Kurzer Rückblick auf die Geschichte der Texte des Geistestrainings
Wir haben über „Das Rad scharfer Waffen“ von Dharmarakshita gesprochen, einen Text, der zu der Sammlung von Texten des Geistestrainings gehört und ein Vorreiter zu sein scheint. Dharmarakshita war einer der Lehrer Atishas und Atisha hat diesen Text mit ihm zusammen studiert. Atisha brachte ihn später nach Tibet und gab ihn an Dromtönpa weiter. Von ihm ging die Überlieferung und Lehre in der Übertragungslinie der Kadampa-Tradition weiter und von dort zu allen Traditionen des tibetischen Buddhismus.
Im Text geht es um die Praxis des Gebens und Nehmens, Tonglen, in der wir die Leiden anderer auf uns nehmen und ihnen Glück, die Freiheit von diesen Leiden, und letztlich den erleuchteten Zustand eines Buddhas schenken.
Wie wir auch später in der Tradition des Geistestrainings, wie dem Werk „Geistestraining in sieben Punkten“ von Geshe Chekawa, sehen, liegt das Hauptaugenmerk auf der Praxis des Tonglen mit den drei giftigen Geisteshaltungen, die der Grund für das Leiden sind und auf das Greifen nach einem unmöglich existierenden Selbst zurückgeführt werden. Diese drei Gifte sind sehnsüchtiges Verlangen, Anhaftung oder Gier – diese drei werden als ein Gesamtpaket betrachtet – sowie Wut und Naivität. Sie bringen unser zwanghaftes Verhalten des Karmas hervor, was zu unserem Leiden heranreift.
Wie in den verschiedenen Meditationstexten erwähnt wird, besteht das größte Hindernis für Konzentration und tiefere Meditation in sehnsüchtigem Verlangen, dessen stärkste Form der biologische Drang nach sexuellem Genuss ist. Größtenteils wird im Text dann auf die Hindernisse eingegangen, die uns davon abhalten, Tonglen zu praktizieren und andern helfen zu können, also die Leiden, die wir aufgrund unseres zwanghaften destruktiven Verhaltens erfahren.
Wir haben das Gefühl, etwas tun zu wollen, und ohne zu unterscheiden oder zu wissen, was die Konsequenzen sein werden, begeben wir uns naiv und zwanghaft in Situationen, in denen wir entweder frühere Verhaltensmuster wiederholen oder wir geraten in Situationen, in denen andere sich uns gegenüber so verhalten, wie wir uns gegenüber anderen verhalten und destruktiv gehandelt haben.
Dharmarakshita weist auf Folgendes hin: Wenn andere gegenüber uns auf unschöne Weise handeln, sollten wir verstehen, dass es sich dabei um das Reifen unserer eigenen Muster ähnlich destruktiver Verhaltensweisen gegenüber anderen handelt. Daher ist es notwendig damit aufzuhören, diese alten Muster zu wiederholen und zu beginnen, unser Verhalten zu ändern. Das ist ein recht hilfreicher Hinweis darauf, wonach wir in unserem eigenen destruktiven Verhalten suchen sollten und wie wir unsere Weise des Sprechens und Handelns ändern können. Auf diese Weise erkennen wir auch, dass diese Umstände nicht nur leidvoll für uns sind, sondern uns davon abhalten, anderen zu helfen.
Diese Darlegung des Karmas im Text zielt darauf ab, die negativen, nachteiligen Auswirkungen unseres vergangenen karmischen Verhaltens zu überwinden, damit wir anderen bestmöglich helfen und Tonglen praktizieren können, um ihnen von Nutzen zu sein.
Greifen nach einem wahrhaft begründeten Selbst
Die zugrundeliegende Ursache unseres destruktiven Verhaltens, diesen drei giftigen oder toxischen Emotionen, die unser destruktives Verhalten hervorbringt, ist unser Greifen nach einem wahren Selbst. „Wahr“ bezieht sich hier darauf, dass es für jene, die keine tiefste Einsicht und Verwirklichung der Leerheit oder Leere haben, so scheint, als würde es sich bei dem, was wir als das Selbst erleben, um das wahre, das wahrhaft begründete, Selbst handeln, was jedoch nicht der Fall ist. Solch ein so genanntes „wahrhaft begründetes Selbst“ existiert einfach nicht. Es entspricht nicht der Realität.
Glauben wir, dass wir als ein wahrhaft begründetes Selbst existieren, entwickeln wir Selbstbezogenheit. Selbstbezogenheit ist die Geisteshaltung, mit der wir uns selbst für diese unmögliche, solide existierende Entität halten, für den Wichtigsten und den Einzigen, um den wir uns kümmern wollen. Das führt dann zu Egoismus, Selbstsucht und so viele weitere Aspekte, die in unserer westlichen Psychologie beschrieben werden. Außerdem ignorieren wir andere.
In der Tradition des Gleichsetzens und Austauschens von uns selbst und anderen, in der wir die Tonglen-Übungen finden, wird ein großer Wert darauf gelegt, die Nachteile der Selbstbezogenheit zu erkennen, wie sie in diesem Text hervorgehoben werden, sowie die Vorteile, sich um andere zu kümmern. Darauf hinzudeuten hilft, uns für die Praxis des Tonglen zu motivieren und wirklich die Leiden und Schwierigkeiten anderer auf uns zu nehmen.
