Analytische Meditation und stabilisierende Meditation über Mitgefühl

Unterschiede in der Ausrichtung der Energie in der analytischen und der stabilisierenden Meditation

Da seine Heiligkeit, der Dalai Lama außerordentlich profunde und hilfreiche Erklärungen dazu gegeben hat, möchte ich euch unbedingt die Unterschiede zwischen analytischer Meditation (also einer Methode des Vipashyana) und Shamatha (der formalen stabilisierenden Meditation) erläutern. Was ist der Unterschied zwischen einer – jeweils auf Mitgefühl ausgerichteten – Shamata- und Vipashyana-Meditation; zwischen einer analytischen und einer stabilisierenden Meditationspraxis? Und was ist der Unterschied im Hinblick auf Energie bzw. die Ausrichtung der Energie?

Es ist sehr wichtig, zu versuchen zur inneren Ruhe zu kommen, um so ausreichend Sensibilität für die eigene Energie zu entwickeln. Man muss keine tiefgründige Tantra-Meditation praktizieren; es geht hier nur darum, innerlich ruhig genug zu werden, um die Energie und ihren Fluss spüren.

Wenn wir die sogenannte analytische Meditation ausüben (ich ziehe es vor, „klar erkennende Meditation“ zu sagen), ist es nicht so, dass wir etwas analysieren. Vielmehr versuchen wir, etwas, das wir zuvor untersucht haben, in einer speziellen Art wahrzunehmen. Richtig? Wir gehen also im Denkprozess – z.B. bezüglich Mitgefühl – alle Begründungen und Motive durch, warum und wie wir Mitgefühl (Im Sinne von: „jeder Mensch war einmal meine Mutter“) entwickeln möchten. Und nun wollen wir diese klar erkennende Meditation praktizieren, um unsere Mitmenschen mit Mitgefühl wahrnehmen zu können.

Im Anfangsstadium müssen wir deshalb wohl alle notwendigen Stufen durchlaufen, um dieses Mitgefühl („jeder Mensch war einmal meine Mutter“ etc.) in uns zu wecken. Und dann möchten wir jedem mit diesem Erkennungsvermögen des Mitgefühls begegnen, sodass die Energie mit Mitgefühl nach außen auf andere gerichtet wird („Mögest du frei von Leid und den Ursachen des Leidens sein“).

Wie aber sollen wir nun nach der Entwicklung von Mitgefühl die stabilisierende Meditation praktizieren?  Genau hier kommt, wie Seine Heiligkeit der Dalai Lama erläutert, die Energie ins Spiel. Die Ausrichtung von Energie geht eher nach innen als nach außen. Dann empfinden wir zwar weiterhin Mitgefühl, aber die Energie geht nicht nach außen in Richtung der Objekte unseres Mitgefühls. Wir sind uns der Objekte unseres Mitgefühls bewusst – es ist nicht so, dass wir ihrer nicht mehr gewahr sind – aber die Energie fließt bei uns nach innen und wird subtiler. Wenn sie zu schwach wird, muss man dazu überwechseln, sie wieder mit dem klaren Erkennen nach außen zu richten. Das ist der entscheidende Prozess.

In all den fünfzig Jahren meines Dharma-Studiums habe ich noch nie eine Erklärung darüber gehört, was den Unterschied dieser beiden Aspekte der mitfühlenden Meditation ausmacht. Nun aber hat Seine Heiligkeit diesen Unterschied sehr klar erläutert.

Die Sensibilität bezüglich unserer Energie, d .h. wie und wohin sie fließt, ist eine Fähigkeit, die wir auch auf der Sutra-Ebene entwickeln können. Und bei der Kalachakra-Praxis wird es besonders deutlich, wie wichtig es ist, diese Sensibilität zu besitzen. Wie ich schon sagte, bedarf es dazu in erster Linie der inneren Beruhigung und der Aufmerksamkeit.

Ich habe es noch nicht ganz verstanden, was der Dalai Lama Ihnen über die nach innen bzw. nach außen gerichtete Energie erklärt hat. Könnten Sie dazu noch etwas mehr sagen?

Okay: Kann ich noch mehr darüber erzählen, was Seine Heiligkeit in einem öffentlichen Vortrag vor tausenden von Menschen – nicht nur mir persönlich - über den Unterschied der Energieausrichtung bei der klar erkennenden und der stabilisierenden Meditation erklärt hat? Sie müssen darauf achten, diese Dinge nicht einfach mit Vipashyana bzw. Samatha gleichzusetzen, denn im Tantra, speziell im Anuttarayoga-Tantra ist die Vorgehensweise ein bisschen anders. Deshalb ist es einfacher, mit den Begriffen „klar erkennende“, respektive „stabilisierende“ Meditation zu arbeiten.  

