Das buddhistische Vorstellung von dem Selbst und das abhängige Entstehen

Einführung 

Dieser Artikel ist das Ergebnis eines langfristigen Dialogs zwischen Alexander Berzin und Catherine Ducommun-Nagy, einer Psychiaterin und Familientherapeutin, die weltweit für ihre Arbeit in der kontextuellen Therapie bekannt ist. In den traditionellen buddhistischen Lehren wird darauf eingegangen, wie man bestmöglich mit anderen umgehen sollte, indem man beispielsweise Mitgefühl hat, sowie Verständnis, Geduld, Konzentration und so weiter. Selten kommt jedoch die Dynamik der Beziehungen zur Sprache, die auf diesen Eigenschaften beruht. In diesem Artikel wird diese Dynamik als Teil des fortlaufenden Prozesses erforscht, indem eine Brücke zwischen modernem westlichen Denken und dem Buddhismus hergestellt wird. 

Die kontextuelle Therapie ist auf Ivan-Boszormenyi-Nagy, einem der Pioniere der Familientherapie, zurückzuführen. Die Familientherapie hat sich von der individuellen Psychotherapie gelöst, denn in ihr gilt, dass unser Verhalten gegenüber anderen nicht nur von unseren individuellen Eigenschaften abhängig ist, sondern auch durch die Dynamik, die zwischen uns und unseren gesellschaftlichen Systemen, zu denen wir gehören, wie unsere Familien, Gemeinschaften usw., erschaffen wird. In der kontextuellen Therapie kommen zwei spezifische Elemente hinzu: sie ist eine integrative Herangehensweise, in der all die Variablen, die einen Einfluss auf uns haben können – sowohl individuelle als auch systemische, einschließlich ethischer Bestimmungsfaktoren unserer Beziehungen – in Betracht gezogen werden. Boszormenyi-Nagy präsentiert die zwischenmenschliche Ethik als eine Form der Ethik, in der Menschen gemäß dem Verständnis der direkten Auswirkung ihres Verhaltens auf andere miteinander umgehen, und nicht in Anbetracht von vorbestimmten moralischen Grundsätzen oder religiösen Richtlinien. Er deutet an, dass sowohl individuelle Erfüllung als auch zwischenmenschliches Wohlbefinden direkt mit unserer Kapazität für Fairness und Großzügigkeit verbunden sind. Außerdem legt er eine dialektische Theorie des Charakters nahe, die auf der Arbeit existenzieller Philosophen, besonders jener von Martin Buber („Ich und Du“) beruht.  

Nach Ansicht von Boszormenyi-Nagy, kann das Selbst nicht außerhalb einer Beziehung mit seinem Gegenstück, einem Nicht-Selbst (einem Anderen) existieren, und auch umgekehrt ist es nicht möglich. Er hat diese Wechselbeziehung als eine „ontische“ Abhängigkeit beschrieben und das bedeutet, dass diese Abhängigkeit ein integraler und wesentlicher Teil der Definition des Selbst ist. Dieses Verständnis ist sehr eng mit der Auffassung des abhängigen Entstehens im Buddhismus verbunden. 

In der gegenwärtigen Formulierung werden in der kontextuellen Therapie fünf Dimensionen der zwischenmenschlichen Realität beschrieben. Dieses Modell kann die buddhistische Analyse des abhängigen Entstehens ergänzen und uns helfen zu verstehen, dass das gegenseitige Entstehen des Selbst, des Anderen und einer Beziehung zwischen den beiden, nicht nur von den im Buddhismus beschriebenen Variablen abhängt, sondern auch von allen, die in jeder dieser fünf Dimensionen beschrieben werden. 

Das Selbst nach Ansicht des Buddhismus 

Wie in allen Systemen der Psychologie, betrachtet man im Buddhismus das Selbst als ein „konventionell existierendes Selbst“. Das Selbst ist die Person, das Individuum, das von jedem laut Konvention als „Ich“ bezeichnet wird. Wie in jedem System wird auch im Buddhismus das Selbst ganz spezifisch definiert und man geht davon aus, dass ein so definiertes Selbst Handlungen ausführt und die Auswirkungen erfährt. 