Zwei Aspekte des Greifens nach einem wahrhaft begründeten Selbst
Beginnen wir nun mit dem dritten Teil dieses Textes, in dem Dharmarakshita den wahren Feind identifiziert, der die Ursache für so viel Leid ist. Der wahre Feind ist unser Greifen nach einem wahrhaft begründeten Selbst. Dieses Greifen entsteht dadurch, dass unser Geist ganz automatisch die Erscheinung eines wahrhaft begründeten Selbst erschafft und ausstrahlt. Zudem haben wir das, was man für gewöhnlich als „Unwissenheit“ bezeichnet. Ich ziehe es jedoch vor, von „mangelndem Gewahrsein“ zu sprechen, da Unwissenheit so klingt, als wären wir dumm, was wir nicht sind. Unwissenheit oder dieses mangelnde Gewahrsein wird auf zwei unterschiedliche Weisen definiert. Zum einen geht es darum, dass wir nicht wissen, wie Dinge existieren und wir uns nicht bewusst darüber sind, dass diese Erscheinung nicht dem entspricht, wie wir tatsächlich existieren; zum anderen glauben, dass sie dem entspricht und wir wirklich auf diese Weise existieren, was das genaue Gegenteil davon ist, wie wir existieren.
Dieses Greifen nach einem wahrhaft begründeten Selbst hat zwei Aspekte, denn das Wort, das als „Greifen“ übersetzt wird, bedeutet auch, etwas als ein kognitives Objekt zu erfassen. Der erste Aspekt ist, dass unser Geist diese falsche, trügerische Erscheinung eines wahrhaft begründeten Selbst erschafft und wir es als ein Objekt der Wahrnehmung erfassen. Das geschieht ständig und ganz automatisch, denn unser Geist ist begrenzt und befindet sich unter der Kontrolle der fortwährenden Gewohnheit, diese Art von Erscheinungen hervorzubringen. Diese trügerische Erscheinung taucht auf und wir nehmen sie wahr. Der zweite Aspekt ist dann, dass wir meinen, es würde der Realität entsprechen und so glauben wir, es wäre wahr.
Dieser zweite Schritt ist das, was normalerweise als „Greifen“ bezeichnet wird, zumindest in der Bedeutung des englischen Wortes „to grasp“. Wir glauben, wir würden tatsächlich so existieren. Dieser Irrglaube ist das, was es zunächst zu überwinden gilt. Je mehr wir die Abwesenheit irgendeiner Wirklichkeit wahrnehmen, die dem Unsinn entspricht, den unser Geist hervorbringt und uns, mit anderen Worten, auf dessen Leerheit fokussieren – diese Abwesenheit, die völlige Abwesenheit – desto mehr lösen wir das Beharren des Geistes darauf, diese trügerische Erscheinung hervorzubringen. Um so mehr wir in der Lage sind, uns nichtkonzeptuell auf diesen Mangel eines wahrhaft begründeten Selbst auszurichten, desto eher wird unser Geist damit aufhören, diese trügerischen Erscheinungen solch eines unmöglichen Selbst hervorzubringen.
Konzeptuelle Wahrnehmung mit Kategorien
Um klarzustellen und zu verstehen, was wir mit nichtkonzeptueller Wahrnehmung meinen, ist es zunächst notwendig, konzeptuelle Wahrnehmung zu definieren und zu verstehen. Konzeptuelle Wahrnehmung ist, wenn wir etwas durch eine Kategorie wahrnehmen. „Wahrnehmen“ ist der grundlegendste Ausdruck dafür, sich etwas gewahr zu sein. Der Begriff „Kategorie“ wird zuweilen mit „Allgemeinheit“ übersetzt, aber ich finde diese Übersetzung nicht gerade nützlich.
Eine Kategorie ist wie eine geistige Schublade, der wir Dinge zuordnen. So haben wir beispielsweise die geistige Kategorie „Apfel“ und wenn wir im Laden ähnliche Früchte sehen, betrachten wir sie durch die Kategorie „Apfel“ und wissen, dass sie alle in die gleiche Objekt-Kategorie passen. Bei allen handelt es sich um die gleiche Art von Objekten. Des Weiteren gibt es Namen, mit denen diese Kategorie in den verschiedenen Sprachen benannt wird, wie zum Beispiel „apple“ im Englischen oder „Apfel“ im Deutschen. Durch die Kategorie werden dann auch die Dinge mit den Namen benannt, die wir der Kategorie zuordnen.
Was die Kategorien „Apfel“, „Hund“ oder „Katze“ betrifft, so ist es recht einfach zu sehen, wie viele ähnliche Dinge in diese Kategorien passen. Aber wie ist es mit der Kategorie „Ich“? Hier führe ich in der Regel ein Beispiel an, um es besser verstehen zu können. Betrachten wir eine Reihe von Fotos, die uns im Laufe unseres Lebens zeigen, so sind wir in der Lage, sie alle in die geistige Schublade „Ich“ zu stecken und sie mit dem Namen „Ich“ zu versehen. Bei allen handelt es sich um Bilder von mir und in diesem Leben hat das „Ich“ auch einen individuellen Namen, wie „Alex“.
