Die Entscheidung, destruktives Verhalten zu unterlassen

Warum haben wir nicht schon genug positive Kraft aufgebaut, um Bodhichitta zu entwickeln? 

Wir haben gesehen, dass wir, um Bodhichitta erstmals anzustreben, über Erleuchtung gehört, sie ein wenig verstanden und einen zuversichtlichen Glauben haben müssen, dass es sie gibt und dass es möglich ist, sie selbst zu erlangen. Um das in Betracht zu ziehen, müssen wir zudem den Lehren tatsächlich begegnet sein, ein Interesse an ihnen haben, aufgeschlossen sein und uns um das Wohlergehen anderer sorgen. Dafür benötigen wir zumindest eine kostbare menschliche Wiedergeburt, für die wiederum ethische Disziplin und all diese anderen Dinge, Gebete usw notwendig sind. Um ethische Disziplin zu haben, ist ein unterscheidendes Gewahrsein nötig, um zwischen destruktivem Verhalten (was nachteilig ist) und konstruktives Verhalten (was nützlich ist) zu unterscheiden. Doch das ist schwierig, denn für ethische Disziplin und unterscheidendes Gewahrsein benötigen wir eine kostbare menschliche Wiedergeburt und um eine kostbare menschliche Wiedergeburt zu erlangen, brauchen wir ethische Disziplin und unterscheidendes Gewahrsein. 

Dann fragen wir uns: Handelt es sich in dem Sinne um einen aufeinanderfolgenden Prozess, dass wir um so mehr kostbare menschliche Wiedergeburten erlangen, desto mehr unterscheidendes Gewahrsein und konstruktives Verhalten wir entwickeln? Es klingt fast so, oder? Doch wenn das der Fall wäre, sollten wir aufgrund anfangsloser Wiedergeburten mittlerweile genug positive Kraft aufgebaut haben, um Bodhichitta erstmals zu entwickeln und Erleuchtung zu erlangen. Wir benötigen drei zahllose Weltalter positiver Kraft, um all das zu tun, doch anfangslos ist länger als drei zahllose Weltalter. Es sollte also genügend Zeit sein, wenn es ein aufeinanderfolgender Prozess wäre. Doch das ist nicht passiert. Warum nicht? Hier gilt es zu analysieren, warum das so ist, und wir haben eine ganze Liste: 

1. Mangelndes Gewahrsein gegenüber der Realität ist anfangslos, doch obgleich wir auch seit anfangsloser Zeit über den Geistesfaktor des unterscheidenden Gewahrseins verfügen, ist unser Verfügen über ein korrektes unterscheidendes Gewahrsein nicht anfangslos. Es muss ebenfalls erstmalig entwickelt werden. Mit anderen Worten haben wir das Werkzeug, es korrekt zu verstehen und wir haben es immer gehabt, doch das heißt nicht, dass wir es immer korrekt benutzt haben. Es muss erstmalig entwickelt werden. 

2. In jeder Wiedergeburt hatten wir eine bestimmte Ebene der Intelligenz, was nicht heißt, dass wir sie benutzt haben. Doch wir können solche Arten des korrekten unterscheidenden Gewahrseins nur während einer kostbaren menschlichen Wiedergeburt entwickeln. Und wir reden hier über maßgebliches unterscheidendes Gewahrsein, nicht über das unterscheidende Gewahrsein, das eine Kuh hat, um ihren Stall von einem anderen zu unterscheiden. Eine Kuh verfügt über diese Art des Gewahrseins, doch wir sollten das unterscheidende Gewahrsein haben, zwischen dem zu unterscheiden, was langfristig, nicht nur auf kurze Sicht, nützlich und was schädlich ist. Kurzfristig bezieht sich darauf, vor einer Gefahr zu flüchten, was auch Tiere tun. 

3. Trotz anfangsloser Wiedergeburt ist die unbegrenzte Anzahl niederer Wiedergeburten, die wir hatten, weit größer, als die unbegrenzte Anzahl unserer kostbaren menschlichen Wiedergeburten. Das ergibt sich aus der Mathematik. Unendlichkeiten sind verschieden groß, was sowohl in der westlichen als auch in der indischen Mathematik so ist. Denkt einmal darüber nach. 

Ich gebe euch ein Beispiel. Haben wir beispielsweise für jede kostbare menschliche Wiedergeburt eine Million niederer Wiedergeburten, ist die unbegrenzte Anzahl von Wiedergeburten in niederen Bereichen, die wir hatten, größer, als die unbegrenzte Anzahl unserer kostbaren menschlichen Wiedergeburten. Erkennt ihr den Unterschied? 

Ich bin mir bewusst, wie viele Menschen vertraut mit Mathematik sind. Falls es euch interessiert, hier das klassische Beispiel aus der Mathematik: Die unendliche Anzahl ganzer Zahlen – also 1, 2, 3, 4, 5... – ist ein unbegrenztes Maß, aber es ist zählbar. Es gibt jedoch eine viel größere unbegrenzte Anzahl so genannter reeller Zahlen (also Bruchzahlen oder Dezimalzahlen) im Gegensatz zu ganzen Zahlen, und sie sind unzählbar. Und so können wir auch dieses ganze Konzept der begrenzten aber zahllosen Wesen durch die Mathematik verstehen. Wie viele reelle Zahlen – also wie viele Dezimalzahlen – gibt es zwischen eins und zwei? Es ist eine begrenzte Anzahl (weil es zwischen ein und zwei liegt), doch sie ist unzählbar. Ich muss sagen, dass ich kein Mathematiker bin, und so muss man es weiter analysieren, aber dies sind wirklich interessante und schwierige Konzepte im Buddhismus. Diese ganze Klassifizierung von Unendlichkeiten, Zählbaren, Unzählbaren und so weiter kommt im Grunde aus den Jain-Texten der indischen Mathematik. 

