Historischer Hintergrund und Seltenheit der Lehren

Einführung in die drei verschiedenen Arten des Dharma 

Die Dharma-Lehren können ganz allgemein in Hinayana- und Mahayana-Lehren unterteilt werden. Das Wort „Dharma“ bedeutet „etwas, das seine eigene Selbstnatur erfasst“. Dharma als etwas zu betrachten, das etwas anderes erfasst oder aufnimmt, ist jedoch eine zu weitgefasste Definition und kann zu Verwirrung führen. Ein Auge erfasst beispielsweise im kognitiven Sinn Objekte, indem es sie als kognitive Objekte aufnimmt. Die Bedeutung bezieht sich nicht auf etwas, das seine eigene Selbstnatur in dem Sinne erfasst, dass es irgendetwas als ein individuelles Phänomen begründet. 

Der Dharma, über den wir heute reden, ist nicht irgendein Phänomen, das seine eigene, individuelle Selbstnatur erfasst. Dharma ist ein Sanskrit-Wort, welches sich darauf bezieht „zu erfassen“, „zu halten“ oder wie in dem heutigen Kontext „abhalten“. Es kann auf drei Ebenen verstanden werden:

  • Erstens bezieht es sich auf etwas, das uns von den Leiden abhält, die niemand haben möchte. Speziell der Dharma ist etwas, das uns insbesondere von den Leiden abhält, in den bedauernswerten Zustand einer niedrigeren Wiedergeburt zu fallen. 
  • Zweitens kann es aus einer etwas fortgeschritteneren Perspektive auch in dem Sinne Dharma geben, der uns von den Leiden aller unkontrollierbar sich wiederholenden Wiedergeburten abhält.  
  • Und drittens besteht ein noch fortgeschritteneres Verständnis darin, dass er etwas ist, das uns von einer selbstbezogenen Geisteshaltung oder von Egoismus abhält und somit in umfangreichem Sinne für Frieden sorgt.  

Das sind die drei verschiedenen Zustände, vor denen er uns abhält. Es sind die drei unterschiedlichen Möglichkeiten, in denen der Dharma uns helfen kann, uns selbst davor zu bewahren, Leiden für uns zu verursachen.

Die Praxis des Dharma 

Tauchen wir tiefer ein, in die Bedeutung des Dharma und was es heißt, den Dharma zu praktizieren, so geht es zum Beispiel nicht darum, sich für Kleidung, Nahrung, Ruhm, Status und all die Dinge dieses Lebens zu interessieren. Ausschließlich dafür ein Interesse zu haben, ist nicht die Praxis des Dharma. Würde es so etwas wie zukünftige Leben nicht geben, wäre es in Ordnung, sich nur um dieses Leben zu sorgen, aber das ist nicht der Fall. Es gibt zukünftige Leben. 

Sogar wenn wir nicht zu einer endgültigen Schlussfolgerung oder einer Entscheidung kommen können, dass es zukünftige Leben gibt, so gibt es auch keine endgültige Schlussfolgerung, dass es sie nicht gibt. Daher können wir als „Dharma-Praktizierender“ bezeichnet werden, wenn wir jemand sind, der daran arbeitet, zukünftige Leben vom nächsten Leben an zu verbessern. 

Was jemanden betrifft, der daran arbeitet, zukünftige Leben zu verbessern, so kann dies in zweierlei Weise geschehen: wir könnten daran arbeiten, unsere eigenen zukünftigen Leben zu verbessern oder wir könnten uns darauf richten, den zukünftigen Leben aller Wesen zu nützen. Geht es uns nicht nur darum, für uns selbst zu arbeiten, sondern haben wir den Wunsch, alle von Leiden zu befreien, langfristig allen Glück zu bringen und alle Arten positiver Handlungen diesem Ziel zu widmen, so ist solch eine Ausrichtung der Mahayana-Dharma, das Große Fahrzeug. Das ist es, worüber wir heute sprechen.

Diese Art der Geisteshaltung, mit der wir den Wunsch haben, alle mögen glücklich und frei von Leiden sein, ist tatsächlich etwas, das wir in unserem geistigen Kontinuum entwickeln können. Wir können es durch Meditation und durch Praxis im täglichen Leben tun. Mit anderen Worten können wir diese Geisteshaltung schaffen, indem wir uns mit ihr vertraut machen. 

Bodhichitta, unterscheidendes Gewahrsein der Leerheit und korrektes Verhalten entwickeln 

Haben wir diesen Wunsch, alle mögen glücklich und frei von Leiden sein, und streben wir danach Erleuchtung zu erlangen, um dies umsetzen zu können, haben wir die Geisteshaltung, die man als „erleuchtende Bodhichitta-Motivation“ kennt. Nur dieses Bodhichitta-Motiv oder Ziel in unserem geistigen Kontinuum zu entwickeln, reicht jedoch nicht aus. Auch unterscheidendes Gewahrsein (tib. shes-rab, Weisheit) der Leerheit ist notwendig. 

Dieses unterscheidende Gewahrsein, mit dem wir Leerheit verstehen, muss frei von den zwei Extremen des Nihilismus und des Absolutismus sein. Daher benötigen wir eine vortreffliche und vollkommen perfekte, korrekte Sicht der Leerheit. Um diese korrekte Sicht entstehen zu lassen, müssen wir vertiefte Konzentration entwickeln, die frei von geistiger Trägheit und Flatterhaftigkeit ist. Zusätzlich zu einer reinen, korrekten Sicht und einem korrekten, meditativen Zustand, benötigen wir die korrekte und perfekte Art des Verhaltens oder der Handlungen. Wir sollten all den Taten folgen, von denen Buddha in Bezug darauf sprach, was nützlich ist und dürfen nicht auf eine Weise handeln, die Buddha als abträglich erklärte. 

Um uns zu helfen, auf diese Weise zu praktizieren, mit einer vollständigen Synthese einer korrekten Sichtweise, einer korrekten Meditationsweise und einer korrekten Handlungsweise, und um diese drei zu entwickeln, ohne das eine davon fehlt, werde ich Belehrungen zu einem Text geben, der sich mit diesem Thema auseinandersetzt. Er wird „Lampe für den Pfad zur Erleuchtung“ (tib. Byang-chub lam-gyi sgron-ma, Skt. Bodhipathapradipa) genannt und stammt von dem indischen Meister Atisha.

Geeignete Motivation für das Hören einer Erklärung des Textes 

Die Geisteshaltung, die wir haben sollten, wenn wir diese Lehren hören, besteht darin, sich zu wünschen, diese Lehren zu hören, zu praktizieren und sie zu verwirklichen, um allen Wesen nützen zu können. Wir sollten einen wirklich starken Wunsch haben, tatsächlich in der Lage zu sein, diese Lehren vollkommen zu verstehen, selbst alle in ihr enthaltenen Punkte zu begreifen und sie in uns zu einer Realität werden zu lassen. Mit dieser Einstellung gilt es diese Lehren hören.

