Zahlen zu denken. Sie berichten uns davon, wie Buddha zu einer unglaublichen Menge an Wesen aus allen möglichen Bereichen lehrte. Wir können das entweder als Märchen betrachten oder es wirklich als Anregung sehen, unseren Geist zu öffnen, um alle fühlenden Wesen miteinzubeziehen. Wir müssen beginnen, in sehr großen Zahlen bzw. Dimensionen zu denken, und dass es in der Tat möglich ist, uns von solch einer großen Menge negativen Potenzials zu reinigen und ebenso diese enorme Menge positiven Potenzials aufzubauen. Es ist jedoch notwendig, dies selbst tun und dafür gibt es die vorbereitenden Übungen. 

Wie man Ngöndro nicht praktiziert

Es ist wichtig, die Niederwerfungen nicht einfach nur als körperliche Übung zu machen und den Kopf dabei auszuschalten. Davon werden wir nicht viel haben, denn dann könnten wir genauso gut auch 100.000 Liegestütze machen. Darum geht es dabei sicherlich nicht. Was wir brauchen ist Konzentration. Wenn wir mit unseren Gedanken woanders sind und nur darauf warten, fertig zu werden, wird auch das nicht wirklich effektiv sein, eine neue positive Bahn aufzubauen. Gleichzeitig etwas mit Körper, Rede und Geist zu tun ist äußerst hilfreich, um geistigem Abschweifen entgegenzuwirken. 

Wir neigen sehr dazu, all unsere Praxis nur geistig im Kopf durchzuführen. Ich spreche da aus Erfahrung; mir geht es da genauso. Es ist viel schwieriger, sich zu konzentrieren, wenn wir etwas nur in unserem Geist machen. Tun wir aber gleichzeitig etwas Körperliches und rezitieren dazu noch etwas, gibt es nur noch wenig Spielraum für geistiges Abschweifen. Körper, Rede und Geist so zu kombinieren ist ziemlich geschickt. Unser Ziel ist es, als Buddha unseren Körper, unsere Rede und unseren Geist völlig zu integrieren. 

Deshalb ist es sehr hilfreich die Gewohnheit aufzubauen, Körper, Rede und Geist in unsere Praxis gemeinsam einzubringen, besonders wenn wir die Ngöndro-Übungen durchführen. Denkt nicht, dass es einfach nur körperliche Betätigung mit irgendeinem „bla, bla, bla“ ist. In jeder Tradition gibt es unterschiedliche Rezitationen – es gibt nicht nur einen Weg. Buddha lehrte den Dharma mit geschickten Mitteln und unterschiedlichen Methoden für die unterschiedlichsten Menschen, denn natürlich gibt es viele verschiedene Wege, zu praktizieren, und das ist in Ordnung. Es ist ein großes Missverständnis zu denken, unser Weg wäre der richtige und alle anderen lägen falsch und dann ein solches Wettbewerbsdenken auch noch mit in unsere Dharma-Praxis zu bringen.

Die Niederwerfungen helfen uns dabei, unsere Zuflucht zu verstehen, mit der wir die von Buddha, Dharma und Sangha vorgegebene Richtung einschlagen. Die drei Juwelen sind auch diejenigen, vor denen wir uns niederwerfen und denen wir Respekt zollen, denn sie repräsentieren das, was wir selbst erreichen möchten. Dabei kann es uns helfen, Zuflucht und die Niederwerfungen unter dem Hintergrund von Resultat (jene, die dieses Resultat bzw. Ziel erreicht haben), Pfad (unsere eigene Erleuchtung, die wir mit all unserer Praxis erlangen wollen) und Grundlage (die Faktoren unserer Buddha-Natur, auf dessen Grundlage wir das Resultat erreichen können) anzugehen. Damit zeigen wir Respekt, während unser Geist dabei darauf konzentriert ist, warum wir tun, was wir tun.

Vajrasattva-Reinigungspraxis basierend auf Entsagung

Eine weitere zentrale Ngöndro-Übung ist die Vajrasattva-Praxis. Es ist sehr wichtig, dass man diese auf der Grundlage von Entsagung und den ersten beiden edlen Wahrheiten durchführt. Was möchten wir mit der Vajrasattva-Praxis überhaupt bereinigen? Es ist das Leid und dessen Ursachen. Dies muss man sich vor Augen führen und bezüglich der dritten und vierten edlen Wahrheit Überzeugung entwickeln. Wir wollen wirklich davon überzeugt sein, dass es tatsächlich möglich ist, alles negative Potenzial loszuwerden. Dies können wir erreichen, indem wir Gegenkräfte anwenden. Trotzdem sollte man bedenken, dass die Vajrasattva-Praxis nur eine vorläufige Reinigung darstellt. Das einzige, was dieses negative Potenzial wirklich endgültig auslöschen kann, ist ein Verständnis von Leerheit. Es hält uns davon ab, unsere negativen Verhaltensweisen zu wiederholen. Mit Vajrasattva können wir sozusagen die Tafel putzen, aber das garantiert uns nicht, wieder in schlechte Verhaltensweisen zurückzufallen. 

Eine feste Überzeugung in die vier edlen Wahrheiten ist äußerst wichtig. Damit können wir dann Gegenkräfte wie die Vajrasattva-Praxis anwenden, um unser negatives Potenzial zu bereinigen. Ohne eine solche Überzeugung ergibt das Ganze keinen Sinn. Einfach blind die hundert Silben des Mantras zu rezitieren ist nicht, was wir wollen. Aus diesem Grund gibt es die ausgefeilte Vajrasattva-Praxis, mit der wir uns diese Reinigung bildlich vorstellen. 

Mandala-Darbringung

Es ist sehr wichtig, den nächsten Teil der Ngöndro-Praxis, die Mandala-Darbringung, mit Liebe, Mitgefühl und Großzügigkeit durchzuführen. Wir bringen damit eine Gabe dar und möchten deshalb jedem möglichst förderliche Umstände anbieten, um Erleuchtung zu erlangen. Die traditionelle Standardrezitation lautet in meiner Übersetzung:

Durch das Ausrichten und Darbringen an die Buddhafelder, diesen Boden, der mit duftendem Wasser getränkt und mit Blumen bestreut ist, und der geschmückt ist mit dem Berg Meru, vier Inseln, einer Sonne und einem Mond, mögen all jene, die umherwandern, in reine Länder geführt werden.

Was soll das nun bedeuten? Wir beten dafür, dass jeder in der Lage sein möge, in einem reinen Land zu praktizieren, das wir auf traditionell indische Weise mit dem Berg Meru etc. visualisieren. Es geht dabei nicht um die geografischen Gegebenheiten dieses Landes, sondern darum sich vorzustellen, wie wir jedem die bestmöglichen Umstände darbringen können, um Erleuchtung zu erlangen. Wir beten dafür, dass in diesem reinen Land wirklich alles perfekt ist, sodass man rund um die Uhr den Dharma praktizieren kann. Reines Land bedeutet nicht, sich dort einfach nur entspannen zu können und eine gute Zeit zu haben – stattdessen praktiziert und hört man Unterweisungen, um auf die Erleuchtung hinzuarbeiten. 

Auf diese Weise üben wir uns auch in Großzügigkeit, da wir dafür beten, dass jeder solch günstige Umstände haben möge. Andernfalls wären wir wie ein kleines Kind, das mit Ringen und Reis spielt – das würde nicht so viel Sinn ergeben.

Guru-Yoga

Die Ngöndro-Praxis des Guru-Yoga trägt nur dann Früchte, wenn wir diese mit einer Bodhichitta-Motivation praktizieren, andernfalls wäre es lediglich eine Art Personenkult – das kann dann ziemlich merkwürdig werden und in eine sehr negative Richtung gehen. Eigentlich geht es jedoch darum, uns von dem Gründer unserer Tradition oder einer anderen besonderen Persönlichkeit in Bezug auf Körper, Rede und Geist inspirieren zu lassen. Dabei repräsentiert diese Person unsere Erleuchtung, die eigentlich noch nicht stattgefunden hat. Mit Bodhichitta streben wir diese Erleuchtung an, die wir in dem jeweiligen Meister reflektiert sehen. Dabei richten wir folgenden Gedanken an den jeweiligen Meister, Yidam oder Buddha: „Möge die Inspiration in mir erwachen, die es mir ermöglicht, den erleuchteten Zustand, den du repräsentierst, zu erlangen.“ Dabei muss man bedenken, dass die Praxis „Guru-Yoga“ heißt und nicht „Guru-Anbetung“, denn um so etwas geht es hier nicht. 