Wie dem auch sei, trotz unbegrenzter Wiedergeburten hatten wir mehr niedere Wiedergeburten als kostbare menschliche Wiedergeburten. Darum geht es hier. Das Wort anfangslos ändert also nichts an der Proportion. Denn wir könnten die falsche Vorstellung haben, dass es anfangslos und daher gleich sein sollte, was es nicht ist.

Es ist recht hilfreich, unsere westliche Art der Analyse und die westliche Wissenschaft und Mathematik nicht abzuschreiben. Sie hilft uns beim Analysieren. Und Seine Heiligkeit der Dalai Lama hat oft gesagt, dass wir ein buddhistisches Konzept, welches wir mit westlicher Wissenschaft widerlegen können, aufgeben sollten, da es uns schließlich um die Realität geht. 

Was folgt also aus der Tatsache, dass wir beispielsweise eine Million mehr niedere Wiedergeburten als kostbare menschliche Wiedergeburten hatten? Eigentlich sollte ich mit euch eine wunderschöne Aussage teilen, die einer meiner Lehrer, Geshe Ngawang Dhargyey, gemacht hat. Er sagte: „Wir befinden uns nur auf einem kurzen Urlaub von den niederen Bereichen und haben schon unser Rückticket gebucht.“ Das ist eine schöne Weise, es auszudrücken. 

4. Wir bauen also negative karmische Kraft auf und verstärken in all unseren Wiedergeburten Unwissenheit und störende Emotionen. (Das bezieht sich auch auf die gegenwärtigen Wiedergeburten. Wie viele Male sind wir sogar in der kostbaren menschlichen Wiedergeburt wütend geworden?) Doch nur in manchen Wiedergeburten stärken wir zuweilen unsere positive karmische Kraft und unser unterscheidendes Gewahrsein. Die negative karmische Kraft und die Unwissenheit sind also viel stärker und zwingender, als unsere positive karmische Kraft und das korrekte unterscheidende Gewahrsein. 

Wir sollten verstehen, warum es so ist, dass wir so viel mehr schlechtere Wiedergeburten hatten, als kostbare menschliche Wiedergeburten. Das ist der Grund, weil wir ständig negative Dinge und wirklich selten positive Dinge tun. Das ist laut Geshe Dargyey wiederum eine wunderbare Meditation. „Denkt einmal darüber nach, wie viele Male ihr in eurem Leben wütend geworden seid, angehaftet wart, destruktive Dinge getan habt, und vergleicht das damit, wie viele Male ihr positive Gedanken hattet. Dann wird euch klar sein, wie eure Zukunft sein wird.“ Es ist wert, ein wenig darüber nachzudenken. 

5. Kommen wir zu den Lehren über Karma. Es heißt, konstruktives Verhalten kann negative karmische Potenziale schwächen und destruktives Verhalten kann positive karmische Potenziale schwächen, doch da das Maß an unserem destruktiven Verhalten viel höher ist, als das Maß an unserem konstruktiven Verhalten, schwächen wir ständig unser positives karmisches Potenzial. Jedes dieser Zwei kann das andere schwächen, doch da das Negative stärker ist, wird es immer gewinnen, denn langfristig haben wir mehr Negatives als Positives getan, wie wir gerade analysiert haben. 

6. Und obwohl negative und positive karmische Potenziale nicht weiter existieren, wenn sie einmal zur Reife gekommen sind, haben wir stets mehr negative karmische Potenziale als positive, da sie zahlenmäßig überlegen sind. 

Die eigentliche Frage ist also: Wie können wir dieses Problem jemals lösen? Wie können wir diese Netzwerke positiver Kraft und tiefen Gewahrseins stärken, damit wir durch sie unsere negativen Potenziale und unsere Unwissenheit überwinden können, um eine kostbare menschliche Wiedergeburt erlangen und Bodhichitta entwickeln zu können? Es gibt nicht viel, was wir in einer Million Wiedergeburten als eine Fliege oder als eine Spinne, die Fliegen frisst, machen können. Können wir uns nur mit freiem Willen entscheiden? Ist es vorbestimmt? Oder gibt es eine andere Erklärung? Wie ihr sehen könnt, kommen wir immer wieder zur gleichen Frage zurück. 

Die zwei Netzwerke 

Um das zu analysieren, müssen wir einen noch genaueren Blick auf diese zwei Netzwerke werfen. Wie bereits erklärt, können diese zwei Netzwerke, positive Kraft und tiefes Gewahrsein, entweder Samsara-bildend, Befreiungsbildend oder Erleuchtungsbildend sein. Es hängt alles von der Motivation und der Widmung ab, mit der wir sie aufbauen. Tun wir nichts, ist die Standardeinstellung Samsara-bildend. Und widmen wir sie gar nicht oder tun einfach positive Dinge aus Naivität oder diesem Egoismus, mit dem wir meinen, gut oder perfekt sein zu müssen, diesem Perfektionismus-Syndrom eines Kontroll-Freaks, ist das äußerst Samsara-bildend. Das ist die positive Seite eines starken Greifens nach dem Ego, mit dem es nur um das Ich geht, darum gut oder perfekt sein zu müssen. Leiden wir unter diesem Perfektionismus, ist es sehr wichtig zu analysieren: Was bringt uns das? Was steckt dahinter? 

