Vers 4: Geistige Flatterhaftigkeit verringern, indem man wenig Wünsche hegt
Ich will mich stets (vom Begehren) nach materiellem Gewinn und Ansehen wie auch (vom Begehren) nach Profit und Ruhm befreien. Daher werde ich nur wenige Wünsche hegen, zufrieden sein, und gute Taten, die vollbracht wurden, offen wertschätzen.
Nicht auf materiellen Gewinn, Ehre, Vorteil oder Ruhm bedacht sein
Eines der größten Hindernisse in der Meditation ist die Flatterhaftigkeit des Geistes, die nicht nur darauf beruht, dass man an begehrenswerten Sinnesobjekten hängt, sondern auch darauf, dass man nach materiellem Gewinn, Ansehen, Profit oder Ruhm trachtet. Sich von derartigen starken Begehrlichkeiten zu befreien ist ganz allgemein von Bedeutung, vor allem aber dann, wenn wir meditieren. Solange wir in Gedanken mit diesen Dingen beschäftigt sind, werden wir nie imstande sein, in Klausur zu gehen und voll und ganz auf ein bestimmtes Objekt ausgerichtet zu meditieren.
Wenn wir überlegen, was wir studieren und worum wir uns bemühen wollen, wird stets betont, dass es wichtig ist, die oberste Priorität auf das Studium und die Übung dessen zu legen, was unserem Geist förderlich ist, und nicht darauf, was unserem Bankkonto gut tut. Das Bankkonto können wir nicht mit in zukünftige Leben nehmen; die förderlichen Gewohnheiten hingegen, die wir im Geist entwickelt haben, werden sich in späteren Leben fortsetzen. Es ist also von großer Bedeutung, welche Prioritäten wir setzen.
Der innere Frieden, der auf Genügsamkeit beruht
Wir müssen natürlich von etwas leben und imstande sein, für unseren Lebensunterhalt zu sorgen. Dazu heißt es in der nächsten Zeile: Ich werde nur wenige Wünsche hegen und zufrieden sein. Andernfalls wird das, was wir haben, uns nie genug sein und wir werden immer unzufrieden sein. Andererseits können wir, wenn wir materiellen Reichtum besitzen, damit viel Gutes in der Welt bewirken. Wenn Geld uns leicht zufällt oder wir aufgrund unserer Herkunft gut damit ausgestattet sind, können wir es verwenden, um anderen zu nützen; doch Reichtum und Besitz zu erlangen ist nicht unser vordringliches Ziel.
Ein Freund von mir wies darauf hin, dass Tsongkhapa z.B., als er seine großen Werke schrieb, sicherlich nicht darüber nachdachte, wie viele Exemplare davon verkauft werden würden, welche Tantiemen er dafür erhalten und wie viele Leser die Texte kaufen würden. Nur der Verlauf der Geschichte zeigt, ob die Werke von Nutzen sind oder nicht. Man schreibt also einfach deswegen, weil man anderen helfen möchte. Wenn andere dann tatsächlich auf diese Werke stoßen und sie hilfreich finden – umso besser.
Es ist so ähnlich wie wenn wir Futter für die Vögel im Garten ausstreuen. Wenn Vögel kommen und es aufpicken, ist das wunderbar. Aber wir stellen kein Werbeplakat auf, um Reklame für unser Vogelfutter zu machen. Ich finde, das ist ein sehr hilfreicher Vergleich. Man bietet der Welt etwas von seinen Gaben dar. Wenn jemand sie annimmt, so ist das sehr schön. Wenn nicht – nun, dann hat man wenigstens den Versuch unternommen. Buddha hat keine Werbeanzeigen für seine Vorträge in die Zeitung gesetzt.