Um all ihre Punkte zu verstehen und sie zu einer lebendigen Weise des Denkens, Sprechens und Handelns zu machen, müssen wir sie alle in die Praxis umsetzen. Um den Pfad praktizieren zu können, ist es zunächst notwendig, etwas über ihn wissen. Um etwas über den Pfad zu wissen, müssen wir über ihn hören. Es ist jedoch nicht genug, einfach nur etwas über den Pfad zu wissen, wir müssen ihn tatsächlich in die Praxis umsetzen. Und es ist nicht genug, ihn einfach nur in die Praxis umzusetzen, wir müssen ihn bis zum Ende folgen. 

Wir sollten nicht denken, wir wären in der Lage, in ein paar Monaten oder in ein paar Jahren volle Verwirklichung zu erlangen, sondern sollten uns bewusst darüber sein, über eine lange Zeitspanne daran zu arbeiten, uns selbst allmählich, von einem Leben zum nächsten, immer weiter zu kultivieren. Letzten Endes werden wir dann, nach diesem wirklich langen Vorgang, Erleuchtung erlangen. Es beginnt mit dem Hören über die Lehren und damit, ihnen aufmerksam mit der Geisteshaltung, das Gehörte in die Praxis umsetzen zu wollen, zuzuhören. 

In den Texten wird beispielsweise erwähnt, dass wir davon ablassen sollten, das Leben anderer zu nehmen, und dass es jede Menge Nachteile und furchtbarer Konsequenzen als Auswirkung auf das Töten gibt. Außerdem wird in den Texten gesagt, dass wir ein langes Leben haben werden, wenn wir es unterlassen zu töten. Wir sollten denken: „von jetzt an werde ich damit aufhören zu töten“. Unser Denken sollte sich auf diese Weise darauf richten, sofort umzusetzen, was immer wir hören. 

In ähnlicher Weise heißt es, dass es ausgesprochen negativ ist, schädliche Gedanken zu haben und Missgunst gegenüber anderen zu hegen, und dass wir diese Denkweise aufgeben sollten. Wir sollten denken: „Ich werde Missgunst und schädliche Gedanken gegenüber anderen aufgeben“ und wir sollten großes Bedauern für das empfinden, was wir in der Vergangenheit getan haben. Auch sollten wir uns entschließen, in der Zukunft nie wieder so zu handeln. Auf diese Weise gilt es, das Gehörte sofort in die Praxis umzusetzen.

Wenn es in den Texten heißt, dass wir gütige Gedanken gegenüber anderen haben und anderen helfen sollten, ist es wichtig zu denken: „Das muss ich wirklich tun. Ich muss diese erleuchtende Bodhichitta-Motivation in meinem geistigen Kontinuum entwickeln. Ja, das ist genau das, was ich tun muss.“ Das ist die Herangehensweise, die wir für das Hören der Lehren haben sollten.

Auf der anderen Seite ist es keineswegs angemessen, nur zuzuhören, um intellektuelles Wissen über die Fakten und den Inhalt der Lehren zu bekommen. Sich die Lehren anzueignen, nur um sie zu kennen, ist nicht ausreichend. Was wir benötigen, ist eine Kombination von drei Dingen: 

  • erstens fachkundig in dem Themengebiet zu sein; 
  • zweitens äußerst ordentlich und strikt in unserem Verhalten und unserer Ethik zu sein; 
  • und drittens überaus gütig und warmherzig in unserer Denkweise zu sein.  

Wir sollten fachkundig, strikt und warmherzig sein. Von diesen Dreien ist es nicht am wichtigsten, fachkundig, sondern strikt in unserer Ethik und gütig zu sein. Natürlich ist es am besten, alle drei zu haben, aber wenn wir das nicht können, sollten wir zumindest über die letzten beiden verfügen. Tatsächlich geht es gar nicht, wenn jemand sehr gelehrt ist, aber auf höchst nachlässige und undisziplinierte Weise handelt.

Dies ist eine Einleitung in die Thematik, und nun werden wir mit dem zentralen Teil der Lehren beginnen.

Einleitung des Textes 

Der Autor dieses Textes „Lampe für den Pfad zur Erleuchtung“ ist Atisha, Dipamkara Shrijnana. Der Text beginnt mit dem Titel auf Sanskrit, „Bodhipathapradipa“, und auf Tibetisch, „Byang-chub lam-gyi sgron-ma“, oder „Lampe für den Pfad zur Erleuchtung“ auf Deutsch. Wenn wir versuchen, diese zwei Sprachen, Sanskrit und Tibetisch, zusammenzufügen, bezieht sich bodhi im Sanskrit und byang-chub im Tibetischen auf einen gereinigten Zustand, in diesem Fall auf die Erleuchtung. Patha ist lam im Tibetischen und bedeutet Pfad, oder genauer gesagt Pfadgeist, der zu einem gereinigten Zustand führt. Pradipa ist sgron- ma im Tibetischen und bedeutet Lampe. 

Die fünf Pfade: Die fünf Arten des Pfadgeistes

Der gereinigte Zustand der Erleuchtung bezieht sich auf das allwissende Gewahrsein im geistigen Kontinuum eines Buddhas. Dieses allwissende Gewahrsein wird auch als „Pfadgeist, der keines weiteren Trainings mehr bedarf“ (tib. mi-slob-lam, Pfad des Nicht-Mehr-Lernens) bezeichnet. Bevor wir diesen Pfadgeist, der keines weiteren Trainings mehr bedarf, erlangen, ist es notwendig, vier Arten des Mahayana-Pfadgeistes zu entwickeln, die weiteres Training benötigen. 

Als erstes kommt ein Pfadgeist des Aufbauens (tib. tshogs-lam, Pfad des Ansammelns), der von einem Pfadgeist der Anwendung (tib. sbyor-lam, Pfad der Vorbereitung) gefolgt wird. In Bezug auf die Arten des Pfadgeistes gewöhnlicher und hochverwirklichter Wesen, der Aryas (der Edlen), sind diese ersten zwei die Arten des Pfadgeistes der gewöhnlichen Wesen. Zu dem Zeitpunkt, an dem wir einen Pfadgeist der Anwendung erlangen, werden wir eine konzeptuelle Verwirklichung der Leerheit haben. Davor gibt es jedoch den Pfadgeist des Aufbauens, mit dem wir einen verbundenen Zustand eines still gewordenen und zur Ruhe gekommen Shamatha-Geistes mit vollendeter vertiefter Konzentration und eines Vipashyana-Geistes von außergewöhnlicher Wahrnehmungsfähigkeit haben. Dieser Pfadgeist des Aufbauens wird in drei Ebenen unterteilt, von denen jede drei Stadien hat: die drei anfänglichen, die drei mittleren und die drei fortgeschrittenen Arten des Pfadgeistes des Aufbauens. 