Den Zweck von Ngöndro verstehen

Diese speziellen vorbereitenden Übungen basieren vollständig auf den allgemeinen vorbereitenden Übungen – den vier Gedanken, die den Geist dem Dharma zuwenden, auf denen dann Zuflucht, die Vollkommenheiten und Bodhichitta aufbauen. Man sollte sich aber trotzdem vor Augen halten, dass Ngöndro kein Wunderheilmittel für all unsere Probleme ist. Wir bezahlen nicht irgendwelche lästigen Gebühren, um so schnell wie möglich Mitglied der High Society zu werden und direkt an die interessanten Dinge zu kommen. Genauso wenig steht dahinter der Gedanke, dass wir alle Sünder sind und Ngöndro unsere Strafe ist, die wir bezahlen müssen, um unsere Sünden wiedergutzumachen, damit uns Buddha verzeiht. Das sind schwerwiegende Missverständnisse bezüglich des buddhistischen Pfades.

Versucht, den Zweck von Ngöndro zu begreifen. Es geht darum, mehr positive neuronale Bahnen aufzubauen, und nicht darum, sich einfach auf den Boden zu werfen. Die körperlichen und gesprochenen Aspekte der Praxis sind Hilfen, um auf positive Geisteszustände fokussiert zu bleiben. 

Verfrüht Initiationen empfangen und Tantra praktizieren

Wenn eine Initiation gegeben wird, ist es wichtig, nicht einfach nur deswegen teilzunehmen, weil alle anderen hingehen und wir uns daher dazu gedrängt fühlen, auch zu gehen, da man sonst schlecht über uns denken würde. Die Lehren betonen immer wieder, dass man zuvor den Lehrer und die jeweilige tantrische Praxis prüfen sollten. „Möchte ich diese Praxis wirklich machen? Bin ich dafür bereit? Kann ich diesem Lehrer vertrauen?“ Dies sind Fragen, die man sich vorher stellen sollte. 

Geht nicht einfach nur deswegen, weil der Lehrer einen Namen hat oder besonders charismatisch ist. Hitler war auch charismatisch, aber das heißt nicht, dass man jemandem wie ihm nur wegen seiner Berühmtheit oder seiner charismatischen Persönlichkeit folgen sollte. Nicht jeder fühlt direkt eine Verbindung mit jedem Lehrer, selbst wenn es ein großartiger Lehrer ist. Das ist individuell unterschiedlich. Es ist wichtig, dass man sich von dem Lehrer inspiriert fühlt und man eine gewisse Verbindung mit ihm spürt, ansonsten funktioniert es nicht wirklich. Auch wenn andere sich vielleicht einem großartigen Lehrer besonders verbunden fühlen, der irgendwo eine Initiation gibt, tun wir das vielleicht nicht und das ist in Ordnung. Man sollte sich nicht verpflichtet fühlen, zu einer Initiation zu gehen, nur weil sie stattfindet. 

In den Lehren heißt es: Wenn wir nicht vorbereitet sind und trotzdem eine Initiation empfangen und mit Tantra beginnen, ohne ein gewisses Level an Bodhichitta – nicht notwendigerweise müheloses Bodhichitta, aber zumindest eine tiefere Ebene an Bodhichitta – kultiviert zu haben, wird dies dazu führen, als Geist in der Form einer dieser tantrischen Gottheiten wiedergeboren zu werden. Grund dafür ist, dass wir das positive Potenzial, das wir dabei aufbauen, nicht der Erleuchtung widmen. Damit bleibt es lediglich samsarisches positives Potenzial und dieses führt dann zu einer Wiedergeburt in Samsara. Da wir uns in der tantrischen Praxis in der Form einer solchen tantrischen Gottheit visualisieren, werden wir dann als Geist in der Form der jeweiligen Gottheit wiedergeboren. 

Das wäre ziemlich grauenvoll, wenn man mal darüber nachdenkt. Worum es dabei geht, ist, dass wir Tantra nur dann praktizieren sollten, wenn wir uns wirklich vorbereitet fühlen. Das heißt jedoch nicht, dass wir keiner Initiation beiwohnen können, denn sie kann etwas sehr Inspirierendes sein. Wenn wir dabei jedoch keine Gelübde nehmen, haben wir die Initiation nicht wirklich empfangen, wie es viele Meister in der traditionellen Literatur beschreiben. Damit die Initiation vollständig ist, müssen wir auch die Gelübde empfangen. In allen Tantra-Klassen gibt es die Bodhisattva-Gelübde und in den beiden höheren Klassen des Tantra gibt es darüber hinaus noch die tantrischen Gelübde. Wie Atisha in seiner „Lampe für den Pfad zur Erleuchtung” betonte, benötigen wir dafür zumindest eine gewisse Grundlage der Pratimoksha-Gelübde für individuelle Befreiung – entweder die Laien- oder die Mönchsgelübde –, um die Bodhisattva-Gelübde empfangen und auch halten zu können. 

Es ist ein gängiges Missverständnis, wenn man in einer Initiation lediglich anwesend ist und nicht weiß, was vor sich geht, dann trotzdem meint, die Gelübde empfangen zu haben und diese nun auch einhalten zu müssen. Zu denken: „Ich war anwesend, habe aber überhaupt nicht verstanden, was da passierte, da es keine Übersetzung gab oder ich den Übersetzer nicht verstanden habe, und jetzt komme ich da nicht mehr raus.“ – so ist es nicht. Wenn wir die Gelübde nicht in vollem Bewusstsein nehmen, haben wir sie nicht wirklich erhalten. Deshalb ist es auch vollkommen in Ordnung, wie Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt, nur als „neutraler Beobachter“ teilzunehmen. Manche Westler nennen das „einen Segen empfangen“. Daran ist nichts falsch; nur weil man als neutraler Beobachter der Inspirationen wegen teilgenommen hat, sollte man aber dann nicht denken, man hätte die Gelübde und Verpflichtungen genommen und könne nun mit der Tantra-Praxis beginnen. 

Gelübde

Bezüglich der Gelübde sagte einer meiner Lehrer: „Wir können von Glück sprechen, dass es nicht noch mehr Gelübde gibt, denn dann würden wir auch noch diese nehmen und sie nicht einhalten können.“ Wenn wir Gelübde nehmen, sollten wir wirklich ernsthaft versuchen, sie auch einzuhalten, und nicht als Bestrafung oder Einschränkung zu sehen. Sie sind vielmehr hilfreiche Richtlinien, Markierungen oder Grenzen, die wir nicht zu überschreiten versuchen, und geben unserem Verhalten einen gewissen Rahmen. Es ist äußerst hilfreich, eine Richtlinie zu haben, die uns zeigt, welches Verhalten oder welche geistigen Haltungen uns am meisten daran hindern, anderen helfen zu können. 

Nehmen wir zum Beispiel das erste Bodhisattva-Gelübde, sich nicht selbst zu loben und andere aufgrund von Anhaftung und Eifersucht etc. nicht herabzusetzen. Wenn wir uns immer nach dem Motto „Ich bin der Beste und alle anderen sind zu nichts gut“ verhalten, wird uns niemand wirklich Vertrauen schenken. Die Menschen um uns herum spüren, dass etwas mit uns nicht stimmt, und werden denken, wir wollten ihnen etwas verkaufen, oder dass ein Lehrer, der sich so verhält, sich selbst anpreisen will. Das ist nun wirklich nicht hilfreich. Wenn wir schlecht über eine bestimmte Person reden, werden die anderen denken, dass wir dies hinter ihrem Rücken auch über sie tun könnten. Das führt zu Misstrauen, was jegliche Möglichkeit, anderen zu helfen, unterbindet. Unter diesem Hintergrund sollte man Gelübde betrachten. 

Die tantrischen Gelübde auf der anderen Seite sind sehr schwer einzuhalten, wie beispielsweise sechs Mal am Tag über die richtige Sicht der Leerheit zu meditieren. Wie können wir dies zustande bringen, wenn wir von dieser Sicht überhaupt keine Ahnung haben? Es gibt einige Dinge, die wir wirklich ernsthaft in Erwägung ziehen sollten, wenn wir an einer Initiation teilnehmen möchten. Haben wir uns wirklich gut überlegt, ob wir die betreffende Praxis machen wollen? Das ist der zentrale Punkt, warum man eine Initiation für eine spezifische überhaupt nimmt: diese Praxis auch wirklich praktizieren zu wollen. Warum sollten wir sonst teilnehmen? Für Segen und Inspiration? Das ist nur dann in Ordnung, wenn wir die Motivation haben, irgendwann in der Zukunft diese Praxis machen zu können. Wir mögen vielleicht nicht planen, dies direkt zu tun, aber vielleicht gibt ein sehr alter Meister, vor dem wir großen Respekt haben und der bald sterben könnte, bevor wir für diese Praxis bereit sind, die Initiation. Dann können wir an dieser Initiation teilnehmen, um ein Potenzial in unserem Geist einzupflanzen, damit wir die jeweilige Praxis zu einem späteren Zeitpunkt aufnehmen können. Das ist in Ordnung, setzt aber voraus, dass wir bis dahin die Gelübde einhalten müssen. 