Viel Geld und eine Menge materieller Besitztümer zu haben kann ein großes Hindernis sein. Oft ist es so, dass jemand, je mehr er besitzt, nur umso habgieriger und knauseriger wird. Man macht sich dann Sorgen, dass etwas gestohlen wird, und es wird immer schwieriger umzuziehen, weil man zu viel Besitz angehäuft hat. In den Mönchsgelübden wird betont, wie wichtig es ist, nur wenige Dinge zu besitzen. Wir müssen nicht unbedingt so weit gehen, wie es in den Mönchsgelübden nahegelegt wird, doch es ist bedenkenswert, was Milarepa sagte: „In meiner Höhle gibt es nichts zu stehlen. Ich habe nichts, deswegen brauche ich mir wegen Dieben keine Sorgen zu machen.“
Das gleiche gilt für Ruhm und Ansehen. Je berühmter man ist, umso mehr wird man von Leuten belästigt. Man kann nirgends mehr hingehen, ohne dass die Leute einen um ein Autogramm bitten; man muss sich verkleiden, um unbehelligt auf die Straße zu gehen. Ständig schicken Leute einem E-Mails mit Fragen oder Bitten, dies und jenes zu tun. Dann sind wir in der misslichen Lage, Nein sagen zu müssen. Für jemanden, der danach strebt, Avalokiteshvara zu sein und jedem zu helfen, ist das sehr schwierig - man muss einen Sekretär einstellen, der das Neinsagen für einen übernimmt.
Dankbarkeit für die Freundlichkeit, die wir empfangen haben, als Weg, unser Herz zu öffnen und aufzuhellen
In der letzten Zeile dieses Verses wird geraten, gute Taten, die vollbracht wurden, offen wertzuschätzen. Wenn wir Dharma üben konnten – hier geht es in erster Linie um Meditation über Bodhichitta, und zwar sowohl konventionelles als auch tiefstes Bodhichitta -, ist es von großer Wichtigkeit, die Freundlichkeiten, die man uns erwiesen hat, wertzuschätzen. Man hat uns viel Güte zukommen lassen, sodass wir Unterweisungen erhalten konnten und die Voraussetzungen gegeben waren, die wir für die Meditation und Praxis brauchen. Möglicherweise gab es Menschen, die uns finanziell unterstützten, uns Lebensmittel zukommen ließen oder was auch immer.
Wenn wir diese Art von Gelegenheit haben, weisen wir sie nicht zurück. Mit anderen Worten: Es ist wichtig, das Beste daraus zu machen, ohne jedoch jemanden auszunutzen. Die Art, wie wir sie am besten nutzen können, besteht darin, unsere Wertschätzung für das, was wir empfangen haben, zu zeigen und dankbar dafür zu sein. Wenn wir überdies imstande sind, anderen dafür Hilfe zu leisten, so tun wir es, jedoch ohne uns verpflichtet zu fühlen oder das Gefühl zu haben, jemandem etwas schuldig zu sein, etwa mit dem Gedanken: „Jetzt bin ich dazu verpflichtet, das zurückzuzahlen, sonst bin ich ihm etwas schuldig“ usw. Vielmehr tun wir es aus einem Gefühl von Freude, Wertschätzung und Respekt gegenüber denjenigen, die uns so viel geholfen haben.
Ein frohes Gefühl im Hinblick auf die Freundlichkeit, die wir empfangen haben, macht unser Herz leichter und heller, wenn wir versuchen zu meditieren. Im Grunde können wir ohne dieses Gefühl unmöglich die erforderlichen Voraussetzungen zum Meditieren und Praktizieren, haben. Wir hegen also Wertschätzung für die Freundlichkeit und fühlen uns nicht schuldig oder unbehaglich dabei. Wenn wir können, erwidern wir sie auf irgendeine Weise, und sei es nur, indem wir wirklich mit ganzem Herzen meditieren und praktizieren – so, wie es Milarepa Marpa gegenüber zum Ausdruck brachte: „Ich habe nichts, womit ich das zurückzahlen kann außer mit meiner Praxis. Materiellen Besitz habe ich nicht.“
Auch diese Einstellung ist sehr förderlich dafür, unbelastet und mit leichtem Herzen und frohem Geist meditieren zu können. Für die Meditation über Bodhichitta und Mitgefühl ist es sehr wichtig, im Hinblick auf andere Menschen Freude zu empfinden. Wenn wir an diejenigen denken, die uns geholfen haben, empfinden wir Freude und Wertschätzung, nicht Schuld oder Verpflichtung. Was diejenigen betrifft, die leiden, so stellen wir uns vor, dass sie glücklich werden – immerhin versuchen wir, ihnen zu Glück zu verhelfen. So widmen wir uns der Meditation immer in einem glücklichen Geisteszustand.
