Was ist Vajrabhairava-Yamantaka-Praxis?

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Ich bin gebeten worden, heute Abend eine Einführung in das Vajrabhairava (tib. rDo-rje 'jigs-byed)-System der höchsten Tantra-Klasse, Anuttarayoga-Tantra, zu geben. Ich glaube, die Intention, die hinter dieser Anfrage steckte, hängt damit zusammen, dass in der Gelug-Tradition von Tsongkhapa großer Wert auf die drei Gottheiten Guhyasamaja (tib. gSang-ba 'dus-pa), Chakrasamvara, (tib. 'Khor-lo bde-mchog) und Vajrabhairava gelegt wird und es daher hilfreich sein könnte, eine allgemeine Vorstellung dieser drei Systeme zu bekommen. Ich habe bei früheren Besuchen hier bereits über Chakrasamvara und Guhyasamaja gesprochen, und nun steht noch die Erläuterung von Vajrabhairava aus.

[Siehe: Was ist Guhyasamaja-Praxis? Siehe auch: Was ist Chakrasamvara-Praxis?]

Es ist natürlich ein bisschen schwierig, wenn nicht so viele Leute da sind, die sich tatsächlich mit dieser Praxis beschäftigen; insofern bin ich etwas ratlos, was ich denn eigentlich sagen soll. Ich denke, in dieser Situation ist es im Grunde nur möglich, einige Informationen darüber zu geben.

Anuttarayoga-Tantra

Als Hintergrund brauchen wir eine allgemeine Vorstellung, um was es im Tantra geht. An der Art, wie man in der buddhistischen Praxis die Motivation ausrichtet, können wir erkennen, dass Mitgefühl der Beweggrund ist. Wir wollen anderen so viel wie möglich helfen. Im Kontext des Mahayana – dem „großen Fahrzeug“ bzw. dem „weiten Fahrzeug“ – wollen wir nicht nur unsere eigene Befreiung erlangen, sondern wir wollen den Zustand eines Buddhas erreichen, damit wir nicht nur einigen wenigen, sondern allen gleichermaßen nutzen können. Dafür brauchen wir einen Körper, eine Sprechweise und einen Geist, wie ein Buddha sie hat; und all das wollen wir auf möglichst effiziente Weise erreichen.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie wir darauf hinarbeiten können, den Körper, die Sprache und den Geist eines Buddhas zu erreichen. Aber wenn wir das genau untersuchen, stellt sich heraus, dass wir dafür mit der subtilsten Ebene unseres Geistes und deren subtiler Energie arbeiten müssen. Diese sind es, die sich von einem Leben zum anderen und auch bis hinein in die Buddhaschaft fortsetzen. All die Verwirrung, die störenden Emotionen und Zwanghaftigkeit unserer samsarischen, karmischen Art zu leben läuft auf gröberen Ebenen ab, nicht auf dieser subtilsten Ebene, die lediglich die Kontinuität aufrechterhält.

Wir müssen also irgendwie Zugang zu dieser subtilsten Ebene gewinnen und nicht nur dort verweilen, sondern sie mitgestalten, um sie in den Körper, die Sprache und den Geist eines Buddhas zu transformieren. Doch dafür brauchen wir eine überaus starke Motivation, denn es ist wirklich sehr schwierig, das zu schaffen. Diese Motivation besteht in ungemein starkem Mitgefühl für alle und jeden. Wir machen uns klar, wie schrecklich es ist, dass alle leiden, und wir wollen wirklich mit enormer Anstrengung darauf hinarbeiten, den Zustand eines Buddhas tatsächlich zu erreichen, damit wir allen von größtem Nutzen sein können.

Was ist es nun, das uns daran hindert, diesen Zustand der Buddhaschaft zu erreichen? Unsere eigene Verwirrung, unsere Trägheit, unser Jähzorn, unser Ärger, unser Anhaften. Das sind die eigentlichen Widrigkeiten, die dem entgegenstehen – all die störenden Emotionen und negativen Einstellungen in unserem eigenen Geist. Wir brauchen eine äußerst starke Kraft, um all dem nicht einfach nachzugeben und der Verwirrung die Oberhand zu lassen. Wir brauchen eine Kombination von Mitgefühl – wir wollen ja anderen helfen – und genügend Stärke, um uns nicht von all dem Schrott, der in unserem Geist abläuft, davon abhalten zu lassen, wie zum Beispiel der Trägheit: „Ich hab keine Lust dazu; ich mag mich nicht aufraffen und jemandem helfen.“ Eine solche Haltung müssen wir durchbrechen.

Wir müssen also eine sehr starke Energie einsetzen. Aber mit starker Energie zu arbeiten ist gefährlich. Wenn man mit sehr starker Energie arbeitet, besteht die Gefahr, dass man rücksichtslos wird und die Energie einen übermannt, und das geht dann schnell in Wut über, nicht wahr? Wie bei den Kampfkünsten müssen wir äußerlich kraftvoll und innerlich 100 % ruhig sein.

Um Verwirrung und Trägheit zu überwinden, brauchen wir vollständiges Verständnis der Realität – im buddhistischen Sinne: der Leerheit –, nämlich dass die Dinge nicht auf die unmögliche Art und Weise existieren, die unser Geist projiziert. Mit diesem Verständnis wollen wir jene gröberen Ebenen mitsamt all der Verwirrung durchbrechen – mit starker Kraft – und bis hinunter zur subtilsten Ebene gelangen.

Normalerweise gelangen wir zu dieser subtilen Ebene, wenn wir sterben. Während der Phase des Todesprozesses, die „das klare Licht des Todes“ genannt wird, bevor wir zu Bardo (dem Zwischenzustand) und Wiedergeburt übergehen, erleben wir vorübergehend diese Ebene des klaren Lichts. (Bitte stört euch nicht an dieser dualistischen Ausdrucksweise – dass „wir“ „sie“ erleben, so als gäbe es ein „Ich“, das getrennt davon wäre. Natürlich gibt es ein solches „Ich“ nicht, das „sie“ erlebt und getrennt davon wäre.) Mit anderen Worten, unsere geistige Aktivität während dieser kurzen Phase im Todesprozess ist eben diese allersubtilste Ebene. Ich denke, so kann man es verständlicher ausdrücken.

Aber normalerweise sind wir uns, wenn wir sterben, dessen überhaupt nicht bewusst, was da abläuft – wir erkennen die Potenziale und Fähigkeiten dieser subtilsten geistigen Ebene nicht. Wir haben all die Gewohnheiten unserer Verwirrung – all die Gewohnheiten zwanghaften Verhaltens, das auf Verwirrung und störenden Emotionen beruht –, und was passiert aufgrund des Momentums so vieler Leben, in denen wir unter dem Einfluss dieser Gewohnheiten standen? Eine neue Wiedergeburt – eine samsarische Wiedergeburt –, wieder mit einem Bündel bzw. einer neuen Konfiguration dieser Gewohnheiten, welche aktiviert werden und das nächste samsarische Leben hervorbringen, das mit den gleichen zwanghaften Verhaltensweisen und Verwirrungszuständen angefüllt ist. So läuft der gewöhnliche Todesprozess ab.

Was wir aber wollen, ist imstande zu sein, diese Art von Tod zu überwinden und stattdessen in unserer Meditation zu dieser subtilsten Ebene geistiger Aktivität zu gelangen. Und wir wenden eine starke Kraft an, um Zugang dazu zu gewinnen, jedoch mit einem völlig ruhigen Verständnis der Realität, das wir in der Meditation zum Zeitpunkt des klaren Lichts zur Anwendung bringen können. Unsere Absicht ist dabei folgende:

  • den Zustand des klaren Lichts zu erleben, um Verständnis der Leerheit bzw. der Realität einzusetzen,
  • und die subtilste Energie dieses Zustands so zu verwenden, dass wir sie transformieren und in der Form eines Buddhas erscheinen.

Wenn wir das oft und intensiv genug üben, sind wir imstande, das beizubehalten. Das ist im Grunde der tantrische Weg der höchsten Tantra-Klasse.

Allgemeine Einführung in Yamantaka

Yamantaka (tib. gShin-rje gshed, gShin-rje mthar-byed) ist die spezielle Art von Praxis, die durchgeführt wird, um den Tod zu überwinden. „Yama“ bedeutet „Tod“ bzw. „Herr des Todes“ und „antaka“ „derjenige, der dem ein Ende setzt“, zusammen also „derjenige, der dem Herrn des Todes ein Ende setzt“. Yamantaka hat die Form einer extrem kraftvollen Gestalt und in seinem Herzen befindet sich Manjushri (ganz friedlich, ruhig, vollständiges Verständnis der Realität). Das ist, ganz allgemein ausgedrückt, ein klein wenig Information über das, worum es bei Yamantaka geht, für diejenigen, die sich damit noch nicht so auskennen.

In der Gelug-Tradition hat sich diese Praxis sehr stark durchgesetzt. In dieser Methode, in der die Praktiken von drei Gottheiten-Systemen – Guhyasamaja, Chakrasamvara und Yamantaka bzw. Vajrabhairava (zwei Namen dafür) – zusammengefügt wurden, ist Yamantaka wie ein Gefäß, in dem die anderen beiden Praktiken mit eingeschlossen werden können. Und alle Schutzherren-Praktiken, die in der Gelug-Tradition ausgeübt werden, werden in Verbindung damit durchgeführt, dass man selbst als Yamantaka erscheint.

Die Yamantaka-Praxis wurde nicht nur unter den Tibetern besonders populär und weit verbreitet, sondern auch in den Gebieten der Mongolei und Mandschurei, in denen sich der Buddhismus verbreitete.

Mein Hintergrund

Jetzt kann ich dazu übergehen, ein bisschen über die Geschichte dieses Systems zu erzählen, über seine verschiedenen Aspekte – einfach die Informationen zu geben –, sodass ihr eine Vorstellung von all den unterschiedlichen Aspekten bekommt und davon, wie sich diese Praxis eigentlich entwickelte und ausbreitete. Denn es ist nicht besonders angemessen, die eigentliche Praxis, allzu detailliert zu erklären, insbesondere gegenüber denjenigen, die sie nicht auch tatsächlich ausüben).

Zuerst zu meinem eigenen Hintergrund. Ich habe die Ermächtigung zur Praxis des Vajrabhairava in der Form einer einzelnen Gottheit (tib. gShin-rje gshed, gShin-rje mthar-byed) viele Male erhalten, und zwar von:

  • Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama
  • Yongdzin Ling Rinpoche, der die Lehren des Vajrabhairava an Seine Heiligkeit weitergab
  • dessen hauptsächlichem Lehrer, Gyume Khensur Rinpoche Ugyen Tseten, dem emeritierten Abt der Unteren Tantrischen Hochschule.
  • Tsenshap Serkong Rinpoche, meinem Lehrer, der auch ein Lehrer Seiner Heiligkeit war
  • Geshe Ngawang Dhargyey
  • dessen hauptsächlichem Lehrer, Gyume Khensur Rinpoche Ugyen Tseten, dem emeritierten Abt der Unteren Tantrischen Hochschule.

