Wir haben über die Bodhisattva-Gelübde gesprochen und über ihre Rolle auf dem buddhistischen Pfad. Wir haben gesehen, dass wir bereits eine Entwicklung auf dem buddhistischen Pfad durch die verschiedenen Stufen des Lam-rim, der aufeinanderfolgenden Stufen des Pfadgeistes, durchlaufen haben müssen, bevor wir sie ablegen können. Wir müssen uns geschult haben, um Bodhichitta zu entwickeln. Wenn wir uns in Bodhichitta üben, entwickeln wir zunächst die erste Stufe des anstrebenden Bodhichitta, auf der wir lediglich den Wunsch hegen, Erleuchtung zum Wohl aller anderen zu erlangen; und dann gibt es die Stufe, auf der wir versprechen, niemals aufzugeben und wir sind die Übungen in Bezug auf diese Stufe des Versprechens durchgegangen. Dann haben wir uns kurz angesehen, wie man die Bodhisattva-Gelübde ablegt und was die Natur eines Gelübdes ist.
Als nächstes haben wir mit der Erörterung der Bodhisattva-Gelübde begonnen und haben über die ersten drei Gelübde gesprochen. Bei dem Ersten ging es darum, sich selbst zu loben und/oder andere herabzusetzen. Das heißt, entweder beides zu tun, oder nur eins von beiden. Wir haben außerdem gesehen, dass sich die Person, zu der wir solche Worte sagen, in einer untergeordneten Position befinden muss. Wenn wir uns selbst loben, ist unsere Motivation Verlangen oder Gier; wir möchten von dieser Person in der untergeordneten Position etwas bekommen – also entweder materiellen Profit oder Lob, Liebe oder Respekt. Und die Motivation, andere herabzusetzen, wäre Eifersucht – wir sind also eifersüchtig auf diese Person. Und was wir sagen, kann entweder wahr oder falsch sein; das ist egal.
Es gibt ein Nebengelübde des Bodhisattvas, welches diesem ähnelt (sich selbst zu loben und/oder andere herabzusetzen), aber bei diesem ist die Motivation eine andere. In diesem Fall wäre sie Stolz: wir sind stolz auf uns selbst und wir sind überheblich – mit anderen Worten machen wir uns wichtig. Wir loben uns selbst und denken: „Ich bin so wunderbar,“ usw. Das wäre also die Motivation dafür, sich selbst zu loben, anstatt etwas von den Menschen haben zu wollen, denen gegenüber wir uns loben. Und die Motivation, jemanden herabzusetzen wäre Ärger (wir mögen den anderen einfach nicht), anstatt eifersüchtig auf ihn zu sein.
Wir können also sehen, dass es bei der ersten Motivation des Wurzel-Gelübdes darum geht, sich selbst zu loben, weil man etwas von der Person haben möchte, gegenüber der man es tut und damit beutet man sie aus. Wir versuchen ihr nicht wirklich zu helfen, sondern versuchen, etwas von ihr zu bekommen. Was unser Bodhisattva-Verhalten betrifft, ist das viel schädlicher, als wenn wir uns nur loben würden, weil wir so stolz und eingebildet sind. Und wenn wir die andere Person herabsetzen, weil wir eifersüchtig auf sie sind, dann hat das wiederum etwas damit zu tun, etwas haben zu wollen, was die andere Person hat, wie beispielsweise viele Anhänger. Das wirkt sich dann schädlich in Bezug auf andere Menschen aus, denen wir möglicherweise helfen könnten. Wenn wir jemanden jedoch einfach nur deswegen herabsetzen, weil wir ihn nicht mögen oder wütend auf ihn sind, betrifft das nicht unbedingt die anderen, denen wir versuchen zu helfen. Wir können also sehen, warum es sich bei dem einen um ein Wurzelgelübde der Bodhisattvas und bei dem anderen um Nebengelübde handelt. Es ist gravierender, wenn es einen Einfluss darauf hat, anderen behilflich zu sein.
Beim zweiten Bodhisattva-Gelübde ging es darum, Dharma-Lehren, sowie unseren Besitz, Reichtum und unsere Zeit, nicht mit anderen zu teilen. Hier war die Motivation Anhaftung und Geiz, also wenn wir alles für uns selbst behalten wollen und das wirkt sich äußerst schädlich auf unsere Fähigkeit aus, anderen zu helfen. Es gibt ein Nebengelübde der Bodhisattvas, welches diesem sehr ähnelt und es heißt: „den Dharma nicht jenen zu geben, die ihn lernen wollen.“ Die Motivation ist hier nicht, alles für sich behalten wollen, sondern wir sind vielmehr wütend auf die andere Person oder mögen sie nicht und wollen ihr deswegen nichts beibringen. Oder sie hat etwas getan, was uns nicht gefallen hat und aus Boshaftigkeit heraus wollen wir auch ihr gegenüber gemein sein. Vielleicht sind wir auch eifersüchtig und denken, diese andere Person wird sich vielleicht besser entwickeln und berühmter werden als wir, wenn wir ihr etwas beibringen. Außerdem könnte die Motivation auch Faulheit oder Gleichgültigkeit sein; es ist uns also egal. Wenn wir nun den Dharma aus diesen Motivationen heraus nicht mit anderen teilen wollen, liegt das im Grunde an unseren eigenen störenden Emotionen und wenn wir ihn nicht mit anderen teilen, weil wir ihn für uns selbst behalten wollen, liegt das an unserer Selbstsucht. Wenn es geschieht, weil wir selbstsüchtig sind und alles für uns behalten wollen, steht dies am stärksten im Gegensatz zum Bodhisattva-Verhalten, bei dem es darum geht, anderen zu geben.