Wie könnten wir über Liebe – mit den Wunsch, dass andere glücklich sein mögen – meditieren, wenn es uns elend geht? Die Meditation muss auf der Grundlage eines glücklichen Geisteszustandes erfolgen, eines Geisteszustands, den wir mit anderen teilen möchten. Genau das ist die Grundlage für Tonglen, die Meditation des Gebens und Nehmens. Um etwas zu geben, müssen wir etwas zu geben haben. Um anderen Glück zu schenken, müssen wir imstande sein, uns die – auf tiefster Ebene - grundlegende glückselige Natur des Geistes in den Sinn zu rufen. Das leitet über zum ersten Teil des nächsten Vers, der folgendermaßen lautet:
Vers 5: Die Festigung des Ziels von Bodhichitta
Das Ziel von Bodhichitta durch Liebe und Mitgefühl festigen sowie dadurch, dass man sich nicht entmutigen lässt
Ich will über Liebe und Mitgefühl meditieren und meine Bodhichitta-Ausrichtung festigen.
Wie gesagt – wie können wir Liebe für andere empfinden und wünschen, dass sie glücklich sind, wenn wir selbst keine glücklichen Geisteszustände haben? Und auch von einem eigennützigen Gesichtspunkt aus gesehen: Wie können wir erwarten, dass andere uns lieben, wenn wir sie nicht lieben?
Es ist unerlässlich, das Ziel von Bodhichitta zu festigen, und was es festigt, ist die Empfindung starker liebevoller Zuneigung, nämlich des Wunsches, das andere glücklich sein mögen und die Ursachen dafür erlangen mögen, sowie Mitgefühl, nämlich der Wunsch, dass andere frei von Leiden und den Ursachen dafür sein mögen. Beides bezieht sich auf alle Wesen, deren Geist noch Begrenzungen unterliegt.
Es gibt einen außergewöhnlichen Entschluss, der nicht nur darin besteht, jedem zu Glück zu verhelfen sowie dazu, sich vom Leid zu befreien, und alle zur Erleuchtung zu bringen, sondern zudem die unerschütterliche Entscheidung beinhaltet, tatsächlich dafür zu sorgen. Wir übernehmen die volle Verantwortung und sind entschlossen, wenn nötig selbst dafür zu sorgen. Das ist das, was unser von Bodhichitta geprägtes Ziel festigen wird.
Zudem ist es notwendig, dieses Ziel ständig zu bekräftigen und zu stärken, denn man kann sonst leicht den Mut verlieren. Es gibt ein Beispiel von Buddhas Schüler Shariputra: Jemand – eine Art Mara – kam zu ihm und bat ihn, ihm seine rechte Hand zu schenken. Shariputra hieb sich die rechte Hand ab und überreichte sie dem Mann mit der linken – was jedoch in Indien als unhöflich betrachtet wird, da die linke Hand als schmutzig gilt. Der Mann lehnte die Gabe ab, weil Shariputra sie ihm mit der linken Hand darbot. Daraufhin verlor Shariputra den Mut hinsichtlich Bodhichitta und des Versuchs, anderen zu helfen. Um Entmutigung zu vermeiden, ist es nötig, die Motivation – Liebe und Mitgefühl – immer wieder zu bekräftigen.
Ein anderes hervorragendes Beispiel wird aus dem Leben Dignagas berichtet. Dignaga war ein großer buddhistischer Meister, der hauptsächlich über Logik schrieb. Er hatte sich in eine Höhle zurückgezogen, um sein Werk „Ein Kompendium der gültig wahrnehmenden Arten von Geist“ (Skt. Pramana-samuccaya) zu schreiben. Als er einmal die Höhle kurz verlassen hatte – sei es, um nach Nahrung zu suchen oder was auch immer -, war jemand dort eingedrungen und hatte ausgelöscht, was er geschrieben hatte. Das passierte zwei Mal. Er musste also das Gleiche immer wieder neu schreiben.
