Buddha-Natur und die fünf Buddhaweisheiten

Was ist die Buddha-Natur? 

Das Thema dieses Seminars ist die fünf Buddhaweisheiten, die ich auch gern als die fünf Arten des tiefen Gewahrseins bezeichne. Ich finde den Begriff „fünf Arten der Weisheit“ nicht sehr zutreffend und hilfreich, denn jeder, auch der Wurm und die Kakerlake verfügen über diese Weisheiten. Es klingt schon etwas merkwürdig zu behaupten, die Kakerlake hätte fünf Arten der Weisheit. Unser Thema, diese fünf Arten des tiefen Gewahrseins, ist im Grunde ein Teil der allgemeinen Thematik der Buddha-Natur.

Was verstehen wir unter der Buddha-Natur? In der Regel beziehen wir uns hiermit auf jene Faktoren, die jedem von uns die Möglichkeit geben, ein Buddha zu werden. Genauer gesagt können wir durch sie die verschiedenen Arten von Erleuchtungskörpern oder Körpern eines Buddha erlangen. Es gäbe viel zu sagen über die Körper eines Buddha und die zahlreichen verschiedenen Arten von Faktoren der Buddha-Natur, durch die wir sie erlangen können, aber darum geht es in unserem Seminar nicht.

Beginnen wir mit einem allgemeinen Überblick über die Buddha-Natur. Jeder hat die Fähigkeiten von Körper, Rede und Geist. Wir haben einen Körper, der uns erlaubt, Dinge zu tun. Die Koralle, die gewissermaßen eine Art Meerestier ist, kann nicht wirklich viel mit ihrem Körper tun, aber zumindest kann sie Nahrung aufnehmen. Uns steht die Fähigkeit des Redens zur Verfügung; und auch wenn wir stumm sind und keine Klänge hervorbringen können, bezieht sich die Rede auf die Fähigkeit, die es uns erlaubt, mit anderen auf gewisse Weise zu kommunizieren.

Außerdem haben wir eine Art von Geist: wir alle haben die Fähigkeit, Dinge zu verstehen und sie emotional zu empfinden. Jedes Insekt hat beispielsweise Angst. Hält man den Finger vor eine Ameise, wird sie in die andere Richtung laufen. Es ist ganz offensichtlich, dass sie Angst vor einer potenziellen Gefahr hat und versteht, dass sich etwas Bedrohliches im Weg befindet. Wir können somit erkennen, dass wir alle über Körper, Rede und Geist verfügen, auch wenn diese diversen Fähigkeiten nicht sehr hoch entwickelt sein mögen.

Da sich die Fähigkeit von Körper, Rede und Geist, über die wir verfügen, auf einer gewissen Ebene befindet, können wir sie weiter entwickeln und wenn wir die höchste Stufe dieser Entwicklung erreichen, werden wir den Körper, die Rede und den Geist eines Buddhas haben. Schließlich hat auch ein Buddha einen Körper, eine Rede und einen Geist.

Ganz allgemein gesagt ist es das, worum es geht, wenn wir über die Buddha-Natur reden. Dinge, wie die Fähigkeiten von Körper, Rede und Geist, die wir alle haben, befähigen uns die verschiedenen Merkmale eines Buddha zu entwickeln. Obwohl die Buddha-Natur nichts mit der Natur zu tun hat, wird dieser Begriff in unseren westlichen Sprachen benutzt.

Nehmt euch etwas Zeit, um dies einwirken zu lassen und ein Verständnis davon zu bekommen, was wir unter diesen Faktoren der Buddha-Natur verstehen.

[Reflexion]

Was ist der Geist? 

Innerhalb des Geistes, als einem dieser Faktoren der Buddha-Natur, gibt es viele Untergruppen. Hier gilt es zu beachten, dass wir nicht über eine Art physisches Objekt oder gar eine nicht-materielle Sache in unserem Kopf reden. Ist die Rede von unserem Geist, geht es um geistige Aktivität. Im Allgemeinen bezieht sich das auf die individuelle subjektive Erfahrung von etwas. Sie ist also sehr individuell und jeder hat seine oder ihre individuelle geistige Aktivität.