Klar erkennende Meditation über das Mitgefühl

Ich denke, im Hinblick auf Mitgefühl ist die Sache am einfachsten darzustellen. Wie meditiert man über Mitgefühl?

Wie ich schon sagte, müssen wir dabei zuerst in uns die Emotion des Mitgefühls hervorbringen und sie aufbauen, um über Mitgefühl zu meditieren. Es ist also in erster Linie eine Mahayana-Übung. Dabei stellen wir uns – statt nur einen begrenzten Kreis – die Gesamtheit aller fühlenden Geschöpfe vor. Das ist natürlich eine riesige Größe. Außerdem gibt es viele verschiedene Formen des Mitgefühls und viele verschiedene Methoden, es zu entwickeln.

Die Entwicklung von Gleichmut

Der grundlegendste Aspekt ist, sich in Gleichmut zu üben – das heißt, nicht hingezogen zu einigen wenigen und ohne andere abzulehnen oder zu ignorieren.

Die Erkenntnis, dass jeder einmal meine Mutter war

Auf dieser Basis können wir dann die Entwicklung fortsetzen in Form der Erkenntnis, dass jedes Wesen in irgendeinem Leben unsere Mutter war, oder in Form des Ausgleichens unserer Einstellung uns selbst und anderen gegenüber. Es gibt viele Methoden, die Emotion des Mitgefühls für alle zu entwickeln: das wahre Mahayana-Mitgefühl.

Die Erinnerung an die mütterliche Liebe und Güte

„Jeder andere Mensch war in einem meiner unzähligen früheren Leben einmal meine Mutter, die mir eine überwältigende Güte zukommen ließ." Auf der denkbar niedrigsten Stufe gedacht hat sie mich wenigstens nicht abgetrieben. Ganz egal wie schrecklich sie gewesen sein mag: Sie hat sich nicht für eine Abtreibung entschieden.

Sich erkenntlich für die mütterliche Liebe und Güte zeigen

Dieser Aspekt wird oft etwas missverstanden. Normalerweise wird er übersetzt als „Ich möchte die Güte meiner Mutter vergelten“. Es klingt, als ob man einen "emotionalen Kredit" zurückzahlen müsste, damit man keine schlechte Tochter oder ein böser Sohn ist. Dieses Denken impliziert das Gefühl einer Schuld, die wir durch unsere Zuwendung zu anderen ausgleichen möchten. Aber genau darum darf es uns auf keinen Fall gehen. Worte und ihre Konnotationen können sehr stark sein und uns unbewusst auf einen falschen Weg in unserer buddhistischen Praxis führen – einen neurotischen Weg. Was also sollte emotional entstehen, wenn wir daran denken, wie gütig andere zu uns waren? Es sollte das Gefühl der Dankbarkeit sein. Wir sind ihnen dankbar für das, was sie für uns getan haben.

Herzerwärmende Liebe

Was aus dieser Dankbarkeitshaltung folgt, ist eine unser Herz erwärmende Liebe – wir sind so dankbar, dass allein die Begegnung mit einem Anderen unser Herz aus Dankbarkeit für seine, an uns geübte Güte erwärmt und öffnet. Automatisch, so sagt man, entsteht dieses Gefühl herzerwärmender Liebe. Denn es macht Sinn. Wenn der Schritt zur herzerwärmenden Liebe darin bestünde, sich schuldig zu fühlen, falls man dem anderen nicht hilft – wie könnte man dann hell erfreut sein und wärmende Zuneigung empfinden, wenn man ihm begegnet? Viel eher würde man doch denken: „Oh Gott, muss ich jetzt dieser Person helfen? Na ja, ich mach´s besser, weil er halt mal nett zu mir war.“ 

Mitgefühl

Wenn wir aber innerlich wirklich dankbar für die Güte der Anderen sind, dann macht es uns natürlich glücklich, einem Mitmenschen zu begegnen. Freude leuchtet in uns auf, wir öffnen uns völlig und so entstehen Liebe und Mitgefühl ganz von selbst. Wir sehen, wenn unser Gegenüber leidet, und finden es schrecklich: „Mögest du frei von Leid und den Ursachen des Leidens sein", so spricht dann Mitgefühl aus unserem Herzen. Die eigentliche Abfolge ist die, dass wenn wir die herzerwärmende Liebe haben – diese Regung: „Oh, ich empfinde so eine starke und warme Zuneigung dir gegenüber" –, das zuerst entstehende Gefühl dasjenige der Liebe ist: „Ich wünsche dir liebend gerne, glücklich zu sein und Ursachen für dein Glück zu haben." Dann sehen wir jedoch auch: „Aber du leidest. Ich wünsche dir, von Leiden frei zu sein." Das ist die logische, am meisten gebräuchliche Abfolge. 