Ähnliches geschah auch Marpa. Dieser hatte in Indien zahlreiche Übersetzungen erstellt. Als er auf dem Rückweg nach Tibet den Ganges überquerte, kenterte das Boot und all seine Übersetzungen gingen im Fluss verloren. Er musste nach Indien zurückkehren und sie alle nochmals anfertigen. Wir brauchen uns also nicht entmutigen zu lassen, wenn wir aus Versehen unsere Dateien gelöscht haben oder so etwas.
Dignaga tat Folgendes: Er hinterließ der Person, die alles gelöscht hatte, eine Nachricht mit dem Inhalt: „Wenn Ihnen das, was ich schreibe, nicht gefällt und Sie es bestreiten möchten, kommen Sie bitte her und treten Sie mir persönlich gegenüber.“ Die Person kam tatsächlich und sie debattierten, doch es war jemand, der sich partout weigerte, logische Argumente zu akzeptieren. Ganz gleich, wie viele logische Gründe Dignaga anführte – der andere weigerte sich, sie zu akzeptieren. Stattdessen – da er die Macht hatte, Feuer zu speien – blies er Feuer in Dignagas Höhle und zerstörte damit alles. Dignaga war sehr entmutigt, warf die Schiefertafel, auf der er geschrieben hatte, hoch in die Luft und sagte: „Wenn sie zu Boden fällt, gebe ich Bodhichitta auf.“ Doch als er die Tafel hochwarf, fing Manjushri sie auf, sodass sie nicht zu Boden fiel, und sprach: „Dignaga, du machst einen großen Fehler. Gib niemals dein Bodhichitta auf und gib niemals auf, diese Inhalte zum Nutzen anderer niederzuschreiben.“ Also schrieb Dignaga jenes große Werk.
Man sagt, dass das Stück Schiefer, das Dignaga benutzte, um seinen Text zu schreiben, in Tibet aufbewahrt wird. Es wurde an einem Ort außerhalb von Lhasa aufbewahrt, und jedes Jahr begaben sich die Mönche aus den großen Klöstern der Gelug-Tradition im Winter für zwei Monate dorthin, um diesen Text, „Ein Kompendium der gültig wahrnehmenden Arten von Geist“, zu studieren und darüber zu debattieren.
Es ist also überaus wichtig, dass wir uns nicht entmutigen lassen, wenn beispielsweise unsere Dateien verlorengehen oder wenn wir enorm viel Zeit damit verbringen, etwas zu tun, um das uns jemand gebeten hat, weil wir ihm einen Gefallen tun wollten, und er dann am Ende sagt: „Was du gemacht hast, gefällt mir nicht; ich will es nicht haben.“ Worauf es ankommt, ist der Wunsch, anderen von Nutzen zu sein. Ob das, was wir tun, anderen tatsächlich hilft, hängt wesentlich von ihrem Karma ab. Selbst Buddha konnte nicht jedem helfen, obwohl er den Wunsch und die Absicht hatte, allen Wesen von Nutzen zu sein.
Man kann auf dem Bodhisattva-Pfad leicht den Mut verlieren. Deswegen müssen wir unser Ziel von Bodhichitta festigen, indem wir immer wieder unsere Motivation stärken. Mir fällt dazu ein Ratschlag ein, den ich, glaube ich, von Geshe Ngawang Dhargye gehört habe. Er sagte: Wenn wir einen Lama bitten, für uns zu beten, bitten wir nicht darum, dass er betet „Möge mein Schüler einen Job finden“ oder diesen oder jenen weltlichen Gegenstand zu erlangen. Wir bitten den Lama zu beten, dass wir Bodhichitta entwickeln mögen. Das ist die beste Bitte, die wir an ihn richten können.
Unser Ziel durch den Aufbau positiver Kraft festigen
Ich werde mich daher von den zehn zerstörerischen Handlungen befreien und meinem (Geist) durch den Glauben an Tatsachen Festigkeit verleihen.
Die nächsten Zeilen haben etwas mit der Tatsache zu tun, dass wir, wenn wir unserem Bodhichitta-Ziel Festigkeit verleihen wollen, ein enormes Ausmaß an positiver Kraft aufbauen müssen, indem wir anderen helfen. Um das zu tun, müssen wir uns von negativen Handlungen zurückhalten – davon, uns destruktiv zu verhalten. Um sicherzustellen, dass unser Bodhichitta-Ziel stabil bleibt und wir immer mehr positive Kraft gewinnen, befreien wir uns von den zehn zerstörerischen Handlungen.