Der Körper eines Buddha

Es ist wichtig zu verstehen, was wir da eigentlich tun, wenn wir eine Initiation empfangen. Wie ich bereits sagte, schaffen wir ohne Bodhichitta, indem wir uns als Yidam, die Buddha-Gestalt, visualisieren, die Ursache, als Geist in dieser Gestalt wiedergeboren zu werden. Mit Bodhichitta widmen wir jedoch die positive Kraft unserer Praxis der Erleuchtung. Auch hier spielt Karma wieder eine Rolle. Anstatt mit einem samsarischen Körper mit all seinen Einschränkungen wiedergeboren zu werden, ist es unser Ziel, den Körper unseres Yidams anzunehmen. Ein Yidam ist eine Meditationsgestalt, manchmal auch Gottheit genannt. Aber warum wollen wir das und welche Missverständnisse gibt es da? Ist das nicht ziemlich merkwürdig? Ist es das was wir wollen, zu einer solchen Gestalt zu werden mit all diesen Armen, Gesichtern und Beinen, die alle möglichen Dinge in der Hand hält? Was soll das?

Der Zweck des Formkörpers eines Buddha oder der Form, in der ein Buddha erscheint, ist es, die Wünsche und Ziele anderer zu erfüllen. Der Dharmakaya erfüllt die eigenen Ziele eines Buddhas: die wahre Beendigung aller Schleier, sowie Allwissenheit, die gleiche Liebe für alle Wesen zu empfinden und so weiter. Das Ziel eines Buddhas ist es, allen Wesen zu helfen, aber dafür braucht er Körper und Rede, um das tatsächlich auch tun zu können. Die Gestalt eines Yidams, einer Buddha-Form, anzunehmen ist eine Methode, um dazu in der Lage zu sein. Wie soll das nun anderen helfen? Jeder Arm, jedes Gesicht, jedes Bein repräsentiert eine gewisse Einsicht, eine gewisse Verwirklichung oder ein Verständnis von grundlegenden Aspekten der Lehre. Sechs Arme zum Beispiel stehen für die sechs Vollkommenheiten; drei Gesichter repräsentieren Körper, Rede und Geist – alles hat hier eine Bedeutung. Die Buddha-Formen sind wie Infografiken: Sie sind Formen, die uns dabei helfen, all die verschiedenen Lehren zu integrieren und ihrer gleichzeitig gewahr zu sein. Dazu wollen wir als Buddha in der Lage sein. Wir manifestieren uns in diesen verschiedenen Formen, auf dessen Grundlage andere praktizieren können. Das ist ein wichtiger Punkt. 

Wir wollen, dass unser positives Potenzial nicht zu einem angenehmen samsarischen Umfeld heranreift, sondern zu einem perfekten Umfeld, das ideal für unsere Praxis ist. Das ist es, worauf sich Mandala bezieht. Auch hier repräsentiert jedes architektonische Detail einen Aspekt des buddhistischen Pfades und hilft einem dabei, sich all dieser Lehren bewusst zu sein. 

Anstatt zwanghaft samsarische Gewohnheiten zu wiederholen, möchten wir die erleuchtende Aktivität eines Buddhas erlangen, die anderen von Nutzen ist und sie inspiriert. Anstatt gewöhnlichen Glücks, das von positivem samsarischen Potenzial kommt, wollen wir das glückselige Gewahrsein eines Buddhas erlangen, das frei von Verwirrung ist und keine Grenzen hat. 

Wenn wir Tantra praktizieren möchten und deshalb eine Initiation empfangen, ist es sehr wichtig, ein Verständnis davon zu haben, worum es beim Tantra geht. Wir brauchen Überzeugung in die Methoden des Tantra, um uns diesem wirklich widmen zu können. Man sollte es nicht einfach nur deshalb machen, weil irgendein Lehrer es anpreist, oder aufgrund der Propaganda, dass der Tantra-Pfad einfach und schnell ist und wir etwas Schnelles brauchen, da wir nicht viel Zeit haben. Ein grundlegendes Verständnis davon, worauf wir uns einlassen, ist wirklich wichtig. 

Die Lehren der sieben Juwelen der Aryas 

Hierfür finde ich die Lehren der sieben Juwelen der Aryas sehr hilfreich, die Atisha in seinem „Juwelenkranz des Bodhisattvas” betonte.

(1) Zunächst ist da Überzeugung, was manchmal auch mit Vertrauen übersetzt wird, aber das vermittelt die Bedeutung nicht besonders gut. Wir müssen von den Lehren überzeugt sein. Sind wir nicht davon überzeugt, dass die Methoden des Tantra effektiv sind und dass wir mit ihnen tatsächlich Erleuchtung erlangen können, wird es nicht funktionieren. Die Überzeugung bezüglich dessen, was wir erlangen wollen, und bezüglich der Tatsache, dass dies tatsächlich für uns erreichbar ist, ist das, was wir brauchen. 

(2) Das zweite Juwel ist Disziplin. Ohne die Gelübde zu empfangen und ohne die Disziplin, sich von negativem Verhalten zurückzuhalten, positives Verhalten zu kultivieren, zu meditieren und all die Praktiken auszuführen, wäre Tantra-Praxis undenkbar.

(3) Das nächste Arya-Juwel ist Großzügigkeit. Sie zu praktizieren erfordert Zeit. Wir stellen uns dabei vor, dass wir jedem helfen, und das erfordert, großzügig mit unserer Zeit zu sein – anders funktioniert es nicht. Als Eilauftrag können wir das nicht ansehen. Es erfordert eine Menge Zeit und Anstrengung. 

(4) Ebenso müssen wir zuhören können. Wir hören die Lehren an und denken über diese nach, sodass wir zu einem überzeugten Verständnis kommen. Zuhören bedeutet im Wesentlichen zu studieren. Das kann beispielsweise Lesen sein, wodurch wir uns über den Dharma informieren, um dann darüber nachzudenken, es zu verstehen und das Gelesene zu verdauen. Die daraus gewonnene Überzeugung können wir anschließend mit den Methoden des Tantra kombinieren.

(5) Als nächstes folgt moralische Selbstwürde. Hier versuchen wir, unsere Gelübde nicht zu übertreten und, basierend auf unserer Buddha-Natur, Respekt uns selbst gegenüber zu haben, sodass wir uns nicht irgendwelchen verrückten Verhaltensweisen hingeben. Wie immer wieder betont wird, ist es von größter Bedeutung, unsere Praxis „geheim“ zu halten, wie dieses Wort häufig übersetzt wird. „Geheim“ trifft es jedoch nicht so ganz. Es ist hilfreicher, das Wort im Sinne von „privat halten“ zu verstehen; das heißt, wir sollten nicht mit jedem teilen, was wir tun, oder irgendwelche Bilder von furchterregenden oder nackten Buddha-Gestalten in unserem Wohnzimmer aufhängen, die jeder Besucher sehen kann und sich dann darüber wundert, sie auf herabsetzende Weise betrachtet, oder der Meinung ist, wir würden etwas Verrücktes tun. Es gibt nichts Entmutigenderes als andere Leute, die einen kritisieren oder sich darüber lustig machen, was wir tun. Behaltet diese Dinge also für euch. Es geht niemanden etwas an, was wir in unserer Praxis tun. Das sollte man ernst nehmen. 

Auch in der Initiation gibt es einen Teil, der besagt, dass wir unsere Praxis verborgen halten sollten, und der all die schrecklichen Dinge beschreibt, die geschehen werden, wenn wir das nicht tun. Solche Ausdrücke wie „unser Kopf wird zerbersten” können wir entweder wörtlich verstehen oder in dem Sinne, dass unser Selbstvertrauen und unser Enthusiasmus für die Praxis vollkommen zerstört werden. Wenn wir Tantra praktizieren, ist es das Letzte, was wir wollen, dass andere sich über uns lustig machen und uns kritisieren. Wir wollen unsere Praxis stattdessen als etwas Besonderes wertschätzen und sie nicht mit einem Kalachakra-T-Shirt zur Schau stellen. 

(6) Das nächste Juwel ist, es sich zu Herzen zu nehmen, wie unsere Handlungen auf andere wirken, besonders in Bezug auf unseren Lehrer und unsere Traditionslinie. Wir praktizieren zum Beispiel Tantra, aber dann betrinken wir uns, prügeln uns mit anderen und veranstalten allen möglichen Ärger. Das wird nie zu etwas führen. Besonders relevant ist es hier auch, ein Problem mit den eigenen Eltern zu haben. Das wirft ein schlechtes Licht auf den Buddhismus und auf unsere Lehrer. 

Manchmal frage ich meine Schüler, warum sie nicht einfach irgendwo stehlen gehen. Ist es, weil sie davor Angst haben, in die Hölle zu kommen? In der Regel denkt das keiner. Meistens sagen sie, dass es sich falsch anfühlt und sie so etwas einfach nicht tun würden. Und warum? Da sie Respekt vor sich selbst haben. Darum geht es bei diesem Arya-Juwel. Wir haben genug Respekt vor uns selbst, als dass wir so etwas tun würden, und ziehen deshalb in Betracht, wie sich solche Dinge auf unseren Lehrer und unsere Linie auswirken würden. 