Außerdem habe ich erhalten:

  • von Seiner Heiligkeit sowie von Yongdzin Ling Rinpoche die Ermächtigung zur Praxis des Vajrabhairava in Form von 13 Gottheiten (rDo-rje ‘jigs-byed lha bco-gsum)
  • von Geshe Ngawang Dhargyey das Jenang, die anschließende Genehmigung (tib. rjes-snang), zur Praxis des vierköpfigen Vajrabhairava
  • Lehrvorträge über den wesentlichen Kommentar zum Text von Vajrabhairava als einzelne Gottheit von Serkong Rinpoche und Geshe Ngawang Dhargyey
  • zahlreiche Lehrvorträge über die Feuer-Puja, über die Selbst-Initiation, die Maße des Mandalas und viele zusätzliche Praktiken des Yamantaka von Serkong Rinpoche.

Und ich habe die Praxis seit über 40 Jahren täglich geübt.

Ich führe das nicht deshalb auf, weil ich sagen will, ich wäre ein großer Yogi – das ist ja ganz offensichtlich nicht der Fall –, sondern der Punkt ist, dass man, wenn man irgendetwas davon tatsächlich praktizieren möchte, immer wieder Anleitungen dazu braucht. Und es gibt eine Vielzahl von Anleitungen. Denkt nicht, dass irgendeines dieser Systeme einfach sei. Das sind sie nicht.

Man muss jede Art von Tantra-Praxis sehr ernst nehmen. Und wenn man sich entschließt, sie auszuüben, macht man das für den Rest seines Lebens jeden Tag. Es geht also nicht um ein halbherziges „Ach, ich versuch das mal ein bisschen“ und dann „Hab ich jetzt Lust dazu oder nicht?“. So an die Tantra-Praxis heranzugehen birgt Gefahren. Man wird leicht ein bisschen verrückt, wenn man in der Vorstellung mit all den Bildern umgeht usw., vor allem, wenn man anfängt, mit den subtilen Energien des eigenen Körpers zu arbeiten. Das kann verhängnisvolle Auswirkungen haben.

Man muss sehr gut vorbereitet sein und eine realistische Vorstellung davon haben, wie schwierig es sein wird. Es ist nicht so, dass ich irgendjemanden abschrecken will, aber seid realistisch. Es ist kein Kinderspiel. Realistisch zu sein gehört zu den Lehren über „Virya“, Ausdauer, eine der sechs weitreichenden Geisteshaltungen. Shantideva zeigt auf, dass es dafür zwei unterstützende Faktoren gibt:

  • Der eine ist eine realistische Einstellung – man akzeptiert auf realistische Weise, dass es schwierig werden und lange dauern wird.
  • Die andere besteht darin, dass man selbst die Kontrolle übernimmt und es einfach macht.

Entschuldigt bitte, wenn ich mich hier etwas stark ausdrücke, aber es geht schließlich um Yamantaka, und ich habe kurz vor dem Vortrag starken Kaffee getrunken – unterstützende Umstände also.

Die verschiedenen Formen von Yamantaka

Yamantaka ist der Name eines Systems von drei Gruppen von Gottheiten (wir erfahren hier nur die Information):

  • Vajrabhairava
  • Krishna Yamari (Schwarzer Yamari, tib. gShin-rje gshed nag-po)
  • Rakta Yamari (Roter Yamari, tib. gShin-rje gshed dmar-po).

Yamantaka wird als Bezeichnung für alle drei verwendet, aber in der Gelug-Tradition wird hauptsächlich die Praxis des Vajrabhairava ausgeübt. Manchmal wird Vajrabhairava auch einfach Yamantaka genannt. Auf Mongolisch ist „Yamantaka“ wesentlich einfacher auszusprechen als „Vajrabhairava“, und deswegen spricht man meistens von Yamantaka und nicht von Vajrabhairava. Das ist der Grund dafür.

Vajrabhairava ist eine Gottheit mit einem Büffelkopf und darüber den Kopf von Manjushri, und er erscheint in drei grundlegenden Formen. (Im Tantra erscheint jede Gottheit in vielen verschiedenen Formen; man sollte also nicht denken, es gebe nur eine, und dann aus der Fassung geraten, wenn man von anderen Formen hört.) Es gibt folgende:

  • Diejenige, die in der Gelug-Tradition üblicherweise praktiziert wird, hat neun Köpfe, 34 Arme und 16 Beine. (Denkt daran, dass im Tantra all die Gesichter, Arme und Beine bestimmte Erkenntnisse und Verwirklichungen symbolisieren, unterschiedliche Aspekte des Pfades, die wir alle gleichzeitig völlig verwirklicht haben wollen. Sie durch all die Arme, Beine und Köpfe zu symbolisieren hilft uns, sie alle gleichzeitig im Sinn zu behalten. Das ist also eine Methode dafür.) Die neunköpfige Form befindet sich entweder in einem Mandala mit 49 Gottheiten oder 13 Gottheiten oder in einem Mandala mit nur einer Gottheit. (Das Mandala ist der Palast, in dem wir in dieser Gestalt leben: Es ist nicht so, dass es darin eine Küche und ein Wohnzimmer oder dergleichen gibt, doch wir befinden uns in diesem Palast, und jede Einzelheit des Palastes steht für einen bestimmten Aspekt des Pfades und der Verwirklichung.)
  • Des Weiteren gibt es eine Form bzw. einer Variante mit sechs Köpfen, sechs Armen und sechs Beinen. Diese wird in dem Text „Ein Chorgesang der Namen Manjushris“ (tib. ’Jam-dpal mtshan-brjod, Skt. Manjushri-namasamgiti) erwähnt. Das ist ein Kalachakra-Text.
  • Und außerdem gibt es eine Variante mit vier Köpfen, acht Armen und vier Beinen. Sie kommt in der Sammlung der Jenangs (der anschließenden Genehmigungen) vor, die den Titel „Rinjung Gyatsa“ (tib. Rin-’byung brgya-rtsa, „Quelle kostbarer Mittel zum Erreichen eines Ozeans von Yidam-Buddha-Gestalten“) trägt, einer Sammlung von etwa 100 dieser nachfolgenden Genehmigungen. Dort erscheint diese andere Form.

Für Zuhörer, die an Ikonografie interessiert sind, sei noch erwähnt, dass der Schwarze Yamari in folgenden Varianten vorkommt:

  • mit sechs Köpfen, sechs Armen und sechs Beinen
  • mit drei Köpfen, zwei Armen und zwei Beinen
  • mit einem Kopf, zwei Armen und zwei Beinen.

Der Rote Yamari erscheint üblicherweise nur in der Form mit einem Kopf, zwei Armen und zwei Beinen.

Was sagt uns das? Es besagt, dass es zahlreiche unterschiedliche Arten und viele Erscheinungen all dieser Buddha-Gestalten gibt. Und was liegt dem zugrunde? Es ist die Tatsache, dass ein Buddha in jeglicher Form erscheinen kann, um anderen nutzen zu können. Für einige Schüler ist die eine Art von Form hilfreicher, für andere eine andere. Wenn eine bestimmte Form zu populär geworden ist, sodass sie ein Allgemeinplatz und trivialisiert worden ist – wie zum Beispiel als Aufdruck auf Kalachakra-T-Shirts und dergleichen –, dann wird manchmal eine andere Form offenbart, weil diese stets etwas Heiliges und Vertrauliches bleiben sollte und nicht ein populäres Klischee.

Wir wollen uns hier vor allem mit dem neunköpfigen Vajrabhairava befassen. Es gibt dafür zwei wesentliche Traditionen:

  • Die eine geht von Mal Lotsawa (Mal Lo-tsa-ba Blo-gros grags) aus. Wir finden sie in den Sakya- und den verschiedenen Kagyü-Überlieferungen sowie in der Jonang -Überlieferung. Hier sind die neun Köpfe übereinander angeordnet – zuerst drei, darüber drei weitere, und darüber nochmals drei Köpfe. Die neun Köpfe symbolisieren übrigens die neun Kategorien buddhistischer Texte, die buddhistischen Schriften.
  • In der Überlieferung, die von Ra Lotsawa (Rva Lo-tsa-ba rDo-rje grags-pa) ausgeht – das ist diejenige, gemäß der in der Gelug-Tradition praktiziert wird – sind die Köpfe kreisförmig angeordnet: ein zentraler Kopf, darüber zwei und außerdem drei auf jeder Seite.

So, nun genug der Kunstgeschichte bzw. Ikonografie. Hängt nicht zu sehr an einer bestimmten Form, etwa indem ihr denkt: „So und nicht anders muss die Gestalt aussehen“ oder „Meine Tradition ist die richtige und alle anderen sind verkehrt.“ Das ist eine sehr engstirnige Einstellung. Es gibt von allem vielerlei Varianten. Willkommen in der Welt des tibetischen Buddhismus!

Die Herkunft der Lehren

Die traditionelle Darstellung

Die traditionelle Darstellung, wie Buddha diese Lehren erteilte, lautet, dass er in Form von Yamantaka erschien – so wie er anlässlich der Lehren anderer Tantras wie zum Beispiel Guhyasamaja und Chakrasamvara eben in jener Form erschien, um die betreffenden Lehren zu erteilen –, und die Unterweisungen in 100.000 Kapiteln gab. Diese wurden im Lande Oddiyana aufbewahrt, auf Tibetisch „Ogyen“ oder „Urgyän“ (U-rgyan), dem Land, aus dem später Guru Rinpoche hervorging. Sie wurden im Dharmaganja Stupa verwahrt, der von allen Dakinis verehrt wurde. Alle waren sich einig, dass es sich um etwas sehr Spezielles handelte, dem dort gehuldigt wurde.

Diese Lehren wurden erstmals im 10. Jahrhundert durch einen großen Meister aus dem Kloster Nalanda namens Lalitavajra von Ogyen nach Indien gebracht und ein Jahrhundert später, im 11. Jahrhundert, gelangten sie dann nach Tibet. Von Tibet aus verbreiteten sie sich weiter in die Mongolei und dann griffen die Mandschus sie auf, woraufhin sie in Peking, dem Herrschaftssitz der Mandschus, zu einer wesentlichen Praxis wurden. Diese Beschreibung hören wir in der buddhistischen Darstellung der Geschichte.

Wo liegt Oddyiana (Urgyän)?

Lasst uns jetzt ein bisschen wie die Wissenschaftler vorgehen und herauszufinden versuchen, ob das vom historischen Gesichtspunkt aus einen Sinn ergibt. Wie hat sich so etwas in Ogyen bzw. Oddiyana entwickelt?

Zunächst einmal: Wo liegt Oddiyana überhaupt? Wo ist Ogyen? Archäologisch wurde das Gebiet Bereich als das Swat-Tal im Nordwesten des heutigen Pakistans identifiziert. Der Einfachheit halber werde ich es hier Ogyen nennen, denn so wird es in Tibet genannt. Es handelte sich um ein Königreich in den Bergen des nordwestlichen Pakistan. Um das Auftauchen der Yamantaka-Praxis dort zu verstehen, müssen wir einen Blick auf die Geschichte von Yama werfen, denn sonst wird es nicht verständlich, dass diese Lehren dort aufbewahrt wurden. Yamantaka ist dem Namen nach, wie gesagt, derjenige der dem Yama ein Ende setzt (Yama ist der Herr des Todes), und ich habe ja bereits erklärt, inwiefern es darum geht, den gewöhnlichen Tod zu überwinden.