Sehe ich mir beispielsweise einen Film an, ist es nicht das gleiche, als wenn du ihn dir ansiehst. Es ist subjektiv, denn woran ich mich erfreue ist nicht unbedingt das, woran du dich erfreust. Es geht lediglich um die Erfahrung von etwas. Zum Beispiel können wir die Erfahrung machen, dieses Objekt auf dem Tisch zu sehen, ohne zu wissen, was es ist. Es nicht zu kennen ist auch eine Art der Erfahrung. Hier geht es ganz allgemein darum, etwas zu erfahren. Wir könnten uns natürlich auch mit der eigentlichen fachlichen Definition des Geistes beschäftigen, aber auch darum geht es in diesem Seminar nicht.

Was ist tiefes Gewahrsein? 

Wie erfahren wir eigentlich Objekte? In welcher grundlegenden Wirkungsweise oder Struktur erfahren wir Dinge? Wir können diese Struktur im Sinne von fünf Arten des tiefen Gewahrseins beschreiben. Gewahrsein ist ein ziemlich weitreichender Begriff, der sich darauf bezieht, etwas zu erfahren. Dabei geht es nicht zwangsläufig darum zu wissen oder zu verstehen, was etwas ist. Untersuchen wir beispielsweise die Arten des Verstehens, könnten wir uns bewusst sein etwas zu verstehen oder auch nicht. Wie ihr sehen könnt, handelt es sich um eine sehr breite Kategorie.

Auf jeden Fall gibt es diese verschiedenen Weisen sich etwas gewahr zu sein oder etwas zu erfahren. Das Wort „tief“ wird dem Sanskrit-Begriff in der tibetischen Übersetzung hinzugefügt, um darauf hinzudeuten, dass es um etwas Fundamentales geht. Manche Menschen übersetzen das Wort mit „ursprünglich“. Wie dem auch sei, die Bedeutung ist, dass diese fünf Arten des Gewahrseins all den verschiedenen Arten des Wahrnehmens oder Erkennens von Dingen zugrunde liegen und anfangslos existieren. Anfangslose geistige Aktivität oder ein anfangsloses geistiges Kontinuum bedeutet, dass sie immer da waren. Das ist die eigentliche Bedeutung des Wortes „tief“; wir alle haben diese Arten des tiefen Gewahrseins.

Grundlage, Pfad und Ergebnis 

Die Buddha-Natur wird stets im Sinne von drei Ebenen erörtert. Die grundlegende Ebene ist die, über die wir alle momentan verfügen. Diese erste Ebene liefert uns die Arbeitsgrundlage dafür, ein Buddha zu werden. Es ist nicht notwendig außerhalb danach zu suchen, denn alle, auch Insekten und Würmer, haben diese Voraussetzungen in sich. Das Erkennen der grundlegenden Ebene dieser Faktoren sollte uns ermutigen, denn wir sehen, dass uns die Arbeitsgrundlage tatsächlich zur Verfügung steht, wir Zugang zu ihr haben und sie nutzen können.

Die zweite Ebene ist die so genannte Ebene des Pfades, auf der wir diese Faktoren als Pfad nutzen, der uns zur Befreiung und Erleuchtung führen wird. Diese Ebene ist sehr umfangreich, denn sie umfasst all die verschiedenen Stadien der Entwicklung, von unserer momentanen Stufe bis hin zur Buddhaschaft. Die Stufen des Pfadgeistes beschreiben im Grunde einen Lauf der Evolution. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine natürliche Evolution und sie hat auch nichts mit der Darwin-Theorie der natürlichen Auslese zu tun. Vielmehr müssen wir selbst an diesem Pfadgeist arbeiten, um immer höhere Phasen der Evolution zu durchlaufen.

Schließlich bezieht sich dann die dritte Ebene auf das Ergebnis dieses Prozesses unserer eigenen Evolution: das Erreichen der Ebene eines Buddhas.

Betrachten wir daher die verschiedenen Weisen, sich etwas gewahr zu sein – diese fünf Arten des tiefen Gewahrseins – sind wir uns bewusst, dass sie eine Grundlage, einen Pfad und ein Ergebnis haben. Wenn von diesen fünf Arten des tiefen Gewahrseins die Rede ist, sollten wir außerdem verstehen, dass wir stets über alle fünf verfügen und sie miteinander verbunden sind. Es ist nicht so, dass wir nur eine oder zwei davon haben.

Lasst uns nun einen groben Blick auf die grundlegende Ebene dieser fünf werfen und sie dann später etwas genauer betrachten. Zunächst beginnen wir zu versuchen, sie in uns selbst zu erkennen. Wir sollten daran denken, dass wir auf dieser Ebene eine Weise des Erlebens von Dingen suchen, die wir mit allen gemein haben. Hierbei geht es nicht um etwas sehr Anspruchsvolles, sondern vielmehr um ganz grundlegende Aspekte.