Die geistigen Schubladen fangen an, etwas komplizierter zu werden, wenn wir von Emotionen sprechen. Wir haben eine geistige Schublade mit dem Namen „lieben“ und eine mit dem Namen „mögen“, wie in „ich liebe dich“ oder „ich mag dich“. Jeder hat unterschiedliche Gefühle und erfährt unterschiedliche Emotionen; welcher Schublade ordnen wir also das Gefühl zu, das wir gegenüber jemandem haben? Das ist ziemlich spannend. Wann passt das, was wir gegenüber jemandem empfinden, in die Schublade „ich mag dich“ und wann geht es in die Schublade „ich liebe dich“ über? Ob etwas in diese oder jene Schublade passt, hängt natürlich von den definierenden Eigenschaften oder Definitionen ab, die wir jeder Schublade zuschreiben.
Das Problem in Bezug auf konzeptuelles Denken ist, dass wir stets im Sinne dieser Kategorien denken und Dinge immer in Schubladen stecken. Definitionen sind entweder persönliche Definitionen oder Definitionen aus dem Wörterbuch. Wir können Worte haben, die mit diesen Kategorien verbunden sind, jedoch ist das nicht unbedingt notwendig. Tiere nehmen Dinge beispielsweise auch durch Kategorien wahr. Die Kuh hat die Wahrnehmung „mein Stall“ und der Hund die Wahrnehmung „mein Herrchen“ oder „Fressen“. Sie haben diese Kategorien, aber nicht zwangsläufig Worte, die mit ihnen verbunden sind.
Das Problem des Wahrnehmens von Dingen durch Kategorien oder geistige Schubladen ist, dass Dinge nicht in Schubladen existieren. Kategorien und Worte sind lediglich Konventionen, durch die wir in der Lage sind, unsere Erfahrungen zu verstehen und sie anderen mitzuteilen. Es sind Konventionen wie „lieben“ und „mögen“, aber wir erfahren ein ganzes Spektrum von Emotionen. Jeder erfährt etwas anderes und jedes Mal, wenn wir etwas erleben, erleben wir etwas anderes. Kategorien und Worte helfen uns zu verstehen, was wir erleben.
Auseinanderhalten und geistiges Bezeichnen
Das Problem mit konzeptueller Wahrnehmung ist, dass es so aussieht, als würden Dinge tatsächlich in diesen Schubladen existieren – sie passen wirklich in diese oder jene Schublade – und als gäbe es etwas auf Seiten des Objektes, das ihr Passen in diese oder jene Schublade begründet. Für gewöhnlich ist es eine auffindbare definierende Eigenschaft.
Denken wir an die fünf Aggregate, so ist eines von ihnen das so genannte „Aggregat des Erkennens“, aber ich ziehe den Begriff „Auseinanderhalten“ vor. Haben wir eine Wahrnehmung von Dingen in einem Sinnesbereich, wie zum Beispiel dem Sehen, fügen wir farbige Formen zusammen und nehmen konventionelle Objekte wahr. Wir unterscheiden die Objekte auch untereinander, wie eine Person von der Wand oder dem Kissen und von anderen Menschen, die sich um sie herum befinden. Das Aggregat des auseinanderhaltenden Gewahrseins ist ständig damit beschäftigt, dies zu tun, denn sonst würden wir nur einen Bereich von farbige Formen oder Pixeln und keine konventionellen Objekte sehen. Wir nehmen jedoch nicht nur Pixel wahr, sondern unterscheiden etwas von allem, was sich um es herum befindet.
Um etwas von anderen Dingen zu unterscheiden, erkennen wir dessen individuelle definierende Eigenschaft – etwas, wie zum Beispiel in diesem Foto, das es uns erlaubt zu sagen, das bin ich. Jedes gültig erkennbare Objekt hat eine konventionelle definierende Eigenschaft; ansonsten gäbe es keine Individualität. Wir erkennen also eine konventionelle definierende Eigenschaft des „Ichs“ in dem Foto, die es uns erlaubt, es korrekt als „Ich“ und nicht als jemand anderen zu identifizieren.
Wenn wir uns jedoch vorstellen, Dinge würden wie in Schubladen existieren und als wären sie wahrhaft dort begründet, scheint es, als wäre die definierende Eigenschaft wahrhaft auf Seiten des Objektes begründet und dort auffindbar. Das ist sie aber nicht. Tatsächlich ist die definierende Eigenschaft Teil der geistigen Schublade, durch die wir das Objekt konzeptuell wahrnehmen. Anders ausgedrückt ist die definierende Eigenschaft, wie die geistige Schublade, eine Konvention.
Es ist schwer zu erkennen, was die definierende Eigenschaft des „Ichs“ ist. Nehmen wir ein einfacheres Beispiel. Wir haben eine geistige Schublade „lieben“ und eine geistige Schublade „mögen“. Wir selbst oder das Wörterbuch hat definiert, was jede ist – es sind also Konventionen – und dann nehmen wir unsere Emotionen in Bezug darauf wahr.
Wie begründen wir konventionell, was etwas ist? Wir tun es allein mit dem geistigen Bezeichnen. Was etwas ist, ist lediglich das, worauf sich die Konzepte und Worte dafür beziehen. Es gibt nichts auf Seiten eines Objektes, wodurch begründet wird, dass es als diese oder jene Emotion, oder als „Ich“ oder als „Du“ existiert, sogar in konventioneller Hinsicht.