Ich persönlich finde das überaus interessant. Es ist nicht nur in ethnologischer Hinsicht faszinierend sondern es ist wirklich sehr hilfreich zu sehen, dass es historische Belege und eine geschichtliche Entwicklung gibt, warum diese Praktiken auftauchten, warum sie in dieser Form auftauchten und warum sie sich in dieser Region entwickelten - nicht nur irgendeine Fantasiegeschichte von ein paar Buddhisten. Mit anderen Worten, wenn wir sehen können, dass die historische Darstellung einigermaßen mit der buddhistischen Version zusammenpasst und sie bestätigt, wird das wohl unser Vertrauen etwas stärken. Für mich jedenfalls ist das hilfreich.

Yama

Also: Wer ist Yama? Yama ist in der indo-iranischen Kultur eine geläufige Gestalt, sowohl im indischen als auch im iranischen Gebiet. Yama wird im 10. Buch des Rg Veda erwähnt. Das ist ein alter indischer Text. Er war der erste Sterbliche, der den Tod erfuhr, und so wurde er der „Herr des Todes“. Er wird als sehr weise beschrieben, und er beurteilt die Wiedergeburt derjenigen, die sterben. So etwas finden wir in vielen Kulturen – eine Art Richter, der als Herr des Todes fungiert. Das ist Yama, und er wird bereits mit Weisheit in Verbindung gebracht und gilt als sehr intelligent.

Später, in einer der Upanishaden, der „Katha Upanishad“, wird er als Lehrer beschrieben und somit wiederum stärker mit Weisheit in Verbindung gebracht. Später wird er mit Manjushri assoziiert, der die Weisheit bzw. auch die Erkenntnis der Realität verkörpert. Schon sehr früh in der indischen, noch prä-hinduistischen Kultur wurde also im Zusammenhang mit Yama diese Verbindung hergestellt .

Manchmal findet man für Yama auch die Bezeichnung Dharma, und zwar war noch bevor der Hinduismus selbst kodifiziert wurde, also in prä-hinduistischer Tradition. In jener Tradition wurde das Wort mit der die Bedeutung „Gerechtigkeit“ in Verbindung gebracht, nämlich Gerechtigkeit im Sinne der Aufrechterhaltung der Gesetze des Karmas im Hinblick auf die Wiedergeburt. Insofern wird er auch Dharma genannt, der Herr des Dharma, und daher auch Dharmaraja (tib. Chos-rgyal). Dharmaraja, der „König des Dharma“, ist also ebenfalls ein Name, der für Yama verwendet wird. Dieser wird später als ein Schutzherr in den Buddhismus aufgenommen (er wird von Yamantaka gebändigt und zu einem Schutzherrn gemacht). Es gibt drei Formen davon: den äußeren, den inneren und den geheimen Dharmaraja. Aber der Name Dharmaraja taucht auch schon in nicht-buddhistischem Kontext auf.

In den Buddhismus sind zahlreiche Schutzgottheiten integriert worden, und viele davon stammen aus einem früheren indischen, nicht buddhistischen Kontext (einige sogar aus iranischem Kontext). Sie wurden von Guru Rinpoche oder auch anderen Persönlichkeiten gebändigt und ihnen wurde ein Eid auferlegt, die Praktizierenden zu beschützen. So wurden sie in den Buddhismus mit einbezogen, darunter auch Yama. All die Namen, die in den Schutzherren-Praktiken für Yama genannt werden – Dharmaraja, Yamaraja („König Yama“) –, findet man auch bereits in nicht-buddhistischen Varianten.

In diesen Texten wird Yama auch Kala genannt. „Kala“ ist ein interessantes Wort, denn es hat im Sanskrit zwei Bedeutungen: die eine ist „Zeit“ und die andere ist „schwarz“. In unserem Zusammenhang bedeutet „Kala“ „Zeit“, weil die Zeit den Tod bringt. Das Vergehen der Zeit bedingt den Tod, nicht wahr? Noch ein weiterer Name für Yama lautet Kalarupa, und auch dieser findet sich in den Schutzherren-Praktiken. „Kalarupa“ – „derjenige in der Form von Kala“ – das ist die Zeit, die Form annimmt als Herr des Todes. Hier wird sogar eine Verbindung zu Mahakala hergestellt, was wörtlich die „große Form der Zeit“ bedeuten kann. Interessanterweise wird hier aber im Tibetischen „kala“ als „schwarz“ (tib. nag-po) übersetzt, sodass Mahakala dann auf Tibetisch „der große Schwarze“ genannt wird. Manchmal ist die Kenntnis von Sanskrit und Tibetisch recht nützlich, um einige solcher verwirrenden Punkte zu klären.

In der Zeit der Upanishaden finden sich auch Schutzherren der Richtungen. Es gibt acht oder zehn Richtungs-Schutzherren, und einer davon ist Yama. Und weil Yama in diesem allgemeinen indischen Kontext als einer der Richtungs-Schutzherr auftaucht, werden dann im buddhistischen Kontext in der Yamantaka-Praxis, in der Guhyasamaja-Praxis – in vielen verschiedenen Praktiken – 15 Richtungs-Schutzherren angerufen, von denen einer wiederum Yama ist. Yama taucht auch als einer der acht Richtungs-Schutzherren auf, welche auf den Friedhöfen erscheinen, die oft im Anuttarayoga-Tantra das Mandala umgeben, zum Beispiel im Yamantaka-, Vajrapani-, Mahachakra-, Chakrasamvara-, Vajrayogini- und Hevajra-Tantra. Außerdem erscheint er als einer der acht nicht-buddhistischen Gottheiten, welche sich in acht von den Schädelschalen befinden, die Hevajra in den Händen hält. Das alles stammt aus dem allgemeinen indischen Hintergrund. Es ist nichts speziell Buddhistisches daran.

Ich denke, es ist wichtig, realistisch zu sein und zu verstehen, dass der Buddhismus sich nicht in einem Vakuum entwickelte. Buddhismus ist ursprünglich eine indische Religion, ein indisches System, und weist viele Gemeinsamkeiten mit dem auf, was später zum Hinduismus und Jainismus wurde. Es gibt in Indien einen universellen Fundus von Vorstellungen und Konzepten – beispielsweise Karma, Wiedergeburt, verschiedene Gottheiten usw. Und all die verschiedenen indischen Traditionen haben jeweils eine eigene Variante davon, ihre eigene Version. In allen ist die Rede von denselben Dingen. Es ist also nicht überraschend, dass man diese sogenannten hinduistischen Gottheiten dann auch in den buddhistischen Praktiken findet. Wenn man weiß, wie die uralten indischen Gesellschaftsformen beschaffen waren, versteht man, dass all diese Menschen zusammen lebten, und so findet sich ein gemeinsames Reservoir. Dann wird das alles ein bisschen verständlicher.

Die indischen Gottheiten, all diese verschiedenen Gestalten, haben stets eine Art Reittier. Yama reitet auf einem Wasserbüffel. Bereits in dieser Ikonografie oder Mythologie – wie immer man es nennen will – wird Yama mit einem Wasserbüffel in Verbindung gebracht. Und er wird zum Hüter der Höllenbereiche. Bald darauf wurde er in das Gefüge der hinduistischen Gottheiten integriert, die Shiva zugeordnet werden. Im Hinduismus wird jeweils eine ganze Gruppe von Gottheiten bzw. Gestalten Shiva zugeordnet, eine andere Vishnu und Krishna (im späteren Hinduismus gibt es zwei Unterteilungen). Ein anderer Name für Shiva ist Bhairava. In der buddhistischen Variante haben wir Vajrabhairava, und das ist im Grunde der Name von Shiva, an dessen Anfang das Wort „Vajra“ hinzugefügt wurde.

In einer der Puranas – das ist ein späterer hinduistischer Text (der Markandeya Purana, um genau zu sein) – unterwirft Shiva den Yama, und dann wird Shiva „Kalantaka“ genannt, „derjenige, der Kala ein Ende setzt“ – Kala, „Zeit“, was ja ein anderer Name für Yama ist. Es gibt also Kalantaka, und dann die buddhistische Variante Yamantaka, „derjenige, der Yama ein Ende setzt“.

Im Kontext des Shiva-Tantras (es gibt also zudem auch im Shiva-System Tantra) und im buddhistischen fand eine ziemlich parallele Entwicklung statt und man findet parallele Namen. In vielen Tantra-Systemen finden sich sehr ähnliche Varianten auf der hinduistischen (der shivaistischen) Seite und der buddhistischen Seite. Viele der Inhalte des Kalachakra-Mythos gibt es zum Beispiel auch in einer hinduistischen Variante.

Wenn wir nun all das erfahren – welche Auswirkungen hat das für uns im Hinblick auf unsere Praxis? Das kann man auf zweierlei Weise betrachten:

  • Die eine Betrachtungsweise wäre: „Nur die buddhistische Version spielt eine Rolle. Buddha erscheint in einem Stupa, dazu die Dakinis und all diese Gestalten. Der historische Kram ist unwichtig. Wen kümmert es schon, was die Wissenschaftler sagen?“
  • Oder wir könnten den Standpunkt der Buddhologen – Wissenschaftler – einnehmen und die archäologischen Funde sowie die Sanskrit-Texte betrachten und sagen: „Die buddhistischen Geschichten und all das sind bloß nette Mythologie.“

Man könnte aber auch versuchen, das Ganze so zu betrachten, dass das, was in der buddhistischen Version dargestellt wird, historische Bezugspunkte hat und dass die gesamte Entwicklung des Tantras etwas war, was allgemein in Indien vor sich ging, eine allgemeine Art zu praktizieren, und dass es verschiedene philosophische Schulen gibt, seien sie hinduistisch oder buddhistisch, die damit zu tun hatten und alle die wirksamste Methode zu finden versuchten, um ihre Ziele (Befreiung oder Erleuchtung in der Art, wie sie jeweils definiert wurden) zu erreichen.

Unterschiedliche Sichtweisen, was ein Buddha ist

Wenn wir über Tantra reden und über die Darstellungen, wie Buddha die Tantras lehrte, ist es wichtig, sich in den Sinn zu rufen, dass man dies nicht im Sinne des historischen Buddha Shakyamuni verstehen sollte. Das ist nicht der Buddha, von dem hier die Rede ist. Wenn man denkt: „Nun, es war ja Buddha Shakyamuni, der Tantra lehrte“ – mit anderen Worten, der historische Buddha, wie er im Pali-Kanon, in den Theravada-Schriften beschrieben ist –, dann wird man sehen, dass es vollkommen im Widerspruch mit den buddhologischen Studien der Geschichte des Buddhismus steht. Dann verfällt man in die extreme Sichtweise, dass entweder nur das eine oder nur das andere wahr sein kann.

Es gibt jedoch verschiedene Darstellungen, was ein Buddha ist:

  • Es gibt die Version, die man im Pali-Kanon findet und gemäß der Shakyamuni ein Prinz war, der ein bestimmtes Leben lebte, und es gibt zahlreiche Schilderungen, was er während seines tatsächlichen historischen Lebens tat. Das ist die eine Version, in Übereinstimmung mit der Darstellung im Pali-Kanon, was ein Buddha ist.
  • Der Buddha, der in den Mahayana-Sutras dargestellt wird, ist eine ganz andere Art von Buddha. Es ist ein Buddha gemäß dem Mahayana, der sich dann in vielen Formen und Buddhafeldern manifestiert und Hunderttausenden von Devas, Asuras und Gandharvas – all den Gestalten der allgemeinen indischen Mythologie oder wie immer man sie nennen will, lauter Wesen in erstaunlichen Umgebungen – Lehren übermittelt.