(7) Das letzte Juwel der Aryas ist das unterscheidende Gewahrsein der Leerheit bezüglich des Praktizierenden, des Inhalts der Praxis und der Praxis selbst. Diese drei entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit. Wir sind nicht einfach nur irgendein kleines Würmchen, wohingegen der Lehrer und die Praxis so wunderbar sind. Wir sollten versuchen, einfach ganz unbefangen zu praktizieren, denn wir sind weder ein großer Yogi noch ein furchtbarer Praktizierender. Wir sollten es nicht so dualistisch angehen und stattdessen einfach mit dem Gedanken praktizieren, dass alles in Abhängigkeit und auf der Grundlage von Ursache und Wirkung entsteht – die grundlegenden Lehren über Karma. Alles, was geschieht, ist dieser Gesetzmäßigkeit unterworfen. 

Der Fehler, die Details von Visualisierungen und Ritualen zu sehr zu betonen

Das letzte Thema, das ich ansprechen möchte, ist das Missverständnis zu meinen, der wichtigste Aspekt der Tantra-Praxis bestehe darin, alle Details der Rituale und Visualisierung übergenau auszuführen zu müssen. Das kann besonders am Anfang zu einem Problem werden, wenn wir uns zum Beispiel über all den Schmuck wundern, den die Gottheiten tragen, und wie alle diese Details genau auszusehen haben. Es ist unmöglich, von Anfang an alle Einzelheiten visualisieren zu können. Wenn wir das direkt erzwingen und uns das dann nicht gelingt, verlieren wir ziemlich schnell den Mut, und das hilft uns nun überhaupt nicht. Wenn wir auf der anderen Seite einfach nur mechanisch ein Ritual ausführen – wie ein Kind, das beim Spielen vorgibt, ein Arzt zu sein, oder Vater-Mutter-Kind spielt – wird das keinen wirklichen Effekt haben.

Auch wenn es natürlich wichtig ist, eine allgemeine Vorstellung davon zu haben, was wir tun und wie die Details ungefähr aussehen, sollten wir damit nicht übertreiben, denn sie sind nicht das Wichtigste. Wesentlich ist stattdessen unser Verständnis von dem, was wir tun. In der höchsten Tantra-Klasse versucht man zum Beispiel, Tod, Bardo, und den Wiedergeburtsprozess zu transformieren. Dafür braucht man ein Verständnis, wie man das tun kann, und anstatt dann der unkontrolliert sich wiederholenden Wiedergeburt zu unterliegen, nehmen wir die Formen eines Buddhas an. Das ist zum Beispiel der wesentliche Teil dieser Praxis. 

Es gibt zwei Faktoren, die Teil jeder Visualisierung sind. Visualisieren bedeutet, sich etwas vorzustellen – und denkt nicht, dass das nur auf Visuelles beschränkt ist. Der Begriff „Visualisierung” ist eigentlich etwas irreführend, da alle Sinne involviert sein sollten. Unsere Vorstellungskraft hat sehr viel Potenzial und genau das wollen wir im Tantra nutzbar machen. In vielen Meditationsanleitungen heißt es, dass für eine erfolgreiche Visualisierung zwei Faktoren nötig sind. Der erste Faktor ist Klarheit, was eigentlich darauf hindeutet, dass etwas in unserer Vorstellung erscheint, auch wenn das Bild nicht notwendigerweise vollkommen klar sein muss. Der zweite Faktor ist der sogenannte göttliche Stolz. Das bedeutet, dass wir diese Visualisierung mit Bodhichitta-Motivation und einem richtigen Verständnis als Basis für die Zuschreibung des „Ichs“ verstehen. Uns als Buddha zu visualisieren repräsentiert die Erleuchtung, die wir, auch wenn wir sie noch nicht erreicht haben, auf der Grundlage der Faktoren unserer Buddha-Natur, die Teil unseres geistigen Kontinuums sind, erreichen können. So wie das „Ich“ eine Zuschreibung unserer gewöhnlichen Form ist, ist es auch eine gültige Zuschreibung unseres geistigen Kontinuums, wenn wir schließlich Buddhaschaft erlangen werden. Auf Grundlage dieser Zuschreibung ist göttlicher Stolz das Gefühl, wirklich diese Buddha-Gestalt zu sein. Dies geschieht mit einem Verständnis von Leerheit und ohne sich mittels eines soliden „Ichs“ mit dieser Gestalt zu identifizieren. Zu einer solchen Buddha-Gestalt zu werden kann genauso nur in Abhängigkeit von Ursachen und Bedingungen geschehen. 

Auf Grundlage dieses göttlichen Stolzes und eines richtigen Verständnisses von Leerheit und bedingtem Entstehen entwickeln wir ein Ich-Gefühl. Dieses Gefühl ist deswegen nicht vollkommen verrückt, da wir wissen, dass wir eigentlich noch gar nicht wirklich zu einem Buddha in der Form der Gottheit geworden sind. Bezüglich der Klarheit, mit der wir die Details der Gottheit visualisieren, sagen die Texte, dass der göttliche Stolz das Wichtigste ist. Die Visualisierung kann auch etwas weniger klar sein – am wichtigsten ist es das Gefühl zu haben, das zu sein, was wir visualisieren, und das kann man wirklich erreichen. Sowie unsere Konzentration besser wird, werden mehr und mehr Details automatisch klarer. Wir sollten die Details kennen, es jedoch nicht damit übertreiben, zum Beispiel den Schmuck der Gottheit oder alle Utensilien, die sie in den Händen hält, zu visualisieren, denn das kann uns verrückt machen. 

Ratschlag für den Moment des Todes

Es ist äußerst interessant, wenn wir mal darüber nachdenken, welche Praxis wir eigentlich anwenden würden, sobald der Moment unseres Todes gekommen ist. Im Tantra simulieren wir, was an diesem Zeitpunkt geschieht. Allgemein ist es unser Ziel, den Zustand, in dem der Geist im klaren Licht verweilt, mit einem vollkommenen Gewahrsein der Leerheit aufrechtzuerhalten und in der Gestalt einer Gottheit zu erscheinen, wenn wir sterben. Das zu erreichen, wäre wirklich wunderbar, aber, wie seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt, es würde uns verrückt machen – es sei denn wir sind wirklich gut darin geübt –, wenn wir im Moment unseres Todes krampfhaft versuchen würden, alle Details und die Dinge, die wir als Gottheit in der Hand halten, zu visualisieren, und diese dann auch noch vergessen würden. Dieser Stress würde die Chance, in einem friedlichen und klaren Geisteszustand zu sterben, vollkommen ruinieren. Seine Heiligkeit sagt, dass es viel hilfreicher ist, sich auf Bodhichitta, Liebe und Mitgefühl zu konzentrieren, wenn wir sterben, und dabei zu denken: „Möge ich erneut eine kostbare menschliche Wiedergeburt erlangen, sodass ich auch weiterhin in Richtung Erleuchtung und für das Wohl anderer arbeiten kann.“ Wir können auch an unsere Meister denken und mit diesem Gedanken sterben, es sei denn wir sind wirklich geübt in unserer Tantra-Praxis. Ist das der Fall, können wir natürlich auch die komplizierten Visualisierungen machen, aber die Mehrheit hat diese Übung nicht. 

Das ist ein wirklich hilfreicher Ratschlag und passt sehr gut zu der Tatsache, dass es nicht das Wichtigste im Tantra ist, alle Details korrekt auszuführen.

Die drei Prinzipien des Pfades

Entsagung

Tsongkhapa betont, dass man für erfolgreiche Tantra-Praxis den dreifachen Grundlagenpfad von Entsagung, Bodhichitta und einem richtigen Verständnis von Leerheit benötigt. Wofür brauchen wir Entsagung? Entsagung ist die Entschlossenheit, sich von etwas zu befreien. Der tibetische Begriff bedeutet wörtlich, mit festem Entschluss etwas zu tun, und sich dessen sicher zu sein. Dabei stellt sich nun die Frage, wovon wir frei sein möchten. Hier geht es um Samsara und all unsere Begrenzungen. Genauer gesagt projiziert der Geist allen möglichen Müll bzw. eine Dualität auf alles, was wir erfahren, und wir glauben dann, dies würde der Realität entsprechen. Genau dem entsagen wir im Tantra – dem gewöhnlichen Aspekt des Geistes, Erscheinungen hervorzubringen. Wir glauben, dass uns und allen anderen inhärente Existenz innewohnt, vollkommen in sich selbst begründet und unabhängig von allem anderen. 