Das ist nicht gerade leicht zu verstehen. Es ist etwas, das wir verinnerlichen müssen, indem wir viel darüber nachdenken und es analysieren.
Ein nichtkonzeptueller Zustand
Bitte denkt nicht, nichtkonzeptuelle Wahrnehmung würde einfach nur bedeuten, die Stimme in unserem Kopf auszuschalten und wir hätten einen nichtkonzeptuellen Zustand erreicht, wenn es still in unserem Kopf ist, ohne all dieses „bla, bla, bla“. Sich in einem nichtkonzeptuellen Zustand zu befinden heißt, etwas nicht durch das Medium einer Kategorie oder einer Schublade wahrzunehmen. Den Geist von verbalen Gedanken zu beruhigen ist somit nur der allererste Schritt auf dem Weg zu einem nichtkonzeptuellen Zustand. Wir haben auch viele nichtverbale Konzepte, wie unsere Vorurteile, unsere Vorlieben und so weiter. All diese Arten von Dingen sind nichtverbal und doch nehmen wir sie ständig durch ihren Filter wahr.
All das ist trotz allem konzeptuell, wie das Wahrnehmen von jemanden durch den Filter der geistigen Schublade „Fremder“. Außerdem haben wir alle möglichen Assoziationen mit diesen geistigen Schubladen, wie ihre definierenden Eigenschaften und Qualitäten, die wir ihnen zuschreiben. Das ist eine weitere Erkenntnis, die wir bekommen müssen: Eigenschaften, ob gut oder schlecht, sind ebenfalls Konventionen, die durch Konzepte begründet werden. Ihre Existenz kann nicht auf Seiten des Objektes festgelegt werden.
Einfach ausgedrückt würden wir sagen, dass wir mit der konzeptuellen Wahrnehmung eine Vorstellung von etwas haben und wir sie im Sinne unserer Vorstellungen dessen wahrnehmen, was sie sind oder sein sollten. So sagen wir zum Beispiel: „ich habe eine Vorstellung davon, was Liebe ist“ oder „ich habe eine Vorstellung von dir“. Und wenn wir den anderen dann sehen, ordnen wir die Person dieser Vorstellung zu.
Vorstellungen sind wie vorgefasste Meinungen. Wir haben beispielsweise eine vorgefasste Meinung darüber, wie jemand sich verhalten wird. Wir haben eine Vorstellung davon, wie diese Person sich vorher verhalten hat und es ist unsere vorgefasste Meinung, dass diese Person wieder in diese Schublade passen wird, weil wir glauben, ihre Verhaltensweise wäre seitens der Person festgelegt. Wir denken: „du bist diese Art von Person“, „ich bin so ein Mensch.“ Solche vorgefassten Meinungen haben wir auch über uns selbst; sie sind Teil unseres Selbstbildes.
Konventionelle Realität analysieren
Konventionell gibt es natürlich Muster. Wir wollen die konventionelle Wahrheit nicht leugnen oder vollkommen ablehnen. Eine wörtlichere Übersetzung des Begriffes „konventionelle Wahrheit“ aus dem Tibetischen und dem Sanskrit wäre „oberflächliche Wahrheit“, denn es findet an der Oberfläche statt und versteckt etwas Tieferes.
Oberflächlich scheint es zum Beispiel so zu sein, als wäre ich eine wahrhaft begründete, solide existierende Person, die hier vor euch sitzt; die tiefste Wahrheit ist jedoch, das ich nicht durch mich selbst als eine Person festgelegt werde, sondern nur in Bezug auf das, worauf sich die Konzepte „Ich“ und „Person“ beziehen. Ich bin jedoch nicht nur ein Konzept. „Ich“ oder eine „Person“ ist nicht nur ein Konzept. Es ist nicht so, als gäbe es kein „Ich“ oder als würde das „Ich“ nicht mehr als eine Person existieren, wenn wir nichtkonzeptuell werden. Das ist absurd. Ein Zen-Meister würde uns mit dem Stock schlagen, wenn wir das sagen würden. Natürlich bin ich eine Person, die hier sitzt und mit euch redet. Es ist nicht so, dass es da niemanden gibt oder es sich nicht um mich, sondern um jemand anderen handelt.
Wie begründen wir, dass es sich um „mich“ handelt und dass ich eine Person bin? In den weniger komplexen Schulen der buddhistischen Philosophie oder in Lehrsystemen, wie Sautrantika, geht man davon aus, dass Dinge wahrhaft begründet sind, weil sie funktionieren. Sie sind objektiv real, weil sie Ursache und Wirkung unterliegen. Kategorien sind nicht wahrhaft begründet, weil sie nichts tun. Im Sautrantika bezeichnet man sie als „metaphysische Entitäten“.
Dharmarakshita spezialisierte sich darin, die Vaibhashika-Sichtweise zu lehren, obgleich man nicht unbedingt davon ausgehen muss, dass es sich hierbei auch um seine eigene persönliche und letztendliche Sichtweise handelte. Die Vaibashikas sagen, dass sogar diese Kategorien wahrhaft existieren, weil sie als Objekte der Wahrnehmung eine Funktion erfüllen, aber in den höheren Schulen verneint man dies und sagt, dass sie nichts tun. Eine Kategorie tut nichts; aber laut dem Sautrantika sind nichtstatische Objekte, wie das Selbst, wahrhaft begründet, weil sie eine Funktion erfüllen. Sie rufen Wirkungen hervor, die wir wahrnehmen.