Die grundlegende Ebene des tiefen Gewahrseins, das wie ein Spiegel ist 

Die erste dieser fünf Arten des tiefen Gewahrseins nennt man tiefes Gewahrsein, das wie ein Spiegel ist. Das Wort „Spiegel“ ist hier eine ganz allgemeine Analogie und sollte keineswegs wörtlich genommen werden. Viel besser wäre es sich eine „Kamera“ vorzustellen, mit der wir Informationen aufnehmen. Bei der Analogie des Spiegels geht es also nicht darum ein Bild zu reflektieren, sondern Informationen aufzunehmen. Auch beziehen wir uns nicht nur auf visuelle Informationen, sondern auf Informationen aller fünf Sinne, sowie des geistigen Bereiches.

Wir nehmen Informationen im Sinne von Form, Klang, Geruch, Geschmack und körperlicher Empfindung auf und im geistigen Bereich handelt es sich um Emotionen und darum, was wir fühlen, denken und ähnliches.

Die erste Art des tiefen Gewahrseins ist einer unserer Faktoren der Buddha-Natur, etwas, das wir alle haben, den Wurm mit einbezogen. Auch der Wurm nimmt Informationen auf, oder nicht? Um kriechen zu können, muss er die Information aufnehmen, was sich vor ihm befindet. Spiegelgleiches tiefes Gewahrsein ist etwas, mit dem wir arbeiten und eine Fähigkeit, die wir weiterentwickeln können. Das ist eine ganz grundlegende Fähigkeit dessen, wie unser Geist funktioniert. Um etwas erfahren zu können, muss man zunächst bestimmte Informationen aufnehmen. Unser Geist tut das und dies eine Weisheit zu nennen klingt schon etwas merkwürdig.

Die grundlegende Ebene des gleichsetzenden tiefen Gewahrseins 

Die zweite Art des tiefen Gewahrseins nennt man gleichsetzendes tiefes Gewahrsein und dabei handelt es sich um die Fähigkeit, Informationen zusammenzufügen. Wir nehmen Informationen auf und um sie verstehen zu können, müssen wir sie im Kontext ähnlicher Informationen, vielleicht etwas vorher Erlebten, betrachten. Mit anderen Worten müssen wir sie einer Kategorie oder einem Muster zuordnen, um verstehen zu können, worum es sich handelt.

Zum Beispiel sehen wir ein Objekt, nehmen die Information des Objektes auf und ordnen es anderen Objekten zu, die ähnlich aussehen. Wir setzen es mit anderen ähnlichen Objekten gleich, um verstehen zu können, dass es sich beispielsweise um einen Tisch handelt. Wenn wir dies nicht tun würden, könnten wir nie wissen, was etwas ist. Außerdem tun wir es automatisch und auch der Wurm tut das. Wie kann ein Wurm wissen, dass es sich bei dem, was er sieht, um Nahrung handelt, wenn er es nicht anderen ähnlichen Dingen, ähnlicher Nahrung, zuordnet? Das ist ein ganz grundlegender Vorgang. Wir ordnen lediglich Dinge einander zu, die zusammenpassen.

Wenn wir die Information auf der grundlegenden Ebene aufnehmen, müssen wir nicht wissen, was die Information bedeutet – das tun wir mit einer anderen Art des tiefen Gewahrseins, der fünften, über die wir gleich reden werden. Und so müssen wir auch mit dem gleichsetzenden tiefen Gewahrsein nicht wissen, in welcher Weise sich Dinge ähneln oder was die Kategorie bedeutet, in die sie passen usw. – darum geht es in der fünften Art des tiefen Gewahrseins. Dieses tiefe Gewahrsein bezieht sich hier jedoch lediglich auf die ganz grundlegende Aktivität, Dinge zusammenzufügen.

Was ich beschrieben habe, ist eine ganz fundamentale Art der geistigen Aktivität, die stattfindet, wenn wir etwas erfahren. Sie ist nicht bewusst, sondern geschieht automatisch. Wenn wir ein Objekt sehen, lassen wir nicht in unserem Geist eine Tabelle mit allen Möglichkeiten erscheinen, die zutreffen könnten und wählen dann die Kategorie aus, der wir sie zuordnen. Es ist schon erstaunlich, dass es tatsächlich automatisch passiert; wir werden uns jedoch nicht mit der Physiologie des ganzen beschäftigen, denn ich habe wirklich keine Vorstellung davon, wie es auf einer physiologischen Ebene funktioniert.