Ich gehe darauf ein, weil Menschen oft meinen, sie müssten einfach nur gut sein und nette Dinge tun, und damit würden sie dann Erleuchtung erreichen. Tun wir diese Dinge jedoch als ein Perfektionist, wird es lediglich zu mehr Samsara führen. Denkt einmal darüber nach. Vielleicht haben einige von uns diese Problem. Daher wird immer betont, wie wichtig es ist, entspannt mit unserer Dharma-Praxis umzugehen und kein fanatischer Perfektionist zu sein. Kennt ihr diesen wunderbaren Zen-Koan, mein Lieblingskoan? „Der Tod kann jederzeit kommen. Entspanne dich.“ Darin steckt viel Bedeutung. 

Gut, wie kommen wir also aus diesem Syndrom heraus, dass das Negative gegenüber dem Positiven immer überwiegt? Wenn unsere positive Kraft mit mühelosem Bodhichitta aufgebaut wird... Es gibt ja zwei Arten von Bodhichitta, mit dem wir sie entwickeln. Das muss ich noch hinzufügen. Mühevoll (tib. rtsol-bcas) bedeutet, dass wir Bodhichitta mit Bemühung aufbauen und schrittweise vorgehen müssen: jeder war schon einmal meine Mutter, alle waren gütig zu mir, all diese Schritte. Es ist allerdings so, dass wir nicht nur die Worte durchgehen, sondern es tatsächlich empfinden und ernsthaft damit umgehen sollten. Das ist mühevoll; man muss darauf hinarbeiten. Hier geht es um tatsächliches Bodhichitta, nicht um künstliches, sondern um echtes Bodhichitta. Es ist nur so, dass wir daran arbeiten müssen, es aufzubauen. 

Mühelos (tib. rtsol-med) bedeutet, dass man nicht all diese Schritte durchgehen muss. Man hat es einfach, weil man so vertraut damit ist. Verfügt man also über müheloses Bodhichitta, erlangt man den ersten dieser fünf Pfade, den so genannten Pfad der Ansammlung (tib. tshogs-lam), den ich als Pfadgeist bezeichne, weil er nicht in dem Sinne ein Pfad ist, auf dem man entlanggeht, sondern eine Ebene des Geistes, die sich aufbaut. Wohin baut sie sich auf? Es geht nicht um ein Ansammeln oder darum, Dinge zu bekommen. Genau genommen ist es ein Aufbauen der Verbindung von Shamatha und Vipashyana. Entweder haben wir Shamatha bereits vorher erlangt oder nicht. Es kann diese zwei Möglichkeiten geben. 

Verfügen wir über echtes Bodhichitta – und es wird darüber diskutiert, welches von beiden relevant ist, mühevolles oder müheloses – kann die positive Kraft, die damit aufgebaut wird, was man direkt aus dem Lam-rim bekommt, nicht durch destruktives Verhalten zerstört werden und erschöpft sich nicht, sondern reift bis zur Erleuchtung immer weiter heran. Sie ist also nicht wie unsere samsarische positive Kraft, die schwächer werden kann und sich aufbraucht, wenn sie heranreift. Wir müssen zu der Überzeugung gelangen, dass es tatsächlich möglich ist, aus dieser samsarischen Dialektik auszubrechen. Ist die positive Kraft also mit echtem Bodhichitta verbunden, bleibt sie und wird immer weiter heranwachsen. Wie Shantideva sagt, setzt sie sich immer weiter fort, sogar im Schlaf. Es ist also notwendig, gewissermaßen diese echte Liebe, das Mitgefühl, den Gleichmut, Bodhichitta und all diese Dinge zu entwickeln. Verfügen wir darüber, wird sie durch Wut nicht geschwächt werden, im Gegensatz zur gewöhnlichen samsarischen positiven Kraft, um eine kostbare menschliche Wiedergeburt zu erlangen, die durch Wut geschwächt wird. 

Wenn ein Bodhisattva wütend auf einen anderen Bodhisattva wird, zerstört das hundert oder tausend Zeitalter positiver Kraft – das bezieht sich wahrscheinlich auf das Zerstören der Samsara-bildenden positiven Kraft, die ein Bodhisattva noch hat, wie die positive Kraft, weiter kostbare menschliche Wiedergeburten zu haben, während man auf die Erleuchtung hinarbeitet. Es zerstört nicht die Erleuchtungsbildende positive Kraft.

Das ist also jetzt das Problem. Um sie zu entwickeln – nennen wir sie einmal stabile positive Kraft, positive Kraft durch Bodhichitta, die sich nicht erschöpft – benötigen wir genügend samsarische positive Kraft, um die kostbare menschliche Wiedergeburt zu erlangen, damit wir sie erstmalig entwickeln können. Versteht ihr das? Das ist es, was wir benötigen, also echtes Bodhichitta, und dann bauen wir positive Kraft auf, mit der wir wirklich beide Gruppen von Schleiern überwinden können. Allerdings brauchen wir drei zahllose Weltalter dafür, aber wir haben ja viel Zeit. Doch wir gehen ständig auf und ab, auf und ab, und fragen uns, wie wir genügend samsarische positive Kraft aufbauen, um an diesen Punkt zu gelangen, an dem wir tatsächlich diese stabile positive Kraft, die Erleuchtungsbildende, aufbauen. 