Was bedeutet es denn, wenn man im Madhyamaka davon spricht, dass Dinge nicht wahrhaft begründet sind? Es bedeutet, dass etwas nicht der Realität entspricht, nur weil es zu funktionieren scheint. Das ist so, weil es uns vorkommt, als hätten die Erscheinungen eine wahrhaft begründete Existenz. So kommt es mir beispielsweise so vor, als wärst du eine ausgesprochen lästige Person und diese Erscheinung führt dazu, dass ich wirklich wütend auf dich bin. Das begründet aber nicht, dass du wahrhaft als lästig Person existierst. Es funktioniert jedoch, weil es in meiner Erfahrung so zu sein scheint. Das wird im Madhyamaka widerlegt.
Sagen wir, es gäbe „kein wahres Selbst“, geht es darum, dass das, was uns von Seiten des Objektes als wahrhaft begründet zu sein scheint – in diesem Fall das „Ich“ – nicht wahrhaft begründet ist. Es gibt nichts Auffindbares auf Seiten des Objektes, das dessen Existenz als ein „Ich“, „Du“, „Dies“ oder „Das“ begründen kann. Nur in Bezug auf das geistige Bezeichnen mit Konzepten und Benennen mit Worten können wir begründen, dass etwas konventionell „dies“ oder „das“ ist.
So weisen wir zum Beispiel durch geistiges Bezeichnen das „Ich“ all diesen Fotos zu. Diese Fotos sind die Grundlage für die Bezeichnung der Kategorie „Ich“. Das Wort „Ich“, mit dem diese Kategorie benannt wird, bezieht sich dann auf etwas. Es bezieht sich auf „mich“; es bezieht sich nicht auf „dich“ und es bezieht sich auch nicht auf niemanden. Es bezieht sich auf „mich“; aber es bezieht sich nicht auf etwas, auf das wir seitens des Fotos zeigen können, um zu sagen: „Da ist es, das Ich“. Denkt daran, dass konzeptuelle Wahrnehmung den Eindruck verleiht, als würden Dinge wahrhaft in geistigen Schubladen existieren. Das Konzept „Ich“ bezieht sich somit auf das konventionell existierende „Ich“, aber es entspricht keinem wahrhaft existierenden „Ich“.
Im Tibetischen gibt es noch ein anderes Wort: „mig-ten” (dmigs-rten), was soviel bedeutet, wie „Stütze“, und sich auf etwas bezieht, das etwas anderes wie von Seiten des Objektes stützt. Auf Seiten des konventionellen „Ichs“ gibt es jedoch nichts, wie ein wahrhaft existierendes „Ich“, welches es stützt, das der Kategorie oder dem Wort „Ich“ entspricht. Aber die Kategorie und das Wort „Ich“ beziehen sich auf etwas. Wir müssen diesen Unterschied zwischen dem machen, worauf sich Kategorien und Worte konventionell beziehen und etwas, das tatsächlich einem wahrhaft existierenden Objekt entspricht, da Dinge wirklich in geistige Schubladen zu passen scheinen.
Geistiges Bezeichnen kann auch, abhängig von allgemein akzeptierten Konventionen und gültiger Wahrnehmung, richtig oder schlichtweg falsch sein. Ordne ich alles der Kategorie Verschwommenes zu, weil ich meine Brille abgenommen habe und die Welt so wahrnehme, würden andere Menschen dem nicht zustimmen, dass wir alle verschwommen sind. Es gibt verschiedene Kriterien seitens des Geistes, mit dem wir begründen, ob die konventionelle Wahrheit dessen, was Dinge sind, konventionell richtig oder falsch ist. Was die Konvention betrifft, so muss es eine Art der Übereinkunft geben.
Die Leerheit ist somit eine Abwesenheit von etwas Auffindbarem seitens eines Objektes, welches begründet oder beweist, dass es konventionell als das existiert, was es konventionell ist. Nehmen euch einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken. Diese Thema ist ziemlich tiefgründig.
Geführte Meditation
Ein einfaches Beispiel ist vielleicht unsere Emotionen und die geistigen Schubladen, in die wir sie stecken, denn dabei handelt es sich eigentlich um Konventionen, wie der Unterschied jemanden zu mögen oder zu lieben. Gibt es wirklich eine feste Linie auf Seiten unserer Gefühle, durch die diese beiden voneinander getrennt werden und ist es so, dass ein Gefühl plötzlich zur anderen Seite und in eine andere Schublade wechselt? Oder sind diese Schubladen und Trennlinien zwischen ihnen etwas, das vom Geist erschaffen wurde?
[Pause]
Es gibt eine allgemeine Konvention dazu, was Liebe ist – es gibt ja all diese Liebeslieder. Aber obwohl wahre Liebe nicht irgendwo im Himmel schwebt, fühlen wir dennoch etwas. Das ist der entscheidende Punkt. Wir fühlen tatsächlich etwas – Liebe. Es ist nicht so, dass wir nichts empfinden.
[Pause]
Wie man das Ziel identifiziert
Das zu widerlegende Objekt zu identifizieren ist wesentlich, besonders weil im Text davon die Rede ist, dass wir unseren wahren Feind erkannt haben. Um etwas zu widerlegen, oder wie es so schön heißt, mit dem Pfeil ein Ziel zu treffen, ist es unumgänglich, das Ziel zu erkennen. Um dieses falsche „Ich“ zu widerlegen, müssen wir in der Lage sein, es in unserer eigenen Erfahrung zu erkennen und zu identifizieren.