Sofortiges Hervorbringen von Mitgefühl durch Vertrautheit mit den einzelnen Schritten

Die erste Stufe der klar erkennenden Meditation – dann wenn wir noch nicht so sonderlich vertraut mit ihr sind – besteht darin, zielgerichtete emotionale Aufbauarbeit zu leisten. Wenn wir dann wirklich, wirklich vertraut mit der Vorgehensweise sind, müssen wir die Stufen nicht mehr einzeln durchgehen, wir können einfach nur das Gefühl hervorrufen. Es ist die vollständige Vertrautheit, die es uns ermöglicht, dahin zu kommen, dass wir unmittelbar das Gefühl hervorrufen.   

Die Richtung unserer Energie bei der klar erkennenden Meditation

Wenn wir uns auf Mitgefühl fokussieren, dann beinhaltet klares Erkennen, dass wir verschiedene Wesen betrachten oder sie uns vorstellen. Basierend auf dem indischen Meister Asanga erläutert Tsongkhapa – zwar im Kontext von Dankbarkeit, aber hier ebenso zutreffend – dass, wer immer es auch ist, auf den wir uns fokussieren, dieser nur Teil eines größeren Bildes ist. In anderen Worten: Mitgefühl ist hier Mahayana-Mitgefühl, weil es sich auf jeden bezieht – die Bandbreite unseres Mitgefühls schließt alle, jedes Wesen, ein. Dieses Wesen, auf das ich mein Mitgefühl richte, ist nur ein kleiner Teil eines viel größeren, nämlich alle umfassenden Bildes. Dessen müssen wir uns bewusst sein, um nicht den Blick auf das große Ganze aus den Augen zu verlieren. Was Asanga und Tsongkhapa hier ausgearbeitet haben, ist in der Tat überaus tiefgründig.

Und das Leiden, auf das wir uns mit dem Gedanken fokussieren „Mögest du frei von Leid und den Ursachen des Leides sein" – dieses Leiden ist wiederum nur ein Bruchteil des ganzen, alles und jeden umfassenden, Leidens. Deshalb ist es nur ein kleines Stückchen Leid, von dem wir einen anderen befreit sehen möchten. Wir verlieren also nicht den Blick auf das große Ganze und beschränken es nicht auf eine sehr begrenzte und profane Form von Mitgefühl.

Wenn wir also Mitgefühl in der alles umfassenden Art und Weise des Mahayana-Mitgefühls erweckt haben, dann ist unsere Energie – die entsprechende Sensibilität für Energie vorausgesetzt – offen für das ganze Universum. Und so fokussieren wir uns auf diesen kleinen Teil hier – wie ein Teleskop, das nur auf einen Bruchteil des Himmels gerichtet ist; aber auf einen Teil, der repräsentativ für das Ganze steht. Da gibt es nichts Besonderes an diesem kleinen Teil und daher keine Anhaftung, keine Ablehnung, keine Gleichgültigkeit. Unser Gegenüber ist nicht Spezielles. So etwas ist immer vorhanden. Und doch geht unsere Energie aus uns hinaus zu dieser Person: „Mögest du frei von Leid und den Ursachen des Leides sein" – aber in einem viel, viel größeren Rahmen. Dies ist die Methode des klaren Erkennens.

Die Richtung unserer Energie bei der stabilisierenden Meditation

Nun möchten wir das Erzielte stabilisieren. Und bei der stabilisierenden Meditation ist es weniger so, dass die Energie aus uns zu einer Person hinfließt. Es ist sehr, sehr schwierig, muss ich zugeben. Wirklich sehr schwer. Normalerweise beschreibe ich das so, dass die Energie nur irgendwie "einsinken" muss, aber das ist viel zu ungenau. Deshalb hat Seine Heiligkeit erklärt, dass die Energie nach innen fließt – sie bewegt sich also in mich hinein und nicht aus mir heraus.