Das dritte Gelübde bezog sich darauf, die Entschuldigung anderer nicht anzunehmen oder sie zu schlagen und die Motivation ist bei beiden in erster Linie Wut. Hier geht es um die Situation, in der wir jemanden anschreien oder schlagen und entweder bittet uns die Person, ihr zu vergeben und damit aufzuhören, oder jemand anderes tut es für sie, aber wir hören nicht auf, sondern machen weiter. Das Nebengelübde bezieht sich darauf, die Entschuldigung anderer zu einem späteren Zeitpunkt nicht anzunehmen, wenn wir Groll gegen sie hegen und sie uns um Vergebung bitten oder sich entschuldigen. Das erste ist als das Wurzelgelübde der Bodhisattvas schwerwiegender, denn es ist wichtig, in dem Moment damit aufzuhören, wenn wir wütend sind und der anderen Person wehtun. Später, wenn wir Groll gegen sie hegen, tun wir der Person nicht körperlich weh oder beleidigen sie und daher handelt es sich dabei um ein Nebengelübde und ist nicht so gravierend. Mit anderen Worten tun wir der Person in der ersten Situation tatsächlich weh, während wir sie in der zweiten Situation wahrscheinlich nur ignorieren.
(4) Die Mahayana-Lehren zu verwerfen und stattdessen erfundene zu verbreiten
Das vierte Bodhisattva-Gelübde besteht darin zu vermeiden, die Mahayana-Lehren zu verwerfen und stattdessen erfundene zu verbreiten Hier lehnen wir die korrekten Mahayana-Lehren für Bodhisattvas ab und erfinden etwas Falsches, was den Mahayana-Lehren ähnelt und behaupten, es würde sich hierbei um die authentischen Lehren des Buddhismus handeln. Hier geht es nicht einfach nur um uns – wir erfinden nicht nur etwas, von dem wir selbst nicht genau wissen, was es ist – sondern wir kennen die korrekten Lehren und wir lehnen sie ab, weil wir sie nicht mögen und erfinden etwas anderes, was bequemer für uns ist. Und wir behalten es nicht für uns, sondern wir lehren es anderen und bringen sie dazu, uns als Lehrer zu folgen. Wenn wir dies tun, würden wir dieses Bodhisattva-Gelübde brechen.
Ein Beispiel: Vielleicht wollen wir ein berühmter Guru für Menschen sein, die eine sehr liberale Einstellung gegenüber Sex haben und daher lehnen wir die buddhistischen Lehren in Bezug auf unangemessenes sexuelles Verhalten ab, in denen zahlreiche übliche sexuelle Praktiken angeführt werden, die die meisten Menschen nicht gern aufgegeben würden und lehren stattdessen, korrektes Bodhisattva-Verhalten würde darin bestehen, einfach niemandem mit dem was wir machen wehzutun. Wir wissen, was die korrekten Lehren sind, aber wir denken: „Wenn ich das unterrichte, werden alle gehen, niemand wird den Buddhismus akzeptieren und deswegen werde ich eine mildere Version als das präsentieren, was der Buddha wirklich damit gemeint hat und auf diese Weise mehr Menschen dazu bringen, mir zu folgen. Die Grundlage der buddhistischen Ethik ist es, uns verschiedene Arten von Verhalten aufzuzeigen, die wir vermeiden sollten, denn sie werden von sehr starken störenden Emotionen motiviert. Im Fall von sexuellem Verhalten geht es normalerweise um große Lust und Verlangen. Die Sexualethik im Buddhismus ist im Wesentlichen darauf ausgerichtet uns zu helfen, nicht so sehr aus einem Gefühl von Lust und Verlangen heraus zu handeln. Das unterscheidet sich deutlich von unserer humanitären und liberalen Sichtweise im Westen, in der Ethik darauf basiert, anderen kein Leid zuzufügen.
Wenn wir Lehren auf diese Weise verdrehen und behaupten, es würde sich dabei um tatsächliche Lehren Buddhas handeln und sie dann anderen vermitteln, die uns folgen, führen wir sie damit im Grunde in die Irre. Wir geben ihnen nicht den authentischen, echten Dharma. Wenn wir unterrichten, sollten wir, wie ich es auch immer tue, zwischen „Dharma light“ und dem „Echten Dharma“ unterscheiden. Dabei sollten wir klarstellen, wenn es sich nicht um den echten Dharma handelt, sondern um Dharma light: eine einfachere Ebene der Praxis, die sich nur auf dieses Leben bezieht und nur in diesem Leben Nutzen bringt. Wenn wir dann in einem ersten Schritt auf dem Weg zur buddhistischen Ethik lehren, niemandem mit unserem sexuellen Verhalten zu schaden, ist das in Ordnung, solange wir nicht sagen, dass es sich dabei um die Lehre Buddhas und den Buddhismus im Allgemeinen handelt. Denn natürlich wäre Buddha damit einverstanden, niemanden mit dem eigenen sexuellen Verhalten zu schaden. Es es ist nicht der einzige Punkt im Mahayana, und nicht nur im Mahayana, sondern in den allgemeinen buddhistischen Lehren. Die buddhistischen Lehren sind dazu da, andere zu Befreiung und Erleuchtung zu führen und dazu ist es notwendig, Lust und Verlangen zu überwinden.