Wie erkennen wir es? Wie identifizieren wir es? Wir beginnen damit, uns durch die so genannten niederen Lehrsysteme der verschiedenen philosophischen Standpunkte des Buddhismus durchzuarbeiten. In diesen buddhistischen Systemen wird widerlegt, dass das, was wir fühlen, dieses „Ich“ ist – ein „Selbst“, das beständig ist, also statisch, unbeeinflusst von allem und unveränderlich. Sie widerlegen, dass das „Selbst“ eine Art solides, teileloses und unveränderliches Ding ist, das unabhängig von Körper und Geist existieren kann. Sie widerlegen insbesondere, dass es nach der Befreiung oder moksha frei von Wiedergeburt sein und dennoch irgendwo unveränderlich und unabhängig von einem Körper und einem Geist existieren kann. Das Selbst ist im Grunde eine sich ständig ändernde Zuschreibung einer sich ständig ändernden Grundlage von Körper, Geist, Emotionen usw.
Ein Ganzes und dessen Teile
Ich denke, man kann die Art von Phänomen, zu dem das „Selbst“ gehört – die Zuschreibung einer Grundlage – leichter verstehen, wenn man zum Beispiel eines Ganzen und dessen Teilen zurückkehrt. Ein Ganzes ist eine Zuschreibung der Teile. Unterscheiden wir zwischen dem, was in diesen niederen Systemen als „objektive Entitäten“ und „metaphysische Entitäten“ bezeichnet wird, sind ein Ganzes und dessen Teile von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet objektiv real. Es handelt sich dabei nicht um nichtfunktionale metaphysische Entitäten, wie Kategorien. Sowohl ein Ganzes und dessen Teile erfüllen eine Funktion.
Was das „Selbst“ betrifft, so sind die Teile der Körper, die Emotionen, das, was wir wahrnehmen, unser Verständnis, die Aufmerksamkeit, die wir Dingen schenken – sie alle sind Teile des „Selbst“ als Ganzes und sowohl die Teile als auch das Selbst als Ganzes sind objektiv real und funktionieren. Wir können uns Chandrakirtis Beispiel des Wagens bedienen oder es in unserer heutigen Zeit auf ein Auto beziehen, um ein klares Beispiel von etwas zu haben, was sich ständig ändert und funktioniert. Das ganze Auto ist eine Zuschreibung der Teile als Grundlage der Zuschreibung und so, wie die Teile eine Funktion erfüllen und sich bewegen, so tut es auch das Auto. Das gleiche gilt für das „Selbst“ und die Teile, dessen Zuschreibung es ist.
Unser Körper ändert sich ständig; nichts bleibt während dem gesamten Leben gleich. Wenn sich die Teile ändern, wie kann dann das gesamte Selbst oder „Ich“ etwas sein, das statisch und unveränderlich ist? Das ergibt keinen Sinn. Wenn das Ganze auf den Teilen beruht, können wir nicht sagen, dass das Ganze keine Teile hat oder teilelos ist, denn es ist abhängig von den Teilen. In ähnlicher Weise können wir nicht behaupten, das Ganze würde getrennt von den Teilen existieren.
Außerdem ändert sich das Selbst, das „Ich“ ständig, denn es ist eine Zuschreibung des Körpers, der sich fortwährend ändert, der Gefühle, die sich kontinuierlich ändern, Emotionen und Wahrnehmungen – all diese Teile ändern sich ohne Unterlass. Sogar auf konventioneller Ebene reden wir von unserem Familienleben, unserem Arbeitsleben unserer Freizeit und all dem. Sie sind Teile unserer Persönlichkeit, was wir auch sagen. Es ist nicht so, dass wir eine in Stein gemeißelte Entität sind, die sich niemals ändert – das „Ich“. All die Fotos aus den verschiedenen Jahren des „Ichs“ zeigen, dass wir nicht festgeschrieben sind.
Doktrinär bedingtes Greifen nach einem unmöglichen Selbst
Das ist die erste Ebene, die wir hinsichtlich des Selbst widerlegen müssen. Die erste Ebene ist die doktrinär bedingte Glaubensvorstellung an eine Seele, wie sie in den nichtbuddhistischen indischen Schulen definiert wird. Dort geht man von einer Seele aus, einem Atman, welches dieses „Ich“ ist, das sich nie ändert, teilelos ist und nach der Befreiung oder moksha frei von einem Körper und einem Geist sein wird. Solch eine Behauptung ist doktrinär bedingt. Man muss sie uns lehren und wir müssen sie glauben. Ein Hund oder ein Baby würde nicht auf diesen Gedanken kommen. Weil wir daran glauben, dass wir wahrhaft so existieren, stellen wir uns vor, dass es diese Art von „Ich“ ist, das Leiden und die Ursachen des Leidens erfährt, und diese Art des „Ichs“, das befreit werden kann und Verständnis entwickeln muss. Weil wir glauben, solch ein Selbst oder solch eine Seele wäre das „Ich“ und wir würden so existieren, entwickeln wir störende Emotionen, um zu versuchen, solche ein „Ich“ zu beschützen oder zu vertreten. Auf diese Weise entwickeln wir so genannte „doktrinär bedingte Emotionen“ und Probleme. Zu glauben, dass wir auf diese doktrinär bedingte Weise existieren, ist der erste Irrglaube, den wir loswerden müssen.