Letzteres ist die Art, wie ein Buddha im Mahayana beschrieben wird. Warum? Weil Buddha im Mahayana jemand ist, der dem ganzen Universum Lehren gibt. Das ist eine ganz andere Art von Buddha. Darin wird Buddha als jemand verstanden, der vor zahllosen Zeitaltern Erleuchtung erlangte, dann später nur durch seine Manifestation das Erreichen der Erleuchtung offenbarte und unglaubliche Dinge tat, um das gesamte Universum etwas zu lehren. Wenn man dann denkt: „Ja, hat denn das alles der historische Buddha getan?“, dann wird man ziemlich verwirrt sein - „Wie konnte denn der historische Buddha so lehren?“

Ein Buddha, der erscheint und die Tantras lehrt, ist noch wieder eine andere Art von Buddha. Ob er als Vajradhara oder, wie hier, als Yamantaka oder als Chakrasamvara oder als Kalachakra erscheint – ein Buddha erscheint in all diesen verschiedenen Formen von Gottheiten und in jeder historischen Zeit, aber es ist nicht eine historisch bestimmbare Zeit. Es geht jeweils um eine verschiedene Art von Buddha, die dann erscheint, wenn es notwendig und hilfreich ist. Wir sprechen hier nicht von dem historischen Shakyamuni.

Jetzt müssen wir diese Aussage noch näher bestimmen. Sind all diese Gestalten Shakyamuni? Handelt es sich immer um dieselbe Person, von der im Pali-Kanon die Rede ist, die in den Mahayana-Sutras beschrieben wird, die man in den Tantra-Texten findet? Nun, darauf müsste man antworten: „Ja, es ist immer dieselbe Person. Es handelt sich nicht um verschiedene Leute.“ Aber was versteht man unter dieser Person? Wie beschreibt man sie? Wie stellt man sich so eine Person vor in Zusammenhang mit den eigenen Zielen, mit der eigenen Methode? Man kann sich diese Person in einer Sichtweise vorstellen, wie sie dem Pali-Kanon entspricht. Man kann sie sich in einer Sichtweise gemäß den Mahayana-Sutras vorstellen. Man kann sich mit dieser Person vom Blickwinkel des Anuttarayoga-Tantra beschäftigen. So erhält man drei verschiedene Sichtweisen in Bezug auf eine solche Person. (Wir könnten das natürlich hier noch wesentlich komplizierter und anspruchsvoller ausführen, wenn wir auf dieses Thema näher eingehen wollen, und ich finde es sehr hilfreich, das genauer zu untersuchen.) Das Ganze hat gewisse Ähnlichkeiten mit der Erörterung der Erscheinung einer Flüssigkeit als Wasser, Eiter oder Nektar für jeweils verschiedene Wesen:

  • den Menschen erscheint sie als Wasser
  • bestimmten Geistern erscheint sie als Eiter
  • Göttern erscheint sie als Nektar
  • und von ihrer eigenen Seite aus ist sie keines davon – man kann nichts davon auf ihrer eigenen Seite finden –, und doch sind alle drei Wahrnehmungen ihrer Erscheinung gültig.

Alle drei Sichtweisen, was ein Buddha ist, sind gültig, aber sie sind gültig in ihrem jeweils eigenen Kontext, und das ist es, was man verstehen muss: gültig in ihrem jeweiligen Kontext. Es besteht eigentlich kein Problem darin, auch den historischen Zusammenhang aus dem buddhologischen Blickwinkel mit einzubeziehen. Wir können durchaus gute Praktizierende des Buddhismus sein und dennoch keine religiösen Fanatiker, die meinen: „All diese Buddhologen und wissenschaftlichen Studien der Texte und so – das interessiert uns nicht.“ Es besteht kein Widerspruch. Man versteht das Ganze tiefgehender – eine buddhistische Untersuchung verschiedener Gesichtspunkten.

Es gibt also eine ganze Entwicklung im nicht-buddhistischen indischen Kontext von Yama, dem Herrn des Todes, und sogar auch von Beendigen bzw. Überwinden von Yama im shivaistischen System.

Werfen wir noch einen Blick auf die iranische Seite. Noch bevor der Zoroastrismus kodifiziert wurde, also in einer Art Vorform davon, gab es einen sehr alten heiligen Text namens „Avesta“ - ähnlich wie in der Urform des Hinduismus die Veden von großer Bedeutung waren. Und auch im „Avesta“ finden wir Yama – er wird hier Yima genannt –, und auch hier ist er der erste Mensch, der stirbt, und er wird hier ebenfalls der Hüter der Höllenbereiche.

Die Verbindung zwischen Yama, Yamantaka und Ogyen

Schauen wir uns nun an: Warum Oddyiana? Warum Ogyen? Was gibt es so Besonderes an diesem Gebiet, dass Guru Rinpoche von dort stammt, dass all die Tantras von dort stammen usw.? Das ist eine interessante Sache. Warum? Im Buddhismus wird ja gesagt, dass ein Buddha an einem Ort erscheint, wo er am meisten gebraucht wird, wo die Menschen empfänglich dafür sind, und er lehrt auf eine Art und Weise, die die Menschen jener Zeit verstehen können (man nennt das geschickten Einsatz von Mitteln). Das bezieht sich auf einen Buddha, wie er im Tantra verstanden wird. Das ist die Funktion eines Buddhas. Ogyen lag ziemlich im geographischen Zentrum eines großen Reiches namens Kushan. Dessen Dynastie herrschte lange Zeit über das gesamte Gebiet von Ost-Iran bis hin zum nördlichen Zentral-Indien, und so fand dort eine Vermischung von iranischen und alten indischen Vorstellungen, von Mythologien, verschiedenen religiösen Vorstellungen und Begriffen statt. Das bezieht sich auf einen Zeitraum zwischen dem 1. und dem frühen 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung.

Und was fand man in diesem Gebiet? Eine Mischung von iranischen Kulturen und Religionen, indischen Religionen – vor allem der frühen Shiva-Verehrung und Shiva-Tantras – und auch von Buddhismus, also eine Mischung dieser drei. Es fand ein Ideenaustausch statt. Wenn verschiedene Kulturen im selben Gebiet vorhanden sind, existieren sie dort nicht in Isolation, nicht wahr? – sie sind nicht isoliert voneinander.

Die Vorstellungen von Yama durchdringen dieses kulturelle Gebiet mit Einflüssen dieser drei verschiedenen Denkweisen – der iranischen, der nicht-buddhisten indischen und der buddhistischen. In der buddhistischen Version wird Yama von Yamantaka überwunden – so wie Yama, der in dem Zusammenhang Kala genannt wird, von Shiva als Kalantaka überwunden wurde. Sowohl Yama als auch Yamantaka haben einen Büffelkopf, den Kopf eines Wasserbüffels. Ich wollte immer wissen, warum er einen Büffelkopf hatte. Das ist doch ziemlich seltsam, oder?

Wie Yamantaka einen Wasserbüffelkopf bekam

Wie lautet die buddhistische Version der Legende? Das ist eine interessante Fassung. Es gab einst einen heiligen Mann, dem gesagt wurde, dass er Erleuchtung erreichen würde, wenn er die nächsten 50 Jahre lang meditieren würde. Der Heilige meditierte 49 Jahre, elf Monate und 29 Tage lang in einer Höhle – es fehlte nur noch ein Tag, um die 50 Jahre voll zu machen –, und dann wurde er von zwei Dieben gestört, die mit einem gestohlenen Wasserbüffel in seine Höhle stürmten. Vor dem Einsiedler schlugen sie erst dem Büffel den Kopf ab, und der Einsiedler flehte sie an, ihn selbst noch ein paar Minuten am Leben zu lassen, bis seine 50 Jahre Meditation vollständig wären, aber sie schlugen ihm den Kopf ab, noch bevor er sein Bitte zu Ende gesprochen hatte. Nachdem ihm der Kopf abgeschlagen war, wurde er jedoch so wütend, dass er den abgeschlagenen Kopf des Wasserbüffels aufsetzte und zu Yama, dem Herrn des Todes wurde. Er tötete die beiden Diebe und trank ihr Blut aus Gefäßen, die er aus ihrem Schädel gemacht hatte (daher das Bild der Schädelschale). So lautet die Legende.

Er war weiterhin so wütend und außer sich, dass er beschloss, jeden in Tibet zu töten. (Das ist übrigens die tibetische Fassung der Geschichte.) Die Menschen in Tibet fürchteten um ihr Leben und beteten zu Manjushri, dass er sie erhöre. Manjushri verwandelte sich in Yamantaka und sah in dieser Erscheinung ganz ähnlich aus wie Yama, war jedoch zehnmal stärker und schrecklicher. Manjushri als Yamantaka besiegte Yama und machte ihn zu einem Schutzherrn des Buddhismus.

Was lernen wir aus dieser Geschichte? Wir sollten diese Dinge nicht als eine Art Kindermärchen betrachten; das Studium der Mythologie kann einen veranlassen zu sehen, welche Lektionen hinter den Mythen stecken, es geht um tiefere psychologische Vorgänge usw. Man findet diese Einstellung zum Beispiel auch in der Psychologie C.G. Jungs.

Wir haben am Anfang darüber gesprochen, wie im gewöhnlichen Todesprozess die Ebene der geistigen Aktivität für eine kurze Zeit diejenige des subilsten klaren Lichts ist, das sogenannte klare Licht des Todes. In der höchsten Klasse der Tantra-Praxis versucht man, diesen Vorgang in der Meditation nachzuvollziehen, indem man sehr subtile Methoden anwendet, um ebenfalls bis hinunter zu dieser subtilsten Ebene zu gelangen. Man imitiert den Todesprozess – allerdings natürlich ohne zu sterben. Yamantaka imitiert Yama, indem beide einen Büffelkopf haben. Es ist dasselbe: Die Praxis von Yamantaka imitiert die Praxis des Todes, das heißt: das, was auch beim Tod der Fall ist. Aus diesem Grund hat Yamantaka auch einen Wasserbüffelkopf.

Warum gerade ein Wasserbüffel – das kann ich nur vermuten. Warum nicht eine Ziege oder ein Hund oder irgend so etwas? Ich weiß es nicht, aber man kann Vermutungen anstellen: Ein Wasserbüffel ist überaus stark und er wird in Indien für schwere Arbeiten herangezogen – im Zusammenhang mit Yamantaka wird ausdrücklich erwähnt, dass es ein männlicher Wasserbüffel ist, keine Büffelkuh –, er hat also enorme Kraft. Vielleicht spielt diese Bedeutung eine Rolle. Ich weiß es nicht.

Yamantaka als Schutzherr

Schon früh in der Entwicklung des buddhistischen Tantras erscheint Yamantaka erstmals als Schutzherr. Bereits im Guhyasamaja taucht Yamantaka auf. Laut etlichen Wissenschaftlern ist dies bereits im 4. Jahrhundert der Fall. Gemäß der Tradition allerdings erteilte Buddha die Lehren des Guhyasamaja dem König Indrabhuti von Ogyen, der in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts herrschte. Ich hatte schon erwähnt, dass Lalitavajra, der die Lehren dort fand, im 10. Jahrhundert lebte. Und bereits im 4. Jahrhundert ist Yamantaka zu finden.