So wie es ein konventionell existierendes „Ich“ gibt, das im Buddhismus nicht widerlegt wird, gibt es auch ein konventionell existierendes „Du“ und diese zwei gehen konventionell existierende Beziehungen ein. Die Existenz des konventionellen „Ichs“, des „Du“ und „unserer Beziehung“ wird lediglich in Abhängigkeit anderer Faktoren und nicht durch eigene Kraft begründet. Diese anderen Faktoren umfassen Ursachen, Teile und die Konzepte, Definitionen und Worte „Ich“, „Du“ und „Beziehung“. Das Entstehen in Abhängigkeit von anderen Faktoren kennt man im buddhistischen Fachjargon als „abhängiges Entstehen“.   

Ein weiteres Beispiel des abhängigen Entstehens im Buddhismus besteht darin, dass eine Handlung, der Ausführende dieser Handlung und das Objekt der Handlung – beispielsweise das Umarmen, ein Selbst („Ich“), dass umarmt und die andere Person („Du“), die umarmt wird – frei davon sind, unabhängig voneinander zu existieren. Diese drei entstehen gleichzeitig und in Abhängigkeit voneinander. Ohne mich, der jemanden umarmt und dich, der umarmt wird, kann es kein Umarmen geben. Mit anderen Worten kann keiner der drei nur durch sich selbst und unabhängig von den anderen als Umarmer, Umarmter oder Umarmung existieren. In der buddhistischen Fachsprache hat keiner von ihnen eine „selbst-begründete Existenz“.

Ein Selbst, dem es an irgendeinem der festgelegten, definierenden Faktoren oder irgendeinem der Aspekte des abhängigen Entstehens fehlt, wird als „falsches Selbst“, als „falsches Ich“ oder als „Selbst, das widerlegt werden muss“ bezeichnet. Nach Ansicht des Buddhismus existiert so ein Selbst nicht; so etwas gibt es nicht. Ungeachtet dessen meinen wir, als eine autonome, selbst-begründete Entität, ein „Ich“ zu existieren, das der Sprecher unserer Gedanken und irgendwo in unserem Gehirn oder Geist auffindbar ist, weil wir alle etwas erleben, das sich wie eine Stimme in unserm Kopf anfühlt. Das entspricht jedoch nicht der Realität; so etwas, wie eine auffindbare Entität in unseren Köpfen, die entweder aus eigener Kraft oder durch die Kraft äußerer Agenten begründet wird, gibt es nicht.  

Diese völlige Abwesenheit einer tatsächlichen Entsprechung, die mit unserer falschen Vorstellung übereinstimmt, bezeichnet man als „Leerheit“, was oft auch als „Leere“ übersetzt wird. Im Buddhismus wird folglich nicht das konventionell existierende Selbst, sondern lediglich das falsche Selbst negiert. Fälschlicherweise meinen wir als dieses falsche Selbst zu existieren. Wir identifizieren uns mit ihm und entwickeln störende Emotionen und Geisteshaltungen, um dieses „Selbst“ zu bestätigen oder zu verteidigen. Das führt dann zu zwanghaftem Verhalten und verschiedenen Problemen, die daraus resultieren. Weil wir oder andere dieses falsche Selbst auf irrtümliche Weise wahrnehmen, erschaffen wir nur noch mehr Probleme in unseren Beziehungen mit anderen. Unsere Verwirrung nimmt immer weiter zu, wenn wir auch unsere Beziehungen als solide begründete, auffindbare Entitäten betrachten.  

Das konventionell existierende Selbst 

Das konventionelle Selbst entsteht also in Abhängigkeit von anderen Faktoren. Das heißt, das konventionelle Selbst wird durch zahlreiche Variablen beeinflusst und entwickelt sich und wächst kontinuierlich im Verlauf unseres Lebens. Da es jedoch nichts Auffindbares auf Seiten des konventionellen Selbst gibt, das die Kraft hat, seine eigene Existenz zu begründen, gibt es keine auffindbare Entität, kein „Ich“ in unseren Köpfen, das durch viele Variablen beeinflusst wird. Auch können wir kein Konzept eines falschen Selbst auf ein auffindbares konventionelles Selbst projizieren. Genau wie das falsche Selbst ist auch ein konventionell existierendes, sich fortwährend entwickelndes „Ich“ keine auffindbare Entität. Dennoch ist das konventionelle Selbst – die konventionell existierende Person – diejenige, die handelt, spricht, denkt, glücklich und unglücklich ist, sowie mit anderen Austausch hat.  