Die Rolle des Karmas 

Wo gibt es in dieser Analyse das Treffen von Entscheidungen und welche Rolle spielt Karma dabei? Hier ist es notwendig, Karma mit hineinzubringen. 

Karma wird leider mit dem tibetischen Wort „lä“ (las) übersetzt, welches das umgangssprachliche Wort für „Handlungen“ im Tibetischen ist, doch Karma bedeutet nicht Handlungen. Würde es Handlungen bedeuten, müssten wir nur aufhören etwas zu tun, um erleuchtet zu werden. Denken wir: „Oh, man muss Karma überwinden, denn es ist die Ursache für Leiden, Samsara und Wiedergeburt“ und beziehen es auf Handlungen, warum sind Handlungen dann so furchtbar? Warum müssen wir aufhören, etwas zu tun? Es ergibt also keinen Sinn, dass es sich auf Handlungen bezieht. Es ist notwendig, sich die Definitionen anzusehen und nachzuschauen, wie es in den Texten beschrieben wird, um zu verstehen, worauf es sich wirklich bezieht. Wir sollten uns nicht nur nach dem richten, was im Wörterbuch steht. Und wenn man Tibeter fragt, werden die meisten von ihnen „Handlungen“ sagen, weil es, wie gesagt, das umgangssprachliche Wort für „Handlungen“ im Tibetischen ist. 

Ich denke, eine korrektere Übersetzung des Wortes Karma ist „Zwanghaftigkeit“; es ist der Zwang selbst. Hier gibt es zwei Theorien. Vielleicht seid ihr vertraut damit, dass es in der buddhistischen Philosophie Indiens verschiedene Lehrsysteme gibt. Im Sautrantika, Chittamatra und Svatantrika wird gesagt, Karma sei ein Geistesfaktor der Zwanghaftigkeit, ein zwanghafter Drang, der uns antreibt, auf bestimmte Weise zu denken, zu sprechen oder zu handeln. Ich schweife ständig auf zwanghafte Weise ab. Zwanghaft denke ich ständig mit Anhaftung an meine Geliebte. Zwanghaft werde ich wütend, schreie herum und so weiter. Es ist diese Zwanghaftigkeit, die uns in diese Art des sich wiederholenden Verhalten treibt. Oder wir versuchen zwanghaft gut zu sein, um es allen recht zu machen. Habt ihr schon mal von jemandem gehört, der so ist und sagt: „Ich muss es allen recht machen“? Das ist zwanghaft, eine große Ego-Sache („ich habe Angst, verlassen zu werden“). Es ist positive Zwanghaftigkeit, aber trotz allem Zwanghaftigkeit. Denkt einmal darüber nach. Das ist die leichter verständliche Theorie und natürlich gilt es sie zu überwinden. Es handelt sich bei dieser Zwanghaftigkeit um eine ausgesprochen starke Kraft.

Beginnen wir auf diese Weise über Karma nachzudenken, verstehen wir wirklich, dass es sich dabei um das Problem handelt. Karma ist nicht das Resultat; Karma ist eine Ursache. Eines der Gesetze des Karma lautet: Karma reift nicht zu Karma heran. Aber dazu später. Karma reift zu dem Wunsch oder Gefühl heran, wütend auf jemanden zu sein oder ihn anschreien zu wollen. Zumindest im Englischen sagt man es so: „I feel like yelling at you“ („ich würde dich gern anschreien“). Das ist es, was heranreift, dieser Geistesfaktor. Dann kann der Zwang kommen, tatsächlich zu schreien, doch es gibt da einen Zwischenraum, in dem man sich entscheiden kann, und darauf läuft es letzten Endes hinaus. Wenn das Gefühl oder der Wunsch, zu schreien, und das Gefühl, nicht zu schreien, hochkommen, benötigen wir unterscheidendes Gewahrsein. Das wird uns davon abhalten, durch weitere zwanghafte Kräfte noch mehr Karma zu erschaffen, was uns dann zu dem Verhalten führt. 

Das ist nicht schwer zu verstehen. „Ich würde gern zum Kühlschrank gehen und mir etwas herausnehmen, aber ich würde es auch gern unterlassen, weil ich nicht wirklich hungrig bin und nur nach etwas Süßem trachte.“ Dann entscheiden wir, doch das Gefühl kommt hoch. Es reift aus zwanghaften Gewohnheiten, zwanghaftem Verhalten. Es kommen zwei Gefühle hoch: hinzugehen oder nicht hinzugehen. Nur wenn beide hochkommen, haben wir eine Wahl. Sehen wir uns aber die einzelnen Schritte in Bezug auf unser Karma-Verständnis und diesen ganzen Prozess genauer an. 

Im Sautrantika, Chittamatra und Svatantrika heißt es also: es ist immer dieser Geistesfaktor, der zwanghafte Drang, der uns antreibt, der uns zwanghaft zu einer Weise des Denkens, Handelns oder Sprechens führt. 