Haben wir die fortgeschrittene Ebene des Pfadgeistes des Aufbauens erreicht, erlangen wir eine stabile konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit, während wir mit den anfänglichen und mittleren Arten des Pfadgeistes des Aufbauens nur gelegentliche Fälle einer konzeptuellen Verwirklichung der Leerheit haben. Erreichen wir jedoch einmal die fortgeschrittene Ebene des Pfadgeistes des Aufbauens, wird unser konzeptuelles Verständnis der Leerheit stabil sein. 

In ähnlicher Weise haben wir auch diese stabile konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit mit einem Pfadgeist der Anwendung, aber nun wenden wir den verbundenen Zustand von Shamatha und Vipashyana an, den wir mit einem Pfadgeist des Aufbauens erlangt haben, um uns auf unser stabiles Verständnis auszurichten. Geschieht diese Ausrichtung auf die Leerheit mit bloßer nichtkonzeptueller Wahrnehmung, haben wir einen Pfadgeist des Sehens (tib. mthong-lam, Pfad des Sehens) erlangt. Er wird ein „Pfadgeist des Sehens“ genannt, weil wir mit ihm etwas Frisches auf nichtkonzeptuelle Weise sehen, was wir zuvor nur mit einer konzeptuellen Wahrnehmung der Leerheit noch nicht gesehen haben. Danach, wenn wir immer vertrauter werden und immer weiter auf diese Weise meditieren, die Leerheit nichtkonzeptuell zu sehen, geschieht dies mit einem Pfadgeist des Sich-Gewöhnens (tib. sgom-lam, Pfad der Meditation).  

Von einem Pfadgeist des Sehens an, sind die höheren Arten des Pfadgeistes als „Arya-Pfadgeist“ bekannt, als edle Arten des Pfadgeistes, welche sich auf die vierte edle Wahrheit, den wahren Pfadgeist, beziehen. 

Die zehn Ebenen des Bodhisattva-Bhumi-Geistes 

Beginnend mit dem Mahayana-Pfadgeist des Sehens, kommen wir in ein Unterteilungsschema von zehn Ebenen (tib. sa, Skt. bhumi) des Arya-Bodhisattva-Geistes, die man als die „zehn Ebenen des Bhumi-Geistes“, die „zehn Bhumis“ kennt. Das Fortschreiten durch diese Ebenen des Arya-Bodhisattva-Geistes beginnt mit dem Erlangen eines Mahayana-Pfadgeistes des Sehens. 

Die Namen der zehn Ebenen des Bhumi-Geistes sind:

  1. Höchst freudvoll (tib. rab-dga’-ba
  2. Makellos (tib. dri-med
  3. Erhellend (tib. ‘od-byed-pa
  4. Strahlendes Licht (tib. ‘od-phro-ba
  5. Schwierig zu reinigen (tib. sbyang dka’-ba
  6. Nach vorn schauend (tib. mngon-du phyogs-pa
  7. Weit gegangen (tib. ring-du song-ba
  8. Unerschütterlich (tib. mi-g.yo-ba
  9. Vortreffliche Intelligenz (tib. legs-par blo-gros
  10. Dharmawolke (tib. chos-sprin). 

Alle zehn Ebenen dieses Bhumi-Geistes werden „Pfadgeist, der keines weiteren Trainings mehr bedarf“ genannt. Wir entwickeln sie auf dem Weg von einem Pfadgeist des Sehens zu einem Pfadgeist, der keines weiteren Trainings mehr bedarf, dem allwissenden Gewahrsein eines voll erleuchteten Buddhas. 

Wandern wir während des Tages eine Straße oder einen Pfad entlang, haben wir die Sonne, die den Pfad sichtbar macht und ihn erhellt. In der Nacht gibt es vielleicht Straßenlampen oder irgendwelche elektrischen Lichter. In ähnlicher Weise ist dieser Text wie eine Lampe, welche all diese verschiedenen Arten des Pfadgeistes und die Ebenen des Bhumi-Geistes sichtbar macht, über die wir gerade gesprochen haben, und die zum erleuchteten Zustand eines Buddhas führen. 

Das ist die Bedeutung des Titels dieses Textes „Lampe für den Pfad zur Erleuchtung“ oder vielleicht besser „Lampe für den Pfadgeist zur Erleuchtung“ – ein Titel, der selbst eine große, umfangreiche Bedeutung hat. Es sind nur wenige Worte, mit denen dieses Thema im Text präsentiert wird, aber die Bedeutung ist ausgesprochen weitreichend. Obgleich der Text selbst in dieser Ausgabe nur sieben Seiten hat, ist die essenzielle Bedeutung der gesamten Sutra- und Tantra-Lehren in hochkonzentrierter Form in ihm enthalten. Da der wesentliche Punkt darin besteht, wie wir unseren Geist zähmen können, enthält er praktische Richtlinien, die wir sofort in die Praxis umsetzen können.

Kurze Einführung in die buddhistische Kosmologie 

Damit wir die Seltenheit und Kostbarkeit des vollkommen ausgestatteten menschlichen Lebens, das wir haben, schätzen können, sowie unsere Möglichkeit, diese Lehren zu hören, hilft es, die Geschichte des Universums zu betrachten. Das Weltzeitalter, in dem wir momentan leben, kennt man zu Recht als „glückliches Zeitalter“. Im Allgemeinen gibt es zwei Arten von Äonen oder Weltzeitaltern: ein Weltzeitalter des Lichtes oder einer erhellenden Zeit, und ein Zeitalter der Dunkelheit. In den dunklen Zeitaltern manifestieren sich keine Buddhas und es gibt auch keinen Dharma. In den erhellenden Zeitaltern gibt es jedoch Buddhas und auch Dharma-Lehren. Dieses bestimmte Zeitalter, in dem wir momentan leben, ist bekannt als „glückliches Zeitalter“, weil sich in diesem Zeitalter 1000 Buddhas manifestieren und in unsere Welt kommen werden. 

Woraus besteht ein Zeitalter oder kalpa im Sanskrit? Ein großes Zeitalter besteht aus 80 mittleren Äonen. Ein mittleres Äon ist die Zeit einer menschlichen Lebensspanne auf dem südlichen Kontinent, welches eine Dauer von 10 bis 80.000 und wieder zurück zu 10 Jahren hat, wobei sich die Dauer in jedem Jahrhundert um ein Jahr ändert. Diese 80 mittleren Äonen werden in vier Gruppen unterteilt – Äonen des Entstehens, Äonen des Andauerns, Äonen des Zerfalls und Äonen der Leerzeiten – 20 in jeder Gruppe. 

