Geisteshaltung für das Studium des Verhaltens eines Bodhisattvas

Einleitende Verse und Vers 1

Die Motivation festlegen 

Zunächst ist es notwendig, eine wirklich gute Motivation zu haben, um etwas über das Verhalten von Bodhisattvas zu lernen. Es ist interessant, wie unser Geist funktioniert, wenn wir eine starke Motivation haben. Vielleicht sage ich: „Lasst uns alle zum Tempel des Dalai Lama gehen!“ Wir einigen uns darauf und laufen los, aber dann ändere ich plötzlich meine Meinung und sage: „Lasst uns doch lieber zum Norbulingka gehen!“ Damit wären die Leute nicht einverstanden. Sie würden sagen: „Aber der Norbulingka ist 10 km weit weg!“ Hätte ich aber gesagt, dass wir nach dem Abendessen einen schönen Spaziergang zum Norbulingka machen könnten, würden wir anders reagieren: „Ja, vielleicht sollten wir das tun. Lasst uns Sonnencreme auftragen und losgehen.“ Unsere Motivation ist also wirklich wichtig. 

Was unsere Motivation betrifft, ist es wichtig, nicht nur an dieses Leben zu denken, sondern auch unser nächstes Leben in Betracht zu ziehen. Sind die niederen Bereiche unsere Bestimmung, sollten wir uns große Sorgen machen, auch wenn wir die Möglichkeit haben, als menschliche Wesen wiederzukehren. Haben wir jedoch solche Gedanken in unserer Motivation, ist es notwendig davon auszugehen, dass es zukünftige Leben gibt. 

Im Allgemeinen haben wir großen Glauben an die Wissenschaft, doch die Wissenschaftler konzentrieren sich nur auf das Gehirn und Dinge, die mit diesem Leben zu tun haben. Was geschieht aber mit all den Gefühlen und Emotionen, die wir haben, wenn wir sterben und was ist mit den tiefen Verbindungen, die wir aufbauen? Wo gehen sie hin? 

Es gibt so viele Beispiele von Menschen, die sich an ihr früheres Leben erinnern. Sind sie verrückt? Ich glaube nicht. Was sie sagen, ist oft höchst präzise und die Wissenschaftler haben keine Erklärung dafür. Ich bin mir sicher, sie werden für tausende von Jahren keine Erklärung dafür finden, weil sie sich nur auf das Gehirn konzentrieren. Wollen wir über vergangene und zukünftige Leben sprechen, müssen wir das Bewusstsein in Betracht ziehen. Wie existiert es, setzt es sich weiter fort, und wenn es das tut, was kann man dann in Bezug auf zukünftige Leben tun?

Die Art und Weise, was wir mit unserem Leben und unserer Zeit tun, sollte nicht klein und engstirnig sein, sondern tiefsinnig und weitsichtig. Ganz gleich, ob es ein nächstes Leben oder Ursache und Wirkung im Sinne zukünftiger Leben gibt oder nicht, können wir aufrichtig handeln. Es hängt alles von unseren Handlungen ab und unsere Handlungen hängen von unserer Motivation ab. 

Da ich ein Buddhist bin, nehme ich Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha, um meine Motivation zu bestärken. Vielleicht gibt es hier einige, die zum ersten Mal da sind. Ihr könnt einfach zuhören, wie ich das Zufluchtsgebet rezitiere. Denkt erst einmal darüber nach und später werde ich dann mehr dazu sagen. 

Bis zur Erleuchtung nehme ich Zuflucht in die Buddhas, den Dharma und die höchste Gemeinschaft. Möge ich durch die positive Kraft meines Gebens und so weiter zum Wohle aller Wesen Buddhaschaft erlangen.