Die von Nagarjuna aufgeführten drei Arten des abhängigen Entstehens 

Das konventionelle Selbst ist also ein abhängig entstehendes Objekt. Im Allgemeinen gibt es laut Definition des indischen, buddhistischen Meisters aus dem zweiten Jahrhundert, Nagarjuna, drei Arten des abhängigen Entstehens.

  1. Ursächliche Abhängigkeit – die Tatsache, dass alle nicht-statischen Phänomene abhängig von Ursachen und Bedingungen entstehen. Beispielsweise entsteht ein Keimling abhängig vom Samen, vom Wasser, der Erde und des Sonnenlichtes, und Probleme entstehen abhängig von mangelndem Gewahrsein oder Verwirrung hinsichtlich der Realität, sowie störenden Emotionen und Geisteshaltungen, die daraus resultieren und zwanghaftem Verhalten, das daraus hervorgeht. Dies wird von allen buddhistischen Lehrsystemen gleichermaßen vertreten.
  2. Gegenseitige Abhängigkeit – die Tatsache, dass alle Phänomene abhängig davon entstehen, sich in einer Beziehung zu etwas anderem zu befinden; beispielsweise entstehen das Ganze und seine Teile gleichzeitig und abhängig voneinander. Das trifft ebenfalls auf die Eltern und das Kind zu, sowie auf den Fußball und das Fußballspiel, oder auf kurz und lang. Dazu gehört auch das gegenseitige abhängige Entstehen einer Zuschreibung und der Basis einer Zuschreibung. Zum Beispiel ist das Fußballspiel eine Zuschreibung auf die Teams, die Spieler, die Regeln, die Bewegungsabläufe, den Spielstand, den Fußball und das Fußballfeld als Grundlage der Zuschreibung. Dies wird von allen Mahayana-Lehrsystemen vertreten.
  3. Abhängiges Entstehen in Bezug auf bloßes Bestimmen von Namen und Bezeichnen aufgrund von Konzepten – alle Phänomene entstehen in Abhängigkeit, weil sie lediglich das sind, worauf sich ein Name oder Begriff, dem eine spezifische Definition und, beruhend auf einer Basis, eine Bezeichnung gegeben wird, bezieht. Beispielsweise wird ein Fußball nur mittels einer Konvention – der Name und das Konzept „Fußball“ mit seiner spezifischen Definition, mit dem ein Objekt mit einer gewissen Form benannt wird – als Fußball festgelegt. Weil es verschiedene Konventionen gibt, wird sogar das englische Wort „Football“ gültig für zwei unterschiedlich geformte Objekte in Amerika und dem Rest der Welt benutzt, und auf diese Weise sind auch Konventionen unterschiedlich. Dies wird nur von der Gelug-Variante des Prasangika-Lehrsystems vertreten.

Die drei Arten des abhängigen Entstehens des Selbst („Ich“) 

Die drei Arten des abhängigen Entstehens gelten für das konventionell existierende Selbst.

  1. Ursächliche Abhängigkeit – das konventionelle Selbst entsteht abhängig von vorangegangenen Momenten seines Kontinuums als dessen herbeiführende Ursache. Eine „herbeiführende Ursache“ ist das, woraus etwas im nächsten Augenblick seines Stroms der Kontinuität entsteht. Obwohl der Körper ein Kontinuum von Teilen des Körpers der Eltern, also ihrer Samen und Eizellen, ist, ist das konventionelle Selbst einer Person nicht das Kontinuum des konventionellen Selbst der Eltern. Aus diesem Grund wird im Buddhismus behauptet, dass das Kontinuum von jedem individuellen Selbst oder von jeder Person weder Anfang noch Ende hat.
  2. Gegenseitige Abhängigkeit – das konventionelle Selbst entsteht abhängig als die Zuschreibung eines individuellen Kontinuums der sich ständig ändernden fünf Aggregat-Faktoren der Erfahrung als dessen Grundlage der Zuschreibung. Diese Faktoren prägen jeden Moment der Erfahrung und umfassen einen Körper, Wahrnehmungen, Handlungen, einen Geist, Gedanken, Emotionen, Gefühle des Glücklichseins und des Unglücklichseins usw. Ein Selbst kann nicht unabhängig von diesen Faktoren existieren, noch kann es mindestens von einem dieser Faktoren, wie einem Namen oder dem Aussehen des Körpers, getrennt erkannt werden. So, wie die Teile als Grundlage der Zuschreibung eines Selbst abhängig von Ursachen und Bedingungen, die es beeinflussen, entstehen – der Geist, die Emotionen und der Körper werden beispielsweise von dem beeinflusst, was andere sagen und tun, sowie von der Umgebung, dem Wetter und so weiter – so wird auch das Selbst durch diese Ursachen geprägt.
  3. Abhängiges Entstehen in Bezug auf bloßes Benennen durch Konzepte und Bezeichnen durch Namen – das konventionelle Selbst tritt in Erscheinung und wird abhängig davon begründet, worauf sich das Konzept und die Bezeichnung „Selbst“ als spezifische Definition, wie sie im Buddhismus gegeben wird, bezieht; es wird einem individuellen Kontinuum der fünf sich ständig ändernden Aggregate zugeschrieben. 