Um noch etwas genauer auf das gleichsetzende tiefe Gewahrsein einzugehen: wir reden hier nicht von einem Gewahrsein der Gleichheit, als gäbe es da eine Gleichheit als eine solide Sache, die wir kennen. Darum geht es nicht. Vielmehr handelt es sich um eine Aktivität des Zusammenfügens und Gleichsetzens von Dingen. Diese zwei Arten des Gewahrseins sind ziemlich unterschiedlich. Die meisten von uns haben wahrscheinlich nicht Philosophie oder Metaphysik studiert und so haben wir kein Gefühl für diese Arten der Unterscheidung. Werden sie uns jedoch erst einmal erklärt, sind diese Unterschiede nicht so schwer zu verstehen und sie sind ausgesprochen wichtig, da sie uns helfen Dinge genauer zu verstehen.

Unser Geist ist äußerst kompliziert und seine Funktionsweise ist überaus komplex. Wollen wir beispielsweise eine altmodische mechanische Uhr reparieren, die aus zahlreichen winzigen und beweglichen Teilchen besteht, ist es zunächst erforderlich alles genaustens zu kennen, um herausfinden zu können wo das Problem liegt und zu wissen, wie man es beheben kann. Unsere geistige Aktivität, unser Geist, ist ähnlich. Aber der Geist ist keine Maschine. Reden wir im Buddhismus vom Geist, geht es um eine geistige Aktivität, die äußerst komplex und anspruchsvoll ist. Es ist notwendig sie genaustens zu verstehen, um sie zu korrigieren, was unser Ziel im Buddhismus ist. Funktioniert unsere geistige Aktivität nicht so gut, führt das zu erheblichen Problemen.

Die grundlegende Ebene des individualisierenden tiefen Gewahrseins 

Die dritte Art des tiefen Gewahrseins, das individualisierende tiefe Gewahrsein, ist die Art des Gewahrseins, das eine Sache von allen anderen abhebt. Es ist nicht so, dass man dadurch die Individualität von etwas kennt, aber man individualisiert die gleichgesetzte Information, die aufgenommen wurde. Unsere geistige Aktivität nimmt die Information all dieser farbigen Formen auf, die wir vor uns sehen und setzt manche davon mit anderen gleich. Einen Teil der visuellen Information wird einer Kategorie zugeordnet, den man dann beispielsweise mit der fünften Art des tiefen Gewahrseins als die Kategorie Frauen identifiziert. Mit dem gleichsetzenden tiefen Gewahrsein sind wir uns jedoch lediglich bewusst, dass diese farbigen Formen und Pixel zu einer Kategorie gehören. Wir setzen bestimmte Information gleich und fügen sie einer Gruppe zu.

Innerhalb dieser Gruppe kann unsere geistige Aktivität dann eine Sache herausheben. Diese Fähigkeit erlaubt es uns, ein Mitglied der Kategorie als verschieden von den anderen festzulegen. Im Fall der Kategorie Frauen ist es wiederum die fünfte Art des tiefen Gewahrseins, durch die wir wissen, um wen es sich handelt, also um Gabi und nicht um Alice. Wie gesagt sind diese fünf Arten des tiefen Gewahrseins miteinander verbunden und wirken gleichzeitig. Innerhalb des Netzwerkes wird durch dieses bestimmte tiefe Gewahrsein ein Mitglied innerhalb einer Gruppe herausgehoben.

Da gibt es diesen fantastischen Dokumentarfilm über das Leben von Pinguinen in der Antarktis, in dem sich die männlichen Partner zum Ozean aufmachen, um dort Fisch zu fressen und nach einer Weile wieder zurückzukehren. Die etwa einhunderttausend Pinguine in dieser Gruppe sehen für uns völlig identisch aus, jedoch nicht für einen Pinguin. Jedes dieser Männchen kann innerhalb dieser Gruppe seinen Partner finden und identifizieren. Das ist ziemlich bemerkenswert. Diese Fähigkeit ist ein Beispiel für individualisierendes tiefes Gewahrsein.