Das einfachste und klarste Beispiel von scheinbarer inhärenter Existenz ist eine Internetseite. Wenn wir eine solche auf dem Bildschirm unseres Smartphones öffnen, sieht es so aus, als würde das vollkommen aus eigener Kraft heraus geschehen. Es scheint so, als würde die Seite aus dem Nichts kommen und ganz aus sich selbst heraus existieren. Da ist sie nun, ganz für sich und aus sich selbst heraus. Dass das Ganze auf tausenden Arbeitsstunden von hunderten von Menschen basiert, bleibt uns dabei verborgen. Die Webseite erscheint uns nicht so, als würde sie für ihre Einrichtung eine hohe Summe an Geld und Zeit verlangen, nicht wahr? Der Grund dafür ist, dass unser Geist sie erscheinen lässt, und unser Geist ist begrenzt. Er lässt sie erscheinen, als würde ihr eine inhärente Existenz innewohnen. 

Die Realität ist jedoch, dass die Internetseite in Abhängigkeit entsteht. Sie entsteht in unserem Smartphone, abhängig von all den Ursachen und Bedingungen, sowie von den Kleinteilen im Inneren des Telefons. Es ist wirklich unglaublich, von wie vielen Faktoren das Ganze abhängt. Das alles ist ebenso ein Beispiel für die Lehren von Karma. Dinge entstehen nicht nur aus einer Ursache, sondern aus einer Kombination von vielen. Buddha sagte dazu ganz treffend, dass ein Eimer Wasser nicht durch den ersten oder letzten Tropfen voll wird, sondern durch die Gesamtheit aller Tropfen. Was auch immer geschieht entsteht in Abhängigkeit von zahllosen Ursachen und Bedingungen. Nichts entsteht einfach so, aus eigener Kraft. 

Dieser falschen und trügerischen Erscheinung von inhärenter Existenz und der Tatsache, dass unser Geist diese erscheinen lässt, wollen wir entsagen. Seine Heiligkeit der Dalai Lama ist immer sehr interessiert an Quantenphysik und hält deshalb viele Gespräche mit Wissenschaftlern. In der Quantenphysik gibt es, wenn auch nicht vollständig äquivalent, eine Ähnlichkeit mit der Theorie der Leerheit. Es gibt zum Beispiel das Quantenfeld, in dem es zur selben Zeit mehrere Möglichkeiten gibt: Nur mit der Einwirkung eines Beobachters kollabiert das Quantenfeld in ein Teilchen oder in eine Welle, und im ersten Fall kann das Teilchen an mehreren Orten gemessen werden. 

Ein solches Quantenfeld kann nur einmal kollabieren. In unserem Fall hier haben wir quasi ein Quantenfeld des bedingten Entstehens und das ist es, was ein Buddha wahrnimmt – ein Quantenfeld, in dem alles miteinander verbunden ist: alle Ursachen und Bedingungen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sowie alle Wesen. Ein Buddha nimmt das gesamte „Feld“ des abhängigen Entstehens gleichzeitig wahr. Das ist der allwissende Geist eines Buddha. Unser begrenzter Geist zerlegt es lediglich zu einer Sache, abhängig von unseren Projektionen und unserer Hardware. Er lässt eine Erscheinung entstehen, die nur wir wahrnehmen, und die uns als selbst-begründet erscheint. Darüber hinaus ist das, was wir mit der Hardware unseres menschlichen Auges sehen und was eine Fliege mit ihrem Facettenauge wahrnimmt, sehr unterschiedlich. Was entspricht nun der Realität? Auf was wir dieses Feld der Wahrnehmung reduzieren hängt davon ab, was wir dadurch sehen; dasselbe gilt für unser begriffliches Bezugssystem. Unser Geist reduziert dieses Feld auf eine scheinbar aus sich selbst heraus existierende Erscheinung mit allen möglichen Projektionen, wie beispielsweise der, zu nichts gut zu sein oder irgendetwas schrecklich zu finden, worauf wir uns dann beschweren. 

Wir wollen all dem entsagen und dieses Wahrnehmungsfeld stattdessen zu einem Mandala, den Buddha-Gestalten, den Yidams und all diesen Gottheiten werden lassen. Dies ist besonders hilfreich für andere, damit sie mit diesen praktizieren können. Als Buddha wollen wir in der Form dieser Buddha-Gestalten und Mandalas erscheinen, um sie anderen darzubringen, damit sie sie auf dem Pfad nutzen können, denn all die Arme und Beine etc. der Gottheit repräsentieren unterschiedliche Aspekte des Pfades, was einem dabei hilft, alle Aspekte des Pfades gleichzeitig zu integrieren. 

Sobald wir dieses Quantenfeld auf lediglich eine Erscheinung reduziert haben und wir diese Erscheinung dann als in sich selbst begründet auffassen, ist diese Schlussfolgerung nicht richtig. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um eine gewöhnliche Erscheinung oder um die Erscheinung einer Buddha-Gestalt handelt. Darum ist ein Verständnis der Leerheit unabdingbar, um die inhärente bzw. konkrete Existenz jeglicher Erscheinung zu dekonstruieren. Dennoch wollen wir der Tatsache, dass unser Geist gewöhnliche Erscheinungen hervorbringt, entsagen und die Fähigkeit des Geistes, etwas erscheinen zu lassen, nutzen, um das Quantenfeld zu einem reinen Land und all unseren Visualisierungen werden zu lassen. Entsagung und ein richtiges Verständnis von Leerheit sind dabei essenziell. 

Bodhichitta

Unsere Visualisierung besteht in dem, was wir anstreben, denn es repräsentiert unsere Erleuchtung, die noch nicht stattgefunden hat, und durch Bodhichitta wollen wir für das Wohl aller diese Erleuchtung erlangen. Mit unserer Praxis proben wir das sozusagen und schaffen dadurch ein stärkeres Potenzial, um noch effizienter zu diesem Ziel zu gelangen als nur durch Sutra-Praxis allein.

Ein richtiges Verständnis von Leerheit

Zu denken, das richtige Verständnis von Leerheit würde darin bestehen zu meinen, unsere Erleuchtung, die noch nicht stattgefunden hat, sowie die von uns visualisierten Buddha-Gestalten und Mandalas würden noch nicht existieren, aber in uns schlummern und zu gegebener Zeit in Erscheinung treten, sobald wir genug positive Kraft und tiefes Gewahrsein aufgebaut haben, ist ein großes Missverständnis. Die Buddha-Natur sitzt nicht einfach in unserem Kopf und wartet darauf, herauszuspringen. Zu denken, unsere Erleuchtung hätte noch nicht stattgefunden, weil wir nicht realisiert haben, dass wir bereits erleuchtet sind, ist kein richtiges Verständnis von der Buddha-Natur. Es besteht ein Unterschied darin, was jetzt geschieht und was noch nicht geschehen ist, aber geschehen kann. Es ist nicht so, dass Erleuchtung unmöglich bzw. nicht existent ist.

Nehmen wir beispielsweise den morgigen Tag: Er unterscheidet sich von dem heutigen, aber wir können nicht einfach sagen, dass es kein Morgen gibt. Es besteht ein großer Unterscheid zwischen etwas nicht Existierendem und etwas noch nicht Eingetretenem. Unsere zukünftige Erleuchtung ereignet sich nicht gerade in diesem Moment, aber trotzdem ist sie nicht vollkommen nicht-existent. Erleuchtung kommt nicht einfach von irgendwo aus dem Nichts oder sitzt in unserem Kopf und wartet darauf, herauszuspringen. Sie existiert nicht in einer dualistischen Weise, vollkommen getrennt von unserem Geist bzw. unserem geistigen Kontinuum und all unserem karmischen Potenzial. Es ist nicht so, dass wir auf der einen Seite stehen und Erleuchtung auf der anderen, und sie vollkommen unerreichbar für uns ist. 

Es ist essenziell, bedingtes Entstehen zu verstehen, denn alle Phänomene entstehen in Abhängigkeit von zahlreichen Ursachen und Bedingungen. Das ist der einzige Weg, wie auch unsere Erleuchtung zustande kommen kann; der einzige Weg, wie wir auch sinnvoll Tantra praktizieren können. Wir müssen verstehen, was dabei vor sich geht, und dass wir viel harte Arbeit investieren und vorbereitet sein müssen. Man kann buddhistische Praxis nicht einfach mit Tantra beginnen. Tantra ist nichts für Anfänger, sondern eine Praxis für sehr Fortgeschrittene.

