Vers 7: Beseitigen, was von der Meditation ablenkt
Ich will mich aller materiellen Bürden entledigen und mich mit den Juwelen der Aryas schmücken. Daher werde ich mich von allen geschäftigen Aktivitäten befreien, und in Abgeschiedenheit leben.
In Abgeschiedenheit leben, um zu vermeiden, dass man durch andere in Unruhe versetzt wird
Atisha bringt hier etwas Ähnliches zum Ausdruck wie Shantideva im achten Kapitel seines Textes „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattva“, in dem es um die Stabilität des Geistes bzw. um Konzentration geht. Er betont dort: Wenn wir meditieren wollen, ist es wichtig, ein sehr einfaches Leben zu führen, am besten in Abgeschiedenheit zu leben.
In Abgeschiedenheit zu leben ist besonders wichtig, wenn wir sehr an den Menschen in unserer Umgebung hängen. Togme Zangpo schreibt in den „37 Praktiken der Bodhisattvas“:
(2) „Die Praxis eines Bodhisattva ist es, dass wir unsere Heimat verlassen, wo uns die Anhaftung an Freunde wie fließendes Wasser hinfort reißt; wo uns die Wut auf Feinde wie Feuer verbrennt, und wo uns die Naivität in Dunkelheit hüllt, sodass wir vergessen, welche Handlungsweisen wir uns aneignen und welche wir aufgeben wollten.
(3) Die Praxis eines Bodhisattva ist es, sich der Zurückgezogenheit anzuvertrauen, und weil wir uns durch den Rückzug von abträglichen Objekten befreit haben, können wir unsere störenden Emotionen und Geisteshaltungen Schritt für Schritt matt setzen; da es keine Ablenkungen gibt, wächst unsere konstruktive Praxis in natürlicher Weise an; und indem wir unser Gewahrsein läutern, wächst unsere Gewissheit in Bezug auf den Dharma.“
Eine gewisse Entfernung, und sei es nur für eine begrenzte Zeit – manche Leute gehen für eine Weile nach Indien oder dergleichen -, kann uns durchaus helfen, etwas Abstand von den Ursachen zu gewinnen, die uns aufwühlen und sich hinderlich auf unsere Meditation und unsere Praxis auswirken. Wenn wir gut geübt sind, können wir uns natürlich wieder an geschäftige Orte begeben, um die damit verbundenen Herausforderungen anzunehmen. Es heißt, erfahrene Bodhisattvas gehen zurück und meditieren „mitten auf der Kreuzung“. Sie halten sich an Orten auf, wo viel Umtriebigkeit herrscht und entsprechende Störungen auftreten, um ihre Konzentration zu vervollkommnen. Sie wollen imstande sein, auch in chaotischen oder herausfordernden Situationen zu praktizieren. Das alles sollte gemäß dem eigenen Entwicklungsstand und den entsprechenden Erfordernissen gehandhabt werden.
Sich materieller Bürden entledigen, die viel Aufmerksamkeit erfordern
Der Vers beginnt mit der Zeile: „Ich will mich aller materiellen Bürden entledigen.“ Eine materielle Bürde wird definiert als ein Gegenstand, der schwer zu erlangen, schwer zu bewahren und schwer zu schützen ist. Wenn so etwas gestohlen wird oder verlorengeht, würde man sich sehr darüber aufregen. Man könnte sogar ums Leben kommen, wenn jemand versucht, diese Objekte zu rauben. So etwas wird „materielle Bürde“ genannt; es ist eine Belastung, solche Objekte zu besitzen. Das bedeutet nicht, dass wir keinerlei materiellen Besitz haben sollten. Doch die besten Besitztümer sind solche, die einfach zu bekommen sind, keinen Seltenheitswert oder hohen Preis haben, und wegen derer wir uns nicht aufzuregen brauchen, wenn mit ihnen etwas passiert, etwa wenn sie verlorengehen, gestohlen werden oder kaputtgehen.
Wenn wir zum Beispiel in Indien mit dem Zug reisen, ist es ratsam, dabei nicht die besten Kleider zu tragen. Wir ziehen etwas an, an dem uns nicht viel liegt, sodass es uns nichts ausmacht, wenn es schmutzig wird oder einen Riss bekommt. So etwas gehört zu den besten materiellen Besitztümer, vor allem weil sie keinen Anlass bieten, in Bezug darauf kleinlich oder knauserig zu werden – etwa: „Oh, mein kostbarer Computer – ich will nicht, dass jemand anderes den anfasst“ oder so ähnlich.