Was bedeutet das also? Dies ist eine interessante Sache, die man bei der eigenen Meditation beobachten und untersuchen kann. Was kann es möglicherweise bedeuten? Die Energie wird quasi immer subtiler. Nicht dass wir dadurch das Bewusstsein für das große Ganze aus den Augen verlieren – wir sind noch immer auf einem Mahayana-Weg. Aber die Richtung der Energie zeigt weniger hin zum Objekt als hin zur Emotion, zum Mit-Gefühl (ohne dabei das Objekt aus den Augen zu verlieren). Es geht also um die Tatsache der Bewegung von Energie – und natürlich findet das alles im eigenen Geist statt. Bewegt sich die Energie hin zum Objekt, zu dem mentalen Hologramm; oder stabilisiert sie sich ohne große Bewegung und zurückgezogen vom Objekt?  

Das Wechseln zwischen den beiden Meditationsarten

An dieser Stelle wird es nun richtig kompliziert, aber in den Meditationstexten genau beschrieben. Wie beschrieben? Die Texte sagen, dass wenn die stabilisierende Meditation Anzeichen von Schwäche zeigt, man zur klar erkennenden Methode wechseln sollte. Wenn man also jenes Mitgefühl stabilisieren will, und die Energie sich in einem gewissen Sinn nach innen richtet und versucht ruhiger zu werden, also nicht so aktiv ... Der Unterschied dabei ist der zwischen aktiv und passiv. Diese Begriffe werden auch gebraucht. Ich sagte aktiv und passiv, aber der Begriff „passiv" ist nicht korrekt. „Passiv" impliziert, dass etwas mit dir geschieht. Sagen wir also lieber aktiv und nicht-aktiv. Im nicht-aktiven Zustand bewegt sich die Energie nicht so sehr. Dadurch tendiert die ursprüngliche Kraft der Emotion dazu, schwächer zu werden. Man fühlt dann die Emotion nicht so stark, weil man sie nicht auf ein Objekt richtet. Und wenn man dann an den Punkt kommt, an dem man kaum noch etwas fühlt, dann muss man die Energie aktiv „hinaus" in Richtung des mentalen Hologramms projizieren.

Frage

Können wir diese Arten von Meditation ausüben, während wir die Mantra-Praxis verfolgen? 

Nein, nicht wirklich. Man kann die klar erkennende Meditation mit einem Mantra ausüben, aber die Energie bewegt sich zu sehr mit dem Mantra, um die Stabilisierung mit dem Mantra zu erzielen. Ich spreche dabei nicht über weit fortgeschrittene Stufen, wie z. B. die isolierte Sprache (tib. ngag-dben) auf der Vollendungsstufe des Tantras, bei welcher man die Atmung und die Bewegung der Energie mit dem Mantra OM AH HUM vereint. Über diese Stufe spreche ich nicht. Ich denke eher an die grundlegende Rezitation von OM MANI PADME HUM z. B. während der Ausübung der Tonglen-Meditation. Abgeschiedene Sprache, bei der man Atmung, Energie und Mantra untrennbar macht, spielt sich auf einem ganz anderen Level ab.

Aber schaut euch die Tantra-Praxis an: Auf der Erzeugungs-Stufe rezitiert man das Mantra zusammen mit Visualisierungen – das Verlöschen der Lichter und Ähnlichem. Eine sehr aktive Praxis also. Ich meine damit: Auf der Erzeugungs-Stufe entwickelt man mehr die Empfindsamkeit in Bezug darauf, dass etwas hervorgebracht und ausgestrahlt wird (Energie fließt nach außen) und dann wieder resorbiert wird (Energie fließt nach innen). Ich denke, dass man mit dieser Praxis wohl eine höhere Empfindsamkeit für die Richtung der Energie bekommt, also nicht nur zur Ruhe kommt. Ich hatte das vergessen. Wenn man ausreichend mit dieser Methode praktiziert, wird man dafür sensibilisiert, wie die eigene Energie sich anfühlt.

Fazit

Tja, das also ist die Art und Weise, wie die klar erkennende und die stabilisierende Meditation über Mitgefühl praktiziert werden.

Natürlich kann Mitgefühl auch durch das Verständnis von Unbeständigkeit und Leerheit geweckt werden. Chandrakirti und andere Autoren beschreiben viele verschiedene Formen von Mitgefühl. Ich spreche hier nur von grundlegendem Verständnis, von der Basis. Chandrakirti spricht von drei verschiedenen Formen des Mitgefühls.

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