Unser Leben transformieren

Wenn wir bereits Tantra praktizieren und das Gefühl haben, eigentlich noch gar nicht wirklich dafür bereit zu sein, sollten wir uns mehr den Grundlagen der Lehre widmen. Wir sollten die grundlegenden Sutra-Lehren und die vier Gedanken nicht einfach als Kinderkram abtun, denn sie sind das, was wirklich unser Leben transformiert und was wir in unserem Leben in die Praxis umsetzen und nicht einfach nur auf unserem Meditationskissen üben sollten. Die wahre Praxis ist das Leben: In schwierigen Situationen sollten wir uns in Geduld, Toleranz und Verständnis üben. Es ist wichtig zu verstehen, dass, wenn sich jemand wirklich unangebracht verhält, dies durch das Zusammenkommen von Ursachen und Bedingungen zustande kommt. Wir sind nicht verantwortlich für alles, was im Universum geschieht, und es ist ein Mythos, dass wir alles unter Kontrolle haben können, nicht wahr? Dennoch können wir einen Beitrag leisten. Alles entsteht abhängig von zahlreichen Ursachen und Bedingungen. 

Fragen

Es war meine Absicht, etwas über Tantra und Ngöndro zu präsentieren, vorherrschende Missverständnisse klarzustellen und einige Ratschläge darüber zu geben, wie man die eigene Praxis bedeutungsvoll und effektiv gestalten kann. Insofern es noch andere Themen gibt, die von Interesse sind – vielleicht weitere Missverständnisse beispielsweise in Bezug auf spirituelle Lehrer – bitte zögert nicht, zu fragen.  

Die Sprache der Praxis und unsere Praxis bedeutungsvoll gestalten

Ich hätte eine Frage bezüglich der Sprache. Ist es im tibetischen Buddhismus wichtig, auf Tibetisch zu praktizieren, oder kann man das auch in seiner Muttersprache tun? Manche Leute betonen die Wichtigkeit, in der eigenen Sprache zu praktizieren, damit die Praxis wirklich zu uns spricht und von Herzen kommt; andere hingegen behaupten, dass die tibetische Sprache bzw. die ursprüngliche Sprache der Praxis etwaige spirituelle Qualitäten besitzt, die man nicht unterschätzen sollte. Was ist Ihre Meinung dazu?

Was die Sprache der Praxis betrifft, so praktizieren Tibeter nicht auf Sanskrit, sondern auf Tibetisch. Sie haben also bereits alles übersetzt. Einige Mantras auf Sanskrit haben sie behalten, aber abgesehen davon und einigen Blumennamen etc. wurde alles ins Tibetische übersetzt. Der große Lama, der betonte, vollständig auf Tibetisch zu praktizieren, war der vorherige Kalu Rinpoche. Er bestand darauf, da er in verschiedenen Ländern viele Dharma-Zentren gründete und dachte, dass die Leute all dieser Länder gemeinsam praktizieren könnten, wenn jeder in derselben Sprache, auf Tibetisch, praktizieren würde. Es ging nicht darum, dass die tibetische Sprache etwas Magisches ist, sondern er legte aus dem praktischen Hintergrund Wert darauf, eine Gemeinschaft zu bilden.

Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt, dass es wichtig ist, wirklich zu verstehen, was wir in unserer Praxis tun, und das können wir am besten in unserer Muttersprache. Trotzdem sollte die Sprache poetisch und rhythmisch sein, sodass sich der Praxistext flüssig rezitieren lässt, was nicht in allen Sprachen so einfach ist. Außerdem sollte die Sprache klar sein, damit wir keine Probleme beim Verständnis der Bedeutung haben. 

Dzongsar Khyenste Rinpoche hat das sehr gut ausgedrückt, als er neulich in Deutschland einen Vortrag gehalten hat. Er äußerte seine Zweifel, dass Tibeter überhaupt praktizieren würden, wenn sie das auf Deutsch, geschrieben in tibetischer Schrift, tun müssten. Wenn man das Ganze von der anderen Seite aus betrachtet, fällt einem auf, wie komisch es eigentlich ist, darauf zu bestehen, etwas in einer Sprache zu rezitieren, die man eigentlich gar nicht versteht. Beide Sichtweisen haben ihre Vor- und Nachteile.

Was meine eigene Erfahrung betrifft, so habe ich während der frühen Jahre meiner Dharma-Praxis alles auf Tibetisch gemacht. Da dann allerdings wenig Zeit war, bin ich alles immer nur sehr schnell im Kopf durchgegangen, sodass meine Praxis irgendwann mehr oder weniger nur noch darin bestand, Seiten umzublättern, anstatt wirklich geistig dabei zu sein und meine Praxis, die ich im Eiltempo auf Tibetisch gelesen habe, bedeutungsvoll zu gestalten. Deshalb habe ich irgendwann ins Englische gewechselt, weil ich die Bedeutung dann eher verinnerlichen kann. Egal in welcher Sprache wir praktizieren, es passiert schnell, dass das Ganze zu einer Übung im Umblättern und Schnelllesen wird. 

Wenn es nicht unser Hauptproblem ist, dass wir geistig abschweifen – was eigentlich für die meisten die größte Herausforderung darstellt –, besteht die nächste Herausforderung darin, dem, was wir rezitieren, wirklich Bedeutung einzuhauchen, und das ist ziemlich schwierig, besonderes in schnellerem Tempo. Serkong Rinpoche sagte immer, dass wir in der Lage sein sollten, den gesamten Stufenpfad des Lam-rim in der Zeit durchzugehen, die es braucht, um einen Fuß in den Steigbügel eines Sattels zu setzen und das andere Bein über den Pferderücken zu schwingen, denn der Tod warte nicht darauf, bis wir unsere Position eingenommen haben und alles langsam und gründlich durchgegangen sind. Wenn wir sterben, müssen wir alles sofort parat haben.

Das sollte unser Ziel sein, nicht nur im Moment des Todes, sondern auch im Eifer des Gefechts unseres Lebens. Wenn wir uns in irgendeiner Situation wiederfinden, in der uns beispielsweise jemand anschreit, können wir nicht einfach sagen „warte eine Sekunde“, während wir die richtige Sitzhaltung einnehmen, unsere Atemzüge zählen, um zur Ruhe zu kommen, und dann die ganze Argumentationskette durchgehen, dass diese Person in einem vergangenen Leben unsere Mutter gewesen ist und all diese Dinge, und dann aufstehen und demjenigen geduldig alles Gute wünschen. Dafür ist keine Zeit. Vielmehr ist es notwendig, diese Geduld augenblicklich aufbringen zu können. 

Wir müssen unsere Praxis bedeutungsvoll gestalten, sodass wir wirklich innerlich fühlen, was wir tun. Ein Großteil der Tantra-Praxis beinhaltet Rezitationen, die manchmal einem Opernskript ähneln. Wir gehen dabei die vier unermesslichen Gedanken und die Zuflucht durch. Der Anfangsteil jedes Sadhanas beinhaltet das gesamte Ngöndro. In der langen Fassung der Sadhanas ist all das vorhanden – Vajrasattva, Guru-Yoga und die Mandala-Darbringung. Wahre Praxis bedeutet, all die damit verbundenen Geisteszustände zu kultivieren und alles nicht einfach nur schnell durchzulesen und Seiten umzublättern. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir auf Tibetisch oder in unserer Muttersprache rezitieren; in beiden Fällen kann man schnell in die Bedeutungslosigkeit abgleiten. Nur weil es unsere Muttersprache ist, heißt das nicht, dass wir dem, was wir rezitieren, wirklich Bedeutung schenken. Darin liegt der größte Teil der Arbeit, denn es ist schwer, wirklich etwas dabei zu empfinden, wirklich Liebe zu fühlen, wenn wir unsere Rezitation durchgehen. Wir sollten uns ernsthaft fragen, ob wir diese Liebe wirklich in uns spüren.

Kollektive Verantwortung und Karma

Meine Frage bezieht sich auf kollektives Karma und Ereignisse auf globaler und lokaler Ebene. Wie funktioniert das buddhistische Prinzip des kollektiven Karmas? Sind wir als Buddhisten denn nicht irgendwie damit verbunden, was beispielsweise in Myanmar passiert? Bis mich neulich jemand damit konfrontiert hat, war mir nie wirklich bewusst, dass jemand denken könnte, ich könnte wie diese fanatischen Buddhisten in Myanmar sein, die Minderheiten verfolgen.

Diese Frage bezieht sich darauf, wie es sich mit unserer Verantwortung in Bezug auf kollektives Karma verhält. Zunächst ist es ein allgemeiner Mythos, dass alle Buddhisten gute Menschen sind; das kann man eigentlich von keiner Menschengruppe einfach so behaupten. Wir sind alle Individuen. Man könnte eine Datenanalyse machen und schauen, welcher Prozentsatz gut ist und in welcher Situation das so ist, aber das wäre nicht besonders hilfreich. 