Wir mögen fragen: „Wie werden sie gebildet?“ Vasubandhu hat dies in dem Text „Ein Schatzhaus spezieller Themen des Wissens" (tib. Chos mngon-pa'i mdzod, Skt. Abhidharmakosha) beschrieben. Dort erklärte er, dass in dem ersten mittleren Äon der zwanzig mittleren Äonen des Entstehens – der ersten Zwanziger-Gruppe – ein Weltsystem oder Universum gebildet wird. Aus dem Vakuum oder der Leere ist das erste, was gebildet wird, ein so genanntes „Wind-Mandala“, die Energie des Windes. Als nächstes wird ein flüssiges oder Wasser-Mandala gebildet und dann ein festes oder Erd-Mandala. Durch einen großen Regen folgt dann die Bildung von Ozeanen. 

Das wird in dem Text beschrieben. Als erstes wird also das materielle Universum oder die materielle Umgebung gebildet und danach, während der folgenden 19 mittleren Äonen, findet die Evolution der Lebensformen statt, die sie bewohnen. Beides erfolgt durch die Kraft des allgemeinen kollektiven karmischen Potenzials aller Lebewesen, die in diesem Universum geboren werden. Auf diese Weise entsteht ein Universum, sowohl die Umgebung als auch die Wesen, die es bewohnen. Es braucht 20 mittlere Äonen, um diesen Prozess abzuschließen. Es gibt eine unzählige Anzahl von Universen, die gleichzeitig existieren, sich aber alle auf unterschiedlichen Stufen ihrer Entwicklung befinden.

Die menschlichen Wesen dieser ersten Periode waren von spezieller Art. Zu der Zeit hatten sich Sonne und Mond noch nicht gebildet. Die Menschen sahen alle gleich aus, ohne geschlechtliche Unterschiede, und konnten nur durch die Ausstrahlung ihrer eigenen Körper sehen. Die Menschen hatten außersinnliche Wahrnehmung und auch außerphysische Kräfte. Sie mussten sich nicht von grober Nahrung ernähren, sondern lebten stattdessen von der Nahrung einsgerichteter Konzentration. Die Lebensspanne der Menschen zu der Zeit war buchstäblich unzählbar, weil es weder Sonne noch Mond gab, um das Vergehen der Zeit zu berechnen. „Unzählbar“ oder „zahllos“ ist das Wort für die größte begrenzte Einheit, wenn man 10, 100, 1.000, 10.000 usw. zählt. Würden wir die Sechzigste Potenz der Zahl 10 nehmen, wäre das die Lebensspanne der Menschen, die in dieser Zeit lebten. Daher ist „unzählbar“ eher wie eine „Zillion“.

Während der letzten der 20 mittleren Äonen des Entstehens erschien auf der Erde eine Art von essbarem „Boden“, der wahrscheinlich eine Art von Moos war, zusammen mit Menschen, die aufgrund früheren karmischen Potenzials einen Wunsch nach Geschmack entwickelten. Die Menschen erforschten diese Gewächse, indem sie sie mit ihren Fingern berührten, daran leckten und auf diese Weise begannen, sie zu essen. Sie fanden sie äußerst schmackhaft, aber als sie begannen, an diesen Gewächsen zu lecken und sie zu essen, verloren ihre Körper an Glanz, Leuchtkraft und ausstrahlenden Eigenschaften. An diesem Punkt erschienen Sonne, Mond und Sterne am Himmel und durch das Verringern des positiven Potenzials der Wesen, nahm ihre Lebensspanne langsam ab, von unermesslich bis hin zu 80.000 Jahren.

Während dieser Periode dezimierten sich die essbaren Gewächse des Bodens schließlich und die Menschen begannen, die Blüten bestimmter Bäume zu essen. Ihre Körper wurden immer grober und schließlich ernährten sich die Menschen von immer groberer Nahrung. Aufgrund des Essens groberer Nahrung begannen ihre Körper flüssige und feste Abfallstoffe hervorzubringen und damit entwickelten sie Harnwege und ein Verdauungssystem. Auf diese Weise entwickelten ihre Körper Geschlechtsteile und andere Organe, um Abfallstoffe auszuscheiden. 

Bis zu dieser Zeit geschah die Geburt dieser menschlichen Wesen durch wundersame Transformation. Sie erschienen einfach in vollständiger Form, aber als sie dann Geschlechtsorgane entwickelt hatten und sich dem Geschlechtstrieb hingaben, begannen die Menschen durch den Mutterleib geboren zu werden. Jene, die Geschlechtsverkehr hatten, wurden von anderen kritisiert, die sich dem nicht hingaben, und so fingen sie damit an Häuser zu bauen, um ihre sexuellen Aktivitäten vor anderen zu verbergen. 

Die Menschen aßen immer mehr Nahrung und alle Blütenarten erschöpften sich, die sie als Nahrung benutzten. Schließlich begannen die Menschen darüber nachzudenken, Dinge zu sammeln, die sie für den nächsten Tag benötigten und auf diese Weise fingen sie an, diese Blüten zu horten und zu sammeln. Aus diesem Grund gab es zwangsläufig immer weniger Blumen und irgendwann gar keine mehr. 

Danach begann eine Art von Pflanze zu wachsen, die man im Grunde nicht pflanzen oder kultivieren musste. Es war eine Pflanze, die einfach wild wuchs und sie war ebenfalls sehr schmackhaft. Wieder begann das Horten und daraufhin wuchsen diese Dinge nicht mehr wild wie zuvor. Sie wuchsen nur, wenn sie von Menschen gepflanzt und kultiviert wurden. Damit begann die Entwicklung der Landwirtschaft und der Kultivierung von Pflanzen. 

Infolgedessen begannen die Menschen, die Felder aufzuteilen und sie im Sinne von „mein Feld“ und „dein Feld“ zu betrachten, worauf es zu Auseinandersetzungen kam. Sie brauchten einen Amtsträger, um diese Auseinandersetzungen zu schlichten und so kamen die Menschen zusammen, um einen zu wählen. Der erste König hatte den Namen Mahasammata (tib. Kun-gyi bkur-ba), „der von vielen Geehrte”. Zu dieser Zeit begannen die Menschen sich in die vier großen indischen Kasten zu unterteilen. 

Während dieses ganzen Vorgangs hatte die Lebensspanne der menschlichen Wesen stetig abgenommen und betrug nun 80.000 Jahre. Dies und der Beginn der Linie der ersten Könige markierte den Beginn des ersten der 20 mittleren Äonen des Andauerns. Nur während der Periode eines mittleren andauernden Äons, in dem die menschliche Lebensspanne jedes Jahrhundert ein Jahr abnimmt, von 80.000 bis 10, manifestieren sich Buddhas in diesem Universum und erscheinen dort. 