Durch das Verständnis, dass das konventionelle Selbst abhängig durch eine Kombination dieser drei Arten entsteht, wird der Glaube verneint, es gäbe ein falsches „Ich“, das aus eigener Kraft selbst-begründet und unabhängig von allem und jedem ist. Um jedoch diesen Glauben zu zerstreuen, ist es notwendig, sich mit der Nicht-Existenz des falschen „Ichs“ durch wiederholte Analyse der Faktoren vertraut zu machen, durch die das konventionell existierende „Ich“ abhängig entsteht. Wenn das Selbst in Abhängigkeit von so vielen sich ändernden Faktoren entsteht, kann es keine rigide Entität sein, die von nichts beeinflusst wird. Indem wir die absurden Schlussfolgerungen betrachten, die daraus folgen würden, wenn wir als eine Person selbst-begründet wären – schon von Kindheit an hätten wir mit niemandem Austausch haben und als Person wachsen können – hören wir damit auf, uns mit einem falschen „Ich“ zu identifizieren. Durch unser Verständnis des abhängigen Entstehens öffnen wir uns dann für die Flexibilität gesunder Beziehungen mit anderen. 

Die drei Arten des abhängigen Entstehens von Beziehungen 

Um gesunde Beziehungen zu anderen zu unterhalten, ist es notwendig nicht nur zu verstehen wie ich und du als individuelle Personen abhängig entstehen, sondern auch ein Verständnis über das abhängige Entstehen unserer Beziehung zu haben. Keines dieser drei Dinge existiert als feste, sich nicht ändernde, monolithische Entität. Wie im Falle von Ich und Du gilt es auch, eine konventionell existierende Beziehung von der Art des Verhältnisses zu differenzieren, die es unmöglich geben kann. Wenn wir meinen, unsere Beziehung würde als eine statische, teilelose, auffindbare Entität ganz für sich selbst existieren und glauben, sie entspräche der Realität, schaffen wir damit ernsthafte Hindernisse für die Beziehung. Indem wir „unsere Beziehung“ als etwas wie eine konkrete Sache verstehen, werfen wir der anderen Person dann beispielsweise vor, unsere Beziehung nicht so zu empfinden, wie wir es gern hätten. Wir stellen ihr Verhältnis gegenüber „uns“ als auch gegenüber „unserer Beziehung“ infrage.  

Eine konventionell existierende Beziehung ist nicht so etwas wie eine konkrete und feste Entität. Sie entsteht in Abhängigkeit auf drei verschiedene Weisen, die von Nagarjuna erklärt werden:

  1. Ursächliche Abhängigkeit – unsere Beziehung entsteht abhängig davon, dass wir uns treffen, sowie von den Umständen, die uns zusammengeführt haben und jenen, die unsere Beziehung weiter andauern lassen. Darüber hinaus ist unsere Art, wie wir uns gegenüber der anderen Person verhalten und ihre Art, wie sie sich uns gegenüber verhält so, wie wir uns auch gegenüber anderen in unseren gegenwärtigen und früheren Beziehungen verhalten haben. Aus buddhistischer Perspektive haben wir uns mit der anderen Person bereits auf vielfältige Weise in früheren Leben in Beziehungen zueinander befunden und so ist unser gegenwärtiges Verhältnis davon geprägt und auch ein Kontinuum dessen.
  2. Gegenseitige Abhängigkeit – unsere Beziehung als Ganzes hängt von seinen Teilen und Aspekten, wie den verschiedenen Zeiten, die wir miteinander verbringen, die Interessen und Aktivitäten, die wir miteinander teilen, unsere Lebensstadien, Wohnorte usw. ab.
  3. Abhängiges Entstehen hinsichtlich des bloßen Benennens durch Konzepte und Bezeichnens durch Namen – eine Beziehung ist lediglich eine Zuschreibung all seiner Teile und Aspekte, und wird nur als eine „Beziehung“ in Bezug darauf festgelegt, auf was sich das Konzept einer Beziehung und das Wort „Beziehung“, so wie es per Konvention definiert wird, bezieht, wenn es auf all diese Teile und Aspekte angewandt wird.