Gemäß des Vaibhashika und der Gelugpa-Version des Prasangika – die Version des Prasangika, die nicht zum Gelugpa gehört, ist ziemlich anders und daher gilt es zu beachten, dass es hier um Gelugpa-Prasangika geht – ist Karma nur dieser geistige Drang, dieser zwanghafte Drang zu denken, und bezieht sich nur auf geistige Dinge. Was physisches und verbales Karma betrifft, so ist Karma die zwanghafte Gestalt, die der Körper annimmt, wenn wir handeln. Es ist nicht die Handlung selbst, sondern die Form unseres Körpers, wenn wir etwas Zwanghaftes tun, die Weise, wie wir es tun, oder der zwanghafte Klang, den unsere Stimme annimmt, wenn wir sprechen. Dies ist nicht so leicht zu verstehen, doch es gibt äußerst tiefe Gründe, warum es behauptet wird. Es geht also um eine zwanghafte Form oder einen zwanghaften Klang, der stattfindet. Das ist eine Ebene des Karmas. 

Die andere Ebene des Karmas ist in diesem Fall eine recht subtile zwanghafte Energie, die nur während der Handlung andauert und sich dann mit unserem Geisteskontinuum so lange fortsetzt, bis wir den Wunsch aufgeben, die Handlung zu wiederholen. Das ist ziemlich tiefgreifend, wenn man einmal darüber nachdenkt. Es gibt eine gewisse subtile Zwanghaftigkeit in der Weise, wie wir sind. Sie ist wie eine subtile Energie der Zwanghaftigkeit, die unserem gesamten Leben zugrunde liegt. Das ergibt viel Sinn, wenn man es sich einmal durch den Kopf gehen lässt. 

In keinem Fall, in keiner dieser zwei Erklärungen des Karmas, reden wir von der eigentlichen Handlung. Denkt einmal einen Moment darüber nach. 

Wir können also beginnen, in uns zu erkennen, wie wir zwanghaft Dinge tun. Das Problem ist nicht, dass wir Dinge tun, sondern dass wir zwanghaft unser Haus saubermachen oder zwanghaft irgendetwas anderes machen. Das ist wirklich interessant. Ob man will oder nicht, man hat einfach das Gefühl, dass man es tun muss. Man wird irgendwie dorthin gezogen. Oder im Streit meint man zwanghaft das letzte Wort haben zu müssen. Wie unter Zwang muss ich dir sagen, was ich denke, was meine Meinung ist. Es ist ein Zwang und das ist Karma. Wie ihr also sehen könnt, kann das ein ziemlicher Unruhestifter sein. Wir nutzen kein unterscheidendes Gewahrsein: Wenn ich dir meine Meinung sagen will, soll ich wirklich etwas sagen oder nicht? Wird es hilfreich sein? Wird es nur zu noch mehr Streit führen? Du wirst ja sowieso nicht zuhören, was ich sage. 

Und auch mit all diesen sozialen Medien, Facebook, Twitter usw. – warum sollte es jemanden interessieren, was ich denke? Man analysiert also – es tut mir leid, ich kann mich nicht beherrschen (und dann kommt diese Zwanghaftigkeit, es zu sagen). Die Menschen fühlen sich so machtlos und hilflos, wenn es darum geht, was in der Welt los ist, dass sie das Gefühl haben, wenn sie sagen, was sie denken, und es im Internet veröffentlichen, würde ihnen das eine Bestätigung dafür geben, dass es sie gibt. Es gibt dem, der ich denke zu sein, wahre Existenz. Das ist die Analyse aus einer buddhistischen Sicht. Denkt einmal darüber nach. Es ist wahr. Und verleiht es uns eine Existenz? Nein, natürlich nicht. Beweist es, dass ich existiere? Nein, natürlich nicht. Es ist wie dieses schöne deutsche Sprichwort: „Weil mein Telefon klingelt, gibt es mich.“ Es ist wahr. Ich bekomme eine bestimmte Anzahl von Likes und daher gibt es mich. 

Die Analyse des Treffens der Entscheidung, destruktives Verhalten zu unterlassen 

Kommen wir zur Analyse: Um noch mehr Samsara-bildende positive Kraft aufzubauen, benötigen wir das korrekte unterscheidende Gewahrsein, um uns für das Unterlassen von destruktivem Verhalten zu entscheiden, wenn wir gern destruktiv handeln würden und dieses Gefühl hochkommt. Wenn zwei Gefühle oder Wünsche hochkommen, brauchen wir also korrektes unterscheidendes Gewahrsein: gegenüber negativem karmischen Potenzial, dem Wunsch, den anderen anzuschreien, und gegenüber positivem karmischen Potenzial, dem Gefühl, lieber den Mund zu halten und den anderen nicht anzuschreien. Wir benötigen also das korrekte unterscheidende Gewahrsein, um die Vor- und Nachteile abzuwägen, diese zwei Gefühle oder Wünsche in die Tat umzusetzen. Das ist der ausschlaggebende Moment. 

Hier gilt es wieder, einen Blick auf die Definition von Vasubandhu zu werfen. Er gibt zu all diesen Dingen Definitionen. Was ich als einen Wunsch (tib. ’dod-pa, Skt. iccha) bezeichne, was sich zumindest im Englischen und Deutschen normalerweise darauf bezieht, etwas gern tun zu würden, definiert er als eine Absicht (tib. ’dun-pa), und eine Absicht ist der Geistesfaktor, etwas zu tun, ein Objekt zu bekommen, ein Ziel zu erreichen, oder etwas mit dem Objekt oder Ziel zu tun, wenn wir es erlangt haben. „Ich würde beispielsweise gern zum Kühlschrank gehen.“ Das ist eine Absicht. „Ich würde wirklich gern zum Kühlschrank gehen und etwas zum Essen holen.“ Ob wir diese Absicht in die Tat umsetzen oder nicht, ist eine andere Sache, und zwar geht es darum, was aus dieser karmischen Hinterlassenschaft heranreift – nicht von dem Karma selbst, sondern von dem, was übrig bleibt (die Tendenzen, Gewohnheiten, Potenziale).