Indem ich dies rezitiere, motiviere ich mich selbst. Der inspirierendste Teil ist der letzte Satz: „Möge ich zum Wohle aller Wesen Buddhaschaft erlangen.“ Er ist auch der schwierigste Teil! Bisweilen fühlt es sich so an, als könnten wir dies nicht einmal für unsere eigene Familie, für den Mann, die Frau oder die Kinder empfinden. Doch es ist möglich. Ist unser Herz nur offen für uns selbst, haben wir wahrscheinlich wirklich keinen Platz mehr für unsere eigene Familie. Wir müssen also unsere Herzen vollkommen öffnen. Dafür benötigen wir Mitgefühl, mit dem wir das Leiden anderer sehen. Ein großer Meister Indiens sagte einmal, dass es einen großen Unterschied zwischen Anhaftung und Liebe gibt. Liebe ist rein, während Anhaftung mit Verblendung vermischt ist. Verlieben sich Menschen, sagen sie: „Ich liebe dich so sehr!“ Sie sagen es, aber wahrscheinlich ist es nicht korrekt, das zu sagen, denn diese Art der Liebe ist Anhaftung. Wäre es echte Liebe, würden wir sagen: „Ich wünsche mir, dass du wirklich glücklich bist.“

Ich habe ein ausgesprochen gutes Beispiel dafür, das Herz zu öffnen. Wann immer ich nach Bodhgaya gehe, wo Buddha Erleuchtung erlangt hat, gehe ich auch nach Sarnath, wo er seine ersten Belehrungen über die vier edlen Wahrheiten gab. Das ist ein recht interessanter Ort. Für gewöhnlich gehe ich dorthin, mache Gebete und rezitiere Texte. Nachdem ich fertig bin, gehe ich dann einen Tee trinken und dort gibt es diesen Mann, der den besten Tee der Welt macht. Er bietet den Tee in einem Tongefäß an und er ist wirklich köstlich. Es gibt ein paar Tee-Shops dort und besonders dieser Mann hat viel Kundschaft, doch die anderen scheinen nicht neidisch auf ihn zu sein. Er macht es mit seiner Frau und seinen Kindern. Es kommen nicht viele Touristen zu ihm, sondern fast nur Einheimische. Ich ging zu ihm und sagte ihm, wie gut sein Tee sei und wir freundeten uns an. Ich fragte ihn, wie er diesen köstlichen Chai herstellt und was sein Geheimnis ist, worauf er lächelte und sagte: „Bleib einfach hier und schaue zu, wie ich ihn zubereite, wie ich die Zutaten abmesse.“ 

Jeden Morgen, wenn er beginnt und das Feuer anzündet, verspricht er: „Möge ich die Kraft haben, den gleichen köstlichen Tee für einen Fremden wie für einen Freund zuzubereiten.“ Das ist sein geheimes Rezept. Es hat nicht wirklich etwas mit dem Tee zu tun, sondern mit diesem einzigartigen geistigen Umfeld, das er erschafft, und alle anderen erfreuen sich daran. Das ist eine großartige Unterweisung. Er hat ein offenes Herz und auf diese Weise sollten auch wir unsere Herzen öffnen. 

Ein berühmter chinesischer Schauspieler, Jet Lee, sagte, dass er den tibetischen Buddhismus wegen all den Gebeten, die nicht nur Menschen, sondern alle fühlenden Wesen umfassen, für ausgesprochen interessant hält. Auf diese Weise hat der tibetische Buddhismus sein Herz berührt. 

Das ist schön, aber auch ziemlich heikel, denn wenn wir von „fühlenden Wesen“ sprechen, sollten wir wissen, was das bedeutet. Sowohl Menschen als auch Tiere haben Gefühle und zeigen mit ihrer Reaktion auf Dinge, dass sie glücklich sein wollen. Wie wollen nicht gefoltert werden – unsere Reaktion auf Folter zeigt, dass wir keinesfalls gefoltert werden wollen. Gibt es eine Reaktion, handelt es sich um ein fühlendes Wesen. 