Ich finde diese Definition von „materieller Bürde“ sehr hilfreich. Menschen, die ihre Häuser überaus kostbar und kunstvoll einrichten, decken nicht selten alles mit Plastik ab, weil sie vermeiden wollen, dass irgendetwas schmutzig wird. Wenn jemand mit kleinen Kindern zu Besuch kommt, regen sie sich auf, weil die Kinder Unordnung schaffen oder etwas schmutzig machen könnten. Sie wollen ein Kleinkind nicht einmal auf den Arm nehmen, weil es ja die teure Bluse beschmutzen könnte, und deswegen hält man es lieber einen halben Meter von sich weg.
Eine materielle Bürde zeichnet sich zudem dadurch aus, dass man sich enorm viel darum kümmern muss – z.B. ein großer, aufwändig zu pflegender Garten. Wir können dann nicht von zu Hause weg, weil wir uns um den Garten kümmern müssen. Oder wir müssen jemanden beauftragen, der regelmäßig kommt und das übernimmt. So etwas bindet uns und kostet viel Zeit. Wir werden zu Sklaven des Gartens. Oder zu Sklaven unserer Haarfrisur – es gibt so komplizierte Frisuren, dass es viel Zeit kostet, sie zustande zu bringen und in Ordnung zu halten.
Die Juwelen der Aryas: Geisteszustände, die man überallhin mitnehmen kann
Anstelle solcher Besitztümer können wir uns mit den Juwelen der Aryas schmücken. Diese werden später in Vers 26 genauer erklärt; deswegen werde ich sie hier nur kurz aufzählen. Es handelt sich um (1) Glauben an Tatsachen, (2) ethische Selbstdisziplin, (3) Freigebigkeit, (4) Zuhören, (5) Sorgsamkeit in Bezug darauf, wie unser Verhalten sich auf andere auswirkt, (6) Selbstachtung und (7) unterscheidendes Gewahrsein. All das ist etwas, was wir immer weiter entwickeln können, wodurch wir einen großen Reichtum an Disziplin gewinnen sowie einen Reichtum an Lehren, intensive Kraft des Zuhörens, Reichtum an Freigebigkeit, Überzeugung usw.
Geshe Ngawang Dhargye wies darauf hin, dass wir normalerweise nicht all unseren Schmuck auf einmal tragen können. Wenn wir eine riesige Schmuckkollektion haben, können wir jeweils nur wenige Stücke auf einmal anlegen. Würden wir all unseren Schmuck gleichzeitig tragen, so würden wir total lächerlich aussehen. Aber die Juwelen der Aryas können wir allesamt zur selben Zeit tragen. Selbst wenn wir ins Gefängnis müssten oder in ein Arbeitslager verschleppt würden, könnten wir sie mitnehmen und uns unseren Reichtum bewahren. Wir wären sogar dort reich. Und auf Flugreisen brauchen wir uns keine Sorgen um übermäßiges Gepäck zu machen.
Das sind also die besten Arten von Reichtum, die man ansammeln kann. Sie sind besser als materielle Gegenstände, um die man sich mit viel Aufwand kümmern muss und die vielerlei Sorgen und Probleme verursachen. Stellen Sie sich vor, man würde sich in eine Meditationsklausur begeben und müsste sich dauernd um „meine Pflanzen“ und „mein Haus“ sorgen und immerzu bedenken, was alles damit schiefgehen könne. Das wäre eine große Ablenkung.
Sich von geschäftigen Aktivitäten befreien, die uns viel von unserer Zeit kosten
Atisha schreibt: „Daher werde ich mich von allen geschäftigen Aktivitäten befreien.“ Auch das sind starke Ablenkungen. Beispiele für geschäftigen Aktivitäten sind, sich dauernd mit Freunden zu treffen oder ständig am Telefon oder per Internet in Chatrooms zu plaudern, belanglose Mitteilungen auf Facebook auszutauschen usw. – damit verschwendet man jede Menge Zeit. Wenn wir so etwas ab und zu tun, ist das in Ordnung, aber wenn wir unsere Zeit dauernd damit verbringen, bleibt nicht viel Zeit zum Meditieren, Praktizieren, Studium usw. übrig.