Dieses gegenwärtige große Zeitalter ist, wie gesagt, als das „glückliche Zeitalter“ bekannt, weil sich während der mittleren Äonen des Andauerns 1.000 Buddhas manifestieren und erscheinen werden.  Als die menschliche Lebensspanne auf dem südlichen Kontinent 80.000 Jahre, den Beginn des ersten mittleren Äons des Andauerns, erreicht hatte, war das die Zeit des Erscheinens des ersten Buddhas dieses Zeitalters, Krakucchandra (tib. ‘Khor-ba ‘jig). Der zweite Buddha, Kanakamuni (tib. gSer-thub), kam, als die menschliche Lebensspanne 60.000 Jahre erreicht hatte. Der dritte Buddha, Kashyapa (tib. ‘Od-srung), kam, als die Menschen 20.000 Jahre alt wurden und als die Lebensspanne 100 Jahre betrug, manifestierte sich der vierte Buddha, der gegenwärtige Buddha Shakyamuni, und erschien. 

Die fünf Degenerationen 

Außerdem wurden alle während dieses gesamten Ablaufes kleiner. Die Größe von menschlichen Wesen und Tieren nahm mit dem Verringern der Lebensspanne ab. Der vierte Buddha, Buddha Shakyamuni, kam während der Zeit, die man als die „fünf Degenerationen“ (tib. snyigs-ma lnga, fünf Arten des Verfalls) kennt.

Was sind diese Fünf? Es sind die Degenerationen von:

  • Zeit;
  • Lebensspanne; 
  • Ansichten; 
  • Störenden Emotionen; und 
  • Wesen. 

Was die Degeneration der Zeit betrifft, so bezieht sich das darauf, dass es in der Vergangenheit viele Schätze in den Meeren gab und diese sich nun erschöpfen. Es ist eine Tatsache, dass es immer weniger natürliche Ressourcen gibt, und das ist mit einer degenerierten Zeit gemeint. 

In ähnlicher Weise geht es bei der zweiten Degeneration, der Degeneration der Lebensspanne, darum, dass sie immer kürzer wird. Heutzutage gibt es nur noch wenige Menschen, die älter als 100 Jahre werden. 

Degenerierte Ansichten oder Anschauungen beziehen sich auf die Tatsache, dass es viele Menschen gibt, die nicht an Ursache und Wirkung glauben, die sagen, es gäbe keine vergangenen und zukünftigen Leben und meinen, es mache keinen Sinn, irgendeinem Dharma oder einer spirituellen Praxis zu folgen. Sie denken, dieses Leben wäre das einzige, und so arbeiten sie nur für dieses Leben. Diese Art der Geisteshaltung ist ein Beispiel degenerierter Ansichten.

Bei der Degeneration störender Emotionen ist die Rede von der Tatsache, dass sogar die Menschen, die versuchen den Dharma zu praktizieren, jede Menge Wut, Anhaftung und andere störende Emotionen haben. 

Die Degeneration der Lebewesen bezieht sich beispielsweise darauf, dass menschliche Wesen mit der Abnahme der Lebensdauer immer kleiner werden. Das wird sich weiter fortsetzen, bis die Menschen ein vollständiges Leben in nur zehn Jahren leben – die Lebensspanne wird so kurz sein. Das geschieht am Ende der ersten der 20 Äonen des Andauerns. Die Menschen dieser Zeit werden äußerst aggressiv sein und ständig miteinander kämpfen. An diesem Punkt wird dann der fünfte der 1000 Buddhas dieses Zeitalters kommen, Maitreya Buddha. Durch den Einfluss seiner Lehren werden die Menschen beginnen, sie in die Praxis umzusetzen. Aufgrund dessen wird sich die menschliche Lebensspanne allmählich durch die Kraft des gemeinsamen positiven karmischen Potenzials, das die Menschen aufbauen, erhöhen. Die menschliche Lebensspanne wird dann immer höher werden, bis sie 80.000 Jahre erreicht. Hat sie diesen Höhepunkt erreicht, wird sie erneut abnehmen.

Dieser Zyklus der Zu- und Abnahme findet in jedem der nachfolgenden 18 mittleren Äonen statt. Man nennt sie die „18 Zeitkurven“. Die restlichen dieser 1.000 Buddhas werden dann mit dem kommenden Niedergang der Lebensspanne bis hin zu 10 Jahren in jedem der nachfolgenden mittleren Äonen kommen. Während der letzten dieser 20 mittleren Äonen des Andauerns findet nur der Teil des Zyklus statt, in dem die menschliche Lebensspanne zunimmt.

Zwanzig mittlere Äonen des Zerfalls und der Leerzeiten 

Danach, wenn sich die Kraft des positiven karmischen Potenzials der Wesen erschöpft hat, kennzeichnet das den Beginn der mittleren Äonen des Zerfalls, in denen die Umwelt zerstört wird und die Wesen in ihnen aussterben. In jedem großen Zeitalter gibt es verschiedene Weisen, auf die ein Universum zerstört wird. So besteht eine Weise zum Beispiel darin, dass durch die Kraft des kollektiven negativen Potenzials, welches durch die Wesen angesammelt wird, eine zweite Sonne im Himmel erscheint, dann eine dritte, bis es irgendwann sieben Sonnen sind. Durch die Kraft der Hitze dieser Sonnen trocknet das gesamte materielle Universum zuerst aus und verbrennt dann. Auf diese Weise wird es zerstört. Dieser gesamte Vorgang des Zerfalls, wie beispielsweise durch Feuer, findet in einem Zeitraum von 20 mittleren Äonen statt, die als die 20 mittleren Äonen des Zerfalls bezeichnet werden. 

Ist nichts mehr übrig und alles nur ein völliges Vakuum, nennt man dies die „mittleren Äonen der Leerzeiten“, die weitere 20 mittlere Äonen andauern. Auf diese Weise gibt es 80 mittlere Äonen, die ein großes Äon ausmachen, während dem dieser Zyklus aus vier Phasen des Entstehens, Andauerns, Zerfalls und der Leerzeiten stattfindet.  

Dunkle Äonen und sternengleiche Äonen 

Nachdem unser spezifisches großes Äon von 50 mittleren Äonen endet, wird es wieder 60 große Äonen von ähnlicher Dauer wie des unseren geben. All diese werden dunkle Äonen sein, die jeweils 80 mittlere Äonen andauern. Man nennt sie „dunkle Äonen“, weil während dieser unglaublich langen Zeit nicht ein Buddha erscheinen wird. Danach wird es ein weiteres großes Äon geben, das als „sternengleiches Äon“ bekannt ist, in dem sich 20.000 Buddhas manifestieren werden. 