Ohne diese allzu detailliert zu erklären, handelt es sich um folgende:
- Die drei zerstörerischen physischen Handlungen
- Anderen das Leben nehmen
- Etwas nehmen, das uns nicht gegeben wird
- Unangemessenes sexuelles Verhalten
- Die vier zerstörerischen sprachlichen Handlungen
- Lügen
- Entzweiende Worte sprechen – schlecht über andere reden, um zu bewirken, dass sie sich entzweien
- Barsch reden – etwas sagen, was die Gefühle von anderen verletzt
- Sinnloses Geschwätz – die eigene Zeit und die von anderen Menschen mit belanglosem Geplapper verschwenden und andere mit unwichtigem Gerede stören, wenn sie mit etwas Positiven beschäftigt sind
- Die drei zerstörerischen Arten zu denken
- Begehrliches Denken – mit „begehrlich“ ist gemeint, dass man stark auf etwas erpicht ist, was ein anderer besitzt, weil man neidisch darauf ist. Das bedeutet nicht lediglich, dass man wünscht, etwas Ähnliches wie diese Personen zu erlangen, sondern etwas, das noch besser ist. Es geht also auch darum, sie zu übertreffen. Die destruktive Aktivität besteht hier darin, ständig daran zu denken, eine bestimmte Sache oder Eigenschaft zu erlangen, und Pläne zu schmieden, wie man das bewerkstelligen kann.
- Feindseliges Denken – überlegen und planen, wie man jemandem schaden kann oder jemandem etwas heimzahlen kann, das er getan hat
- Verzerrtes, widerstreitendes Denken – das bedeutet nicht lediglich, etwas zu denken, das im Gegensatz zu dem steht, was wahr und korrekt ist, etwa: „Es ist sinnlos, einem spirituellen Weg zu folgen“, „Es hat keinen Zweck zu versuchen, anderen zu helfen“ usw., sondern in Bezug darauf angriffslustig zu sein, oder, anders ausgedrückt, mit anderen zu streiten und sie aggressiv herabzusetzen. Deshalb verwende ich dafür den Ausdruck „verzerrtes, widerstreitendes Denken“.
Bei diesen zerstörerischen geistigen Aktivitäten geht es um Denkweisen. Es handelt sich um eine Aktivität – etwa dazusitzen und Pläne zu schmieden, wie man jemanden durch ein besseres Auto, als er es besitzt, übertrumpfen kann, oder was man jemandem, der einen verletzt hat, beim nächsten Treffen sagen kann, um ihm wirklich richtig wehzutun. Oder: „Diese Person geht zu einer Dharma-Veranstaltung, während ich will, dass sie mit mir zu Hause bleibt. Was kann ich ihr sagen, um ihr das so richtig zu vermiesen und ihr klarzumachen, dass das, was sie tut, völlig lächerlich ist und sie stattdessen lieber mit mir zusammen sein sollte?“ Man reitet darauf herum, was die andere Person macht und wie schrecklich das ist, und ärgert sich so darüber, dass man sie, wenn sie zurückkommt, am liebsten ohrfeigen möchte, weil sie von mir weggegangen ist, um an einer Dharma-Veranstaltung teilzunehmen.
Das sind die zehn Arten zerstörerischer Handlungen, von denen wir uns befreien müssen, damit wir immer mehr positive Kraft aufbauen können. Diese positive Kraft wird uns dazu verhelfen, nicht nur Befreiung, sondern auch Erleuchtung zu erlangen.
Um uns davon zurückzuhalten, destruktiv zu handeln, ist es notwendig, dass wir unseren Geist ständig festigen, indem wir Tatsachen glauben, nämlich dass die Gesetze karmischer Ursachen und Wirkungen wahr sind, sodass wir unsere ethische Disziplin einhalten können.
Vers 6: Vermeiden, andere zurückzustoßen, wenn man ihnen helfen will
Vermeiden, andere zurückzustoßen, indem man ärgerlich wird oder arrogant ist
Ich will Zorn und Stolz überwinden und eine Haltung von Bescheidenheit entwickeln.