Shantideva schreibt:
(VIII.13) „Wenn ich viel mit kindischen Leuten zusammen bin, tritt unvermeidlich zerstörerisches Verhalten auf, etwa indem ich mich rühme und andere herabsetze oder drauflosschwätze über die Annehmlichkeiten von Samsara.“
Das heißt nicht, dass wir solche Leute ignorieren, sondern nur, dass wir nicht unsere ganze Zeit damit verbringen, von einem zum anderen zu laufen und zu „schwätzen“, d.h. über belanglose Dinge zu plaudern.
Oder im Haus herumzukramen – man kann leicht den ganzen Tag damit verbringen, Kleinigkeiten im Haushalt zu verrichten und Dinge zu tun, die eigentlich nicht von Belang sind. Oder man eilt von einem Vergnügen zum anderen, wechselt im Fernsehen dauernd die Kanäle, surft endlos im Internet - es gibt zahllose Beispiele für geschäftige Aktivitäten.
Man kann auch mit Büchern so umgehen. Manche Menschen sind süchtig danach, Bücher zu kaufen, obwohl sie nie Zeit haben, sie zu lesen, und wenn sie welche davon lesen, schauen sie nur ein wenig mal in dieses, mal in jenes hinein. Die Anzahl der Bücher, die sie haben, wird geradezu eine Last. Man bewegt sich kaum noch vom Fleck, und wenn, dann nur mit einem Berg von Büchern, wie Gefangene, die eine Last auf dem Rücken tragen – einen ganzen Sack voller Bücher.
Damit habe ich allerlei Erfahrung gemacht. Am Ende meines Universitätsstudiums hatte ich über tausend Bücher. Als ich nach Indien zog, ließ ich sie bei meiner Mutter auf dem Dachboden. Als meine Mutter in Rente ging und nach Florida zog, ließ sie sie alle in die Garage meiner Tante bringen, wo sie in Pappkartons auf dem Boden lagerten. Dann kam eine Flut. Die Garage wurde überschwemmt und all die Bücher wurden zu Brei. Das heilte mich davon, Bücher zu kaufen. In Indien hatte ich sehr wenige Bücher und etliche davon habe ich verschenkt, als ich abreiste. Allmählich kam ich zu der Erkenntnis, dass es für so etwas Bibliotheken gibt. Man muss nicht alles selbst besitzen – und sich dann Sorgen machen und aufregen, wenn es durch eine Flut in Brei verwandelt wird.
Vermeiden, sich durch andere entmutigen zu lassen
Von all dem will man sich also befreien und, wie Atisha in Übereinstimmung mit dem Rat Shantidevas schreibt: in Abgeschiedenheit leben. „In Abgeschiedenheit leben“ heißt, wie Shantideva erläutert, in „Isolation“ leben. Wir versuchen, sowohl unseren Geist als auch unseren Körper von dem zu trennen bzw. zu isolieren, was uns ablenkt oder unsere Aufmerksamkeit auf Zerstörerisches lenkt oder auf etwas, womit wir dann bloß unsere Zeit verschwenden. Das bedeutet nicht, dass wir einzeln in völliger Abgeschlossenheit leben müssen – was für einige Menschen ganz in Ordnung ist. Es bedeutet vielmehr, mit Menschen zusammenzuleben, die das, was wir tun, unterstützen, etwa mit Lehrern oder Gleichgesinnten. Auf diese Weise in Abgeschiedenheit zu leben kann sehr hilfreich sein. Das hängt von der jeweiligen individuellen Disposition ab.
Es reicht auch nicht aus, sich nur physisch zu isolieren. Wenn unser Geist weiterhin an etwas hängt – wenn wir z.B. dauernd an die Menschen zu Hause denken und immerzu per Internet Verbindung zu ihnen aufnehmen, hat räumliche Trennung wenig Zweck.