Betrachten wir all diese verschiedenen Arten von Äonen, so gibt es weit mehr Äonen, in denen kein Buddha erscheinen wird, als jene, in denen Buddhas erscheinen. Des Weiteren manifestieren sich und erscheinen Buddhas in der Welt nur während der 20 mittleren Äonen des Andauerns eines Universums und in keinem anderen der mittleren Äonen. In gleicher Weise kommen Buddhas nur innerhalb der Hälfte der 20 mittleren Äonen in die Welt, in der die menschliche Lebensspanne abnimmt, nicht in der Hälfte, in der sie zunimmt. Sprechen wir also von diesen Zeitkurven, so erscheinen Buddhas nur während dem Teil des Sinkens der Kurve der Äonen des Andauerns, wenn die menschliche Lebensspanne abnimmt. 

Der vierte Buddha, Buddha Shakyamuni 

Wenn wir darüber nachdenken, erkennen wir wie selten es ist, dass sich ein Buddha tatsächlich in dieser Welt manifestiert hat und in diese Welt gekommen ist, dass wir eine vortreffliche Arbeitsgrundlage eines menschlichen Lebens an solch einem spezifischen Zeitpunkt bekommen haben und das Glück haben, auf die Lehren solch eines Buddhas zu treffen. Fragen wir uns, welchen besonderen Dharma-Lehren wir begegnet sind, so lautet die Antwort, dass wir auf die Lehren gestoßen sind, die von dem 4. der 1000 Buddhas dieses gewissen großen Zeitalters, Buddha Shakyamuni, gegeben wurden.

Nur eine Buddha-Statue oder einen buddhistischen Text zu sehen, heißt nicht, eine Begegnung mit Buddhas Dharma zu haben. Was heißt es denn eigentlich, auf den Dharma zu treffen? Es ist das, was wir hier heute tun. Was bedeutet dies in Bezug auf unser heutiges Zusammenkommen? Wir sind hierher gekommen, weil alle von uns erkannt haben, dass materieller Komfort, egal wie viel wir auch haben mögen, kein andauerndes oder sicheres Glück bringt. Wir sind gekommen, um eine Art des Glücks zu finden, die bei weitem das übertrifft, was allein durch materiellen Fortschritt erreicht werden kann. Wir sind gekommen, um Lehren darüber zu finden. Daher sind wir gekommen, um eine Begegnung mit dem Dharma zu haben.

Die 1.000 Buddhas dieses Zeitalters werden im Sinne des indischen Kastensystems nach jenen unterteilt, die in der Kaste der Brahmanen erscheinen, und jene, die in der königlichen Kaste erscheinen. Buddha Shakyamuni erschien in der königlichen Kaste und der Name, der im bei seiner Geburt gegeben wurde, war Prinz Siddhartha. Sein Vater war bekannt als König Shuddhodana und seine Mutter war Mayadevi. Zu dieser Zeit war der große Reichtum der königlichen Familie beträchtlich, wenn wir den Reichtum Indiens in der Vergangenheit betrachten. 

Einmal unternahm der junge Prinz Siddhartha einen Ausflug durch das Königreich, um zu sehen, was draußen stattfand. Auf seinem Weg traf er auf jemanden, der eine Leiche trug. Als er fragte, was das war, wurde ihm gesagt, dass jemand gestorben sei und sie den Körper wegbrachten. Siddhartha wurde sehr traurig. Auf dem weiteren Weg sah er einen Kranken und einen Greis, der sehr alt war und gebückt ging. Nach einer Weile sah er einen entsagten Bettelmönch, einen Shramana (tib. dge-sbyong), der karge Roben trug. Er dachte sich: egal wie viel materiellen Reichtum man haben mag, letztendlich ist das menschliche Dasein so, dass es zu dieser Art des Leidens kommt – Tod, Krankheit und Alter. 

Diese Erfahrung wandte seinen Geist von all dem materiellen Reichtum und der Pracht ab, die er in seinem Palast genoss. Er ging zu dem Ältesten, Namdrag (tib. rNam-grags), lies sich seine Haare schneiden und wurde ein im Zölibat lebender und entsagter Bettelmönch. Er übte sich sechs Jahre lang in äußerst schwierigen, asketischen Praktiken und dann, am fünfzehnten Tag des vierten Monats manifestierte er in Bodh Gaya seine Erleuchtung. Am vierten Tag des sechsten Monats ging Buddha nach Varanasi (Benares) und drehte dort zum ersten Mal das Rad des Dharma. Nachdem er seine erste Lehrrunde absolviert hatte, unterrichtete Buddha viele Jahre und starb schließlich in Kishinagar. 

Nagarjuna   

Danach gab es eine Linie von Nachfolgern jener, die alle Lehren Buddhas hielten, beginnend mit Mahakashyapa (tib. ‘Od-srung chen-po) bis hin zu einer Abfolge von „sieben Patriarchen der Lehren“ (tib. bstan-pa’i gtad-rabs bdun). 

In den folgenden Jahrhunderten gingen die Lehren, die nicht öffentlich übertragen wurden, in dem Sinne wieder zurück, dass sie immer weniger zugänglich waren. Dann kamen jedoch die „zwei großen Meister, die den Weg für den Wagen der (Mahayana)-Tradition öffneten“, Nagarjuna und Asanga. Nagarjuna kam, wie der Buddha selbst prophezeit hatte. Durch Nagarjuna und seine Lehren begann sich der Mahayana-Dharma erneut zu entfalten. 

Nagarjuna verfasste sechs große Schriften über Madyamaka oder den Mittleren Weg. Zusammen sind sie als die „Sechs gesammelten Werke der Argumentation“ (tib. Rigs-tshogs drug) bekannt, dessen wichtigstes die „Wurzelverse des Madhyamaka, genannt Unterscheidendes Gewahrsein“ (tib. dBu-ma rtsa-ba shes-rab, Skt. Prajna-nama-mulamadhyamaka-karika) sind. Bei den anderen Fünf handelt es sich um:

  • „Kostbare Girlande“ (tib. Rin-chen ‘phreng-ba, Skt. Ratnavali
  • „Widerlegung der Einwände“ (tib. rTsod-pa zlog-pa, Skt. Vigrahavyavarti
  • „Siebzig Verse über die Leerheit“ (tib. sTong-nyid bdun-bcu-pa, Skt. Shunyatasaptati
  • „Sutra, genannt das Fein Gewobene“ (tib. Zhib-mo rnam-‘thag zhes-bya-ba’i mdo, Skt. Vaidalya-sutra-nama
  • „Sechzig Verse der Argumentation“ (tib. Rigs-pa drug-cu-pa, Skt. Yuktishashtika). 

Aufgrund dieser sechs Werke entfalteten sich die Mahayana-Lehren in hohem Maße, besonders jene über Madhyamaka. Von den zwei Übertragungslinien, jener der tiefgründigen Lehren und der Linie der weitverbreiteten und umfassenden Lehren, wurde die Linie der tiefgründigen Lehren auf diese Weise durch Nagarjuna weitergegeben.