Das gegenseitige abhängige Entstehen des Selbst und des Anderen 

Wir können das buddhistische Verständnis des abhängigen Entstehens erweitern, indem wir das fünfdimensionale Modell der zwischenmenschlichen Realität nutzen, welches uns von der kontextuellen Therapie nahegelegt wird; insbesondere die fünfte so genannte „ontische Dimension“, die wir hier in unserem Artikel auch als „Dimension des Aufbaus einer Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen“ bezeichnen können. Sie bezieht sich auf das gegenseitige Begründen des Selbst und des Anderen in Hinsicht auf eine Beziehung zwischen diesen beiden und entspricht der Art der gegenseitigen Abhängigkeit des im Buddhismus behandelten abhängigen Entstehens, bei dem das Ganze und seine Teile oder die Eigenschaften lang und kurz gemeinsam in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander entstehen.

Wenn wir dieses gegenseitige abhängige Entstehen des Selbst und des Anderen in Bezug zueinander auf einen buddhistischen Kontext ausweiten, müssen wir uns innerhalb des Kontextes der Gelug-Prasangika-Behauptungen bewegen. Das Selbst und der Andere begründen sich im Sinne der Prasangika-Schule gegenseitig, indem sie beide lediglich durch das Bestimmen von Namen und Bezeichnungen aufgrund von Konzepten begründet werden. Es handelt sich nicht um zwei selbst-begründete „Ichs“, die sich dann gegenseitig als Selbst und Anderer in einer Beziehung begründen. In den buddhistischen Schriften bezieht man sich bei diesem Punkt auf die „Nichtdualität des Selbst und des Anderen.“  

Die fünf Dimensionen der zwischenmenschlichen Realität 

Dimension I: Faktische Variablen 

In dieser Dimension geht es um all die Variablen, die sich auf die Gegebenheiten im Leben von zwei Personen in einer Beziehung, also auf ihr faktisches Profil, beziehen.

  • Biologische Vorgaben – Geschlecht, Alter, Biologie (Gesundheit, Krankheiten, Beeinträchtigungen usw.)
  • Familiäre Herkunft – Rangfolge der Geburt (erstes oder letztes Kind), Kind eines alleinerziehenden Elternteils, geschiedene Eltern, Verlust der Eltern oder Geschwister
  • Beziehungsstatus – alleinstehend, feste Partnerbeziehung, gleichgeschlechtlich, verheiratet, geschieden, mit oder ohne Kindern
  • Gesellschaftlicher Status – in der Gesellschaft etabliert, Einwanderer, Flüchtling, Kind von Einwanderern oder Flüchtlingen
  • Gesprochene Sprachen
  • Historische Begebenheiten – Kriege, Naturkatastrophen, Hungersnöte
  • Wirtschaftliche Lage – Status von Reichtum oder Armut, Zugang zu Bildung oder Arbeit
  • Geographische Einschränkungen – Wohnort, Ausbildungs- oder Arbeitsort, Erreichbarkeit des Standortes, Möglichkeit zu reisen

Dimension II: Psychologische Variablen

Bei den Variablen geht es hier um individuelle, kognitive und emotionale (sowohl bewusste als auch unbewusste) Funktionsweisen beider Personen in einer Beziehung. 