Was die Verantwortung des Einzelnen betrifft: Wenn wir uns in der Abhidharma-Literatur die Liste der Geistesfaktoren anschauen, die in jeder konstruktiven Handlung als Grundlage der buddhistischen Ethik immer vorhanden sind, so beinhaltet diese Liste moralische Selbstwürde und die Sorge darum, wie sich unsere Handlungen in Bezug darauf auswirken, wie andere über unsere Eltern oder den Buddhismus denken. Jede unserer Handlungen wirkt sich auf andere aus, d.h. auf die Gruppe, der wir angehören, und genauso wirken sich auch die Handlungen anderer, die unserer Gruppe angehören, auf uns als Buddhisten aus. Wir sind natürlich nicht für das Verhalten anderer verantwortlich, aber ihr Verhalten wirkt sich trotzdem darauf aus, wie andere über den Buddhismus denken, dem wir folgen, und das kann sehr schädlich sein.

Buddhist oder Christ zu sein heißt noch lange nicht, dass man auch wirklich den Lehren des Buddha oder Jesus folgt. Es ist genauso ein Mythos, dass alle Mönche erleuchtet oder alle Tibeter Buddhas sind. Sie alle sind auch nur Menschen und jeder hat seinen eigenen samsarischen Müll, mit dem er fertig werden muss.

Nun zum kollektiven Karma: Sind wir dafür verantwortlich, wie sich diese Leute in Myanmar verhalten? Nein, das sind wir nicht. Wird die Allgemeinheit das mit dem Buddhismus und damit auch mit uns in Verbindung bringen? Ja, das wird sie, und wir können dann erklären, dass Religion nicht der einzige Faktor ist, der diese Taten motiviert, aber rechtfertigen können wir das nicht. In dieser Angelegenheit sind zwei unterschiedliche ethnische Gruppen, Bengalis und Burmesen, mit einer konfliktreichen Geschichte involviert. Es gibt viele historische Faktoren und das macht das Ganze nicht so einfach. Wir sollten es jedoch trotzdem auf keinen Fall rechtfertigen, was dort passiert, oder es gutheißen bzw. einfach so hinnehmen. Aber was wir in der Tat tun müssen, ist, anderen zu erklären, dass dieses Verhalten nicht im Einklang mit den Lehren des Buddhas steht. 

Es ist wichtig zu erklären, dass die Leute dort, die diese religiöse Verfolgung ausführen, gewöhnliche und verwirrte Menschen sind. Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt in Bezug auf den Islam, dass es in jeder religiösen Gruppe böswillige Menschen gibt. Zu sagen, alle Mitglieder einer Religion wären Terroristen, nur weil eine kleine Gruppe, die die Lehren dieser Religion überhaupt nicht repräsentiert, solche Taten begeht, ist ein Fehler. Dieser Ratschlag hilft uns dabei, die Missetaten kleiner Gruppen nicht auf die gesamte Religionsgemeinschaft, der sie vermeintlich angehören, zu projizieren. Alles, was wir tun können ist, anderen zu erklären, dass solche Handlungen in der Tat furchtbar sind, wir deren Meinung zustimmen, und dass Buddhisten solche Taten verurteilen. Die Situation ist äußerst komplex, es geht nicht einfach nur um Gut gegen Böse. Ansonsten können wir da nichts tun.

Ich glaube, dass deine Frage sich eher auf kollektive Verantwortung als auf Karma bezieht, denn das ist eine andere Sache. Die Frage, warum eine gewisse Gruppe von Menschen zum Beispiel eine Naturkatastrophe erleidet, ist etwas anderes. 

Ein Vorbild sein und Kindern universelle Werte lehren

Ist es nicht an der Zeit, dass wir als Buddhisten mehr über buddhistische Konzepte wie Mitgefühl und Frieden sprechen, da das etwas ist, was die Welt wissen sollte?

Die Frage, ob wir über solche die Allgemeinheit betreffenden Fragen auf einer globaleren und universelleren Ebene nachdenken sollten, ist meiner Meinung nach weniger eine Frage des kollektiven Karmas als vielmehr eine Frage des abhängigen Entstehens. Wir existieren nicht einfach nur als Individuen für uns allein. Was in der Welt geschieht, entsteht in Abhängigkeit von dem, was jeder einzelne tut, und von zwischenmenschlicher Interaktion. Wir können etwas beitragen, aber müssen dabei erkennen, dass noch so viele weitere Faktoren mit im Spiel sind. 

In Bezug auf die sogenannten „Buddhisten”, die eigentlich sehr unbuddhistisch handeln, wie in Myanmar, können wir versuchen, selbst ein Beispiel dafür zu sein, wie der richtige buddhistische Weg aussehen würde. Aber wir sind lediglich ein Individuum, und wenn wir das Ganze aus einer kollektiven Perspektive betrachten wollen, können wir das ähnlich wie bei einem Imputationsverfahren, um einen technischen Begriff aus der Statistik zu verwenden, machen und auf viele Individuen Rückschlüsse ziehen. Wir können den Trend mit einer Datenanalyse betrachten und sehen, wie sich die Zahl der Menschen x, die gut sind, und die Zahl der Menschen y, die nicht gut sind, entwickelt haben, und dann können wir daraus schlussfolgern, dass es eine Gruppe guter Menschen und eine Gruppe schlechter Menschen gibt. Diese Trends gibt es und sie mögen auch eine gewisse statistische Gültigkeit haben, aber Statistiken bestehen immer aus vielen Individuen, die auf ganz bestimmte Art und Weise handeln. 

Ich denke, es ist wichtig, ein Vorbild dafür zu sein, was es bedeutet, die buddhistischen Lehren tatsächlich in die Praxis umzusetzen. Buddha lehrte auf zwei Weisen: mit den Lehren der Schriften, die auf dem basieren, was er tatsächlich gesagt und gelehrt hat, und mit den Lehren, die er durch sein Beispiel basierend auf seiner Verwirklichung vorlebte. Auch wir können auf zwei Weisen lehren: verbal und durch das Beispiel, das wir anderen vorleben. Dies kann nur auf individueller Ebene geschehen. Wir können andere inspirieren und dann einen größeren Trend beobachten, der daraus resultiert, dass mehr als eine Person andere durch ihr Beispiel inspiriert. Auf diese Weise können wir einen positiven Einfluss nehmen und vieles verbessern. 

Trotzdem müssen wir realistisch sein. Seine Heiligkeit der Dalai Lama ist da sehr weise mit seinem Ansatz. Es ist sehr schwierig, die Gewohnheiten und Verhaltensmuster von Erwachsenen, und wie sie die Probleme der Welt mit Aggression, Gewalt und Egoismus angehen, zu ändern. Unsere Aufgabe ist es, das Bildungssystem so zu gestalten, dass wir nicht nur materialistische Werte vermitteln, sondern darüber hinaus auch das, was der Dalai Lama „universelle Werte“ oder „elementare menschliche Ethik“ nennt. Es handelt sich dabei um eine sogenannte „säkulare Ethik“, die von allen Religionen und auch von Menschen, die keiner Religion angehören, gemeinsam akzeptiert werden kann. Dazu gehören solche grundlegenden Dinge wie Güte, Geduld, Vergebung, Zuneigung und Fürsorge.

Diesbezüglich ist es ein guter Anfang, diese Werte bereits sehr kleinen Kindern zu vermitteln. Dafür wurden bereits an Universitäten in Amerika und Indien Programme für einen Lehrplan entwickelt, um diese Werte mit sehr einfachen Übungen in das Bildungssystem zu integrieren. Ich habe das Material bereits gesehen, an dem sie arbeiten, und es ist wirklich brillant. Es gibt zum Beispiel eine Übung für Kindergartenkinder, bei der die Kinder in einem Kreis stehen und der Lehrer in der Mitte. Der Lehrer sagt dann: „Jeder, der es mag, wenn jemand nett zu einem ist, kann in die Mitte des Kreises kommen.“ Dann gehen in der Regel alle Kinder in die Mitte. Darauf gehen sie wieder zurück in den Kreis und der Lehrer sagt dann das Gegenteil: “Jeder, der es mag, wenn jemand gemein zu einem ist, kann in die Mitte des Kreises kommen.“ Natürlich geht dann niemand in die Mitte.

Auf diese Weise wird den Kindern der Wert von Güte bzw. Freundlichkeit vermittelt, und dass es, einfach ausgedrückt, viel besser ist, nett zu sein als gemein zu jemandem zu sein, und dass es einen Unterschied zwischen diesen beiden Optionen gibt. So können wir diese Ideen nach und nach in einem nicht-religiösen Kontext in das Bildungssystem einführen. Die bisherigen Pilotprojekte waren bereits sehr erfolgreich. Wenn wir davon sprechen, Dinge kollektiv zu verändern, müssen wir auf einer Ebene beginnen, auf der man tatsächlich etwas bewirken kann. Es ist wichtig geduldig sein, da dies Zeit brauchen wird. Schließlich geht es hier bei diesen jungen Kindern um unsere zukünftige Generation.