Im Grunde ist dies bei Menschen ebenso erstaunlich, denn wir können den Unterschied zwischen verschiedenen Menschen ziemlich leicht feststellen; kommen wir jedoch nach einer Weile wieder zurück und wollen unseren Partner in einer Ansammlung von hunderttausend Menschen wiederfinden, würden wir dafür unser individualisierendes Gewahrsein benötigen.

Natürlich funktionieren das individualisierende tiefe Gewahrsein und das gleichsetzende tiefe Gewahrsein nicht nur mit visueller Information, sondern auch mit dem Klang von Stimmen. Der Hund benutzt beispielsweise seinen Sinn des Geruches und wir schmecken Dinge, wie eine Frucht, und nehmen diese Information auf. Wir setzen sie mit einem anderen ähnlichen Geschmack, den wir kennen, gleich, damit wir mit dem fünften tiefen Gewahrsein wissen, dass es eine Papaya ist. Wir können ihn individualisieren, um dann wieder mit dem fünften tiefen Gewahrseins zu erkennen, dass die Papaya nicht wirklich reif ist. Das ist nichts wirklich Weltbewegendes; es geht ganz einfach darum, wie der Geist funktioniert.

Die grundlegende Ebene des vollbringenden tiefen Gewahrseins 

Die vierte Art des tiefen Gewahrseins bezeichnet man als vollbringendes tiefes Gewahrsein. Es ist das Gewahrsein, mit dem wir etwas vollbringen oder etwas mit einem Objekt tun können. Vielleicht nimmt meine geistige Aktivität die visuelle Information dieses Objektes auf dem Tisch auf und setzt es mit anderen ähnlichen Objekten, die ich früher wahrgenommen habe, gleich. Auf dieser Grundlage werden wir dann mit dem fünften tiefen Gewahrsein wissen, dass es sich um ein Glas Wasser handelt. Als nächstes bin ich mir mit dem individualisierenden Gewahrsein bewusst darüber. Auf der Basis dieses Gewahrseins individualisiere ich dieses Glas und weiß wiederum mit dem fünften tiefen Gewahrsein, dass es mein Glas Wasser ist und nicht das meines Übersetzers. Des Weiteren ist das vollbringende tiefe Gewahrsein das Gewahrsein, mit dem wir uns mit diesem Objekt auseinandersetzen oder etwas mit ihm tun. Mit dem fünften Gewahrsein wissen wir dann wieder, was man mit dem Objekt machen kann. Das vollbringende tiefe Gewahrsein ist hier lediglich das Gewahrsein, das sich damit auseinandersetzt und mit dem fünften tiefen Gewahrsein würden wir dann in diesem Beispiel wissen, dass wir es hochheben und an unseren Mund führen können, um es ein wenig zu kippen und Wasser daraus zu trinken. Bevor wir das tun, muss es jedoch ein Gewahrsein geben, mit dem wir uns mit dem Objekt auseinandersetzen, um etwas mit ihm tun zu können.

Genauer gesagt ist das vollbringende tiefe Gewahrsein das Gewahrsein, mit dem unsere Energie sich einem Objekt zuwendet, damit wir etwas damit tun, auch wenn dieses Tun einfach nur darin besteht, es alleinzulassen. Diese Art des tiefen Gewahrseins ist auch etwas sehr Grundlegendes, das jeder besitzt, auch ein Wurm. Der Wurm könnte ohne dieses Gewahrsein nichts fressen, denn er wüsste nicht, was er mit dem Objekt, das er sieht, tun soll.

Die grundlegende Ebene des tiefen Gewahrseins der Realitätssphäre 

Die fünfte Art des tiefen Gewahrseins wird fachlich als tiefes Gewahrsein der Realitätssphäre, Dharmadhatu in Sanskrit, bezeichnet. Um es zu vereinfachen werden wir es als tiefes Gewahrsein der Realität oder tiefes Gewahrsein der Wirklichkeit bezeichnen. Diese Art des tiefen Gewahrseins besteht aus mehreren Ebenen. Die grundlegendste Ebene ist das Gewahrsein der konventionellen Realität von Dingen. Es arbeitet stets zusammen mit den anderen vier Arten des tiefen Gewahrseins.

Wir nehmen Informationen mit dem spiegelgleichen tiefen Gewahrsein auf und mit diesem tiefen Gewahrseins der Realität wissen wir, um was für Informationen es sich handelt. In Bezug auf den Wurm muss es dafür kein Wort geben; er würde gewissermaßen einfach nur wissen, dass es ein visuelles Objekt ist. Auf diese allgemeine Weise nehmen wir Informationen auf und wissen, dass es sich um ein visuelles Objekt, einen Klang, einen Geruch oder einen Geschmack handelt.  