Um anderen auf der Grundlage von Bodhichitta zu helfen, müssen wir es vermeiden, sie zurückzustoßen. Wenn wir dauernd ärgerlich werden und anderen voller Zorn gegenüberübertreten, wird es ihnen davor grauen, mit uns zusammen zu sein; sie werden befürchten, dass wir einen Riesenwirbel machen und wütend auf sie werden. Auch wenn wir sehr stolz und arrogant sind, werden andere nicht gern mit uns zusammen sein. Warum sollten sie unsere Gegenwart ertragen, wenn wir dauernd ärgerlich sind, sie beschimpfen und schlecht behandeln?
Und wie wollen wir imstande sein, anderen zu helfen, wenn wir dauernd aus Ärger und Stolz heraus handeln? Wenn wir anderen helfen wollen, ist es notwendig, solche Zustände zu überwinden – ganz abgesehen von dem Leid, das solche Geisteszustände uns selbst verschaffen – und, wie schon erwähnt, eine Haltung von Bescheidenheit zu entwickeln, was im Grunde damit zu tun hat, anderen gegenüber respektvoll zu sein und freundlich mit ihnen umzugehen. Das Gleiche gilt für die Gewohnheit, sich dauernd zu beklagen: Wer will dann schon mit uns zusammen sein? So etwas ist unangenehm, nicht wahr? Natürlich haben wir z.B., wenn wir älter werden, gewisse Schmerzen und Beeinträchtigungen und können nicht mehr, was wir früher konnten, aber wenn wir es hinnehmen und nicht dauernd darüber klagen, werden wir andere Menschen nicht vertreiben.
Das bringt uns zu dem Thema, die Sensitivität gegenüber anderen zu trainieren. Wenn wir beispielsweise überempfindlich sind und uns sehr leicht verletzt fühlen, wenn jemand etwas sagt, wird ebenfalls niemand unsere Gesellschaft sonderlich schätzen. Andere werden befürchten, dass wir uns aufregen, eine Szene machen, in Tränen ausbrechen usw. Wenn wir wirklich im Sinne von Bodhichitta denken und anderen von Nutzen sein wollen, ist es wichtig, sich dessen bewusst zu sein, wie unser Verhalten und unsere Einstellungen andere abstoßen könnten und bewirken, dass sie für unsere Hilfe nicht empfänglich sind.
Diese Art von Sensitivität bezieht auch unsere Erscheinung mit ein. Wir versuchen zu vermeiden, unsauber oder ungepflegt zu erscheinen oder auf eine Weise, die die Menschen, mit denen wir zu tun haben, abstößt. Es gibt noch weitere Unterweisungen – die hier nicht aufgeführt sind, jedoch Teil der Nebengelübde von Bodhisattvas sind – dahingehend, dass man sich den geltenden Sitten und Gebräuchen entsprechend verhalten soll, sofern diese nicht schädlich oder zerstörerisch sind. Wir berücksichtigen die Bräuche, denen die Menschen in der jeweiligen Gesellschaft folgen. Wenn wir z.B. in Indien sind, wo es unüblich ist, dass Frauen in Minröcken herumlaufen, ist es ratsam, diesem Brauch zu folgen, denn sonst werden die Menschen dort nichts mit einem zu tun haben wollen – und diejenigen, die sich einem dann nähern, werden wohl kaum daran interessiert sein, Gespräche über Dharma zu führen.
Vermeiden, unbrauchbare Ratschläge zu geben oder unehrlich zu sein
Daher werde ich unehrliche Lebensweisen überwinden und mein Einkommen durch einen Lebenserwerb bestreiten, der mit dem Dharma im Einklang steht.
Das, was hier als „unehrliche Lebensweise“ bezeichnet ist, wird manchmal auch als „falscher Lebenserwerb“ übersetzt. Es gibt zwei Aspekte davon.