(5) Gaben an sich zu nehmen, die für das dreifache Juwel bestimmt sind
Das fünfte Bodhisattva-Gelübde handelt davon zu vermeiden, Gaben an sich zu nehmen, die für das dreifache Juwel (für Buddha, Dharma und Sangha) bestimmt sind. Das bedeutet, etwas zu stehlen oder zu unterschlagen – es also für sich selbst zu nehmen, entweder persönlich oder durch Anweisung an einen anderen – was Buddha, Dharma oder Sangha dargebracht wurde oder ihnen gehört, und dann diese Dinge als Eigentum zu betrachten. Wenn jemand also Buddha, Dharma und Sangha, beispielsweise einem buddhistischen Zentrum, eine Spende gibt, etwa um eine Statue herzustellen, Bücher zu drucken, sie zu übersetzen oder um eine Gruppe von Mönchen oder Nonnen zu versorgen und man würde das Geld oder die Gabe an sich nehmen, wäre das nicht richtig und man würde das Gelübde damit übertreten. Sangha bezieht sich in diesem Zusammenhang auf eine beliebige Gruppe von vier oder mehr Ordinierten. Wir meinen hier nicht die Arya-Sangha.
Wenn man natürlich daran arbeitet, Dharma-Texte zu übersetzen oder zu veröffentlichen und Spenden als Bezahlung dafür genutzt werden, ist das etwas anderes, wenn man standardmäßig für die Arbeit bezahlt wird, denn damit unterstützt man Buddha, Dharma und Sangha. Hier ist aber die Rede davon, Spenden und Opfergaben einfach an sich zu nehmen, auch wenn man keine ausdrücklich buddhistische Arbeit leistet.
Warum handelt es sich hier um ein Wurzelgelübde der Bodhisattvas? Wenn Opfergaben dargebracht werden, um Buddha, Dharma und Sangha zu unterstützen, ermöglichen wir damit, die buddhistischen Lehren anderen zugänglich zu machen, damit sie Befreiung und Erleuchtung erlangen können, und das ist es, was wir als Bodhisattvas versuchen umzusetzen: diese Methoden anderen zugänglich zu machen. Wir sind keine Missionare, aber wir wollen diese Dinge zur Verfügung stellen, um anderen zu helfen und wir würden es verhindern, wenn wir Dinge stehlen. Das ist also das fünfte Bodhisattva-Gelübde.
(6) Den heiligen Dharma aufzugeben
Bei dem sechsten Gelübde geht es darum, den heiligen Dharma aufzugeben. Das bezieht sich darauf, etwas zu leugnen und „leugnen“ heißt nicht nur, etwas zu verneinen, sondern zu versuchen, es zornig zu widerlegen. Wir leugnen etwas oder indem wir unsere Meinung ausdrücken, bringen wir andere dazu es zu leugnen. Worum geht es hier? Was leugnen wir? Wir leugnen, dass es sich bei den schriftlichen Lehren des Shravaka-, Pratyekabuddha- oder Mahayana-Fahrzeugs nicht um die Worte Buddhas handelt (Shravaka und Pratyekabuddha sind die zwei Unterteilungen des Hinayana). Wir versuchen also zu widerlegen, dass es sich hierbei um Worte Buddhas handelt. Wir leugnen und bestreiten mit aller Macht, dass entweder alle Schriften oder nur einige dieser Klassen des Hinayana oder Mahayana die Lehren Buddhas sind. All diese unterschiedlichen Texte der verschiedenen Fahrzeuge, die von Buddha gelehrt wurden, sind dafür da, den Menschen zu Befreiung oder Erleuchtung zu verhelfen – nicht nur den Menschen, sondern allen Wesen – und wenn wir nun behaupten, sie würden nicht von Buddha stammen, sagen wir, sie würden nichts mit Buddhismus zu tun haben. Auf diese Weise würden wir andere entmutigen, bestimmen Lehren zu folgen, die nützlich und geeignet für sie wären.
Dies müssen wir uns etwas genauer ansehen, denn wenn wir es aus einer so genannten wissenschaftlichen, buddhologischen und historischen Sichtweise, auf der Grundlage der Sprachen der verschiedenen Texte betrachten, würden Gelehrte, die in westlicher Methodik geschult sind, argumentieren, viele Schriften des Mahayana und Tantra wären viel später als zur Zeit des Buddha verfasst worden und so könnten sie also nicht vom historischen Buddha stammen. Allerdings wurde keine dieser Lehren zur Zeit des Buddha niedergeschrieben. Alle wurden mündlich übertragen und das bedeutet, die Menschen hatten in dieser Zeit ein unglaubliches Gedächtnis und konnten all die verschiedenen Lehren des Buddhas auswendig lernen – nicht unbedingt nur eine Person ganz allein – und sie wurden auf diese Weise von einer Generation zur nächsten weitergegeben und auswendig gelernt.