Betrachten wir es am Beispiel eines Computers, der nur Nullen und Einsen kennt, so muss es auch hier eine Funktion geben, durch welche die Nullen und Einsen zu einem Bild, einem Klang oder etwas anderes werden. In unserem Gehirn verhält es sich ebenso. Elektrische Impulse werden aufgenommen und somit wissen wir, dass etwas eine visuelle Information, ein Klang, ein Geruch oder ein Geschmack ist. Hier geht es lediglich um das Zusammenspiel des tiefen Gewahrseins der Realität mit dem spiegelgleichen tiefen Gewahrsein, durch das wir wissen, was eine aufgenommene Information ist, wie zum Beispiel ein Klang.

Mit dem gleichsetzenden tiefen Gewahrsein fügen wir diese Information beispielsweise mit anderen Klängen zusammen. Durch das tiefe Gewahrsein der Realität wissen wir in diesem Zusammenhang, dass es der Klang einer Stimme ist und mit dem individualisierenden tiefen Gewahrsein in Verbindung mit dem tiefen Gewahrsein der Realität würden wir uns dann bewusst darüber sein, dass es sich nicht um irgendeine Stimme, sondern um die unserer Mutter handelt. Mit dem vollbringenden tiefen Gewahrsein könnten wir uns mit diesem Klang auseinandersetzen und in Beziehung treten. Mit dem tiefen Gewahrsein der Realität würden wir wissen, wie wir damit umgehen und was zu tun ist; in dieser Situation ginge es dann darum, etwas zu sagen und auf die Stimme unserer Mutter zu erwidern.

Es ist schon erstaunlich, dass unser Gehirn all diese Dinge tun kann. Aber wie ich bereits erwähnte, geht die eigentliche physiologische Wirkungsweise der Gehirnfunktion über meine Kenntnisse hinaus. Im Buddhismus geht es jedoch um den Geist und durch die geistige Aktivität wird all dies ausgeführt. Das ist aber etwas recht Grundlegendes und an dieser Fähigkeit des Geistes ist nichts außergewöhnlich.

Nehmt euch einen Moment Zeit, um über die Bedeutung des tiefen Gewahrseins der Realität nachzudenken.

[Reflexion]

Wie schon gesagt, gibt es beim tiefen Gewahrsein der Realität zahlreiche Ebenen. Auf der einfachsten Ebene sind wir uns bewusst, was etwas ist und auf der tieferen Ebene wissen wir, wie etwas existiert. Das tiefgründigste Verständnis wäre dann das tiefe Gewahrsein der Leerheit oder Leere von etwas. Natürlich haben die meisten von uns das im Moment nicht und auch der Wurm verfügt gewiss nicht darüber. Wir könnten allerdings über einfachere Ebenen des tiefen Gewahrseins der Realität von Dingen verfügen.

Vielleicht haben wir das tiefe Gewahrsein der Realität, dass Dinge sich ändern. Manchmal denken wir, dass sich unser gutes Aussehen und solche Dinge nie ändern werden, aber darum geht es hier nicht. Beispielsweise könnten wir uns einfach der Realität bewusst sein, dass Dinge sich ändern, wenn wir uns mit jemandem unterhalten. Würden wir nicht mitbekommen, dass jemand etwas anderes sagt, sich die Stimmung oder Dinge im Austausch mit jemandem ändern, wären wir nicht wirklich in der Lage, eine Konversation mit jemandem zu führen, nicht wahr? Die Realität des Sich-Änderns von Dingen zu kennen, ist von großer Wichtigkeit für unsere grundlegenden sozialen Fertigkeiten im gesunden Umgang mit anderen. Pläne und viele andere Dinge ändern sich und all das ist Teil der Realitätssphäre, des tiefen Gewahrseins der Realität.

Denkt einen Moment darüber nach. Jemand sagt etwas und zwei Minuten später sagt er etwas anderes. Nehmen wir diese Information auf, wissen wir, dass er seine Meinung über etwas geändert hat. Wie können wir wissen, dass er seine Meinung geändert hat? Es geschieht durch diese Art des tiefen Gewahrseins der Realität. Ansonsten wäre die Information, die wir hören, zusammenhanglos.  