Der erste besteht darin, seinen Lebensunterhalt mit unehrlichen Mitteln zu verdienen. Dazu gab es eine interessante Erläuterung, als ich für einen bekannten Lama, Ugyen Tseten Rinpoche, übersetzte, der manchmal auch hier nach Berlin kommt. Er ist der frühere Abt des Unteren Tantra-Kollegs und einer der wesentlichen Lehrer meines Lehrers Geshe Ngawang Dhargye. Ich übersetzte in Australien für ihn, und einer der Zuhörer stellte eine Frage bezüglich falschen Arten von Lebenserwerb. Er fragte: „Ich lebe in Australien auf dem Land, wo der einzige Wirtschaftszweig die Schafzucht ist und die Schafe dem Fleischverzehr dienen. Was kann ich tun – eine andere Arbeit gibt es nicht. Ist das falscher Lebenserwerb? Handelt es sich um einen unehrlichen Lebensunterhalt?“
Ugyen Tseten Rinpoche erklärte daraufhin, dass das Wesentliche ist, andere nicht zu betrügen. Wir können nicht sagen, dass Schafe züchten an sich eine völlig negative Art von Tätigkeit wäre. Wenn wir sie schlachten, sieht das schon anders aus. Wenn wir sie aber nur aufziehen, kommt es darauf an, gut zu den Schafen zu sein, ihnen das Leben so angenehm wie möglich zu machen und die Menschen, die sie kaufen, nicht zu betrügen, etwa indem wir zu Werbezwecken falsche Behauptungen aufstellen oder dergleichen. Natürlich wäre es am besten, zu versuchen, eine andere Möglichkeit zu finden, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber wenn das völlig unmöglich ist, dann ist die Hauptsache, eine gute Motivation zu haben und ehrlich zu bleiben. Das, so sagte er, sei der wesentliche Punkt beim Vermeiden des so genannten falschen Lebenserwerbs – deswegen übersetze ich diesen Ausdruck als unehrliche Lebensweise.
Ich fand, diese Antwort zeugte von einer enormen Aufgeschlossenheit. Außerdem war sie ein geschickt eingesetztes Mittel. Man schlägt nicht die extremsten Alternativen vor, die die Menschen in dieser Situation unmöglich ergreifen können; es würde nur dazu führen, dass sie Schuldgefühle bekommen. Sie würden dann denken, dass das, was sie tun, falsch ist, und alle an einen anderen Ort umziehen sollten, was natürlich jeden Schafzüchter vor den Kopf stoßen würde, sodass er vermutlich dem Dharma gegenüber dann nicht mehr sehr empfänglich wäre. Als wirksame Methode beginnt man also damit, zu sagen: „Nun, der wesentliche Punkt ist, nicht unehrlich zu sein.“
Das bringt uns wieder darauf zurück, zu vermeiden, dass andere uns völlig ablehnen. Wenn wir anderen dabei helfen wollen, in Übereinstimmung mit den Dharma-Lehren zu leben, ist es notwendig, Möglichkeiten vorzuschlagen, denen sie tatsächlich folgen können. Wenn wir etwas anführen, das ihnen so gut wie unmöglich ist, werden sie es gar nicht erst versuchen. Sie werden nur zu dem Schluss kommen, dass wir Idealisten sind, die gar keinen Bezug zur Realität haben. Diese Vorgehensweise beinhaltet einen wichtigen Ratschlag, den es im Sinn zu behalten gilt, insbesondere, wenn wir neu im Dharma sind. Wir neigen dann oft dazu, selbstgerecht Ratschläge zu geben, als wären wir Heilige und müssten die erhabensten Regeln ethischer Verhaltensweisen präsentieren, denen Folge zu leisten ist. Das Ganze bringt uns wieder zurück zu dem Thema, bescheiden zu bleiben und die Zweckmäßigkeit der Ratschläge zu bedenken.
Unehrliche Arten, etwas von anderen zu erlangen
Der andere Aspekt unangemessener oder unehrlicher Arten von Lebenserwerb wird in einer Liste von fünf solcher Arten aufgeführt:
- Schmeichelei – Das Beispiel, das dafür gewöhnlich angeführt wird, sind Mönche und Nonnen, die um Almosen betteln, aber wir können auch das Beispiel verwenden, dass man nach Spenden für ein Kloster trachtet, in dem Bestreben, Nahrung für die Mönche und Nonnen zu beschaffen, und anderen schmeichelt – „Sie sind ja so ein wunderbarer Mensch und so gütig …“ -, damit sie einem etwas geben.