Doch die Möglichkeit, diese Entscheidung zu treffen, wird nur da sein, wenn mit dem negativen karmischen Potenzial auch positives Potenzial heranreift. Das negative Potenzial, jemanden anzuschreien, reift heran und gleichzeitig reift auch das positive Potenzial heran, nicht zu schreien. Nur dann können wir die Entscheidung zwischen diesen beiden treffen. Andernfalls habe ich nur das Gefühl loszuschreien und sonst gibt es da nichts. Es kommt mir nicht einmal in den Sinn, nicht zu schreien. Dann schreie ich einfach zwanghaft los. Nur wenn diese beiden auftauchen, können wir so genanntes unentschlossenes Schwanken (tib. the-tshoms) zwischen dem einen und dem anderen haben. Dann treffen wir eine Entscheidung. Unentschlossenes Schwanken heißt: soll ich dies oder soll ich das tun? Genau an diesem Punkt kommt die Entscheidung mit ins Spiel. Unsere ganze Diskussion über freien Willen und Determinismus läuft auf diesen entscheidenden Punkt hinaus. 

Nun gilt es, weiter zu analysieren. Was bringt ein karmisches Potenzial dazu heranzureifen? Es reift nicht einfach ohne Grund. Nichts geschieht ohne Ursachen und Bedingungen. Es gibt also zahlreiche Umstände und Bedingungen, die ein negatives, und viele, die ein positives Potenzial heranreifen lassen. Nun müssen wir sie abschätzen. 

Ich hoffe, ihr habt eine Wertschätzung für die Methode, die hier zum Analysieren verwendet wird. Es gibt diese riesige Menge an Dharma-Wissen, das wir uns hoffentlich angeeignet haben, und nun ist es notwendig, alle Teile zusammenzufügen. Manche Menschen, die seit Jahren zu einem Dharma-Zentrum kommen, sagen: „Oh, ich werde nicht mehr kommen, ich habe das alles schon gehört.“ Das ist jedoch ein großer Fehler. Sie langweilt der Dharma und sie nutzen ihn nicht, wie sie ihn nutzen sollten, nämlich all das Gelernte miteinander zu verbinden. Jedes Mal, wenn wir etwas hören, werden neue Verbindungen – neue neuronale Pfade des Zusammenfügens – geschaffen. Trijang Rinpoche drückte es sehr schön aus: „Ich habe den „Lam-rim chen-mo“ (dieses große Lam-rim-Werk Tsongkhapas) schon hundert Mal gelesen, und jedes Mal, wenn ich ihn lese, ist es, als würde ich einen anderen Text lesen.“ 

Was sind also nun die Umstände dafür, negatives Potenzial heranreifen zu lassen. Dafür gibt es eine ganze Liste im Lam-rim. Ärgert euch nicht über all die Auflistungen. Sie sind wichtig, weil sie uns immer mehr Erkenntnisse geben und Lehrstoff vermitteln, mit dem wir arbeiten können. 

  • Ein negatives Potenzial wird heranreifen, wenn wir eine störende Emotion (Wut, Gier usw.) haben. Wut ist da und somit reift das Potenzial heran, jemanden anzuschreien. Es gibt da ein Gefühl, jemanden anzuschreien, weil man wütend ist.
  • Es kann auch aus dem negativen Einfluss anderer heranreifen. Alle anderen schreien herum und daher tun wir es auch. Wenn die Person, mit der wir reden, uns anschreit, schreien wir zurück.
  • Fehlerhafte Betrachtung, was auch ein wichtiger Punkt ist und sich darauf bezieht zu denken: „Wenn ich dich anschreie, wird alles besser werden.“ Schreien wir jedoch jemanden an: „du solltest mich lieben, du solltest mir mehr Aufmerksamkeit schenken“, wird der andere einfach nur weglaufen wollen – es wird die gegenteilige Wirkung haben. Das ist also die fehlerhafte Betrachtung, Leid als Glück zu betrachten und ähnliches.
  • Es könnte auch eine physische Situation sein, die ein Grund dafür ist, dass ein negatives Potenzial heranreift. Vielleicht bin ich arm, leide Hunger und würde gern irgendwo Nahrung stehlen.

Wie gesagt gibt es eine ganze Liste, also noch viel mehr, doch dies sind die wichtigsten Punkte. Eine Kombination davon würde das negative Potenzial heranreifen lassen. 