Im Guhyasamaja gibt es eine sogenannte Praxis des Schutzrades – sie wird auch in der Hevajra- und in der Yamantaka-Praxis, in letzterer sehr stark, eingesetzt. Dabei geht es um einen geschützten Raum, in dem sich in allen Richtungen Schutzherren befinden. In psychologischer Hinsicht ist das tatsächlich sehr wichtig, denn um sich sicher zu fühlen – auch schon während einer Gruppentherapie und in jeder Art von Therapie-Sitzung –, braucht man einen geschützten Raum, in dem man sicher sein kann, dass nichts Schädliches von außen eindringen kann, und sich entspannen kann. Aus einem ähnlichen Grund erstellt man auch in vielen tantrischen Praktiken einen Schutzraum. Dieser wird Schutzkreis oder Schutzrad genannt und ist psychologisch gesehen sehr hilfreich. Yamantaka ist bereits im Guhyasamaja als einer der Schutzherren in einem solchen Kreis zu finden, desgleichen in der Yamantaka- und Hevajra-Praxis. Zudem hat der Palast im Guhyasamaja vier Zugangstore und in einem davon befindet sich als Schutzherr ebenfalls Yamantaka. Auch im Kalachakra erscheint Yamantaka als Schutzherr eines der Tore des Körper-Mandalas sowie als einer der 60 Schutzherren im Schutzrad. In diesen Fällen hat Yamantaka drei Köpfe, sechs Arme und zwei Beine und gehört zur Buddha-Familie des Vairochana. Schon vor der Entwicklung von Yamantaka als Meditationsgottheit, in deren Form man sich selbst visualisiert, erscheint er bereits als ein Schutzherr, um schädliche Einflüsse zu vertreiben.

Yamantaka in anderen Tantras vor Lalitavajra

Yamantaka taucht auch in anderen Tantras vor der Zeit Lalitavajras auf, zum Beispiel im sogenannten Wurzeltantra des Manjushri (Skt. Manjushri-mulakalpa). Auch im „Manjushri-namasamgiti“ – „Chorgesang der Namen Manjushris“ wird er erwähnt; das ist ein Kalachakra-Text (vermutlich aus dem 7. Jahrhundert). Erinnert ihr euch an die Verbindung von Yamantaka mit Manjushri? Sie wird schon in dieser frühen Zeit hergestellt.

Lalitavajra

Nun kommen wir zu Lalitavajra (tib. Rol-pa’i rdo-rje) und damit zum 10. Jahrhundert. Lalitavajra war ein Meister an der Universität von Nalanda und stammte aus Orissa. Er studierte diesen Chorgesang der Namen Manjushris“ und stieß darin auf einige Zeilen im Abschnitt „Lobpreis des spiegelgleichen tiefen Gewahrseins“. Ich werde hier nicht die gesamten Zeilen vorlesen, weil wir nicht so viel Zeit haben, sondern nur die betreffenden Teile der Zeilen:

(66d-67ab) Er ist Vajrabhairava, der furchterregende Vajra-Schreckliche. Herrscher der Wütenden, mit sechs Gesichtern und erschreckend, mit sechs Augen, sechs Armen und voller mächtiger Kraft […]

(68ab) Er ist der Zerstörer des Todes, Yamantaka, König der Behinderer, Vajravega, Vajra-Macht, der Furchterregende […]

Vajravega ist die extrem kraftvolle Form von Kalachakra. Bemerkenswert ist auch, dass das Wurzeltantra von Vajravega einen Sanskrit-Lobpreis „an den, der im Sinne von Vajrabhairava handelt“ enthält. Der Name Vajrabhairava taucht auch in den 72 Zeilen des Mantra-Kranzes von Vajravega auf.

(76) Er ist Manjugosha, mit lieblicher Stimme, enormer Lautstärke, ein gewaltiger Klang einzigartig auf den drei Ebenen der Welt, eine Stimme, die bis ans Ende des Raumes schallt, die beste von allen, die eine Stimme haben.

Manjugosha ist ein anderer Name für Manjushri.

Lalitavajra las die Zeilen mit all den – Yamantaka, Vajrabhairava, Manjugosha – und fragte sich: „Wer ist dieser Vajrabhairava? Wer ist dieser Yamantaka?“ Er versuchte, in Indien einen tantrischen Text von Vajrabhairava aufzutreiben, konnte aber keinen finden. Daher praktizierte er gemäß einer anderen tantrischen Lehre, dem sogenannten „Netz der Illusion“ (Skt. Mayajala Tantra, tib. rGyu-‘phrul drva-ba). Das ist eines der frühen Tantras, die ins Tibetische übersetzt worden waren, und war in die Texttradition der Nyingma aufgenommen worden. In diesem Tantra spielt Manjushri eine Rolle. Lalitavajra praktizierte es 20 Jahre lang, um eine Vision von Manjushri zu erhalten und schließlich gelang es ihm, die Offenbarung einer direkten Manifestation von Manjushri zu empfangen. Manjushri ließ ihn wissen: „Geh nach Ogyen, nach Oddiyana, dort wirst du die vollständigen Lehren von Vajrabhairava finden.“

Also reiste Lalitavajra von Nalanda – das liegt in Zentralindien, nicht weit von Bodhgaya und nördlich davon – zu Fuß den ganzen Weg bis hin zum Swat-Tal im westlichen Pakistan. Das ist kein einfacher Weg.

Ich finde es immer ganz hilfreich, diese Dinge nicht bloß als irgend eine Legende zu betrachten, sondern mir vorzustellen, wie sie tatsächlich abgelaufen sind. Da übt dieser Mensch diese Praxis aus, hat eine Vision – „Geh nach Swat“ –,und schenkt ihr Glauben, und geht dann den ganzen Weg zu Fuß dorthin. Und tatsächlich trifft er dort eine Praktizierende, eine sogenannte Dakini des tiefen Gewahrseins (tib. ye-shes mkha’-‘gro). Sie heißt Vajravetali (auf Sanskrit), beziehungsweise, auf Tibetisch, Dorje Rolangma (rDo-rje ro-lang-ma). Sie ist die Gefährtin von Vajrabhairava – das allein schon ist ein sehr interessanter Punkt: dass die Hüterin dieser Lehren eine Frau war. Oft herrscht die Denkweise vor, dass Frauen in der historischen Entwicklung des Buddhismus keine wesentliche Rolle spielten. Aber hier haben wir ein gutes Beispiel: Es war eine Frau, die diese Lehren übermittelte und eine ganze Überlieferungslinie in Gang setzte. Lalitavajra traf diese Dakini und sie erteilte ihm die Initiation des Vajrabhairava. Es gab die Lehren dort also tatsächlich.

Er übte all die Praktiken aus – und offensichtlich war er sehr fortgeschritten darin, denn innerhalb von drei Monaten gelang es ihm, sie zu verwirklichen. Dann fragte er, ob er diese Tantra-Lehren mit zurück in seine Heimat, nach Indien, bringen könne. Sie verneinte. Sie sagte: „Du kannst nur das mit zurücknehmen, was du in sieben Tagen auswendig lernen kannst.“ Auch das ist wieder ein interessanter Punkt, nämlich dass diese Lehren als überaus heilig angesehen wurden, nicht öffentlich gemacht werden sollten und dass man, wenn man sie wirklich wollte, einen ungemein starken Wunsch danach haben und sich sehr große Mühe geben musste, was auch heißt, dass man sie auswendig kennen musste. Und es ist nicht einfach, diese Texte auswendig zu lernen.

Lalitavajra erkannte, dass es über seine Fähigkeiten ging, so viel auswendig zu lernen (es war ein sehr langes Tantra). Er umrundete den Stupa und ersuchte Manjushri um Inspiration. Er war dann imstande, drei Texte auswendig im Gedächtnis zu behalten. Denkt daran, dass Manjushri die Verkörperung des unterscheidenden Gewahrseins, des klaren Geistes, der Intelligenz, der sogenannten Weisheit der Buddhas ist. Tibetische und indische Praktizierende haben immer den Schwerpunkt auf Manjushri gelegt, um hohe Intelligenz und äußerste Klarheit des Geistes zu erlangen. Dies also tat Lalitavajra.

Nun könnte man sich fragen: „Wie funktioniert das? Betet man da: O Gott, schenk mir einen klaren Geist?, und dann erfüllt Gott in Form von Manjushri diesen Wunsch – huiiii – und schon hat man einen klaren Geist?“ Nein, so geht das nicht, ich bitte euch. Diese ganze Angelegenheit mit dem Ersuchen – man muss wirklich verstehen, was das bedeutet. Es ist nicht wie in dem Song von Janis Joplin: „Ach Herr, schenk mir doch einen Mercedes!“

Vielmehr sehnt man sich danach, aufgrund einer sehr weitherzigen Motivation, einen klaren Geist zu haben, sodass man dies in den Mittelpunkt stellt. Manjushri wirkt als Brennpunkt dafür – mit einem scharfen Schwert, um die Verwirrung zu durchtrennen – und weil man eine solche Kraft in den Wunsch legt, diese Klarheit des Geistes, dieses Verständnis zu erlangen, sammelt sich der Geist und ist dann klarer. Das funktioniert – aber nicht kraft irgendeiner magischen Formel oder durch ein Wunder. Es entsteht in Abhängigkeit von bestimmten Faktoren.

Die drei hauptsächlichen Vajrabhairava-Texte

Lalitavajra wollte noch mehr mitnehmen, aber die Dakini sagte ihm: „Das ist genug. Die Menschen können damit Erleuchtung erreichen.“ Welches sind nun diese drei Texte? Sie heißen „Drei Runden des Tantra“ (tib. (rGyud-skor gsum) und sie beinhalten:

  • „Die zusammengefassten Kapitel des Wurzeltantras“ (tib. rTsa-rgyud rtogs-bsdus).
  • „Das erläuternde Tantra in drei Kapiteln“  (tib. bShad-rgyud rtogs-gsum)
  • „Das Kapitel der Moschus-Spitzmaus“ (tib. Til-la’i rtogs-pa, Chu-cchu-nda-ra’i rtogs-pa)

Ich habe den Inhalt dieser Texte vorliegen, was darin enthalten ist. Es ist interessant zu sehen, was hier tatsächlich in den Wurzeltantras steht. In allen Kapiteln dieser drei Texte finden sich sehr heftige Rituale, die mit dem Überwinden schädlicher Wesen zu tun haben, und wenn man sie liest, klingen sie wirklich total schrecklich und gewaltsam.

Der erste dieser Texte, „Die zusammengefassten Kapitel des Wurzeltantras“, besteht aus sieben Kapiteln, die eine Kurzfassung der Version in 100.000 Kapiteln ist (oder in 100.000 Versen – das ist unklar, denn der lange Text selbst ist verloren gegangen).

  • Das erste Kapitel beschreibt den Mandala-Palast, der während der Initiation enthüllt wird, die Gaben, die dargebracht werden sollen, die Verwirklichungen, die man erreichen kann, und einige kurze Anleitungen, wie man eine entsprechende Klausur durchführt, um Kräfte zu gewinnen, die schädliche Einflüsse ausschalten.
  • Das zweite Kapitel enthält Rituale, in denen allerlei Mittel für extrem kraftvolle Aktionen gegen schädliche Wesen eingesetzt werden. Zu diesen Ritualen gehört auch die Konstruktion eines sogenannten Waffen-Rades, das „Rad der scharfen Waffen“.