- Druck ausüben – andere zu drängen und ständig zu behelligen: „Warum geben Sie denn nichts? Warum spenden Sie nicht?“
- Erpressung – man versucht, gewaltsam oder mit Drohungen etwas zu erlangen oder indem man Schuldgefühle in jemandem hervorruft. „Letztes Mal haben Sie auch etwas gegeben. Denken Sie doch an all die Mönche, die noch Hunger haben!“
- Bestechung – „Wenn Sie eine bestimmte Geldsumme spenden, erhalten Sie einen Toaster geschenkt“ oder so etwas. Man gibt jemandem etwas Kleineres, um dafür etwas Größeres zu erhalten.
- Vortäuschen – etwa so zu tun, als wäre man besonders fromm, und zu versuchen, andere damit zu beeindrucken, wie großartig man ist, damit sie einem etwas geben.
Es heißt, wenn wir von Einkünften und Gaben leben, die wir auf eine dieser Arten erlangt haben, werden jegliche Einsichten, zu denen wir in unserer Dharma-Praxis kommen, wieder verfallen.
Interessant ist, dass in der buddhistischen Erläuterung unangemessener oder unehrlicher Arten von Lebenserwerb nirgends etwas von Töten, Waffenproduktion, Jagd usw. erwähnt wird. Man könnte annehmen, dass dies Beispiele für unangemessenen Lebenserwerb sind; doch sie heben nicht den wesentlichen Punkt hervor, der hier erläutert wird, nämlich: dass es darauf ankommt, in seinem Lebenserwerb nicht unehrlich zu sein. Wenn wir also etwas anbauen oder herstellen, sei es als Landwirt, Bildhauer oder was auch immer, ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir dies nicht auf unehrliche Weise veräußern, auf niemanden Druck ausüben, es zu kaufen, nichts vortäuschen, indem wir falsche Werbeversprechen verkünden oder anderen schöntun – „Wenn Sie wirklich schlau sein wollen, kaufen Sie mein Erzeugnis“ oder „Wenn Sie möchten, dass alle Frauen – oder Männer – Sie attraktiv finden, kaufen Sie dieses Produkt“ – die meiste Werbung arbeitet mit solchen Mitteln. Und, wie gesagt, auch Wahlen sind in den westlichen Ländern oft so gestaltet – „Ich bin großartig, die anderen Kandidaten taugen nichts, also wählen Sie mich!“
Drei Arten, an Karma zu glauben
All das beruht darauf, dass man im Zusammenhang mit Ursachen und Wirkungen von Verhalten, mit anderen Worten, karmischen Ursachen und Wirkungen, Tatsachen glaubt. Tatsachen zu glauben bedeutet, etwas zu glauben, was es tatsächlich gibt und was gültig erkennbar ist, oder eine Tatsache darüber als wahr anzusehen. Tatsachen zu glauben ist auf dreierlei Art möglich:
- Glauben an Tatsachen mit klarem Verstand – wir betrachten die Tatsache karmischer Ursachen und Wirkungen als wahr und läutern dadurch Verstand und Herz, sodass sie von störenden Emotionen wie Schuldgefühlen, Gier usw. gereinigt werden. Derartige störende Emotionen veranlassen uns, eine der zehn zerstörerischen Handlungen zu begehen oder einem unangemessenen Lebenserwerb nachzugehen. Über Ursache und Wirkung nachzudenken, beseitigt z.B. die Gier, immer mehr Geld zu verdienen, und sei es durch unehrliche Mittel Gewinn zu machen.
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Auf Begründungen beruhender Glaube an Tatsachen – wenn wir glauben, dass Ursache und Wirkung von Verhalten der Wahrheit entsprechen, macht es dann einen Sinn, andere zu betrügen, um an mehr Geld zu kommen – während wir ihnen doch eigentlich helfen wollen? Ganz offensichtlich ergibt das keinen Sinn.
- Mit Bestreben verbundener Glaube an Tatsachen – beruhend auf dem Glauben an die Tatsache der Ursachen und Wirkungen von Verhalten haben wir das Bestreben, uns stets konstruktiv zu verhalten und unangemessene Arten des Lebenserwerbs zu vermeiden.