Vor ein paar Wochen erzählte mir ein Freund, dass er gern Bäume umarmt und er fragte mich, ob Bäume Leben haben. Ich sagte, dass wir verstehen sollten, was die Definition von Leben ist. Sprechen wir davon, dass ein Baum wächst und stirbt, können wir sagen, dass der Baum Leben besitzt, doch wenn es um Gefühle geht, bin ich mir nicht sicher, ob er Gefühle hat oder nicht. Darauf sagte ein anderer, dass Bäume tatsächlich Gefühle haben und er das wisse, weil die Bäume in der Meditation zu ihm sprechen. Ich kam also zu dem Schluss, dass es nicht so wichtig ist, sich zu fragen, ob Bäume Leben besitzen oder nicht. In unserer Welt können wir jedoch sehen, dass Menschen und Tiere Leben und Gefühle haben, und das sollte unsere Priorität sein. Und wenn wir Bäume retten wollen, sollten wir die Menschen darin schulen, denn sie sind es, die all die Bäume fällen. 

Ehrerbietung und Verbeugung 

Jetzt sollten wir uns dem Text zuwenden. Der Titel des Textes ist „37 Übungen der Bodhisattvas“. 

Ehrerbietung zu Lokeshvara.

Der Text beginnt mit einer Ehrerbietung zu Lokeshvara, den man auch als Avalokiteshvara, den Buddha des Mitgefühls, kennt. Im Grunde ist er unser mitfühlendes Selbst. Wir haben Mitgefühl in uns. Wir müssen es nicht außerhalb von uns erzeugen, weil es schon in uns ist. Sehen wir in einem Film, wie jemand gefoltert wird, denken wir: „Oh, das ist nicht richtig. Der arme Kerl, er wird gefoltert!“ Ganz automatisch merken wir, dass der Folterknecht eine schlechte Person ist. Sehen wir dann, wie der Held den Schlechten bestraft, sagen wir: „Ja, gut so!“ Von Natur aus haben wir also Mitgefühl und empfinden Abneigung gegenüber dem Leiden anderer. Das ist bereits in uns.

Ich sagte, dass Avalokiteshvara unser Mitgefühl ist. Auch wenn wir nicht viel Mitgefühl haben, ist das kleine Mitgefühl, was von Natur aus in uns ist, wie ein Same, um wie der Buddha, Avalokiteshvara oder Tara zu werden. Die Ehrerbietung zu Beginn ist nicht für etwas da draußen, sondern für hier drinnen. Wir bringen unserem eigenen Mitgefühl Ehrerbietungen dar. Hier geht es um die Qualitäten, die wir haben, ob wir nun anderen helfen wollen oder nicht. 

Ich verneige mich stets voller Hochachtung mit meinen drei Toren vor den höchsten spirituellen Meistern und dem Beschützer Avalokiteshvara, die sehen, dass es bei den Phänomenen kein Kommen und Gehen gibt, und einzig bemüht sind, für das Wohlergehen der umherwandernden Lebewesen zu wirken.

In diesem ersten Vers werden Bodhichitta und Leerheit bereits zusammen erwähnt, was recht tiefgründig ist. Wir sehen, wie alle Dinge kommen und gehen, aber tatsächlich sind alle Dinge jenseits davon. Das heißt, ihr Kommen und Gehen hat keine wahre Existenz. Auf einer relativen Ebene können wir sagen, dass es ein Kommen und Gehen gibt, jedoch nicht auf der letztendlichen Ebene. 

Bevor wir uns entscheiden, wer kommt und wer geht, sollten wir natürlich herausfinden, wer „sie“ sind. Nehmen wir einmal Yoko als Beispiel: „Wie lautet dein Name?“ „Yoko“. An sich können wir sagen, da gibt es keinen Yoko. Das hat nichts mit buddhistischer Theorie zu tun, aber wenn wir von Kopf bis Fuß suchen, können wir keinen Yoko finden. Was denkt ihr? Wir sehen Yoko hier sitzen, doch dann sagen wir: „Von Kopf bis Fuß können wir keinen Yoko finden.“ 

Das ist die größte Lehre, die Buddha uns gegeben hat. So etwas wie Serkong Rinpoche gibt es nicht. Serkong Rinpoche kann man nicht lokalisieren. Der Buddha sagt, dass dies – das Fehlen einer inhärenten Existenz als Serkong Rinpoche oder irgendetwas anderes – die letztendliche Wahrheit ist. 