Das ist gar nicht so weit hergeholt und abwegig, wenn man sich einmal die modernen Bräuche in tibetischen Klöstern ansieht. Es ist nicht so unglaubhaft, denn auch heutzutage ist jede Abteilung eines Klosters – dabei denke ich an die großen Gelugpa-Klöster – für einen bestimmten Tantra-Text und dessen Rituale verantwortlich. Von allen Mönchen wird verlangt, alle Texte einer bestimmten Gruppe von Texten auswendig zu lernen und wenn man alle Lehren Buddhas aufteilt und jede kleine Abteilung aller Klöster mit einem Sutra beauftragt, kann man sich gut vorstellen, dass es auf diese Weise eine mündliche Überlieferung aller Lehren Buddhas gibt, ohne etwas niederschreiben zu müssen. Auch heutzutage werden in den tibetischen Klöstern tausende Seiten von Texten auswendig gelernt. Dort beginnen sie schon als kleine Kinder damit, in Alter von sieben oder acht Jahren, wenn das menschliche Gehirn am aufnahmefähigsten ist, Dinge auswendig zu lernen. Und dies kann man dann für den Rest des Lebens behalten, wenn man es bereits in so jungen Jahren gelernt hat.
Gemäß der Tradition wurden Hinayana-Texte viel offener rezitiert, als Mahayana-Texte und diese waren viel offener, als Tantra-Texte; aber ungeachtet dessen wurden sie alle auf diese Weise mündlich weitergegeben. Und als sie schließlich niedergeschrieben wurden, bestand eine der Anordnungen Buddhas auch darin, die Lehren in allen verschiedenen Sprachen weiterzugeben, sie also in die eigene Sprache zu übersetzen. Es ist daher keinen Widerspruch, wenn die Sprache, in der ein Text zuerst erschienen ist, auch die Sprache einer bestimmten historischen Periode war, in der er erschienen ist. Einige Texte wurden auf Pali niedergeschrieben, andere auf Sanskrit und wieder andere wurden in einer späteren Version des Sanskrit verfasst. Dies steht im Einklang mit der Vorgehensweise, die Buddha selbst empfohlen hatte und beweist nicht unbedingt, dass die Texte nicht von Buddha stammen würden.
Shantideva selbst widerlegte dies auf exzellente Weise gegenüber jenen, die behaupteten, Hinayana-Texte wären gültig oder authentisch und Mahayana-Texte nicht. Er sagte, man könne jedes Argument, welches genutzt wird, um zu widerlegen, oder um zu versuchen zu widerlegen, dass es sich bei den Mahayana-Texten um authentische Worte Buddhas handelt, auch nutzen, um zu versuchen zu beweisen, dass es sich bei den Hinayana-Texten nicht um authentische Worte Buddhas handelt, denn auch sie stützen sich auf mündliche Überlieferungen und wurden erst Jahrhunderte später niedergeschrieben. In gleicher Weise könne man jedes Argument, welches benutzt wird, um zu beweisen, dass es sich bei den anderen Texten um authentische Worte Buddhas handelt, nutzen, um zu beweisen, dass die Mahayana-Texte von Buddha stammen. Hierbei handelt es sich offensichtlich um eine gültige Argumentationskette. Und wenn wir untersuchen, warum ein bestimmter Text von Buddha stammen sollte, müssen wir uns ansehen, um was für ein Wesen es sich bei Buddha in den Hinayana-Texten handelt. Wer hat sie gelehrt? Um was für ein Wesen handelt es sich bei dem Buddha, der in den Mahayana-Texten den Mahayana lehrt. Und was für ein Buddha ist der Buddha in den Tantra-Texten, der das Tantra-Fahrzeug lehrt? In allen dreien werden sehr unterschiedliche Beschreibungen Buddhas gegeben.
In den Hinayana-Lehren wird beschrieben, was für eine Art Buddha die Hinayana-Lehren erteilt. Und im Mahayana-Sutra gibt es eine andere Beschreibung zum Buddha, der die Lehren erteilt hat und sogar eine dritte im Tantra. Das sind drei ganz unterschiedliche Beschreibungen dazu, was ein Buddha ist. Der Buddha, der die Hinayana-Schriften gelehrt hat, ist der historische Buddha, der in diesem Leben als Shakyamuni Buddha Erleuchtung erlangt hat und als er ins Parinirvana eingetreten ist, war das sein Ende, das Ende seines geistigen Kontinuums. Und wenn wir nun sagen, das Mahayana-Sutra und das Mahayana-Tantra wurde von Buddha gelehrt, bezieht sich das nicht unbedingt auf den historischen Buddha – oder auf eine Auffassung Buddhas, die Buddha lediglich auf den historischen Buddha limitiert, um genauer zu sein.
Der Buddha, der die Mahayana-Sutran lehrte, ist jemand, der sich nicht nur als der historische Buddha manifestiert hat, sondern schon vor Äonen Erleuchtung erlangte und sich zu jeder Zeit in Millionen von verschiedenen Emanationen, in aller Ewigkeit und in allen möglichen Nirmanakaya- und Sambhoghakaya-Formen manifestieren kann, in Buddha-Feldern lehrt usw. Der Buddha im Mahayana ist nicht nur auf den historischen Shakyamuni Buddha begrenzt. Wir müssen es also aus der Sicht des abhängigen Entstehens betrachten, um zu erkennen, dass der Buddha, der in den Mahayana-Sutren beschrieben wird, der Lehrer der Mahayana-Sutren ist. Es besteht hier also keinen Widerspruch in Bezug auf Buddha, der Mahayana lehrt, auch wenn es sich um Buddha handelt, der in einer anderen Zeit erschienen ist. Wie dem auch sei, gibt es in den Sutren (den Mahayana-Sutren; ich bin mir nicht sicher, ob es auch in den Hinayana-Sutren so ist) einen Buddha, der andere inspiriert zu lehren, der, wie im Herz-Sutra, präsent ist und der am Ende bestätigt, dass es sich um authentische Lehren handelt.