  • Psychologische Eigenschaften nach Ansicht westlicher Modelle individueller Psychotherapie – Freud, Jung, Piaget, Gestalt
  • Psychologische Manifestationen geistiger Krankheiten und Persönlichkeitsstörungen – Depression, Ängste, Verblendungen, Narzissmus
  • Kognitive Fähigkeiten (Lernen, Gedächtnis, Wahrnehmung und Problembewältigung) 
  • Intellektuelle Fähigkeiten – begrenzt, durchschnittlich, begabt 
  • Geschlechtliche Identität und sexuelle Neigungen 
  • Emotionale Faktoren westlicher Systeme – emotionale Reife, Form der Anhaftung, Grad der Abhängigkeit, Extrovertiertheit/Introvertiertheit, Optimismus/Pessimismus, rational/irrational, praktisch/unpraktisch, Aggressivität, Schüchternheit, Unsicherheit, Ängste, sich selbst als nicht gut genug erachten/andere beschuldigen
  • Emotionale Faktoren im Buddhismus – Liebe, Mitgefühl, Güte, Großzügigkeit, Geduld, Wut, Furcht, Lust, Gier, Selbstbezogenheit, Naivität, Arroganz, Neid, Eifersucht
  • Ebene der Sensibilität – unsensibel, überempfindlich, verurteilend, Einfühlungsvermögen, ausgewogene Sensibilität

Dimension III: Systemische Variablen 

Diese Dimension bezieht sich auf die Beschreibung der Form des Austausches und der Kommunikation, die Menschen miteinander aufbauen, sowie auf die verschiedenen Systeme, an denen sie teilhaben, und auf den Einfluss, den diese Systeme auf ihr Zusammensein haben. 

  • Form der Interaktion – Kampf um Macht und Kontrolle/sich gegenseitig ergänzen; kindische/reife Interaktionen 
  • Form der Kommunikation – ausdrucksstark, zurückhaltend
  • Familie – Familienstruktur, eheliche Verbindungen oder andere Formen der Partnerschaft, Bildungssystem und Form der Interaktion innerhalb diesem 
  • Geschäftsumgebung und Form der Interaktion innerhalb dieser 
  • Gesellschaftliche Systeme und Form der Interaktion innerhalb diesen – gesellschaftliche Rangordnungen, Vorurteile, geschlechtsspezifische Aspekte 
  • Rechtsordnung – rechtliche Definition der Gerechtigkeit, Zivil- und Strafgesetze 
  • Militär – Rangordnung, eidesstattliche Erwartungen
  • Religion und Glauben – Werte-Ethik 

Dimension IV: Zwischenmenschliche Ethik 

Zwischenmenschliche Ethik sollte von der Werte-Ethik unterschieden werden. Sie bezieht sich auf eine Form der Ethik, die im Einklang mit einem Verständnis der Auswirkung unseres Verhaltens auf andere und einem Verständnis in Bezug auf die realistischen Bedürfnisse der Anderen definiert wird und nicht unbedingt vorab festgelegten moralischen und religiösen Werten entspricht. Hierbei geht es auch darum, dass wir alle einen bestimmten Grad von Fairness und Gegenseitigkeit in unseren engen Beziehungen erwarten und dass unsere früheren Erfahrungen von Großzügigkeit oder Ungerechtigkeit eine wichtige Rolle in Bezug darauf spielen, wie wir andere behandeln. Das ist in unserer Praxis der Großzügigkeit von maßgeblicher Bedeutung. Eines der größten Hindernisse hinsichtlich der Fürsorge und Großzügigkeit gegenüber anderen besteht in dem, was kontextuelle Therapeuten als „destruktiven Anspruch“ bezeichnen. Wurden wir von anderen unfair behandelt oder ist uns Ungerechtigkeit widerfahren, für die niemand direkt verantwortlich gemacht werden kann, wie eine genetisch bedingte Krankheit, trachten wir vielleicht nach einer Art Wiedergutmachung und erwarten, dass andere für den Schaden aufkommen. Für unsere Beziehung wirkt sich das jedoch destruktiv aus und kann uns daran hindern, uns in Großzügigkeit gegenüber den anderen zu üben. Das Gegenmittel besteht in dieser Situation darin zu erkennen, dass großzügiges Geben auch inneren Nutzen bringen kann; in der kontextuellen Therapie wird das als „konstruktiver Anspruch“ oder im Buddhismus als „positives Potenzial“ („Verdienst“) beschrieben. Die wesentlichen Variablen dieser Dimension sind folgende: 

  • Ausgewogenheit im Geben und Empfangen
  • Fairness – innerhalb einer persönlichen Beziehung wird sie durch einen tatsächlichen Dialog zwischen den betroffenen Parteien definiert, beispielsweise wenn es um Ausgaben oder die Arbeitsverteilung geht 
  • Treueerwartung und Treueverpflichtung – verschiedene Formen der Treueverpflichtung (gegenüber Eltern, Ehepartnern, Kindern, Lehrer) und Treuekonflikte 