Automatisch auftretendes Greifen nach einem unmöglichen Selbst
Es gibt auch automatisch erscheinende störende Emotionen und Geisteshaltungen. Wir entwickeln sie, weil unser Geist automatisch trügerische Erscheinungen eines Selbst oder „Ichs“ entstehen lässt, das getrennt von seinen Teilen und seiner Grundlage der Zuschreibung erkannt werden kann. Das geschieht ganz automatisch und wir glauben, dass es dem entspricht, wie wir tatsächlich existieren. Niemand musste uns das beibringen. So versuchen wir beispielsweise, uns selbst zu erkennen. Unser „Selbst“ erkennen? Wie soll das gehen? Wir können uns selbst nur kennen, indem wir etwas über das Selbst wissen. Wir können nicht einfach das Selbst für sich kennen.
Das Beispiel, was ich benutze, ist der Gedanke: „Ich möchte, dass Menschen mich nur um meiner selbst willen lieben und nicht wegen meinem Körper, meinem Geist, meinem Geld oder ähnlichem. Liebe mich nur wegen mir“, als könne man das „Ich“ getrennt von allem anderen lieben. Diese Glaube entsteht ganz automatisch – so nehmen wir uns wahr. Es scheint ein solides „Ich“ zu geben, das nur für sich selbst erkannt werden kann. Beruhend auf diesem automatisch erscheinenden mangelnden Gewahrsein oder dieser Unwissenheit in Bezug darauf, dass es so etwas nicht gibt, haben wir automatisch erscheinendes sehnsüchtiges Verlangen und handeln demzufolge auch auf destruktive Weise. Das muss ebenfalls widerlegt werden.
Mit Leerheit arbeiten: Die Zwiebel schälen
Wenn wir mit Leerheit arbeiten, geht es uns darum, die Zwiebel zu immer subtileren Ebenen der trügerischen Erscheinung in Bezug darauf zu schälen, dass wir auf diese falsche Weisen existieren, oder genauer gesagt, dass unsere Existenz auf diese unmöglichen Weise begründet wird. Weil der Geist es nicht besser weiß – und das ist die Unwissenheit – lässt unser Geist uns aufgrund unserer anfangslosen Gewohnheiten unseres Greifens nach dem Selbst auf diese falschen Weisen erscheinen.
Ist im Buddhismus die Rede vom „Geist“, geht es um geistige Aktivität. Geistige Aktivität ist das gleichzeitige Auftreten von geistigen Hologrammen und deren Wahrnehmung. Sogar von einem westlichen Standpunkt aus betrachtet ist es so. Lichtstrahlen treffen auf das Auge, werden dort als elektrische und chemische Impulse an die verschiedenen Teile des Gehirns weitergeleitet und was wir wahrnehmen ist dann im Grunde ein geistiges Hologramm. Das bedeutet es, etwas zu sehen oder zu kennen. Bei dem geistigen Hologramm, das entsteht, geht es nicht nur um das, was etwas konventionell oder oberflächlich zu sein scheint, sondern auch darum, was es begründet, so zu sein, so zu existieren.
Was uns betrifft, so gibt es da nicht ein beständiges, unveränderliches, teileloses, unabhängig existierendes „Ich“, das ganz von sich aus als ein geistiges Hologramm eines „Ichs“ erkannt werden kann. Betrachtet euch selbst; betrachtet das „Ich“. Als was seht ihr euch selbst?
Sogar wenn wir nur „Ich“ denken, gibt es da den geistigen Klang des Wortes „Ich“. Wir können nicht „Ich“ denken, ohne eine Grundlage wie diesen geistigen Klang zu haben, nicht wahr? Wir haben entweder unseren Körper, unsere Persönlichkeit oder irgendetwas. Wir müssen nicht unbedingt ein geistiges Bild unseres Körpers vor uns haben, aber der geistige Klang des Wortes „Ich“ oder eine Art von Gefühl wird erscheinen, wenn wir nicht verbal an uns denken. Es gibt ein Gefühl von „Ich“.
Auf der gröbsten Ebene denken wir, es gäbe da ein solides „Ich“, das unabhängig von einem Körper und einem Geist existiert und welches nicht nur deren Zuschreibung ist, um es einmal ganz einfach auszudrücken. Auf einer tieferen Ebene denken wir, man könne das „Ich“ ganz für sich kennen. Und auf einer noch tieferen Ebene stellen wir uns vor, das „Ich“ wäre „selbst-begründet“ und es würde eine selbst-begründende Natur oder eine definierende Charakteristik auf Seiten des „Ichs“ geben, die es stützt und zum „Ich“ macht. Wir entwickeln verschiedene Ebenen von störenden Emotionen und zwanghaftem Verhalten, beruhend auf unserer Glaubensvorstellung auf jeder dieser Ebenen des unmöglichen „Ichs“.
Das Beispiel des klingelnden Telefons
[Ein Telefon klingelt.]