Asanga  

Die zweite dieser zwei Linien, der Pfad der weitverbreiteten Lehren, kam durch Asanga, dem zweiten der zwei großen Meister, die den Weg für den Wagen der Mahayana-Tradition öffneten. Asangas Mutter war eine Brahmin-Frau mit dem Namen Prakashashila (tib. Rab-gsal ngang-tshul-ma). Als sie noch jung war, hatte sie den Wunsch Jungen zu bekommen, die den Dharma anwachsen und blühen lassen würden. Daher nahm sie sich einen Mann aus der herrschenden königlichen Kaste und der Sohn, der aus dieser Verbindung hervorging, war Asanga. 

Als Asanga noch ein Kind war, fragte er seine Mutter: „Was war der Beruf meines Vaters? Was tat er?“ Seine Mutter antwortete: „Es ist egal, was dein Vater von Beruf war. Ich betete darum, einen Sohn wie dich zu bekommen, der nicht an weltlichen Zwecken interessiert war, sondern die Dharma-Lehren verbreiten und fördern wollte. Darüber hinaus betete ich, dass du in der Lage sein wirst, von den Dharma-Lehren jene des Mahayana voranzubringen.“ Um dies zu verwirklichen, wandte Asanga sich einer Meditationspraxis zu, um eine Vision oder Verwirklichung der Meditationsgottheit Maitreya zu bekommen. 

Nach zwölf langen Jahren der Meditation hatte er endlich eine Vision von Maitreya, der ihn zum himmlischen Reich Tushita führte. Dort blieb Asanga für viele Jahre und erhielt zahlreiche Lehren von Maitreya, die er später aus dem Gedächtnis niederschrieb. Sie sind bekannt als die „Fünf Dharma-Werke Maitreyas“ (tib. Byams-chos sde-lnga). Was sind diese fünf Werke? Sie sind: 

  • „Ein Filigranschmuck der Verwirklichungen“ (tib. mNgon-rtogs rgyan, Skt. Abhisamayalamkara
  • „Ein Filigranschmuck für die Mahayana Sutras“ (tib. Theg-pa chen-po mdo-sde rgyan, Skt. Mahayanasutralamkara
  • „Die Mitte von den Extremen unterscheiden“ (tib. dBu-mtha’ rnam-‘byed, Skt. Madhyantavibhanga
  • „Das Weitest gehende immerwährende Kontinuum“ (tib. rGyud bla-ma, Skt. Uttaratantra
  • „Unterscheidung der Phänomene von ihrer tatsächlichen Natur“ (tib. Chos-dang chos-nyid rnam-‘byed, Skt. Dharmadharmatavibhanga). 

Asanga blieb in diesem himmlischen Reich für die Dauer eines Morgens der Götter. Als er wieder zur Erde, zum Reich der Menschen, hinabstieg, wurde ihm bewusst, dass 50 Jahre vergangen waren. Nachdem er zur menschlichen Welt zurückgekehrt war, verfasste Asanga zahlreiche Texte. Aufgrund seiner Aktivität entfalteten sich die Mahayana-Lehren noch weiter und die Übertragungslinie der weitverbreiteten Lehren setzte sich fort. 

Atisha  

Die Lehren Nagarjunas wurden in der Linie der tiefgründigen Lehren zu dem indischen Lehrer Vidyakokila hinabgereicht und durch ihn empfing Atisha diese Lehren von Nagarjuna. Die Linie Asangas setzte sich durch eine Abfolge großer Meister fort, bis sie einen erreichte, der Maitriyogi hieß, und durch ihn empfing Atisha die Linie Asangas. Somit hielt Atisha all die richtungsweisenden Anleitungen dieser beiden Linien, die von Nagarjuna und Asanga kamen. 

Atisha selbst wurde in einer großen königlichen Familie in Bengalen geboren. Seine Familie war sehr wohlhabend und erfolgreich. Doch er sah, dass es keine Essenz in all diesen weltlichen Dingen gab. Er wandte seinen Geist völlig von all diesen Reichtümern ab und ging in die Nalanda-Klosteruniversität, in der er die Ordination zum Mönch erhielt. Er studierte fleißig und wurde ein großer und gelehrter Pandit. 

Er prüfte sorgfältig, welches die besten Methoden waren, so schnell wie möglich Erleuchtung zu erlangen, um allen Lebewesen von Nutzen sein zu können. Während er die große Stupa in Bodh Gaya umrundete, geschah es mehrere Male, dass die Statuen dort zu ihm sprachen. Einmal sagte eine Statue zu Atisha, die beste Methode zum schnellen Erlangen der Erleuchtung bestünde darin, eine erleuchtende Bodhichitta-Motivation und Ausrichtung zu entwickeln. Atisha hatte in seinem geistigen Kontinuum bereits eine gewisse Ebene der Entwicklung von Bodhichitta erreicht, war jedoch auf der Suche nach den vollständigen richtungsweisenden Anleitungen, um diese Entwicklung zum letztendlichen Ziel zu bringen. 

Daher suchte er weit und breit nach jemanden, der die vollständigen richtungsweisenden Anleitungen besaß, um dies umsetzen zu können. Er hörte, dass diese Anweisungen von dem großen Lama Serlingpa gehalten wurden, der auch Dharmakirti Shri genannt wurde und in dem heutigen Sumatra in Indonesien lebte. Er ging also zu diesem großen Meister in Sumatra, um nach diesen vollständigen Anweisungen zu suchen. In dieser Zeit gab es keine großen Schiffe wie heute und so fuhr er mit Booten, die es damals gab. Er brauchte für diese schwierige Seefahrt von Indien nach Sumatra zwölf Monate, um seinen Guru zu treffen. Atisha blieb dort zwölf Jahre und bekam alle Unterweisungen zu dieser Thematik. Dann kehrte er nach Indien zurück. 

In Tibet florierte der Dharma in dieser Zeit bereits nach den Bemühungen des großen Guru Rinpoche, Padmasambhava, und des bedeutenden Nalanda-Abtes Shantarakshita. Durch ihre Bestrebungen hatte sich die Nyingma-Schule der „Alten Tradition“ in Tibet bereits entfaltet, aber ihre Lehren waren nichtsdestotrotz im Niedergang. Sie wurden auf eine fälschliche, abgeflachte Weise praktiziert und infolgedessen hatte eine Verdrängung des Dharma stattgefunden. 

Im westlichen Teil Tibets, der als Guge bekannt ist, gab es zwei Könige, die miteinander verwandt waren. Einer hieß Yesche-Ö (tib. Ye-shes ‘od) und der andere, sein Neffe, Dschangtschub-Ö (tib. Byang-chub ‘od). Mit dem Wunsch, den Dharma in Tibet wiederzubeleben, hatten beide viele Menschen nach Indien geschickt, um dort den Dharma zu studieren. Außer einigen wenigen, waren die meisten nicht in der Lage, mit der großen Hitze und den schwierigen Bedingungen in Indien klarzukommen und konnten ihre Bemühungen nicht vollenden. Man fragte sich in dieser Zeit, welcher Meister in Indien wohl der beste, gelehrteste und geeignetste war, um die Lehren in Tibet wieder zum Erblühen und Ausbreiten zu bringen. Man sagte sich, dass es keinen besseren als Atisha gab. Daher bemühten sich die Könige mit allen Mitteln, Atisha nach Tibet holen. 