In den Nebengelübden für Bodhisattvas heißt es, dass man nicht mehr als sieben Tage und Nächte im Hause eines Anhängers des Hinayana verbringen sollte. Es geht jedoch nicht darum, ob jemand Praktizierender der Theravada- bzw. Hinayana-Tradition ist, sondern diese Aussage bezieht sich darauf, mit jemandem zusammenzuleben, der die Mahayana-Praxis ins Lächerliche zieht und meint, es sei dumm, Mahayana zu praktizieren und anderen von Nutzen sein zu wollen, und der versucht, uns zu entmutigen und von unserem spirituellen Pfad abzubringen. Wenn wir wankelmütig sind und keine starke Motivation und Intention haben, können solche Leute uns stark beeinflussen und damit unserer Praxis schaden.
Diesem Rat zu folgen kann allerdings schwierig sein. Stellen Sie sich vor, Sie müssten zur Bundeswehr und ein Zimmer mit lauter Soldaten teilen, die sich betrinken und herumgrölen und sich lustig über Sie machen, wenn Sie versuchen, Ihre Meditationspraxis durchzuführen. Oder Sie kämen ins Gefängnis – eine äußerst schwierige Situation für die Ausübung einer Meditationspraxis. Deswegen ist es von Vorteil, die Praktiken auswendig zu können, um sie im Geist zu bewahren – so wie die Juwelen der Aryas. Dann können wir unsere Praxis überall mit hinnehmen und es spielt keine Rolle, wer sich in unserer Nähe befindet.
Vor Jahren war ich mit meinem Lehrer Serkong Rinpoche im Westen unterwegs und wir reisten dauernd von einem Ort zum anderen. Einmal hatte ich meine Aktentasche vergessen, die all meine Rezitationstexte enthielt, und konnte sie erst am nächsten Tag wieder an mich nehmen. Serkong Rinpoche – der immer mit mir schimpfte, allerdings sehr sanft, so empfand ich es jedenfalls – wies darauf hin, wie lächerlich es war, dass ich so von diesen Papierblättern abhängig war, und betonte, dass er sich selbstverständlich nicht auf solches Zeug verließ. Dann schrieb er voller Güte eigenhändig die wichtigsten Praktiken nieder, die ich rezitieren sollte, damit ich meine Verpflichtungen nicht vollständig durchbrach, und ich wurde ganz verlegen. Das war so unglaublich freundlich von ihm und es war mir ausgesprochen peinlich, dass dieser große Lama sich hinsetzte und mir handschriftlich meine Gebete aufschrieb, weil ich vergessen hatte, sie mitzubringen.
Vers 8: Das Verhalten beim Praktizieren mit Freunden und Lehrern
Wie man sich verhält, wenn man mit gleichgesinnten Freunden praktiziert
Ich will mich unnützer Worte entledigen und jederzeit meine Rede zügeln.
Es ist nicht nur wichtig, Körper und Geist von ungünstigen Bedingungen zu lösen, indem man beides von den genannten Gegenständen der Anhaftung usw. isoliert; sondern auch wenn wir uns mit gleichgesinnten Freunden in eine Art Klausur begeben, ist es überdies erforderlich, sich unnützer Worte zu enthalten. Wir verschwenden oft unsere ganze Zeit damit, dass wir einfach immer weiter über belanglose Dinge schwatzen. Das kommt natürlich immer vor, auch wenn wir uns nicht in einer Situation befinden, in der das Hauptgewicht auf der Dharma-Praxis liegt. Es ist, wie die Lehrer sagen: „Wenn es um müßiges Geschwätz geht, sind wir immer munter und erpicht darauf, aber wenn wir anfangen zu meditieren oder einem Vortrag zuhören, schlafen wir gleich ein.“
Trijang Rinpoche, der verstorbene Junior-Tutor Seiner Heiligkeit des Dalai Lama, sagte immer: „Wenn Ihnen nicht danach zumute ist, eine Dharma-Übung oder sonst irgendetwas Konstruktives zu tun, ist es besser, ein Schläfchen zu halten. Das ist zumindest besser als Klatsch und Tratsch, denn wir wachen anschließend erfrischt auf und haben unsere Zeit nicht völlig vertan.“ Weltliches Geschwätz hat nie ein Ende; es ist also besser, unnützes Gerede zu unterlassen.