Mit Programmen wie diesen gibt es Hoffnung für die Zukunft; insofern es uns gelingt, junge Menschen dazu zu bringen, die Augen von ihrem Smartphone zu lösen und wirklich an ihrem Umgang mit anderen Menschen zu arbeiten. Das ist dabei die große Herausforderung. Wenn die Virtual-Reality-Brille die Oberhand gewinnt, wird es für denjenigen, der sie benutzt, wirklich schwierig sein, sich mit der wirklichen Welt auseinanderzusetzen. Ich glaube fest daran, dass es in unserer Verantwortung liegt, die wir Vertrauen in die buddhistische Lehre haben, nach Wegen zu suchen, wie wir den Menschen in Zukunft helfen können. Wir können schon jetzt sehen, welche Probleme die junge Generation haben wird, und müssen deshalb im Voraus darüber nachdenken, wie wir den künftigen Generationen helfen können, die Gefahren zu vermeiden, die entstehen, wenn viele Menschen durch Roboter oder künstliche Intelligenz ersetzt werden. Wie wird diese Generation dann mit ihrem Leben umgehen und ihm einen Sinn geben?

Es ist notwendig, jetzt darüber nachzudenken. Unsere kollektive Verantwortung gilt den künftigen Generationen, den kleinen Kindern von heute; denjenigen, die mit eineinhalb Jahren bereits ein Tablet benutzen. Wie werden solche Kinder sein, wenn sie erwachsen sind? Das ist die große Herausforderung, wenn wir uns als Buddhisten dafür einsetzen und dafür verantwortlich sein wollen, anderen zu helfen. 

Abschließender Ratschlag, wie man positive neue neuronale Bahnen aufbaut 

Wenn wir das, worüber wir nun gesprochen haben, zusammenfassen, so bedeutet Meditation eine positive Gewohnheit bzw. eine positive neuronale Bahn aufzubauen. Das ist es, was man beim Meditieren tut. Natürlich müssen wir zunächst einmal zur Ruhe kommen, aber das ist nur der Anfang bzw. die Vorbereitung, denn die eigentliche Arbeit besteht darin, einen positiven Geisteszustand zu kultivieren. 

Wenn wir uns dann mit den äußerst effektiven und wunderbaren Praktiken des Tantra befassen wollen, gilt es, entsprechend vorbereitet zu sein. Wir müssen es zur Grundlage unseres Denkens machen, dass alles in Abhängigkeit von Ursachen und Bedingungen entsteht. Wenn wir also ein gewisses Resultat erreichen wollen, ist es wichtig, zunächst die Ursachen dafür zusammenzubringen. All die verschiedenen Teile, die wir in unsere Tantra-Praxis integrieren wollen, müssen wir zunächst individuell in Angriff nehmen. Im Anschluss setzen wir die Teile dann nach und nach zusammen. 

Selbst wenn es dabei nur um Mitgefühl und Weisheit geht – wir brauchen beides, aber zuerst müssen wir uns in Mitgefühl üben und dann in Weisheit, oder andersrum. Danach lernen wir, beide zu kombinieren. Uns muss wirklich klar sein, dass Dharma-Praxis wirklich viel Arbeit ist. Einer meiner Lehrer sagte: „Wenn man mit Fantasiemethoden praktiziert, erhält man Fantasieergebnisse. Wenn man mit realistischen Methoden praktiziert, erhält man realistische Ergebnisse.“ Deshalb sollten wir unsere Dharma-Praxis realistisch angehen: Wenn wir ein Ziel erreichen wollen, müssen wir die Dinge geordnet angehen und mit unserem Herzen dabei sein. Je mehr wir uns daran gewöhnen, auf diese Weise zu praktizieren, desto mehr werden wir unsere Praxis verinnerlichen. 

Oft fragen die Leute nach dem Unterschied zwischen einem intellektuellen Verständnis und einem Bauchgefühls- bzw. einem emotionalen Verständnis. Es geht darum, wie überzeugt wir von etwas sind. Mit einem intellektuellen Verständnis wissen wir etwas und sind davon überzeugt, dass etwas wahr und hilfreich ist. Man sollte jedoch mehr als nur überzeugt sein. Wir müssen etwas so sehr verinnerlichen, bis wir es wirklich intuitiv spüren. Auf diese Weise bekommen wir durch Verinnerlichung ein „Bauchgefühl” von beispielsweise Liebe oder Mitgefühl. Es ist nicht einfach nur ein Gedanke wie: „Ich sollte jeden lieben, denn man war so gut zu mir.“ Mit diesem Gedanken können wir trotzdem noch ärgerlich werden. Wir sollten zu der Überzeugung gelangen, dass Mitgefühl konstruktiv ist und die ganze Welt von der Arbeit anderer abhängt. Andere haben die Güte und tun die Arbeit für uns. Wenn wir aber meditieren und dies wirklich immer und immer wieder kultivieren, baut das eine positive neuronale Bahn auf und wir spüren dieses Gefühl tief in uns. 

Darum geht es bei Neuroplastizität. Wir müssen die Art und Weise verändern, wie unser Geist vernetzt ist, und der einzige Weg, wie wir das tun können, ist über das Prinzip von Ursache und Wirkung. Am Anfang müssen wir verstehen und zu der Überzeugung gelangen, dass die Lehren des Dharma richtig sind. Dadurch bekommen wir Vertrauen und können damit beginnen, die Lehren wirklich zu verdauen. 

Ich sollte noch erwähnen, dass wir uns vielleicht mit Worten daran erinnern müssen, um diese nützlichen Gewohnheiten aufzubauen. Dies ist ein Ratschlag, der von Asanga stammt. Wenn wir versuchen, uns auf etwas zu konzentrieren, haben viele den Irrglauben, dass wir unseren Geist zuerst vollständig beruhigen und perfekte Konzentration erlangen müssten. Konzentration als völlig Freiheit von begrifflichen Gedanken wird oft überbetont. In Asangas Text heißt es, dass es sich dabei nicht um eine Ablenkung handelt, wenn wir uns mit Worten an den Geisteszustand erinnern, den wir zu erzeugen versuchen. Vielmehr handelt es sich um Ablenkung oder geistiges Abschweifen, wenn wir über etwas völlig anderes nachdenken würden. Um konzentriert bleiben zu können, hilft es, wenn wir uns manchmal mit einem Schlüsselwort wie „Mitgefühl“ oder „Liebe“ daran erinnern. Ansonsten sitzen wir vielleicht einfach nur da und schweben in den Wolken. Wenn wir dies bemerken und einfach gar nichts tun, sollten wir uns an unsere Praxis erinnern. Es müssen keine langen Sätze sein; ein kurzes Schlüsselwort genügt. 

Nehmt euch einen Moment Zeit, um das zu verarbeiten. 

Praxis als geistiges Workout sehen

Ich denke, dass es sehr hilfreich ist, unsere Tantra-Praxis, insbesondere die Sadhana-Rezitation, als mentales Training zu betrachten. Viele von uns machen körperliches Training, bei dem wir verschiedene Übungen machen und diese immer wieder wiederholen, damit wir körperlich stärker werden. Tantra-Praxis ist wirklich ein Training, wenn wir die Sadhana-Praxis richtig ausführen. Wir lassen uns von den Meistern, den vier unermesslichen Gedanken, der Zuflucht, dem Bodhichitta, von Vajrasattva, und von Guru-Yoga eins nach dem anderen inspirieren. Wir können auch einfach irgendwas vor uns hinsprechen und dabei Seiten umblättern, oder aber wir sehen unsere Praxis als ein richtiges Workout, in dem wir die jeweiligen Geisteszustände nacheinander erzeugen. Wir müssen jedoch vorbereitet sein, und das bedeutet, dass wir vorher an jedem einzelnen Teil gearbeitet haben, sodass es nicht sehr viel Zeit erfordert, alle Teile einzeln durchzugehen. Wir sollten bereits gut mit allem vertraut sein, damit wir als Training dann all diese Teile durchgehen können. Es ist wunderbar, wenn wir das so machen können. So wie ein körperliches Training unsere Muskeln stärkt, so können uns diese Einsichten und Erkenntnisse auf einer geistigen und emotionalen Eben stärker machen.w

Wenn wir unsere Praxis auf diese Weise betrachten, dann werden wir, wenn wir uns dazu verpflichten, jeden Tag für den Rest unseres Lebens eine bestimmte tantrische Rezitations- und Visualisierungspraxis zu machen, diese nicht als etwas Langweiliges ansehen. Trotzdem bleibt es eine ungeheure Herausforderung. Das Handbuch für unsere Sadhana-Praxis ist unser Trainingshandbuch, und es wird mehr als nur ein Leben erfordern, um es zu meistern. Aber wir wissen es zu schätzen, wie großartig es ist, diese Art von Praktiken zu haben, und wir haben großen Respekt vor den Methoden des Tantra.

Widmung

Welches Verständnis und welche positive Kraft auch immer daraus entstanden sein mögen, möge diese immer tiefer und tiefer gehen und als Ursache dafür wirken, dass jeder den erleuchteten Zustand eines Buddha zum Wohle aller erreicht. 

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