Leider gab es in der Nähe, im Grenzland Tibets, einen anderen König, der Yeshe-Ö gefangen nahm und ihn ins Gefängnis warf. Sein Neffe Dschangtschub-Ö bat diesen König, seinen Onkel Yesche-Ö freizulassen, aber der König antwortete: „Wenn du mir die Menge an Gold bringst, um den Körper deines Onkels damit aufzuwiegen, werde ich ihn freilassen.“ 

Dschangtschub-Ö suchte überall nach genügend Gold, um diese Bedingung zu erfüllen, aber er konnte nur so viel Gold zurückbringen, um damit den Körper des Onkel unterhalb des Nackens aufzuwiegen. Der König, der Yesche-Ö gefangen hielt, sagte ihm, dass er mehr Gold bringen müsse, um auch den Kopf aufzuwiegen. Dschangtschub-Ö musste also wieder losgehen, um noch mehr Gold zu sammeln. 

Bevor er losging, begab sich Dschangtschub-Ö zu seinem Onkel Yeshe-Ö, der in Gefangenschaft war. Er klopfte an die Tür und sagte: „Wenn ich wollte, könnte ich einen Krieg mit diesem Königreich beginnen und somit deine Freilassung erzwingen. Aber das würde viel Leid für die Wesen in diesem Gebiet verursachen und daher will ich das nicht tun.“ Dann sagte er weiter: „Ich will deine Befreiung auf friedvolle Weise bewirken. Der König sagte mir, ich müsse genügend Gold bringen, um deinen Körper aufzuwiegen, aber ich habe noch nicht genug, um diese Bedingung zu erfüllen. Ich brauche noch etwas mehr für deinen Kopf. Ich werde losgehen und eine weitere Reise unternehmen. Bitte warte solange hier.“

Yeshe-Ö, der Ältere von beiden, sagte zu seinem Neffen: „Ich dachte nicht, dass du in der Lage wärst, dich solchen Anforderungen zu stellen, denn du bist noch sehr jung. Aber du bist wirklich tapfer und mutig, und hast mit allen Mitteln versucht, dieses Gold zu finden, um mich zu befreien. Aber wenn du all dieses Gold, das du zusammengetragen hast, nur für mein Wohl benutzt, wird es reine Verschwendung sein. Für die Drei Juwelen wäre es kein großer Nutzen. Daher verschwende es bitte nicht an mich. Nutze es vielmehr, um jemanden nach Indien zu schicken und den großen gelehrten Meister Atisha nach Tibet zu holen. Dadurch wird der Dharma wieder erblühen. Und sage bitte Atisha, dass er kommen muss, denn ich habe mein Leben dafür geopfert, um ihn einzuladen und nach Tibet zu bringen.“ 

Dschangtschub-Ö sah durch einen kleinen Spalt in der Tür seinen Onkel und bemerkte, dass er gefesselt und fest verschnürt in einer äußerst bedauerlichen und schwierigen körperlichen Verfassung war. Auf diese Weise opferte König Yesche-Ö sein Leben, um den Lehren zu nützen. Dschangtschub-Ö schickte seinen Übersetzer Nagtso, um Atisha nach Tibet zu holen. Nagtso Lotsawas Name war Tsultim Gyalwa (tib. Nag-mtsho Lo-tsa-ba Tshul-khrim rgyal-ba).

In Indien hatte Atisha eine Vision von Tara, die ihm verschiedene Dinge prophezeite: „Wenn du in das Land des Nordens, nach Tibet, gehst, wird das dazu führen, dass die Dharma-Lehren sich entfalten und verbreiten. Du wirst in Tibet einen Schüler haben, dessen Name Upasaka (wörtl. „Laie“) sein wird, der einen besonderen Einfluss darauf haben wird, die Lehren wieder zum Erblühen zu bringen. Wenn du jedoch nach Tibet gehst, wird sich deine Lebensdauer um zwanzig Jahre verkürzen; aber dennoch wirst du für die Lebewesen und die Lehren dort einen großen Nutzen bewirken.“

Atisha hatte das Gefühl, dass es nicht so wichtig war, wenn sich seine Lebensdauer um 20 Jahre verkürzen würde, wenn er gehen könnte, um den Lehren und Lebewesen dort von großem Nutzen zu sein. Er entschied sich also dafür und begab sich auf eine mühsame Expedition durch Nepal nach Tibet und blieb dort siebzehn Jahre, bis er starb.

In Tibet traf er, wie ihm von Tara vorhergesagt wurde, seinen Schüler, den Upasaka Dromtönpa, Gyalwa Jungne (tib. ‘Brom-ston rGyal-ba’i ‘byung-gnas), der eine Inkarnation Chenrezigs, Avalokiteshvara, war. Der Dharma-König Dschangtschub-Ö bat Atisha, Lehren über die Zuflucht, sowie über Ursache und Wirkung zu geben. Dieser Text „Lampe für den Pfad zur Erleuchtung“ wurde von Atisha verfasst, um dieser Bitte nachzukommen. Daher heißt es im ersten Abschnitt des Textes: da mich mein ausgezeichneter Schüler Dschangtschub-Ö dazu gedrängt hat. 

Die Linie dieser Lehren wurden in erster Linie dem Schüler Domtönpa übertragen. Die Übertragungslinie setzte sich durch Dromtönpa und verschiedene recht berühmte und gelehrte Kadampa-Geshes, wie Geshe Potowa und seine Schüler, fort. Diese Linie hat sich weiter fortgesetzt und ist bis zum heutigen Tag erhalten. 

Auf diese Weise können wir sehen, wie die damaligen Könige große Bemühungen unternahmen, die verschiedenen gelehrten Meister und Übersetzer nach Tibet zu holen. Ihnen war es egal, wie viel Geld, Reichtum oder Schwierigkeiten für diese Anstrengungen aufgebracht werden mussten. All dies wurde unternommen, damit die Dharma-Lehren nach Tibet gelangen und sich dort entfalten konnten.

Die Seltenheit, den Lehren Buddhas zu begegnen 

Es gibt einen Grund, warum wir über all diese geschichtlichen Dinge sprechen und es ist etwas, worüber wir weiter nachdenken sollten. Der entscheidende Punkt ist, ein Gefühl von Wertschätzung dafür zu bekommen, wie selten es ist, mit den Lehren Buddhas in Berührung zu kommen. Diese Geschichte ist auch gut als eine Einführung zu den Lehren und um ihren historischen Hintergrund zu kennen. 

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