Auch positives Potenzial – das Gefühl, das Schreien zu unterlassen – reift durch verschiedene Faktoren heran: 

  • Ein konstruktiver Geistesfaktor – Geduld: Die andere Person schreit uns an, doch wir haben Geduld und Verständnis. Das würde uns dazu bringen, davon abzusehen, zurückzuschreien; Loslösung: Ich hänge nicht so daran, unbedingt sagen zu müssen, was ich denke.
  • Der positive Einfluss von anderen – unser Freund ist bei uns und sagt: „Beruhige dich doch, es ist nicht so schlimm“;
  • Inspiration von den Buddhas und unseren Lehrern;
  • Vergegenwärtigung – sich an ihre Lehren erinnern – was uns dazu bringen könnte, es zu unterlassen; und
  • sich auf sie zu konzentrieren – sich nur an sie zu erinnern und sie dann zu vergessen, ist nicht so stark. Man sollte sich an sie erinnern und sie im Gedächtnis behalten.

Es müssen also zahlreiche Umstände vorhanden sein, um in eine Situation zu kommen, in der wir uns entscheiden können, entweder destruktiv zu handeln oder es zu unterlassen, und jeder dieser Umstände entsteht durch weiter Umstände. Seht ihr, wo das hinführt? Erinnert ihr euch an den schönen Begriff abhängiges Entstehen? Dort führt es alles hin. Alles, was hiermit verbunden ist, entsteht aus Ursachen und Bedingungen, und jede Ursache und Bedingung entsteht aus weiteren Ursachen und Bedingungen. Seht ihr die Linie? In unserer Analyse gehen wir also von dem, was wir für die Erleuchtung brauchen, zurück. Wir benötigen erstmaliges Bodhichitta und was brauchen wir dann dafür? Auf diese Weise gehen wir immer weiter zurück. Lasst das für einen Moment einwirken und versucht es zu verinnerlichen. 

Um die Entscheidung zu treffen, müssen beide Gefühle, beide Wünsche hochkommen. Es ist nicht so stark wie ein Wunsch, aber das ist das Wort, was dafür benutzt wird. Ich glaube das deutsche Wort „Lust“ beschreibt es ziemlich gut. Was wollt ihr gern tun, worauf habt ihr Lust? Ich habe Lust zu schreien; ich habe keine Lust zu schreien. Nur wenn diese beiden hochkommen, kann man die Entscheidung zwischen den beiden treffen und für jedes muss es Umstände geben, die es fördern hochzukommen. Es geht hier nicht um so eine komplizierte Situation, in der wir uns fragen, ob wir dies oder das tun sollen, sondern einfach ob wir es tun sollen oder nicht. Bevor wir uns entscheiden können, etwas anderes zu tun, müssen wir uns erst einmal gegen die erste Alternative entscheiden, die darin besteht zu schreien. 

Doch sogar wenn die Umstände da sind – und das wird noch furchtbarer – wird das positive karmische Potenzial, wenn es zu schwach ist, nicht den Wunsch hervorbringen, das destruktive Handeln zu unterlassen, wie es meist der Fall ist. Normalerweise würde es mir nie in den Sinn kommen, dich nicht anzuschreien, wenn du mich anschreist. Versteht ihr? Ich schreie einfach zwanghaft. Die Kinder sind ungezogen, sie kleckern herum, sie wollen nicht schlafen gehen und dann schreie ich sie an: „geht schlafen“. Doch sogar, wenn wir an die Lehren denken und wissen: „gut, ich werde nicht schreien. Sie sind einfach übermüdet. Ich werde ruhig bleiben und sie ins Bett bringen“, befinden wir uns in der Situation: „Ich weiß, ich sollte nicht schreien, aber ich konnte einfach nicht anders.“ Kennt ihr so eine Situation? Es liegt daran, dass die Kraft des karmischen Potenzials zu schwach ist. Das, was heranreift, ist zu schwach. Für gewöhnlich haben wir also nicht einmal die Gelegenheit darüber nachzudenken, dieses oder jenes zu tun und sogar wenn wir es bedenken, hilft es nicht wirklich. 

Was benötigen wir also? Wenn das negative Potenzial reift und ich Lust habe zu schreien, muss das positive Potenzial auch reifen, um es zu unterlassen und dieses positive Potenzial muss stark genug sein, damit es das negative Gefühl, den negativen Wunsch besiegen kann. Dann würden wir das korrekte unterscheidende Gewahrsein haben, um zu beschließen, dass es viel nützlicher ist, es zu unterlassen, als zu schreien. 

Schließlich kommt aber die furchtbare Samsara-Situation mit hinein, weil wir nur dann positive karmische Potenziale haben können, die stark genug sind, wenn wir sie durch das Unterlassen von schädlichem Verhalten bereits aufgebaut haben. Und dafür müssen wir vorher genügend starkes korrektes unterscheidendes Gewahrsein gehabt haben. Es ist ein furchtbarer Teufelskreis. Da also das unterscheidende Gewahrsein, das wir zum Aufbauen dieser positiven Kraft brauchen, nur während einer kostbaren menschlichen Wiedergeburt aufgebaut wird, wir die positive karmische Kraft benötigen, um eine kostbare menschliche Wiedergeburt zu erlangen und ständig unsere positive Kraft durch Wut und solche Dinge schwächen, ist das Entkommen aus Samsara wie der Versuch, einen Eimer mit Wasser zu füllen, der ein Loch hat. 

Genauso ist es, wenn wir einmal darüber nachdenken. Es müssen so viele positive Umstände zusammenkommen und sie sind nicht anfangslos. Die negativen Situationen entstehen aus anfangslosen Ursachen und die negativen Ursachen schwächen oder zerstören fortwährend die positiven, die wir aufgebaut haben. Das beschreibt Samsara ziemlich genau. Wir haben den Mechanismus, um positive Ursachen herbeizuführen, doch sie sind nicht da – es muss für sie ein ersten Mal geben. Und die negativen Ursachen waren schon immer da und sie schwächen ständig alle positiven, die wir aufbauen. Das ist so, als würde man versuchen, einen Eimer zu füllen, der ein Loch hat. 