Einer derjenigen, die später diese Überlieferung erstmals nach Tibet brachten, war Atisha. Einer von Atishas Lehrern war Dharmarakshita, der Verfasser des Geistestrainings (tib. lojong) mit dem gleichen Namen, „Rad der scharfen Waffen“ (tib. Theg-pa chen-po’i blo-sbyong mtshon-cha ’khor-lo). Darin heißt es: „Yamantaka, schwing dein Rad der scharfen Waffen.“ All das steht im zusammengefassten Wurzeltantra. In dem Text „Rad der scharfen Waffen“ wird es sehr deutlich, dass die Waffen dafür gedacht sind, unsere Selbstbezogenheit, das Greifen nach unserem Selbst usw. zu überwinden. Das sind die eigentlichen Schadensstifter.

In den übrigen Kapiteln der „Zusammengefassten Kapitel des Wurzeltantras“ geht es um:

  • das Ritual zum Ansammeln der Silben des Mantras von Vajrabhairava
  • das Erscheinen von Vajrabhairava aus der Leerheit und dann von Manjushri, wie in der Sadhana, mit der kompletten Beschreibung der Visualisierung des vollständigen Vajrabhairava (als einzelne Gottheit), mit dem Hinweis, dass das Mantra für die kurze Klausur 300.000 Mal zu rezitieren ist
  • Anweisungen für das Zeichnen des vollständigen Vajrabhairava als einzelne Gottheit mit Wiederholung der kompletten Beschreibung der Gottheit sowie der Totenäcker
  • Anleitungen zum Durchführen verschiedener extrem kraftvoller Handlungen gegen schädliche Wesen mithilfe von Feuer-Pujas
  • Meditationspraktiken für extrem kraftvolle Aktivitäten gegen schädliche Wesen und warnende Hinweise, diese Praktiken geheim zu halten.

„Das erläuternde Tantra in drei Kapiteln“ enthält:

  • detaillierte Anweisungen mit genauen Maßen für das Zeichnen eines Waffen-Rades, das zum Befrieden, Wachstum, zur Kontrolle bzw. starken Einflussnahme und zu extrem kraftvollen Aktivitäten verwendet wird, und das Zusammenbringen der Silben, die auf dem Waffen-Rad platziert werden; dann das Zusammenführen des Rades tiefen Gewahrseins mit einem gezeichneten Rad der Verpflichtungen; dann die Mantras, die im Zusammenhang mit den verschiedenen Aktivitäten rezitiert werden, und schließlich Warnungen, welches Unheil geschehen wird, wenn man diese Schritte nicht korrekt einhält
  • Rituale zum Transformieren der Substanzen der engen Bindung in einen Trank zum Gewinnen verschiedener Kräfte
  • ergänzende Faktoren für das Gelingen der Rituale – d.h. hilfreiche Faktoren –, die Reihenfolge der Praktiken und die Ergebnisse, die erreicht werden, wenn die Rituale erfolgreich durchgeführt werden: (a) das Befrieden bewirkt Schutz vor den acht Arten von Furcht, (b) Wachstum vermehrt die sechs guten Qualitäten, (c) Kontrolle bzw. starke Einflussnahme bringt Erfolg beim Erreichen der weißen Erscheinung, der roten Erscheinung, der schwarzen Erscheinung, die dem Erreichen [der subtilsten Ebene] nahe ist, und des klaren Lichts, (d) Separieren bewirkt, dass die Geheimhaltung gewahrt bleibt und verschiedenen Arten dämonischer Einflüsse abgewendet werden, (e) Unterbinden bewirkt Zügelung der sechs Sinne. Der Text betont die Notwendigkeit, überzeugt an die Praktiken zu glauben, keine Zweifel oder dualistische Denkweise zu hegen, die Rituale nicht von der Mantra-Rezitation zu trennen und auf einen spirituellen Lehrer zu vertrauen.

Im „Kapitel der Moschus-Spitzmaus“ geht es um das Erlangen von Kräften, wobei das Fell eines Tieres namens Moschus-Spitzmaus (tib. til-la) als Hilfsmittel verwendet wird.

Geheimhaltung im Tantra

In diesen Texten findet man eine sehr klare Beschreibung, wie Yamantaka aussieht – wie viele Arme und Beine er hat, was er in den Händen hält, was sich unter seinen Füßen befindet usw. All das ist in den Texten ganz klar aufgeführt. Dazu kommen die schrecklichen Schilderungen der Rituale zum Zerschmettern, Töten und aller möglichen schrecklichen Aktivitäten mit diesen scharfen Waffen, dem Waffen-Rad. Und es wird darauf hingewiesen, dass das geheim gehalten werden soll. Warum? Es soll geheim gehalten werden, weil es als wirklich grausige Handlung missverstanden werden könnte, etwa in dem Sinne, dass die Praktizierenden tatsächlich losgehen und andere Wesen umbringen würden. Aber das ist nicht der Fall, denn wie man aus dem Text „Rad der scharfen Waffen“ ersehen kann, ist diese bildliche Vorstellung dazu gedacht, Kraft zu erwecken, um, wie gesagt, die eigene Ignoranz, Selbstbezogenheit, das Greifen nach einem Selbst zu durchbrechen. So etwas muss von einem Lehrer erklärt werden, und darauf bezieht sich in diesem Tantra-System der Aspekt der Geheimhaltung.

Im Guhyasamaja gibt es, wie ich in meinem früheren Vortrag darüber erwähnt habe, ein ganz anderes System der Geheimhaltung als hier im Vajrabhairava. In der Gelug-Version des Anuttarayoga-Tantra wird unterschieden zwischen verborgenen (oder auch geheimen) Tantras (tib. sbas-rgyud) und dem klaren Tantra (tib. gsal-rgyud) (nämlich Kalachakra). Und worum geht es bei dieser Unterscheidung? In der höchsten Tantra-Klasse gibt es vier Initiationen (Ermächtigungen), von denen die vierte zu den letztendlichen Praktiken ermächtigt, in denen die beiden Wahrheiten gleichzeitig praktiziert werden.

Das ist der einzige Punkt, der im Rahmen dieser Unterscheidung verborgen bzw. geheim ist. Es ist gut, das zu wissen, sonst gerät man in Verwirrung. Diese drei Tantra-Texte sind übrigens ins Englische übersetzt worden (Siklos, Bulcsu, The Vajrabhairava Tantras (Buddhica Britannica, Series Continua VII). Tring, U.K., Institute of Buddhist Studies, 1996). Jeder kann sie lesen, sie enthalten die vollständige Beschreibung von Yamantaka und eine Menge durchaus expliziter Schilderungen – da fragt man sich natürlich: „Wie bitte? Was bedeutet dann der Hinweis im Text, dass das geheim gehalten werden soll?“

Beim Studium des Guhyasamaja – und das ist das hauptsächliche System, das in der Gelug-Tradition an den tantrischen Hochschulen studiert wird – stellt man fest, dass das „Guhyasamaja Wurzeltantra“ in der sogenannten Vajra-Sprache (tib. rdo-rje’i tshig) verfasst ist. Vajra-Sprache ist eine vollkommen symbolische Ausdrucksweise. Da heißt es zum Beispiel „Vajra mit Lotus und mit ‚diesem‘ und ‚jenem‘“, und es bleibt völlig rätselhaft, worum es da eigentlich geht. Die Symbolik hat eine Struktur, die man in Chandrakirtis Kommentaren zum Guhyasamaja finden kann, in welchen er die Struktur der sechs Alternativen und vier Modalitäten (tib. mtha'-drug tshul-bzhi) für die Erklärung der sogenannten Vajra-Ausdrücke darlegt.

Aus den Worten kann man all die verschiedenen Ebenen der Praxis ableiten, und sie stellen ein System dar. Wenn man nun aber denkt dass die Bedeutung von „geheim“ und „verborgen“ sich auf das System der Vajra-Ausdrücke bezieht und dann das Yamantaka- oder das Chakrasamvara-Wurzeltantra liest, wird man erst recht verwirrt, denn dort findet man ja lauter ganz explizite Beschreibungen. Es ist daher wichtig, die Bedeutung der Worte „geheim“ bzw. „verborgen“ richtig zu verstehen.

Der wesentliche Punkt ist die Unterscheidung, ob die vierte Initiation explizit erklärt wird oder nicht. Die sogenannten verborgenen Tantras, in denen die vierte Initiation verborgen ist, sind in zwei verschiedene Systeme unterteilt: in Mutter-Tantra (tib. ma-rgyud) und Vater-Tantra (tib. pha-rgyud). Im Vater-Tantra wird der Schwerpunkt im Grunde auf die Praktiken zum Erlangen des Illusionskörpers (tib. sgyu-lus) und der physischen Körper eines Buddhas, der Formkörper eines Buddhas gelegt. Im Mutter-Tantra liegt das Hauptgewicht auf den Praktiken, welche dazu dienen, den Geisteszustand des klaren Lichts (tib. ‘od-gsal), das Verständnis der Leerheit und den Geist eines Buddhas zu erlangen. In beiden Arten von Tantra ist beides mit enthalten, aber die Gewichtung ist unterschiedlich. Diese Unterteilung in Mutter- und Vater-Tantra findet man in der Gelugpa-Tradition.

Innerhalb der Vater-Tantras gibt es:

  • solche, in denen Verlangen als Pfad verwendet wird (dafür ist Guhyasamaja ein Beispiel)
  • solche, die Ärger oder Wut einsetzen bzw. in den Pfad umwandeln (wie zum Beispiel Vajrabhairava)
  • und noch ein anderes, Vajra Arali, in dem Naivität bzw. Unwissenheit in einen Pfad umgewandelt wird – ich hab allerdings nie von jemandem gehört, der das tatsächlich praktiziert.

Im Guhyasamaja geht es also um die äußerst fortgeschrittenen Praktiken, in denen man die Energie des Verlangens verwendet, um bis hinunter zu subtilsten Ebene zu gelangen, und dies ist auf spezielle Weise verborgen mithilfe jener Vajra-Ausdrücke. „Verborgen“ ist hier vielleicht nicht das beste Wort dafür; man könnte es wohl eher „verschlüsselt“ nennen. Der Inhalt muss erst entschlüsselt werden, und dafür braucht man einen Lehrer.

Vajrabhairava verwendet die extrem kraftvolle Energie beispielsweise von Ärger oder Wut – aber nicht wirklich Ärger oder Wut, denn damit werden die negativen Eigenschaften von etwas stark übertrieben, man greift danach als wahrhaft existent, und dann will man diese Eigenschaften unbedingt von sich fernhalten. Diese Art von Ärger ist hier nicht gemeint, sondern die Energie davon – und diese wird, wie gesagt, eingesetzt, um extrem kraftvoll die gesamte eigene Ignoranz, Selbstbezogenheit , Selbstsucht usw. zu durchbrechen. All das ist implizit in den verschiedenen Ritualen und Praktiken enthalten, die in den Texten beschrieben werden und so klingen, als wären sie einer Art schrecklicher schwarzer Magie, um tatsächlich anderen, schädlichen Wesen zu schaden, wohingegen die Absicht in Wirklichkeit darin besteht, die inneren schädlichen Faktoren, die eigene Selbstsucht, zunichtezumachen. Auch das muss von einem Lehrer erklärt werden.