Es gibt viele unterschiedliche Arten von Lehren, bei denen es sich um die Worte Buddhas handelt. Das bedeutet nicht, dass Buddha selbst sie gesprochen haben muss. Wenn wir uns die Beschreibung Buddhas in den tantrischen Texten ansehen, erkennen wir, dass es eine noch breitere Beschreibung dazu gibt, wer und was Buddha ist. Wir haben Buddha als Vajradhara oder Samantabhadra, die ursprüngliche Reinheit der subtilsten Ebene des Bewusstseins im Geist eines jeden, usw. Und es besteht kein Widerspruch dazu, dass Buddha Vajradhara die Lehren anderen in reinen Visionen enthüllt, damit sie niedergeschrieben werden können und so die tantrischen Texte entstehen. Es besteht auch kein Widerspruch dazu, dass jemandem aus der reinen Dharmakaya-Ebene des Buddhas – der Klarheit des subtilsten Geistes – Lehren offenbart werden, entweder in einer reinen Vision oder auf eine andere Weise, denn dies ist der Ursprung des Tantra. Vajradhara hat sie jemandem auf eine gewisse Weise vermittelt und dann wurden sie, für gewöhnlich in einem reinen Land, niedergeschrieben.
Nach der Beschreibung in einigen Tantras erschien Buddha, während er die Prajnaparamita-Sutras auf dem Geiergipfel lehrte, im gleichen Augenblick bei der Dhanyakataka-Stupa in Südindien, als Heruka Chakrasamvara mit vier Gesichtern, und mit jedem dieser vier Gesichter lehrte er eine andere Klasse des Tantra gleichzeitig. Dieser Buddha, der den Tantra lehrte, unterscheidet sich enorm von dem historischen Shakyamuni Buddha. Es ist alles relativ. Welche Art von Buddha jede dieser Klassen von buddhistischen Lehren vermittelt hat – Hinayana, Mahayana-Sutra und Mahayana-Tantra – hängt von der Beschreibung ab, die Buddha in jedem dieser Texte gegeben hat.
Um nun sagen zu können, wer dieser Buddha ist, von dem ein Text stammt, muss man sich die Beschreibung des Buddhas im Text selbst ansehen. Es ist nicht angemessen, Buddha als einen wahrhaft, durch seine eigene Kraft, einmalig existierenden, historischen Buddha zu sehen, der alle verschiedenen Fahrzeuge lehrt. Die Art und Weise, wie man Buddha wahrnimmt, muss auf der Beschreibung des Buddhas im Text beruhen, von dem er stammt. In den Tantras haben wir das umfangreichste Verständnis und die ausführlichste Darstellung von Buddha; und diese Darstellung Buddhas in den Tantras umfasst die Mahayana-Sutra-Beschreibung von Buddha, die ihrerseits den historischen Buddha mit einbezieht, denn er hat sich auch auf diese Weise manifestiert. Wenn wir nun sagen, beim Mahayana handele es sich um ein umfassendes Fahrzeug, bezieht sich dies auch darauf, dass es umfassend in Bezug auf die Beschreibung Buddhas ist; viel umfassender, als die Beschreibung Buddhas, wie wir sie in den Hinayana-Texten finden würden.
Jemand fragte, wie wir wissen können, ob es sich bei einer Lehre, von der jemand behauptet, er hätte sie in einer reinen Vision empfangen, um eine authentische Lehre handelt, die ihm von Vajradhara, Samantabhadra, oder wem auch immer, offenbart wurde. Dafür gibt es ganz klare Richtlinien. Die Lehre einer reinen Vision, oder ein Terma (gter-ma), ein offenbarter Text, ein verborgener Text, muss mit den wesentlichen Punkten der buddhistischen Lehren im Einklang stehen und darf ihnen gegenüber nicht widersprüchlich sein. Das bezieht sich auf die wichtigsten Themen des Buddhismus, wie Zuflucht, Entsagung, Bodhichitta, Befreiung, Erleuchtung, die vier edlen Wahrheiten, alle bedingten Phänomene sind vergänglich, Leiden – all diese grundlegenden Lehren. Damit muss es vereinbar sein.
Natürlich kann es leichte Unterschiede in der philosophischen Interpretation der verschiedenen Punkte geben, aber die grundlegenden Themen müssen die gleichen sein. Und Qualifizierte Yogis und Praktizierende müssen die Verwirklichungen erlangen können, die in diesen Texten beschrieben werden, indem sie den Methoden folgen, wie sie in diesen Schriften dargelegt sind. Ein Text wird also als eine authentische Lehre Buddhas durch Beweisführung für gültig erklärt. Man kann daraus schlussfolgern, dass es sich um eine Lehre Buddhas handelt, wenn der Text alle wichtigen Themen enthält und man durch gültige, einfache Wahrnehmung erkennt, dass jene, die ihn praktizieren, die Verwirklichungen erlangt haben, die in ihm beschrieben werden. Das sind die Kriterien.