Was ist der Nutzen dieser Lehre? Man sollte nach nichts greifen und klammern. Gibt es nichts zu greifen, kann sich unser Geist so richtig entspannen. Wenn wir dann etwas Gutes bekommen, werden wir nicht zu begeistert sein und wenn wir es nicht bekommen, werden wir deswegen nicht groß trauern. Von dem Augenblick, an dem wir diese letztendliche Wahrheit erkennen, können wir Kontrolle über unseren Geist haben. Das ist die Macht des Erkennens der letztendlichen Wahrheit. 

Gyalse Togme Zangpo, der Autor dieses Textes, bringt der Tatsache seine Ehrerbietungen dar, dass es so etwas wie Kommen und Gehen nicht gibt. Doch wenn wir über die Möglichkeit nachdenken, dass es keine solche Existenz gibt, wie geht es uns damit? Wo sind meine Freunde? Bin ich jetzt verrückt geworden? Vielleicht macht uns das ein wenig mutlos. Was jedoch das Verständnis des Buddhas betrifft, der uns lehrte, dass es kein Kommen und Gehen gibt, wird seine Absicht, anderen Wesen zu nützen, sowie seine Verbindung dazu sogar noch stärker. 

Das ist die großartige Qualität des Buddhas. Sagen wir hingegen, dass es so etwas wie ein „Ich“ nicht gibt, fragen wir uns: „Ja aber was dann?“ Macht der Buddha jedoch diese Erfahrung, hat er automatisch und zeitgleich ein Verständnis der letztendlichen Wirklichkeit, der relativen Wahrheit und der gegenseitigen Abhängigkeit. Daher wird hiermit auch der Buddha gepriesen. 

...mit meinen drei Toren...

Die drei Tore sind unser Körper, unsere Rede und unser Geist. Durch Körper, Rede und Geist erfahren wir so viele Probleme. Mit unserem Körper können wir jemanden schlagen oder böse ansehen. Mit unserer Rede können wir harte Worte benutzen und Geschwätz verbreiten. Und dann haben wir den Geist, der die Quelle von allem ist. Manchmal wird gesagt, dass die Rede von diesen dreien das Schlimmste ist. Was die Körpersprache betrifft, so könnten wir denken: „Diese Person mag mich nicht wirklich“, aber später finden wir dann heraus, dass es einfach ihre Eigenart ist und sie mit jedem so umgeht. Die Rede liefert hingegen die Botschaft von Körper und Geist. Daher sagten Atisha und die großen Kadampa-Praktizierenden: „Wenn du mit Freunden zusammen bist, achte auf deine Rede, und wenn du allein bist, achte auf deinen Geist.“

Mit Körper, Rede und Geist können wir so viele schlechte Dinge tun, doch alle guten Dinge sind ebenfalls auf diese drei zurückzuführen. Sie sind wie eine Tür. Ist sie einmal offen, geht alles hinaus oder hinein. 

Das Versprechen, was er darlegen wird 

Sehen wir uns nun den zweiten Vers an. 

Vollkommen erleuchtete Buddhas, die Quellen von Glück und Nutzen, sind dadurch entstanden, dass sie den erhabenen Dharma verwirklichten. Da dies wiederum davon abhängig war, dass sie wussten, wie man sich darin übt, werde ich die Übungen der Bodhisattvas erklären.

Wollen wir ein gutes Verständnis vom Buddhismus haben, ist es notwendig sich auf eine Person zu verlassen, die Erfahrung darin hat. Wollen wir etwas über Bodhichitta erfahren, sollten wir von einem Bodhisattva lernen. Wir reden über die Drei Juwelen – Buddha, Dharma und Sangha. Um den Dharma – die Lehren – zu kennen, benötigen wir die Hilfe des ersten und dritten Juwels. Um herauszufinden, ob der Buddha die Wahrheit sagt oder ob seine Lehren wirklich hilfreich sind, brauchen wir Freunde, die uns mitteilen können, ob die Lehren ihnen helfen oder nicht. 