In der höchsten Tantra-Klasse hört man viel davon, die störenden Emotionen so umzuwandeln, dass sie uns auf dem Pfad weiterhelfen. Das ist eine heikle Sache und birgt große Gefahren. Man muss dazu wirklich einen Punkt erreicht haben, an dem man von den störenden Emotionen nicht mehr beeinträchtigt wird, aber immer noch deren Energie heranziehen kann, um sie auf förderliche Weise in der eigenen Praxis des inneren Yogas zu nutzen. Das ist eine sehr heikle Angelegenheit. Wenn jemand das versucht und die störenden Emotionen nutzen will, bevor er oder sie eine ausreichend weit fortgeschrittene Ebene erreicht hat, besteht die Gefahr, dass man in Wirklichkeit unter den Einfluss von Wut und Verlangen gerät, und das ist dann ein Desaster. Man muss also sehr, sehr vorsichtig damit sein. Wie immer wieder gesagt wird – was allerdings viele nicht sehr ernst zu nehmen scheinen –, ist Tantra eine äußerst fortgeschrittene Praxis.

Die spätere Geschichte der Lehren

Lalitavajra brachte diese Lehren aus Ogyen mit zurück nach Indien und gab sie an Lilavajra, seinen Schüler im Kloster Vikramashila, weiter. Dann wurden sie über eine Reihe von Meistern dieses Klosters weiter überliefert, und es wurden in Indien viele erläuternden Kommentare dazu geschrieben. Wie Bulcsu Siklos in seinem Buch schreibt, wurde die Überlieferung der Vajrabhairava-Tantra-Texte von Atisha nach Tibet gebracht. Dessen Schüler Dromtönpa (‘Brom-ston rGyal-ba’i ‘byung-gnas) gründete das Kloster Radreng (Rva-sgreng rGyal-ba'i dben-gnas). Dort waren die Tantra-Texte also vorhanden, aber man wusste nicht so recht, worum es da ging. Ein Mönch von dort namens Ra Lotsawa – Ra (Rva) steht für Radreng, das Kloster – reiste nach Nepal und versuchte, dort mehr Verständnis der betreffenden Lehren zu gewinnen. Das war überaus schwierig –eine ganze lange Geschichte berichtet darüber, welche Schwierigkeiten er hatte, an diese Lehren zu kommen und sie anschließend mit seinem indischen Meister Bharo Chag-drum (tib. Bha-ro Phyag-drum) zu übersetzen, bei dem er in Nepal studierte. Jedenfalls übersetzte er sie und brachte sie nach Tibet.

Im Kloster Radreng gab es zwar eine Yamantaka-Überlieferung, aber Lehren darüber waren nicht einfach zu finden. Ra Lotsawa reiste von Tibet nach Nepal, um die Yamantaka-Lehren zu erhalten, aber alles, was der Guru, den er dort antraf, ihm gab, war ein Jenang, eine nachfolgende Genehmigung für ein anderes Tantra. Ra Lotsawa schickte sich an, nach Tibet zurückzukehren, aber eine Frau hielt ihn zurück, als er gerade losgehen wollte. Sie fragte ihn: „Hast du die vollständige Lehre erhalten?“ Er sagte ihr, was er bekommen hatte. „Das ist nicht die vollständige Lehre“, antwortete sie. Also ging er zurück zu dem Guru und ersuchte um die eigentliche Lehre. Der Guru lehnte ab mit den Worten: „Frag meine Schüler, ob ich noch irgendwelche weiteren geheimen Lehren kenne.“ Die Schüler verneinten das. Ra Lotsawa erkundigte sich weiter, aber sie kannten nicht einmal den Namen oder die Form von Yamantaka.

Eines Tages folgte Ra Lotsawa dem Guru zu einer Höhle, die dieser oft aufsuchte. Als er eintrat, fand er an der Höhlenwand eine Zeichnung von Yamantaka mit fünf dargebrachten Gaben davor. Als der Guru sich dort in die Meditation über die Leerheit vertiefen wollte, ergriff Ra Lotsawa seinen Arm und sagte: „Du hast mich angelogen und mir dies vorenthalten!“ und bat erneut um die Lehren. Der Guru antwortete: „Es war der Sache wert, zu lügen. Buddhas Lehren im Allgemeinen sind so weit und so tief wie der Ozean, und Tantra ist wie ein Wunsch erfüllendes Juwel im Ozean. Man darf es nicht leichtfertig weitergeben. Die Lehre von Yamantaka ist sogar noch spezieller. Um sie zu erhalten, müssen viele Voraussetzungen erfüllt sein: (1) überaus starkes Vertrauen zum spirituellen Lehrer, (2) Darbringung vieler Gaben, um die Dakas und Dakinis zu beglücken, (3) die Darbringung dessen, was dir am kostbarsten ist als Mittel dafür, dein Greifen nach einem Selbst zu überwinden und deine Praxis weitreichender Großzügigkeit zu vervollkommnen. Ich will nicht mit den Lehren geizen, aber die Lehre des Yamantaka ist wie das Herz der Dakinis. Sie zu enthüllen ist wie das Enthüllen ihres Herzens. Deswegen fühle ich mich nicht berechtigt, sie zu lehren.“ Damit verschwand der Guru.

Ra Lotsawa hatte große Schwierigkeiten, ihn wiederzufinden. Viele Monate vergingen. Auf seiner Suche nach ihm sah er eines Tages am Ufer eines Flusses, wie ein Boot ohne einen Ruderer umkippte und alle Passagiere ertranken. Dann sah er, wie ein Boot mit einem Ruderer den Fluss überquerte. Daraus gewann er die Einsicht, dass man einen spirituellen Meister braucht, um den Ozean von Samsara zu überqueren. Er betrachtete diese Geschehnisse als Manifestationen der Lehren des spirituellen Meisters. An einem anderen Tag sah er, wie einige Papageien damit beschäftigt waren, Reis zu picken, als ein größerer Vogel kam und sie tötete. Dies verstand er als eine Lehre über Vergänglichkeit und darüber, dass wir uns des Herrn des Todes nicht gewahr sind. Ein anderes Mal sagte ihm eine Frau: „Der Guru wird sich als Vogel manifestieren. Verpasse es nicht, ihn um die Lehren zu ersuchen!“ Doch am nächsten Tag, als er dort hinkam, hatte er den Guru bereits verpasst. Nun teilte die Frau ihm mit, dass der Guru sich als Hund manifestieren würde. Am nächsten Tag erbat er die Lehren von einem Hund, der sich in Feuer, Wasser, Wind und Erde – die vier Elemente – verwandelte und damit zeigte, dass er Macht über die Elemente hatte. Daraufhin erschien der Guru und sagte: „Wenn die Sonne im Osten aufgeht und der Himmel wolkenlos ist, kann sie ungehindert scheinen. Deine Hindernisse sind nun überwunden und du bist von Buddhas Mitgefühl erhöht worden.“

Sodann wies der Guru Ra Lotsawa an, an einem anderen Ort Vorbereitungen für die Lehren zu treffen. Ra Lotsawa bat ihn, zum Kloster zu kommen und dort die Lehren zu erteilen, aber der Guru beharrte: „Der Ort, den ich angegeben habe, ist der richtige. Die Lehren sollten möglichst wenigen Schülern gegeben werden. An allen anderen Orten gäbe es zu viel Ablenkung.“ In dieser Hinsicht blieb der Guru unbeugsam. Er sagte: „Ich bin im Besitz von Reichtum so groß wie der Raum; ich brauche keine teuren Gaben oder Lobpreisungen.“ Ra Lotsawa hatte in zu engen Grenzen gedacht. Als der Meister die Lehren erteilte, ließ er aus seinem Herzen heraus ein riesiges Mandala mit unzähligen Dakas und Dakinis erscheinen, die Vorbereitungen für die Lehren trafen, einen Thron herrichteten usw. Für Ra Lotsawa war das alles wie ein Traum. Völlig erstaunt stand er da, ohne etwas zu tun. In der Morgendämmerung des nächsten Tages stimmten die Dakas und Dakinis Gesänge an. Ra Lotsawa erlebte das größte Ereignis seines Lebens.

Der Guru gab eine komplette Serie von Initiationen. Er sprach zu den Schülern: „Wenn ihr die Geheimhaltung wahrt und die Praxis ausübt, werdet ihr zweifellos noch in diesem Leben Erleuchtung erreichen. Gebt die Lehren lediglich an einige wenige Schüler weiter.“ Ra Lotsawa bereute später, dass er sie an zu viele Schüler übermittelt hatte und deswegen nicht in diesem Leben Erleuchtung erreichen konnte. Nach der Initiation schnipste der Guru mit den Fingern und das Mandala verschwand. Anschließend verschwand auch der Guru und Ra Lotsawa blieb allein zurück.

Anschließend meditierte er elf Monate lang. Dann war er so weit, dass er weitere Meditationen ausüben konnte und keiner weiteren Lehren bedurfte. Am Ende des 13. Monats hatte er eine vollständige Vision von Yamantaka. Nach diesen 13 Monaten traf er den Guru im Kloster wieder und berichtete von seinen Einsichten. Der Guru bestätigte deren Erfolg: „Die Vision war korrekt, du hattest eine nicht begriffliche Wahrnehmung der Leerheit. Ich bin sehr zufrieden mit deinen Fortschritten.“ – Solche und andere Schwierigkeiten hatte Ra Lotsawa zu bewältigen, bevor er die Lehren nach Tibet brachte.

Die Überlieferung dieser Praktiken, auch der Sadhana, wurde, ausgehend von Ra Lotsawa, sowohl in der Kadampa- als auch in der Sakya-Tradition weitergegeben und setzte sich fort bis zu Tsongkhapa. Tsongkhapa machte sie aufgrund ihrer Verbindung mit Manjushri zu einer sehr zentralen Praxis. Manjushri ist die Gottheit, von der Tsongkhapa zahlreiche Visionen hatte und auf die er sich stützte, um wirklich nicht-begriffliche Wahrnehmung der Leerheit zu erlangen.

Die Überlieferung setzte sich dann in der Gelug-Tradition weiter fort bis zum vierten Panchen Lama. Der vierte Panchen Lama war der Tutor des vierten und des fünften Dalai Lama. Der vierte Dalai Lama stammte aus der Mongolei und hatte eine starke Verbindung zu seiner Heimat. Zur Zeit des fünften Dalai Lama begab er sich zurück zu seinem eigenen Kloster, Tashilhunpo (tib. (bKras-shis lhun-po), und viele Mongolen suchten es auf, um bei ihm zu studieren.