Es gibt ein ähnliches Nebengelübde der Bodhisattvas; es heißt: „den Mahayana aufgeben.“ Bei diesem Nebengelübde akzeptieren wir, anders als beim Wurzelgelübde, dass es sich beim Mahayana um die authentischen Lehren, die Worte Buddhas, handelt, aber wir kritisieren bestimmte Aspekte, die wir nicht mögen. Das bezieht sich insbesondere auf all diese ausführlichen Taten Buddhas, die in den Mahayana-Texten beschrieben werden, wie zum Beispiel, dass Buddha sich zur gleichen Zeit in unzählige verschiedene Formen erweitern und so gleichzeitig überall sein kann, dass Buddha alle Sprachen kennt und jeder ihn in seiner eigenen Sprache verstehen kann, wenn er spricht. Und wir sagen: „Das ist absurd. Ich schätze den Mahayana, mir gefällt das ganze Konzept von Bodhichitta, von Liebe und Mitgefühl, aber das ist einfach zu viel.“ Wenn wir auf diese Weise Kritik üben, oder die tiefgreifenden Lehren der Leerheit kritisieren, indem wir sagen: „Das ist zu kompliziert; wer braucht das schon,“ dann handelt es sich hierbei um dieses Nebengelübde.
Es gibt vier verschiedene Arten, die Lehren zu kritisieren. Die erste ist zu sagen, der Inhalt wäre minderwertig. Mit anderen Worten sagen wir, es wäre völliger Unsinn, dass Buddha sich in so viele verschiedene Formen erweitern kann. Minderwertig bedeutet hier einfach: nicht gut, oder dumm. Oder wenn wir beispielsweise die Geschichte von Milarepa hören, der sich verkleinert und in die Spitze eines Yak-Horns eingegangen ist und dazu sagen: „Das ist absurd, es ist eine minderwertige Belehrung, die vielleicht für Nomaden bestimmt ist, aber nicht für anspruchsvolle Menschen.“ Das ist natürlich sehr arrogant. Die zweite Art, die Lehren zu kritisieren, ist zu sagen, die Ausdrucksweise wäre minderwertig – hätte also eine schlechte oder mindere Qualität – und zu meinen, es wäre schlecht geschrieben; die Schreibweise würde keinen Sinn ergeben. Bei der dritten sagen wir, der Autor wäre minderwertig. Es gibt so viele Kommentare und Ähnliches und wir würden behaupten, der Autor wäre nicht gut. Bei der vierten würden wir behaupten, der Nutzen wäre minderwertig, es würde niemandem etwas bringen – zu sagen, Milarepa verschwand in der Spitze eines Yak-Horns, hätte keinen Nutzen für irgend jemanden. Das ist also ein Nebengelübde des Bodhisattvas und wir versprechen es nicht zu tun.
Tatsächlich passiert es oft, dass dieses Gelübde gebrochen wird und man diese Einstellung hat, bestimmte Aspekte der Lehren wären absurd und man möchte sie einfach ignorieren. Wir sind nur an den ansprechenden Teilen der Lehren interessiert und ignorieren die Dinge, die wir nicht wirklich mögen, wie die Lehren über die Höllen oder die Sexualethik. In Tibet gibt es ein Sprichwort: „Sei nicht wie ein alter Mann ohne Zähne, der nur die gekochten Kartoffeln isst, aber das Fleisch ausspuckt.“ Mit anderen Worten, akzeptieren wir nur die Dinge, die leicht zu kauen sind, aber die schwierigen Sachen spucken wir aus.
(7) Ordinierten die Robe entziehen oder Handlungen begehen wie ihre Roben zu stehlen
Beim siebenten Bodhisattva-Gelübde geht es darum zu vermeiden, Ordinierten die Robe zu entziehen, oder ihre Roben zu stehlen. Hier begehen wir eine schädliche Handlung gegenüber einem, zwei oder drei buddhistischen Mönchen oder Nonnen. Vielleicht erinnern Sie sich: wir haben über das Gelübde gesprochen, zu vermeiden, Gaben an sich zu nehmen, die für das dreifache Juwel bestimmt sind. Das bezog sich auf vier Ordinierte oder mehr. Hier geht es jedoch um einen, zwei oder drei. Es ist nicht von Belang, ob diese Ordinierten eine niedrige Moral haben oder nicht – ob sie ihre Roben ordentlich tragen und Ähnliches – und es spielt auch keine Rolle, ob sie viel studieren und praktizieren oder nicht. Hier geht es darum, dass wir sie aus Böswilligkeit schlagen, sie beschimpfen oder ihre Habseligkeiten an uns nehmen, weil wir sie nicht mögen oder wütend auf sie sind.
Ein Beispiel aus der heutigen Zeit wäre, das Radio des Ordinierten, der neben uns wohnt, zu beschlagnahmen oder wegzunehmen, weil es uns bei der Meditation stört – wir nehmen es ihm weg oder machen es kaputt. Es geht nicht darum, dass einem Mönchen oder einer Nonne die Ordination entzogen und er oder sie vom Kloster verwiesen werden, wenn sie eins der vier wichtigsten Gelübde gebrochen haben. Wenn sie keines dieser vier wichtigsten Gelübde gebrochen haben und wir sie einfach nicht mögen oder uns der Umgang mit ihnen schwerfällt und sie deswegen hinauswerfen oder ihnen die Roben entziehen und ihnen sagen, sie könnten nicht länger hier bleiben, dann würden wir dieses Gelübde brechen. Offensichtlich sollten wir die monastische Sangha respektieren und versuchen, jenen zu helfen, die zumindest einen Schritt in die richtige Richtung getan haben, indem sie Mönche oder Nonnen geworden sind, auch wenn sie dieser Disziplin nicht gerade gut folgen.