[Reflexion]

Zusammenfassung 

Dies sind die fünf Arten des tiefen Gewahrseins. Sie sind die Voraussetzung, die wir alle haben, um Buddhaschaft zu erlangen und das Ergebnis dieser fünf Arten des tiefen Gewahrseins zu entwickeln, über das ein Buddha verfügt. Sie sind Aspekte unserer Buddha-Natur. Es ist jedoch auch notwendig zu erkennen, dass die fünf Arten des tiefen Gewahrseins, die wir im Moment auf der grundlegenden Ebene haben, begrenzt sind. Wir benötigen einen Praxispfad, um sie weiter und mit weniger Begrenzungen entwickeln zu können. Außerdem ist es notwendig, das Ergebnis dessen zu verstehen, also wie diese fünf bei einem Buddha wirken, wenn sie unbegrenzt sind. Sind wir uns all dessen bewusst, werden wir wirklich verstehen, was wir in unserer buddhistischen Praxis tun.

Im Laufe dieses Seminars werden wir unsere gegenwärtigen Grenzen innerhalb dieser fünf Arten des tiefen Gewahrseins erforschen und ein paar Übungen lernen, die uns helfen werden, sie immer weiter zu entwickeln. Im Wesentlichen wollen wir begreifen worauf wir hinarbeiten, nämlich auf die höchste für uns erreichbare Stufe der Evolution.

Fragen 

Es ist klar, dass die ersten zwei Arten des tiefen Gewahrseins mit allen sechs Sinnesbereichen arbeiten. Wie sieht es jedoch mit dem individualisierenden und dem vollbringenden tiefen Gewahrsein aus? Wirken sie nur auf der Sinnesebene (und nicht auf der geistigen)?

Das individualisierende tiefe Gewahrsein ist durchaus in der Lage, auf der geistigen Ebene tätig zu sein. Wir nehmen zum Beispiel eine Information hinsichtlich unseres Gemütszustandes auf und vergleichen ihn mit anderen Informationen. In diesem Zusammenhang wären wir uns dann der Realität bewusst, uns in einer bedrückten oder deprimierten Stimmung zu befinden. Indem wir es individualisieren, hätten wir eine Vorstellung davon, dass nicht jeder Augenblick der Betrübtheit oder Traurigkeit, den wir empfinden, genau gleich ist und wir uns im Moment nur in diesem einen Zustand befinden. Mit dem vollbringenden tiefen Gewahrsein sind wir dann in der Lage, uns mit diesem individuellen Moment der Traurigkeit, den wir gerade erfahren, auseinanderzusetzen und mit dem tiefen Gewahrsein der Realität wissen wir, dass er nicht einfach so, sondern aus bestimmten Ursachen und Bedingungen hervorgegangen ist. Mit dem tiefen Gewahrsein der Realität wären wir uns auch bewusst darüber, wie wir mit dieser bestimmten Traurigkeit oder Bedrücktheit umgehen müssen. Wäre unser individualisierendes Gewahrsein nicht sonderlich gut entwickelt, würden wir vielleicht jedes Mal, wenn wir traurig sind, das gleiche Mittel oder die gleiche Lösung anwenden.

Hier ein anderes Beispiel: Nehmen wir einmal an wir haben Hunger. Wenn wir hungrig sind, essen wir vielleicht immer das gleiche; aber weil wir das Gefühl individualisieren, wissen wir, dass wir in diesem Moment gern eine bestimmte Art von Nahrung zu uns nehmen würden. Wir gehen mit unserem Hungergefühl auf individuelle Weise um.

Wenn wir seit anfangsloser Zeit existieren, hatten wir auch die Möglichkeit alles zu erleben. Gewissermaßen wäre dann nichts vollkommen neu für uns, denn es gäbe immer die Möglichkeit, es mit einer vorangegangenen Erfahrung gleichzusetzen. Ist das so?

Oberflächlich mag das so aussehen, aber das würde den Menschen nicht erlauben, andere und neue Dinge zu tun. In jeder Unterhaltung ist es so, dass wir vielleicht die Worte schon einmal gehört haben, aber genau die gleichen Sätze in exakt derselben Formulierung zu hören, wie zu einem früheren Zeitpunkt, das scheint doch eher unwahrscheinlich, sogar wenn wir es vom Standpunkt der unendlichen Zeit betrachten. Wenn wir zum Beispiel einen Computer benutzen, bedeutet das dann, dass wir irgendwann in der Vergangenheit in einem anderen Universum schon einmal einen Computer benutzt haben müssen? Das bin ich mir nicht so sicher.