Natürlich braucht das, worüber wir reden, nicht immer tiefgründig, hoch bedeutsam und intensiv zu sein. Auch dabei gibt es ein Übermaß. Erstrebenswert ist jedoch, dass wir hauptsächlich über etwas reden, das konstruktiv ist. Deshalb zügeln wir unsere Sprache, wenn sie einfach nur in nichtssagendes Geplapper, Gejammer, Klatsch über andere oder dergleichen auszuarten droht.
Sinnvolle Zeit mit unseren spirituellen Lehrern verbringen
Sollte ich einem herausragenden Lehrer oder einem gelehrten Meister begegnen, werde ich ihm daher in respektvoller Weise meine Dienste anbieten.
Mit anderen Worten: Statt unsere Zeit mit endlosem Geplauder mit kindischen Menschen zu verbringen, was unweigerlich zu irgendeiner Art von destruktivem Verhalten führt, versuchen wir, unserem spirituellen Lehrer oder einem großen Meister oder Gelehrten, wenn ein solcher anwesend ist, unsere Hilfe anzubieten und uns nützlich zu machen. Wenn wir unsere Zeit mit anderen verbringen, wollen wir sie für etwas Konstruktives nutzen statt für etwas, was bloß Zeitverschwendung ist. Und eine der konstruktivsten Arten, unsere Zeit zu verbringen, besteht darin, unsere Lehrer zunehmend dabei zu unterstützen, anderen zu helfen.
Eine der wunderbaren Zeilen in Shantidevas Text bringt eine Art Gebet zum Ausdruck:
(III.14): „Möge alles, was auf mich ausgerichtet ist, sich niemals als bedeutungslos erweisen“ – ein wundervoller Gedanke. Und im Hinblick auf Lehrer heißt es in Atishas Text in:
Vers 9: Durch Andere Inspiration für die Praxis gewinnen
Ich werde meine Wahrnehmung erweitern und sowohl Menschen, die das Auge des Dharma besitzen, als auch begrenzte Wesen, die Anfänger sind, als meine Lehrer betrachten.
Wir können von vielen Menschen etwas lernen, nicht nur von denjenigen, die das Auge des Dharma besitzen; dieser Ausdruck bezieht sich auf die großen Meister. Wir können auch von begrenzten Wesen, die Anfänger sind, nämlich Anfänger auf dem spirituellen Weg, etwas lernen. Wir können uns über ihr Interesse freuen und durch sie eine Menge Ermutigung gewinnen. Wann immer jemand davon profitiert, eine bestimmte Praxis auszuüben, einer Unterweisung zu lauschen und dergleichen mehr, ist das ein Grund zur Freude. Wir können durch diese Menschen unsere Erkenntnisse hinsichtlich Ursache und Wirkung erweitern, wenn wir sehen, wie sie an sich arbeiten und was für Ergebnisse sie erzielen.
Wenn wir uns selbst auf dem spirituellen Weg befinden, können wir uns von Anfängern enorm inspirieren lassen. Wir gewinnen nicht nur von unseren Lehrern Inspiration, sondern auch durch Anfänger, die echtes Interesse zeigen und ganz aufrichtig sind. Wir können auch aus ihren Fehlern lernen. Zudem können wir durch sie Geduld lernen. Geduld ist das Beste, was wir sowohl denen, die höher stehen als wir, also den großen Lehrern, als auch denen, die weniger weit fortgeschritten als wir oder noch neu im Dharma sind, entgegenbringen können. Es sind Menschen, die es durchaus wert sind, unsere Zeit mit ihnen zu verbringen.
Anfänger im Dharma sind sicher nicht auf dieselbe Weise unsere Lehrer wie die großen Meister, doch es wird betont, dass sie uns dennoch Vieles lehren können. Außerdem werden wir in zukünftigen Leben die Jüngeren und sie die Älteren sein. Auch in dieser Hinsicht werden Ursache und Wirkung zum Tragen kommen. Etwas von Generation zu Generation weiterzugeben ist von großer Bedeutung.