(8) Eine der fünf unmittelbar ins Elend führenden Taten begehen
Das achte Bodhisattva-Gelübde besteht darin zu vermeiden, eine der fünf unmittelbar ins Elend führenden Taten zu begehen. „Unmittelbar ins Elend führende Taten“ (engl.: „heinous crimes“) ist keine sehr gute Übersetzung. Es handelt sich um äußerst schädliche Taten, die ohne Verzögerung, sofort nach dem Tod, zu einer furchtbaren Wiedergeburt führen. Hier geht es um die schädlichsten negativen Handlungen: Unseren Vater, unsere Mutter oder einen Arhat (ein befreites Wesen) zu töten und mit bösen Absichten das Blut eines Buddhas zu vergießen. Hier geht es nicht darum, einen Buddha dazu zu bringen, eine Blutspende zu geben oder dergleichen, sondern zu versuchen, einem Buddha wehzutun. Und die fünfte schädliche Handlung ist, eine Spaltung in der klösterlichen Gemeinschaft zu verursachen.
Es ist wichtig zu verstehen, was es wirklich bedeutet, eine Spaltung in der Sangha herbeizuführen. Es bedeutet nicht, sich von einem Dharma-Zentrum zu trennen und ein anderes Dharma-Zentrum ins Leben zu rufen und es bezieht sich auch nicht darauf, einfach nur weitere Regeln der Disziplin für Mönche oder Nonnen festzulegen, sondern diese Dinge mit einer böswilligen Einstellung zu tun – beispielsweise eine andere monastische Gruppe aus der buddhistischen Sangha zu formen und eine sehr negative Einstellung gegenüber Buddha und der buddhistischen Sangha zu haben. Da gibt es das Beispiel einer strikteren Form der monastischen Praxis innerhalb des Buddhismus und sie besteht aus dreizehn Zweigen der Praxis, die befolgt werden (der Begriff auf Sanskrit und auf Pali ist: „dhutanga“). Beruhend darauf gibt es beispielsweise die thailändische Waldtradition und einige dieser dreizehn Regeln werden auch in der tibetischen Tradition im Dreijahres-Retreat befolgt. Sie wurden zum ersten Mal von Devadatta, dem Cousin Buddhas, vorgeschlagen. Wenn wir also eine Tradition gründen, die diesen dreizehn Praktiken folgt, verursachen wir damit keine Spaltung im Dharma. Wenn man es jedoch tut und gleichzeitig behauptet, die buddhistische Sangha wäre nicht gut und es mit Wut und Bosheit gegenüber der buddhistischen Sangha tut, ist es eine Spaltung.
Was sind diese dreizehn Praktiken? (1) Roben zu tragen, die aus Flicken zusammengenäht wurden (das betrifft Mönche und Nonnen); (2) nur drei Roben zu tragen, also keine Pullover oder so etwas; (3) um Almosen zu bitten, oder, mit anderen Worten, um Nahrung zu betteln und nie eine Einladung zum Essen anzunehmen. Man geht also nur mit der Bettelschale herum und akzeptiert nie eine Einladung, ins Haus zu kommen, sich hinzusetzen und eine Mahlzeit einzunehmen; (4) kein Haus auf dem Bettelgang auszulassen. In manchen Häusern mag man vielleicht keine gute Nahrung bekommen, man wird von den Leuten dort angeschrien oder schlecht behandelt und denkt: „An diesem Haus werde ich heute nicht stehenbleiben;“ (5) alles auf einmal zu essen, was man an Almosen bekommen hat. Man tut also nichts für später zur Seite und verstaut es in einem Plastikbehälter im Kühlschrank, im Fall, dass man am nächsten Tag nicht genug bekommt; (6) nur aus der Bettelschale zu essen und (7) einen Nachschlag abzulehnen, nachdem man mit dem Essen begonnen hat. Dadurch wird die Menge begrenzt, die wir essen, außer wir haben eine riesige Bettelschale; (8) nur in Wäldern oder im Dschungel zu leben; (9) unter Bäumen zu leben; (10) unter freiem Himmel, also nicht in einem Haus oder Unterstand, zu leben; (11) sich meistens auf Friedhöfen aufzuhalten. Das bezieht sich auf Friedhöfe, auf denen die Leichen entweder verbrannt oder zerstückelt werden, um sie dann den Hunden oder Geiern zum Fraß vorzuwerfen. Dort kann man viel intensiver etwas über Tod und Vergänglichkeit lernen, als auf Friedhöfen, die schönen Parkanlagen gleichen und wo es Blumen, Büsche, Bäume, Bänke und Grabsteine gibt, die künstlerisch gestaltet wurden; (12) mit jedem Platz zufrieden zu sein, den wir finden können, während wir von Ort zu Ort wandern. Wir bleiben also nicht an einem Ort und unter einem schönen Baum, den wir gefunden haben, sondern bewegen uns von einem Ort zum anderen; (13) sich niemals hinzulegen, sondern in einer sitzenden Position zu schlafen – diesen Punkt befolgen wir auch im Dreijahres-Retreat. Wir schlafen in der Meditationshaltung.
Serkong Rinpoche hat mir erzählt, dass alle Mönche, in dem tiefer gelegenen Tantrischen Kollegs in Tibet, in dem er war, in der Haupthalle des Tempels in dieser Sitzhaltung schlafen mussten, während sie alle direkt nebeneinander saßen. Wenn dann die Glocke zum Aufwachen ertönte, mussten sie nur ihre Augen öffnen und konnten mit ihren Gebeten und der Meditation beginnen. Er erzählte, dass die Mönche sich aneinander anlehnten und ihre Köpfe auf die Schulter des Nachbarn legten. Das ist in der Tat eine unglaublich schwierige Disziplin. Wenn man aufrecht sitzt und keine Wand oder etwas ähnliches hat, an die man sich lehnen kann, kippt man einfach um; aber dort gab es keinen Platz dafür und deswegen lehnten sie sich aneinander.