Wollen wir beispielsweise in ein Restaurant gehen, sehen wir uns erst einmal die Bewertungen auf Tripadvisor an. Genauso verhält es sich mit dem Dharma. Wollen wir herausfinden, ob Buddha und Dharma hilfreich sind oder nicht, müssen wir uns informieren und jemanden finden, der Erfahrung in Bezug auf Buddha und Dharma hat. Und dies ist der Sangha. Durch den Sangha werden uns die buddhistischen Lehren vermittelt. Es gibt so viele Anhänger des Buddha, wie die Bodhisattvas, jene, die Bodhichitta praktizieren, und sie sind der Sangha.

Bodhichitta ist eigentlich eine gesonderte, geheime Praxis. Sie wird nicht in der Öffentlichkeit gelehrt. Spreche ich über vergangene und zukünftige Leben, haben die Menschen kein großes Interesse daran. Es scheint, als würden sich die meisten Menschen nicht wirklich etwas aus vergangenen und zukünftigen Leben machen. Mir geht es zuweilen auch so. Doch wenn ich sage, dass es Meditationen gibt, die ich mache, die meine Wut und Abneigung mindern und mir neue Energie geben, sind die Menschen interessiert daran, weil das Hauptaugenmerk der meisten von uns nur auf diesem Leben liegt. Doch das ist es, was mit Bodhichitta-Meditation erreicht werden kann. 

Buddha ist wirklich weise und geschickt. Wenn er eine Belehrung über Bodhichitta gibt, spricht er darüber, allen fühlenden Wesen von Nutzen zu sein. Was uns betrifft, so können wir jedoch nicht allen helfen, besonders nicht, wenn wir nur in diesem Leben daran arbeiten. Es ist kein Job, den wir nur in diesem einen Leben erledigen können. Wir sollten denken: „Ich werde daran arbeiten, so vielen Wesen so viel wie möglich bis hin zur vollen Erleuchtung zu helfen. Das ist es, was ich tun werde.“ 

Warum sollten wir so denken? Haben wir erst einmal die vollständige Erleuchtung erlangt, werden wir in der Lage sein, allen zu nutzen und wir werden es ganz mühelos tun können. Wir werden es nicht wie einen Job erledigen, denn wenn wir allen fühlenden Wesen helfen, sind wir Buddhas. Bis wir diese Ebene erreichen, müssen wir uns bemühen. Man kann es damit vergleichen, einen Job zu haben: wir müssen früh aufstehen und zur Arbeit gehen, auch wenn wir keine Lust dazu haben, denn sonst bekommen wir kein Gehalt. 

Wie gesagt war Buddha ausgesprochen weise und geschickt. Er sprach nicht über vergangene und zukünftige Leben. Geht man in andere buddhistische Länder, wie Thailand, Taiwan und Japan, merkt man, dass all diese Mönche dort ebenfalls nicht über vergangene und zukünftige Leben sprechen. Sie sprechen mehr über Shamatha, Vipassana und Achtsamkeit. Doch im tibetischen Buddhismus ist die Rede mehr von fühlenden Wesen und Bodhichitta. Wir sollten mehr darüber nachdenken, wie man alle fühlenden Wesen erreicht und ihnen hilft, ob man nun in der Realität dazu in der Lage ist oder nicht. Haben wir jedoch einmal das Gefühl, es wirklich tun zu können, bedeutet das, an die volle Erleuchtung und das Beseitigen von Leiden zu glauben und zu verstehen, dass man eine wahre Beendigung, die vierte und wichtigste edle Wahrheit, erlangen kann.

Buddha sagte, dass er sie erlangt hatte und dass wir alle ebenfalls dazu in der Lage sind. Haben wir sie einmal erlangt, gibt es keine Leiden mehr. Erlangen wir sie und geben diese Lehre an alle fühlenden Wesen weiter, können wir ihnen allen, auch unserer Familie, helfen. Es ist das beste Geschenk, das wir unseren geliebten Menschen machen können. 

Doch wir benötigen eine Ausbildung, um dazu in der Lage zu sein. Das Studium ist daher von großer Bedeutung und wenn wir wirklich etwas erforschen wollen, sollten wir die Beendigung erforschen. Das ist es, was der Buddhismus zu bieten hat.