Der Kadampa-Geshe Potowa gab den Rat: Wenn ein Schüler zu dir kommt, der arrogant ist und denkt, er weiß alles, sollte man ihn meiden, selbst wenn er sehr intelligent ist. Wenn ein Schüler sehr hartnäckig ist und nicht zuhören will, wenn man ihm einen Rat gibt und dergleichen, so handelt es sich nicht um einen angemessenen Schüler. Aber wenn Schüler wirklich etwas lernen wollen, aufgeschlossen sind und sich Ratschläge zu Herzen nehmen, werden sie aufgrund ihres Charakters gute Schüler sein, auch wenn sie nicht sehr intelligent sind. Sie sind die beste Art von Schülern, die man annehmen kann. Dann kommt es auf die Geschicklichkeit und Geduld des Lehrers an, ob sie viel lernen oder nicht.
Die Qualität, auf die man bei einem Schüler achten sollte, ist also nicht die Intelligenz, sondern die Aufrichtigkeit und Aufgeschlossenheit. Wenn man aufgeschlossen ist, bedeutet das, dass die Bereitschaft zum Lernen vorhanden ist sowie die Bereitschaft, an sich zu arbeiten und die eigenen Fehler zu korrigieren, ohne eine Abwehrhaltung einzunehmen und ständig Einwände zu erheben. Das sind die besten Schüler.
Vers 10: Wie man andere betrachtet und schlechte Einflüsse vermeidet
Ein ausgewogenes Gefühl von Nähe zu allen entwickeln
Wann auch immer ich (in ihren Fähigkeiten) begrenzte Wesen sehe, will ich meine Wahrnehmung erweitern und sie als meinen Vater, meine Mutter, mein Kind oder Enkelkind betrachten.
Diese Aussage ist ein Teil der Lehren, wie man Bodhichitta entwickelt. Um anderen nutzen zu können, müssen wir zunächst einmal imstande sein, jeden als gleich zu betrachten und ihm liebevolle Zuneigung entgegenzubringen. Diese liebevolle Zuneigung gleicht dem, was wir empfinden, wenn wir unseren liebsten Freund oder unser liebstes Familienmitglied sehen. Bei ihrem Anblick wird uns warm ums Herz. Wir haben wirklich das Gefühl: „Wie schön, ihn oder sie zu sehen!“
Wir können das an Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama beobachten. Egal, wen er trifft, er verhält sich so, als würde er einen guten Freund sehen, dem er lange nicht begegnet ist. Er ist einfach hocherfreut, ein weiteres menschliches Wesen, ein weiteres Tier oder was auch immer zu treffen. Das ist eine wundervolle Qualität.
Wir können dieses Gefühl am leichtesten hervorrufen, indem wir die andere Person als jemanden betrachten, der uns wirklich nahesteht. Der Text bringt das in den Begriffen traditioneller indischer und tibetischer Familien zum Ausdruck, wo die familiären Beziehungen recht gut sind. Wenn eine ältere Person in unserer Nähe ist, können wir sie beispielsweise als unseren Vater oder unsere Mutter betrachten. Wir reden hier nicht von Übertragung, wie etwa Freud sie in psychoanalytischen Zusammenhängen verstand, nämlich in dem Sinne, dass man alle möglichen Gefühle gegenüber Vater und Mutter auf andere projiziert. Wir konzentrieren uns einfach auf das Gefühl von Nähe. Wenn wir es mit einer jüngeren Person zu tun haben, können wir sie als unser Kind oder Enkelkind betrachten. Handelt es sich um jemanden in unserem Alter, sehen wir ihn oder sie als Bruder oder Schwester an. Worauf es ankommt, ist das Gefühl der Nähe, ohne jemanden zu vereinnahmen, zurückzuweisen oder zu ignorieren. All das beruht wie gesagt auf einer Art Idealvorstellung von unbelasteten, liebevollen Familienverhältnissen.
Man muss natürlich ziemlich weit fortgeschritten sein, um das auf eine Fliege oder Mücke anwenden zu können, die in unser Zimmer geflogen kommt – sie willkommen zu heißen und über ihren Besuch erfreut zu sein. Das erfordert wirklich einiges. Es gibt eine Geschichte über jemanden, der im Gefängnis in Einzelhaft saß und dessen einzige Gesellschaft die einer Spinne war, die in seine Zelle gekrabbelt kam. Sie war sein bester Gefährte, denn sonst war niemand da. – Aber denken Sie nicht: Spinnen sind in Ordnung, aber Fliegen sind keine akzeptable Lebensform, sondern eher so etwas Eindringlinge aus dem Weltraum.