Warum Erleuchtung möglich ist 

Dann fragen wir uns also: Nun, ist Erleuchtung überhaupt möglich? Und der Grund, warum sie überhaupt möglich ist, liegt darin, dass fehlerhaftes unterscheidendes Gewahrsein durch korrektes unterscheidendes Gewahrsein zerstört werden kann. Das Fehlerhafte kann durch das Korrekte besiegt werden. Das Korrekte kann nicht durch das Fehlerhafte besiegt werden, aber das Fehlerhafte kann durch das Korrekte besiegt werden. Mein korrektes Verständnis der Wirklichkeit wird durch Logik, durch Beweisführung, durch Erfahrung gestützt, weil es eine Auswirkung produziert. Wenn ich Realität, Leerheit usw. verstehe, bin ich in der Lage, Leiden, meine Leiden zu beseitigen. Im Gegensatz dazu wird fehlerhaftes Verständnis durch nichts gestützt und schafft umso mehr Leiden, desto mehr ich daran glaube. Und das korrekte Verständnis der Realität kann diese Verwirrung zerstören. Verwirrung kann nicht das korrekte Verständnis zerstören. 

Das korrekte Verständnis kann die Verwirrung zerstören, wenn wir den Geistesfaktor der festen Überzeugung (tib. mos-pa), Entschiedenheit, besitzen. Mann kann ihn in unserer Liste von 51 Geistesfaktoren finden, und man muss sie zur Hand haben, um mit ihnen zu arbeiten. Asanga gibt im Abhidharmasamuccaya eine sehr schöne Definition dazu: Die feste Überzeugung richtet sich auf eine Tatsache, die wir gültig als dieses und nicht jenes festgelegt haben. Ihre Funktion liegt darin, unseren Glauben, dass eine Tatsache wahr ist, so zu festigen, dass die Argumente oder Meinungen anderer uns nicht davon abbringen. 

Das ist ein ziemlich schwieriger Punkt. Wie wird man von etwas überzeugt? Was bedeutet es eigentlich, überzeugt zu sein? Es ist nicht leicht, das wirklich nachzuvollziehen. An welchem Punkt wäre ich wirklich überzeugt genug, damit es mein Verhalten beeinflusst, also überzeugt, dass mein Schreien mir langfristig und in der Zukunft nur noch mehr Unglück und Leid bringt? Ich mag mich vielleicht momentan besser fühlen, doch das ist keine langfristige Auswirkung. Es ist wirklich schwierig, oder? 

Manchmal verlegen wir etwas in unserem Haus und können es nicht finden – unsere Schlüssel oder etwas anderes – und wir suchen überall danach. Wie gelangen wir dann zu der Überzeugung, dass wir sie nicht irgendwo im Haus verlegt haben? Wir alle haben das schon mal erlebt, da bin ich mir sicher – ob es nun Schlüssel sind oder etwas anderes. Wir wollen nicht aufgeben: „Ich muss sie irgendwo verlegt haben. Ich bin mir sicher, dass ich sie nicht verloren habe“, und dann suchen wir weiter und weiter. Ist es nicht so? 

Da gibt es die Überzeugung, die feste Überzeugung, die ein Geistesfaktor ist. Das ist nicht so einfach. All diese Geistesfaktoren befinden sich gewissermaßen auf einer Skala – also stärker, schwächer und so weiter. Damit nun das korrekte Verständnis das fehlerhafte besiegen kann, müssen wir wirklich davon überzeugt sein, damit wir keine Zweifel mehr haben und nicht denken: „Vielleicht wäre es doch besser, dich anzuschreien.“ 

Gut, dann werden wir unsere Teepause haben. Was wir als nächstes analysieren werden, ist: Wenn diese zwei Gefühle – zu schreien oder nicht zu schreien – hochkommen und wir unentschlossen hin- und her schwanken (was eine Art der Wahrnehmung von beidem ist: soll ich dies oder jenes tun?), wie kommt es dann zu einer Entscheidung? Dafür gibt es zwei Wege: 

  • Die Vermutung: „Ich vermute, dass dies die bessere Handlungsweise ist. Ich verstehe es nicht wirklich, aber ich vermute, dass es so ist und werde nicht schreien.“
  • Oder wir haben gültige Wahrnehmung, die Schlussfolgerung: „Buddha ist eine gültige Quelle der Information. Es gibt keinen Grund, warum Buddha deswegen lügen würde und daher bin ich vollkommen überzeugt.“

Denn wir wissen ja nicht, was die langfristigen Auswirkungen sein werden. Wir haben einen begrenzten Geist. Versteht ihr? Es gibt also zwei Arten des Treffens der Entscheidung: zu vermuten, dass es richtig ist, oder wirklich überzeugt davon zu sein, dass der Buddha wusste, was er sagte. Denn in beiden Fällen erleben wir das Wählen als das Treffen einer Entscheidung: „Ich habe eine Entscheidung getroffen.“  So nehmen wir es wahr. „Ich habe entschieden. Ich habe die Entscheidung getroffen.“ Wie findet das nun statt? Das werden wir als nächstes analysieren.  

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