Unter dem Einfluss des vierten Panchen Lama hatte die Yamantaka-Praxis also bereits die Mongolei erreicht. Ein Mongole namens Neiji Toin, ein Torgut-Mongole aus dem Osten des Landes, kam zum Panchen Lama, um bei ihm zu studieren; er war sehr fanatisch und kehrte zu den mongolischen Stämmen im äußersten Osten zurück, wo er stark missionarisch auftrat. Viele der Mongolen des östlichen Landesteils hatten den tibetischen Buddhismus zu jener Zeit bereits angenommen, doch Neiji Toin wollte die noch verbliebenen Schamanenstämme der Ost-Mongolei dazu bekehren, die Gelug-Überlieferung des tibetisch-buddhistischen Tantras insbesondere mit der Yamantaka-Praxis zu übernehmen, denn Yamantaka ist eine äußerst starke und kraftvolle Gestalt, und die Mongolen sind äußerst starke und kraftvolle Menschen und diese Art von Praxis würde ihnen gefallen. Der dortige Khan der Qorcin, Tüsiyetü Khan, war sehr angetan von dieser Idee und gewährte Neiji Toin finanzielle Unterstützung. Dieser bestach Leute, versprach, ihnen Yaks und Kamele zu verschaffen, wenn sie das Mantra lernten und rezitierten und dergleichen mehr. Durch Bestechung brachte er also die Menschen dazu, Yamantaka anzunehmen, ähnlich wie später christliche Missionare in der Mongolei Leuten Geld gaben, damit sie in die Kirche gingen – ein ähnliches Vorgehen.

Nicht weit von den Mongolen des Ostens lebten die Manchus. Das Gebiet, um das es hier geht … kennt ihr Khaborovsk? Es handelt sich um die Region südlich davon. Die Manchus waren dabei, ihre Macht zu konsolidieren – später eroberten sie nach und nach China und herrschten dort als die Qing- Dynastie. Die Zeit von der wir hier sprechen, ist das frühe 7. Jahrhundert. Bevor sie China eroberten (1644), hatten sie bereits etliche Elemente der Gelug-Tradition übernommen. In Mugden, ihrer Hauptstadt (1636-38) errichteten sie den Gelben Tempel. Doch als sie ihre Macht auf die östlichen Gebiete der Mongolei ausweiteten, mussten sie die Yamantaka-Praxis mit einbeziehen, um die dortigen Mongolen auf ihre Seite zu bringen. Da die Manchus auch über die Mongolei herrschen wollten, übernahmen also auch sie Yamantaka. Sie stellten eine Verbindung mit ihrem Namen her – „Manchu“ klingt ja wie „Manju“ in „Manjushri“ –, und so wurden ihre Herrscher schließlich als Emanationen von Manjushri angesehen, ähnlich wie Avalokiteshvara mit den Tibetern und Vajrabhairava mit den Mongolen assoziiert wurden.

Zwischen den Manchus und den Dalai Lamas bestand bereits eine Verbindung. Ein großer Meister der Sakya-Tradition befand sich damals in den Außengebieten, und er beschwerte sich bei den Manchu-Herrschern: „Es ist völlig ungehörig, Menschen zu bestechen, damit sie Tantra praktizieren.“ Doch der Manchu-Herrscher wollten sich da nicht einmischen und beschloss, die Sache vor den fünften Dalai Lama zu bringen und ihm die Entscheidung zu überlassen. Der fünfte Dalai Lama wies seinen Beauftragten am Hof der Manchus an, den besagten mongolischen Missionar nach Hohot  – das in der heutigen Inneren Mongolei liegt – zu verbannen, um seiner ungehörigen Vorgehensweise ein Ende zu setzen. Ich hoffe also, dass man euch nicht etwa eine Kuh versprochen hat oder so etwas, um euch dazu zu bringen, an der Initiation teilzunehmen und die Praxis auszuüben!

Die Geschehnisse in der Folgezeit sind weiterhin bemerkenswert. Als die Manchus China eroberten, identifizierten sie sich mit Yamantaka, Vajrabhairava und Manjushri. Sie planten und erbauten die Verbotene Stadt und die Kaiserstadt, und all das wurde angelegt wie ein Yamantaka-Mandala und der Kaiser wurde mit Yamantaka im Zentrum all dessen identifiziert. Genauer gesagt, die Manchus betrachteten Peking als Vajrabhairava-Mandala, wobei die Verbotene Stadt, die Kaiserstadt und die äußere Stadt drei konzentrische Mandala-Kreise bildeten und der Kaiser sich als Vajrabhairava im Mittelpunkt befand. Sie errichteten große Statuen von Yamantaka im Beihai-Tempel in Peking; eine der Haupthallen des Yungho-Gung-Tempels war der Vajrabhairava-Praxis gewidmet und in der Halle war ein Porträt von Kaiser Qianlung als Manjushri/Tsongkhapa aufgehängt.

So kann man die interessante und sonderbare Art und Weise nachverfolgen, wie die Yamantaka-Praxis unter den Mongolen und den Manchus populär wurde, und man findet entsprechende große Statuen und dergleichen in Peking und anderen Teilen Chinas. So war es also dazu gekommen.

Nun genug der Geschichte und Geschichten. Ich persönlich finde es recht faszinierend und auch ganz hilfreich, zu sehen, was mit dieser Praxis geschah und wie sie sich in den geschichtlichen Kontext, die religiöse Entwicklung usw. einfügt. Das verschafft uns einen gewissen Hintergrund.

Fünf Besonderheiten der Yamantaka-Praxis

Eine Sache möchte ich hier noch erwähnen, nämlich, dass die Vajrabhairava-Praxis fünf besondere Eigenschaften aufweist, die Tsongkhapa von Manjushri offenbart wurden.

(1) Die erste ist, dass Praktizierende in diesem Zeitalter des Niedergangs keinen Schaden durch störende Einmischungen nehmen werden. Wie ist das zu verstehen? Störende Einflüsse sind die vier Maras (Mara ist die Verkörperung störender Einmischungen; das Wort geht auf ein Sanskrit-Wort zurück, das „Tod“ bedeutet):

  • Der Mara des Todes. Es wurde bereits erklärt, wie diese Praxis den Todesprozess transformiert, sodass man nicht den gewöhnlichen Tod erlebt – man wandelt die Erfahrung zum Geisteszustand des klaren Lichts um und nutzt diesen für die Erkenntnis der Leerheit.
  • Diese Ebene des Geistes ist subtiler als die störenden Emotionen und besiegt somit den Mara der störenden Emotionen.
  • Wenn man das klare Licht des Todes in die Erkenntnis der Leerheit umwandeln kann, nimmt man nicht mehr die Aggregate einer weiteren Wiedergeburt in Samsara an, und so wird der Mara der Aggregate überwunden.
  • Und da man mit dem Geisteszustand des klaren Lichts die Leerheit erkennt, überwindet man den sogenannten Mara der Göttersöhne (das bezieht sich auf die nicht-buddhistischen philosophischen Ansichten).

Wenn man dieses ganze System des Yama und der Maras usw. versteht, dann begreift man, was die Aussage bedeutet, dass man keinen Schaden durch schädliche Einmischungen nehmen wird. Andernfalls klingt das eher seltsam und nicht viel anders als ähnlich wie eine Anweisung, ein Amulett zu tragen, um Schaden abzuwenden.

(2) Erinnert ihr euch daran, dass ich gesagt habe, Vajrabhairava sei wie ein Gefäß, in dem die Guhyasamaja-Praxis und Chakrasamvara-Praxis gemäß der Gelug-Tradition mit eingeschlossen werden können? Vajrabhairava hat 34 Arme, und die zweite besondere Eigenschaft besteht darin, dass er in zweien seiner Hände Eingeweide und einen dreieckigen Feuer-Kocher hält. Dies symbolisiert zwei Arten von Praktiken im Guhyasamaja: Illusionskörper und klares Licht. Es zeigt, dass er die Art der Praktiken gemäß Guhyasamaja mit enthält.

(3) Die dritte Besonderheit ist, dass er einen Khatvanga-Stab hält – das zeigt an, dass er die Lehren bezüglich Leerheit und Glückseligkeit von Chakrasamvara mit einbezieht.

(4) Die vierte Besonderheit ist, dass der Feuer-Kocher nicht nur auf die Praktiken des klaren Lichts aus den Guhyasamaja hinweist, sondern dass das tiefe Gewahrsein, welches man durch diese Praxis gewinnt, stärker als andere ist. Die Erkenntnis ist natürlich in allen Praktiken die gleiche, aber in diesem Fall verwendet man die extrem kraftvolle Energie von Vajrabhairava, um dorthin zu gelangen, deswegen ist sie sehr stark (mit Bodhichitta natürlich, versteht sich).

(5) Der fünfte Punkt ist, dass wir uns, um Erleuchtung zu erlangen, auf das tiefe Gewahrsein von Manjushri stützen müssen. Und in dieser Praxis haben wir äußerlich die extrem kraftvolle Form von Vajrabhairava, und innen in unserem Herzen befindet sich Manjushri. Das verbindet all die Praktiken immer mit Manjushri in unserem Herzen.

Das sind die fünf besonderen Eigenschaften von Vajrabhairava bzw. Yamantaka. Wie gesagt verwenden die meisten Leute die Bezeichnung Yamantaka. Der Grund ist, dass dies im Mongolischen leichter auszusprechen ist; und weil die Praxis bei den Mongolen so stark ist, wird sie für gewöhnlich von allen Yamantaka genannt.

Wenn wir die Ermächtigung dazu erhalten haben, ist dies eine überaus wichtige, sehr hilfreiche, enorm starke und wirksame Praxis, die ihr ausüben könnt. In der Gelug-Tradition ist sie wie gesagt der Rahmen, in dem all die anderen Praktiken miteinander verbunden werden können. All die Schutzherren-Praktiken werden so durchgeführt, dass man selbst Vajrabhairava ist und dann den Schutzherrn in das Mandala einlädt. Solch ein Schützer ist wie ein überaus starker, scharfer Wachhund. Serkong Rinpoche erklärte das immer so: Man will Diebe vom Zugangstor vertreiben. Als starke Gestalt, Vajrabhairava, könnte man sich natürlich ans Tor stellen und sie selbst vertreiben, aber warum sollte man das tun – man könnte ja auch einen Hund dort platzieren, der das erledigt. Der Schützer ist wie ein scharfer Wachhund, und der extrem starke Vajrabhairava beherrscht ihn, sonst könnte er einen beißen.

Wenn man diese fortgeschrittenen Praktiken durchführen will, braucht man die Stärken der Überzeugung, das Verständnis der Realität (also Manjushri im Herzen) und die extrem kraftvolle Energie, um störende Einmischungen vertreiben zu können – d.h. die eigene Verwirrung, Selbstsucht usw. – und um in der eigenen Praxis stabil zu bleiben. Dafür ist Yamantaka bestens geeignet – außen stark und innen Manjushri (Weisheit, Ruhe, Klarheit).

Es ist spät geworden, lasst uns jetzt mit einer Widmung schließen. Möge jegliches Verständnis, jegliche positive Kraft, die hier aus all dem entstanden ist, als Ursache dafür wirken, dass alle Wesen so schnell wie möglich durch aufrichtige Praxis – so wie dieses Yamantaka-System – Erleuchtung erlangen.

Und, wie Shantideva im zehnten Kapitel seines Textes „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ als Widmung hinzufügt:

(53) Immer wenn ich ihn sehen oder irgendeine Kleinigkeit fragen möchte, möge ich den Beschützer, Manjunatha selbst, ungehindert erblicken.

(54) So wie Manjushri wirkt, um die Ziele aller begrenzten Wesen bis hin zu den weitesten Ausmaßen des Raumes in allen zehn Richtungen zu erfüllen, genauso möge auch mein Verhalten werden.

(58) Ich verneige mich vor Majugosha, durch dessen Güte meine Gedanken konstruktiv geworden sind; ich verneige mich auch vor meinem spirituellen Lehrer und Freund, durch dessen Güte ich sie habe ausweiten können.

Vielen Dank.

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