Ein kostbares menschliches Leben 

(1) Die Übung der Bodhisattvas ist: jetzt, da wir das große Boot zur Verfügung haben, das so schwer zu finden ist, [nämlich ein menschliches Leben,] das mit reichen Ausstattungen versehen ist und uns Muße gewährt, Tag und Nacht unbeirrt zuzuhören, nachzudenken und zu meditieren, um uns selbst und andere aus dem Ozean des zwanghaften Daseinskreislaufs zu befreien.

Das ähnelt dem, was ich bereits gesagt habe – wir sollten studieren, reflektieren und meditieren. Gibt es so etwas, wie eine Beendigung, mit der wir alle negativen Emotionen beseitigen und von Herzen nur positive Gedanken für andere haben, werden wir vollkommen sein. Können wir das tatsächlich erreichen, lohnt es sich, dass wir uns dafür bemühen. 

Bodhisattvas studieren und meditieren Tag und Nacht. Doch was ist mit uns? Denkt ihr nicht, dass wir gern faul sind? Wir sind faul, anderen zu helfen, faul uns zu erleuchten und faul, bessere Menschen zu werden. Wir sehen nicht viel Nutzen in all diesem Studium und der Meditation und meinen es wäre besser, im Bett zu bleiben und uns Filme anzusehen. Das scheint viel interessanter für uns zu sein. Doch Seine Heiligkeit der Dalai Lama ist das völlige Gegenteil davon. Obwohl er mittlerweile fast 85 Jahre alt ist, studiert und meditiert er nach wie vor unermüdlich, um andere vom Ozean Samsaras zu befreien. 

Es ist schwer, ein kostbares menschliches Leben zu erlangen. Auch wenn es kein früheres oder zukünftiges Leben gibt und wir uns nur auf dieses Leben beziehen: Tiere sind nicht so intelligent wie wir. Sie können sich nicht in Geduld oder Achtsamkeit üben. Sie haben begrenzte Qualitäten, doch wir können trotz allem wunderbare Dinge von Tieren lernen. Normalerweise jagen und fressen Tiere ihre Beute, doch dann sehen wir zuweilen, wie sie ihnen stattdessen helfen. Es gibt viele Dokumentationen, die das zeigen. 

Mit diesem menschlichen Leben, das wir haben, können wir andere Menschen glücklich machen. Es liegt in unseren Händen: wir können andere glücklich oder traurig machen, und uns selbst ebenfalls! Es gibt immer zwei Möglichkeiten, jedes Mal, sogar, wenn jemand uns eine Pistole an den Kopf hält. 

Ich werde euch ein Beispiel erzählen, das Seine Heiligkeit mit uns teilte. Er sagte, dass es einen großen Mönch gab, der mehr als 30 Jahre in einem chinesischen Gefängnis saß. Dieser Mönch teilte seine Geschichte mit Seiner Heiligkeit, der ihn daraufhin fragte: „Wurdest du von der chinesischen Armee bestraft?“, worauf er antwortete: „Wir wurden bestraft und bekamen nicht viel zu essen, doch es gab da noch eine größere Gefahr.“ „Was war das?“ „Die Gefahr, kein Mitgefühl mehr gegenüber den Chinesen zu haben“, erwiderte der Mönch, woraufhin Seine Heiligkeit weinte. 

Als Bodhisattvas müssen wir studieren, nachdenken und meditieren, weil es sich lohnt, sich dafür zu bemühen. Wir sollten verstehen, was wir tun und den Nutzen erkennen. 

Fragen 

Der Sinn und Zweck dieses Textes besteht darin, den Geist des Mitgefühls und Bodhichitta zu entwickeln, nicht die Weisheit des Erkennens der Leerheit, nicht wahr? 

Im Text geht es hauptsächlich um das Verhalten eines Bodhisattvas, obwohl es in Bezug auf die Leerheit keine Handlung gibt, die wir ausführen müssen – wie gesagt, gibt es kein Kommen und Gehen. Dennoch muss es vor jeder Handlung eine Motivation geben und diese Motivation sollten Bodhichitta und Leerheit sein, diese zwei zusammen: Bodhichitta mit einem Verständnis der Leerheit. 