Wenn man dieser Art von Disziplin, wie in der Waldtradition, folgt – ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich alle Punkte strikt befolgen – und eine besondere Abteilung dafür innerhalb der monastischen Sangha einrichtet, ist das kein Problem. Nur wenn man beginnt, auf die anderen Mönche herabzuschauen, verursacht man damit eine Spaltung in der Sangha.
(9) Eine verzerrte, antagonistische Sichtweise vertreten
Das nächste, also das neunte Gelübde ist zu vermeiden, eine verzerrte, antagonistische Sichtweise zu vertreten. Hier geht es nicht nur darum, zu bestreiten, was wahr und von Wert ist, wie die Gesetze des Karma, die sichere Ausrichtung im Leben, also die Zuflucht (Buddha, Dharma, Sangha), Wiedergeburt, Befreiung, Erleuchtung, gütig gegenüber anderen zu sein und anderen zu helfen. Wir bestreiten nicht nur, dass es entweder wahr oder wertvoll und nützlich ist, sondern wir haben eine feindselige Einstellung demgegenüber und wir wollen beweisen (und behaupten), dass es nichtsnutzig ist. Das ist ein sehr engstirniger und unwissender Geisteszustand. Wir sind sehr starrköpfig, wollen es nicht anerkennen, versuchen zu argumentieren und etwas zu widerlegen, was wahr und von Wert ist. Das Objekt muss tatsächlich existieren oder wahr sein, wir müssen fest daran glauben, dass es richtig ist, dies zu leugnen und wir müssen wirklich gegen die korrekte Sichtweise angehen wollen.
Unsere Motivation muss außerdem fünf andere störende Geisteshaltungen umfassen. Hier geht Tsongkhapa näher auf die verzerrte, feindselige Geisteshaltung ein. Wir beziehen uns in diesem Fall auf eine Denkweise. Es bedeutet nicht, tatsächlich wegen etwas vor Gericht zu ziehen, aber wir planen etwas und denken über etwas nach. Die erste störende Geisteshaltung ist Blindheit, weil wir nicht wissen, dass ein nobles Phänomen existiert oder da ist. Wir wissen es einfach nicht, wir sind blind und akzeptieren nicht, dass etwas wahr ist. Die zweite ist Streitsucht. Hier handelt es sich um eine Art perverser Freude daran, sich negativ zu verhalten. „Ich mag es zu kämpfen. Es macht mir Spaß, mit dir zu argumentieren und es ist mir egal, was du sagst.“ Es gibt solche Menschen; das ist eine Geisteshaltung, nicht wahr? Es gibt Menschen, die es genießen, negativ zu sein und gegen alles, was man sagt, ein Argument zu haben. Sie machen anderen gern das Leben schwer. Die dritte ist, mit falschen Überlegungen und Entschiedenheit ein Phänomen analysiert zu haben und aufgrund davon, vollkommen durchdrungen und überzeugt von unserer verzerrten Sicht der Wahrheit oder Realität zu sein. Wir sind also vollkommen überzeugt, dass – aufgrund unserer fehlerhaften Analyse – unsere Sichtweise korrekt ist und wir halten stur daran fest. Die vierte ist, richtig gemein zu sein und eine scheußliche Geisteshaltung zu haben. Wir sagen, es ergebe keinen Sinn, anderen etwas zu geben oder ihnen zu helfen und auch jegliche spirituelle Praxis sei sinnlos. Die fünfte ist eine störrische Geisteshaltung. Wir wollen andere fertig machen, ohne uns auch nur ein wenig für diese feindselige Haltung und dafür zu schämen, dass wir versuchen, ihren Glauben zu widerlegen. Wir führen eine Diskussion und wollen selbst als Sieger hervorgehen. Der andere sagt, es sei nützlich, anderen zu helfen, und wir haben diese verzerrten Geisteshaltung und sagen: „Mir ist egal, was du sagst. Ich werde mit dir argumentieren und dich im Debattieren schlagen. Mir macht es richtig Freude, deine Überzeugungen zu vernichten. Ich werde mich nicht im Mindesten dafür schämen, dass ich versuche, deinen Glauben an etwas Positives zu zerstören. Ich sehe nicht, dass daran irgendetwas falsch wäre, sondern denke, dass es richtig Spaß macht.“ Das ist eine verzerrte, feindselige Geisteshaltung. Wenn wir es also als „falsche Ansicht“ übersetzt sehen, sollten wir verstehen, dass es viel komplexer ist, als einfach nur ein fehlerhaftes Verständnis von etwas zu haben. Aus allen Blickwinkeln betrachtet ist dies eine wirklich sehr negative Handlung.
(10) Orte wie zum Beispiel Dörfer zerstören
Das zehnte Gelübde ist, Orte wie zum Beispiel Städte zu zerstören. Hier geht es quasi darum, eine Stadt, ein Dorf oder eine Landschaft zu zerstören, eine Bombe abzuwerfen oder eine schädliche oder ungesunde Umgebung für Menschen und Tiere zu schaffen. Natürlich wollen wir zum Wohlergehen der Anderen beitragen und nicht die Orte zerstören, an denen sie leben. Wir wollen Häuser zur Verfügung stellen. Wir wollen anderen alles geben und nicht die Umgebung ruinieren, in der sie leben.