Ich mache zwar Witze über „Eindringlinge aus dem Weltraum“, aber das spricht einen interessanten Punkt an in dem Zusammenhang, was wir schön finden und was nicht. In meiner ersten Zeit in Indien hatte ich nicht viel für Insekten übrig, und Indien ist das Land der Insekten. Dort, wo ich lebte, gab es riesige Wolfspinnen, so groß wie eine Handfläche. Einmal bemerkte ich törichterweise gegenüber meinem Lehrer – damals Geshe Ngawang Dhargye -, wie fürchterlich diese Spinnen aussahen. Er schimpfte mit mir und sagte: „Von ihrem Gesichtspunkt aus siehst du wie ein Monster aus. Wer hat nun recht?“
Sich von irreführenden Freunden abwenden
Daher werde ich mich von irreführenden Freunden abwenden und mich spirituellen Freunden anvertrauen.
Das bringt uns zu den treffenden Definitionen, die im Buddhismus irreführende Freunde und spirituelle Freunde bzw. gute Freunde genannt werden. Irreführender Freunde sind solche, die uns zu destruktivem Verhalten veranlassen. Das destruktive Verhalten, zu dem sie uns anstiften, muss nicht unbedingt extrem zerstörerisch sein, wie etwa einen Laden auszurauben, jagen oder fischen zu gehen und dergleichen mehr. Es mag sein, das sie einfach dauernd mit uns Partys feiern, Drogen nehmen oder Alkohol trinken wollen oder auch bloß herumsitzen und über Fußball oder Politik oder Filmstars reden wollen. Das sind irreführende Freunde – solche, die uns von sinnvollen Aktivitäten abhalten.
Das gegenteilige Wort, das normalerweise als „spiritueller Freund“ übersetzt wird, lautet auf Sanskrit „kalyana-mitra“, was im Tibetischen als „Geshe“ wiedergegeben wird. „Kalyana“, der erste Teil des Wortes, bedeutet jedoch nicht „spirituell“, sondern „konstruktiv“ bzw. „tugendhaft“. Es handelt sich um einen Freund, der uns dahingehend beeinflusst, dass wir etwas Konstruktives tun. Statt anzuregen, dass wir losziehen und uns gemeinsam betrinken, schlägt er beispielsweise vor: „Lass uns doch zusammen meditieren“ oder ermuntert uns, mit ihm zusammen zu studieren oder so etwas. Das ist ein spiritueller Freund, ein Freund, der zu konstruktiven Aktivitäten anregt, jemand, der uns ermutigt und uns hilft, in unserer Praxis voranzukommen.
Es kann sogar jemand sein, der vorschlägt, gemeinsam irgendein körperliches Training zu machen, um mehr Kraft für die Praxis zu gewinnen – wobei es nicht so ist, dass wir das zu unserer Hauptaktivität machen; das wäre etwas anderes. Aber es muss nicht unbedingt um etwas überaus Schwerwiegendes gehen, etwa dass wir ausschließlich zusammensitzen und beten. Das, wozu wir ermutigt werden, kann entweder etwas sein, das selbst unmittelbar von konstruktivem Wert ist, oder auch einfach etwas, das dazu beiträgt, dass wir konstruktiv handeln können.
Wenn wir nicht willensstark sind und in unserer Praxis leicht beeinflusst werden können, ist es besonders wichtig, irreführende Freunde zu meiden. Wenn wir unsere meiste Zeit mit irreführenden Freunden verbringen, werden wir es ihnen allmählich gleichtun und uns ähnlich verhalten wie sie. Das ist ein überaus wichtiger Punkt.
So lernen wir allmählich, immer mehr Stärke zu gewinnen, sodass wir uns nicht – um die tibetische Analogie zu benutzen – wie ein Hund verhalten, der zu bellen anfängt, wenn die anderen Hunde in der Nachbarschaft bellen. Ein Beispiel dafür wäre, wenn wir mit jemandem zusammen sind, der anfängt, sich über die Regierung zu beklagen und dergleichen, und wir dann einfallen und uns ebenfalls mächtig darüber aufregen. „Wenn man etwas dagegen tun kann, tun Sie es; wenn nicht, hören Sie auf zu klagen“ – es führt nur dazu, dass man sich noch schlimmer fühlt.