Dimension V: Dimension des Aufbaus einer Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen 

Dieser Begriff „Dimension des Aufbaus einer Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen“ wird hier benutzt, um den Inhalt dieser fünften Dimension besser beschreiben zu können, die in der kontextuellen Therapie als die ontische Dimension beschrieben wird. Sie bezieht sich auf die eigentliche gegenseitige Abhängigkeit zwischen uns selbst und dem Anderen, damit jeder als ein Selbst existieren kann. Oder im Buddhismus würde man sagen, sie bezieht sich auf das abhängige Entstehen von uns selbst und anderen, also wie das Selbst und der Andere in Beziehung zueinander betrachtet werden. Indem er näher auf Matrin Bubers Beschreibung des „Ich-Du“- und „Ich-Es“-Dialoges eingeht, stellt Boszormenyi-Nagy sechs Arten des Umgangs vor:

  • Intrasubjektive Gegenüberstellung (kein äußerlich Anderer und kein innerlich Anderer) – die Grenze wird durch die Selbst/Selbst-Gegenüberstellung begründet und ein Beispiel besteht darin, sich zu verletzen, um etwas zu fühlen, mit sich selbst zu reden, oder vielleicht sich selbst in Bezug auf eine Ursache, ein Projekt, eine Ideologie oder eine ikonische religiöse Figur zu definieren.
  • Innerer Dialog (kein äußerlich Anderer, und der innerlich Andere kann entweder Subjekt oder Objekt eines inneren Dialogs sein) – wenn wir beispielsweise mit einem verstorbenen Elternteil oder Partner reden, Stimmen hören, die uns Anweisungen geben, mit einem imaginären Gegner Schach spielen, oder mit unserem Gewissen ins Gericht ziehen. Der innerlich Andere kann auf ein äußeres physisches Objekt projiziert werden, wie in dem Film „Verschollen“, in dem ein Schiffbrüchiger auf einer verlassenen Insel den Anderen in einem Fußball sieht. 
  • Zusammenführung (Zusammenführung von Selbst und Anderen) – ein „Wir“ geht auf eine dritte Partei entweder als ein Subjekt oder als ein Objekt ein, indem beispielsweise gesagt wird: „wir wollen, dass er dies tut“ oder „er möchte, dass wir das tun“. Eine Zusammenführung kann die Einheit des Babys und der Mutter sein.
  • Das Subjekt sein (Das Selbst als Subjekt und der Andere als Objekt, mit dem wir Austausch haben) – „Ich-Es“-Interaktion; beispielsweise eine Beziehung, in der der Andere eine Funktion für das Subjekt erfüllt, wie jemand in einem Dienstleistungsbereich; oder ein Kind, bei dem ein Elternteil emotionalen Trost und Zuneigung sucht, als wäre das Kind ein Erwachsener (Parentifizierung); die Beziehung zu einem Haustier zur Befriedigung persönlicher oder emotionaler Bedürfnisse; eine Beziehung, in der das Subjekt den Anderen als Objekt des Studiums betrachtet, zum Beispiel ein Anthropologe.
  • Das Objekt sein (Das Selbst als Objekt und der Andere als Subjekt) – “Es-Ich”-Interaktion; beispielsweise eine Beziehung, in der das Subjekt eine Funktion für ein Objekt erfüllt, wie eine Sekretärin gegenüber einem Chef
  • Wahrer „Ich-Du“-Dialog (das Selbst und der Andere in reversiblen Positionen) – abwechselnd das Selbst und der Andere als Subjekt oder Objekt; ein zweiseitiger Dialog und Austausch, in dem beide Seiten frei von Projektionen, vorgefassten Meinungen und Vorurteilen gegenüber dem Anderen sind.

Die Merkmale, die in den Dimensionen der faktischen Variablen und psychologischen Variablen beschrieben wurden, beziehen sich auf die individuellen Eigenschaften eines jeden Mitglieds einer Beziehung. Die Merkmale, die in den anderen drei Dimensionen (der systemischen, der zwischenmenschlichen Ethik und des Aufbaus einer Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen) beschrieben werden, können sich nur innerhalb einer Beziehung manifestieren.

Top