Im Allgemeinen könnten wir sagen, dass wir bereits alles erlebt haben. In den Lehren wird ganz deutlich erklärt, dass jeder schon einmal unsere Mutter gewesen ist und wir schon die Mutter von allen anderen waren. Wir waren auch Könige, Königinnen und haben schon jede Lebensform angenommen. Generell kann man das sagen, aber ich weiß nicht, ob das auch für ganz spezifische Dinge zutrifft. Beispielsweise haben wir noch die erfahren wie es ist, ein Buddha zu sein. Das ist ein gutes Beispiel. Es gibt auch Dinge, die wir neu erfahren können, wie das Entwickeln von Bodhichitta und dies erstmals nie wieder aufzugeben.

Habe ich das richtig verstanden, dass das gleichsetzende tiefe Gewahrsein etwas Automatisches und kein geistiger Vorgang des Zuordnens ist?

Das gleichsetzende tiefe Gewahrsein ist der Vorgang des Klassifizierens und Zuordnens von Dingen, doch nur durch das tiefe Gewahrsein der Realität können wir wissen, um welche Kategorie und welche Zuordnung es sich handelt. Durch das gleichsetzende tiefe Gewahrsein stellen wir Dinge in Gruppen zusammen; aber dieses Gewahrsein wirkt nicht einzig und allein als Grundlage für die konzeptuelle Wahrnehmung. Es kann auch die Grundlage für nichtkonzeptuelle Wahrnehmung sein. Zum Beispiel können wir ebenbürtige Liebe gegenüber allen haben. Daher ordnen wir manchmal Dinge mit dem gleichsetzenden tiefen Gewahrsein Kategorien und Klassifizierungen zu und in anderen Fällen nicht. Wollen wir beispielsweise ebenbürtige Liebe oder ebenbürtiges Mitgefühl gegenüber allen haben, müssen wir zunächst alle zusammen einer ebenbürtigen Gruppe zuweisen. Diese Gruppe ist die Kategorie von Wesen, die glücklich und nicht unglücklich sein wollen. Ein Stein würde zum Beispiel nicht in diese Kategorie passen. Wir könnten den Stein und eine Person jedoch zusammen einer anderen Kategorie zuordnen, wie der Kategorie „Dinge, an denen wir uns im Dunkeln den Fuß stoßen können“.

So wie ich die Erklärung der fünf Arten des tiefen Gewahrseins verstehe, scheint es, dass auch ein guter Computer diese fünf Aktivitäten ausführen kann. Da gibt es zum Beispiel Schachcomputer, die Informationen aufnehmen können, jede einzelne Figur auf dem Schachbrett individualisieren und dann entscheiden können, was zu tun ist. Kann denn auch eine Maschine diese fünf Arten des tiefen Gewahrseins besitzen? Das wäre ja ganz unglaublich!

Um dein Dilemma zu lösen, müssen wir nochmals einen Blick auf die Definition des Erfahrens von Dingen werfen. Was die fünf Aggregate betrifft, gibt es das Aggregat der Empfindung eines Grades an Glücklichsein oder Unglücklichsein. Es wird als der Geistesfaktor definiert, mit dem wir die Resultate unseres Karmas erleben. Aus diesem Grund bedeutet das Erfahren von Dingen, zusammen mit diesen fünf Arten des tiefen Gewahrseins einen Grad an Glücklichsein oder Unglücklichsein zu empfinden. Der Computer mag in der Lage sein, die Funktionen der fünf Arten des tiefen Gewahrseins zu erfüllen, aber er ist nicht glücklich, wenn er das Spiel gewinnt, oder traurig, wenn er verliert. In diesem Sinne verfügt er nicht über geistige Aktivität, wie sie im Buddhismus definiert wird, sondern über computerbasierte Aktivität.

Sehen wir uns das an meinem Lieblingsbeispiel, dem Film „Star Trek“ an, wo es den Androiden namens Data gibt. Hier wird es ganz raffiniert dargestellt, denn Data tut all die Dinge, die man ihm sagt, aber er hat keine Gefühle. Er kann nicht glücklich oder unglücklich sein. Er ist nur eine Maschine und als eine Maschine wünscht er sich, ein Mensch zu sein. Das ist der wesentliche Unterschied zwischen einer Maschine und einem Lebewesen. Lebewesen erfahren Dinge mit einem Gefühl des Glücks oder Leids, während Maschinen dies nicht tun.

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