Im Tibetischen sagen wir, dass wir es nicht negativ sehen sollten, wenn uns etwas Schlechtes widerfährt. In unserem Denken gibt es etwas, das sich ändern kann, damit es positiv wird. Der Mönch hätte auch denken können: „Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht zu praktizieren und anderen zu helfen, doch nun ist das Ende meines Lebens so leidvoll. Ich hätte auch der chinesischen Armee beitreten können und dann wäre mein Leben viel besser gewesen.“ Doch er gab niemals auf. Er akzeptierte seine Situation und dachte: „Ich werde stark bleiben und in Frieden sterben.“ Er änderte etwas. 

Damit wir uns in diesen Dingen üben können, benötigen wir Kraft. Einmal sah ich, wie Seine Heiligkeit einen Mönch äußerst harsch zurechtwies. Ich dachte: „Oh, er ist der mitfühlende Buddha, der als Avalokiteshvara bekannt ist. Was ist denn jetzt los?“ Später ging ich zu ihm und er war wieder freundlich und lachte. Da wusste ich, dass es die Tat eines Bodhisattvas war, mitunter auch mal wütend zu werden. Bittet ein Kind um ein Eis und die Eltern sagen nein, helfen sie dem Kind. Die Motivation ist bereits da. Wenn wir wütend werden, ärgern wir uns nicht nur über unsere „Feinde“, sondern regen uns auf, beschimpfen unsere Kinder und machen andere um uns herum unglücklich. Haben wir uns jedoch unter Kontrolle, ist das wie ein Knopf, den wir drücken können. Das ist die Fassung, die wir bewahren. Was die Leerheit betrifft, so wird sie mehr in der Mitte des Textes besprochen. 

Weil wir gerade über das Studieren und Meditieren sprechen: ich habe einen Freund, der sagt, dass der Intellekt das Wichtigste ist. Das sehe ich etwas anders. Ich denke an all die Menschen, die nicht so intelligent sind. Nicht jeder kann alles verstehen. Was ist mit diesen Menschen?

Das ist eine gute Frage. Egal wie dumm jemand auch sein mag, es gibt immer eine Möglichkeit, die Botschaft und die Lehren zu vermitteln. Zuweilen ist ein Schüler zu clever und dann hat der Lehrer ein großes Problem! Doch es ist eine gute Sache. Es gibt verschiedene Weisen, unterschiedliche Menschen zu erreichen. Und das ist nicht nur im Buddhismus, sondern auch in der Schule so. Ein Schüler ist schlauer als ein anderer und wir sollten darauf achten, wie wir sie belehren. Wir sollten Zeit mit ihnen verbringen und herausfinden, wie ihr Geist funktioniert. Das braucht Geduld. Manchmal unterweise ich zum Beispiel meine zwei Assistenten. Einer ist ziemlich intelligent und mit dem anderen werde ich zuweilen wütend. Das ist mein Problem, denn mit ihm braucht es Zeit. 

Ein Bodhisattva-Gebet lautet, dass ich so lange bleiben werde, wie es das Universum und fühlende Wesen gibt. Solange es fühlende Wesen gibt, werde ich dableiben. Mein einziges Ziel besteht darin, ihnen zu zeigen, wie sie ihre störenden Emotionen loswerden können. Das ist der Bodhisattva-Pfad. Er ist äußerst effektiv! 

Es gibt zahlreiche Schüler, die wirklich intelligent sind. Sie wissen alles, sind schlauer als der Lehrer, doch auch sie brauchen Unterweisungen. Es gibt auch einige Lehrer, die wunderbare Reden halten, doch in ihrem eigenen Leben nicht praktizieren. Sie wissen alles, doch auf der praktischen Ebene tun sie nichts. Aus diesem Grund wird gesagt, man solle sich selbst einen Spiegel vorhalten, wenn man Unterweisungen gibt. Ist sagen und tun dasselbe? Ich kann ausgesprochen intelligent sein und Reden halten. Das ist mein Leben. Vergesse ich jedoch, mein eigenes Verhalten zu untersuchen, missachte ich die Gelegenheit, ein guter Rinpoche zu werden. Daher machen wir Gebete, wann immer wir studieren, essen oder schlafen.

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