Gerade wurden wir von der Melodie eines klingelnden Telefons unterbrochen und das ist ein schönes Beispiel. In welche Schublade stecken wir konventionell das, was wir gehört haben? Wir können es in die geistige Schublade „Belästigung“, „Hindernis“ oder „Störung“ stecken und würden eine dementsprechende Emotion entwickeln. Wir haben ein Konzept davon, was eine Störung ist und entwickeln beruhend darauf eine Emotion. Wir könnten das Geräusch jedoch auch einfach nur in die Schublade „Melodie“, „Musik“ oder „Geräusch“ stecken und das ist alles, was es ist, ohne irgendetwas zu verurteilen. Oder es ist eine „Veranschaulichung“ und dann stecken wir es in die Schublade „Veranschaulichung“ und betrachten es als Beispiel dafür, worüber wir gerade reden.
Wir können einen potenziell negativen Umstand in einen positiven verwandeln, indem wir ihn einer anderen Schublade zuordnen. Das ist Geistestraining, die Schulung der Geisteshaltungen, mit der wir unsere Einstellung gegenüber dem ändern, wie wir Dinge wahrnehmen und uns gleichzeitig bewusst darüber sind, dass Dinge nicht von Natur aus in eine Schublade gehören und dort wahrhaft existieren. Abhängig von der Definition, die wir der Schublade geben, entwickeln wir alle möglichen Emotionen, mit denen wir sie überlagern. „Wie schön, dass das Telefon geklingelt hat“ oder „wie nervend und störend es ist, wenn das Telefon klingelt“ – all diese Aussagen hängen davon ab, in welche Schublade wir das Geräusch stecken und wie wir sie oder die Kategorie definieren.
Genauso verhält es sich mit dem „Ich“. Welcher Schublade ordnen wir das „Ich“ zu und wie definieren wir es? Welche Eigenschaften schreiben wir ihm zu? Denken wir: „Ich bin immer so, egal was passiert“? Vielleicht meinen wir, es bestehe nicht aus verschiedenen Teilen, sondern wäre solide: „Alles an mir ist schlecht“ oder „alles an mir ist wunderbar“. Das ist das „Ich“: „Ich versuche, mich selbst zu finden, ich selbst zu sein, und du hinderst mich daran. Deshalb bin ich wütend auf dich.“ Oder: „Wenn du nur die ganze Zeit bei mir wärst, würde mir das Sicherheit geben und meine Existenz begründen.“ Durch all das handeln wir auf destruktive Weise und geraten in Situationen, in denen andere uns gegenüber destruktiv handeln. All das hält uns davon ab, anderen helfen zu können.
Darum geht es, wenn wir versuchen den Feind zu identifizieren, der all unsere Probleme verursacht. Es ist der Glaube, dass wir als dieses unmögliche Selbst existieren und es sich dabei wahrhaft um das Selbst, das „Ich“ handelt, ein „Ich“, das sich niemals ändert, keine Teile hat, solide und monolithisch ist, unabhängig existieren und ganz für sich allein erkannt werden kann und von sich aus begründet ist, unabhängig davon, worauf sich das Konzept „Ich“ bezieht.
Was uns betrifft, so ist die andere Person zum Beispiel so lästig; oder sind wir verliebt, ist sie so schön, so wunderbar. Wir denken: „Wenn ich dich heirate, werden all meine Probleme verschwinden. Ich werde der glücklichste Mensch in der Welt sein, wenn du mir nur sagst, dass du mich heiraten wirst.“
Da gibt es diese immer subtileren Ebenen in Bezug darauf, was möglich ist.
Den Feind fangen
Dharmarakshita weiter:
(49) Genau dies ist die Art und Weise, wie es wirklich ist! So, den Feind habe ich gefangen! Ich habe den diebischen Banditen gefangen, der im Hinterhalt lauerte und mich betrog, der Schwindler, als „Ich" verkleidet, hat mich getäuscht! Aha! Das ist das Greifen nach einem „wahren Selbst"! Daran gibt es keinen Zweifel!
Gewissermaßen sagt Dharmarakshita damit, dass es dieses Phantom ist, das in Erscheinung tritt, als wäre es wahrhaft das „Ich“ und wenn wir versuchen, diesen Schwindler geltend zu machen, abzusichern und zu verteidigen, wird das zu unseren Problemen im Leben führen. Es bedeutet nicht, dass wir nichts im Leben tun; wir tun etwas. Im Englischen haben wir den schönen Begriff „self-conscious“ (sich übermäßig seiner selbst bewusst sein) und vielleicht gibt es im Norwegischen etwas Ähnliches. Wir sollten nicht ständig nur an uns denken und ohne dieses „ich, ich, ich“ handeln, ohne uns den Kopf darüber zu zerbrechen, was andere Menschen denken werden usw. Wir sollten besonnen sein, aber nicht besessen von uns selbst und davon, was andere über uns denken.
Der Teenager mit Akne meint beispielsweise „jeder sieht mich an“ und stellt sich vor, alle würden ihn anstarren und wären abgestoßen von all den Pickeln. Den Menschen ist es jedoch egal. Sie sind besessen von sich selbst und nicht von den Pickeln anderer! Warum denken wir, dass wir so wichtig sind und alle uns ansehen? Wir sind nicht so wichtig, aber aufgrund dieser Täuschung über das „Ich“ denken wir: „Ich bin so wichtig und stehe im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Leute sollten mir zuhören und tun, was ich ihnen sage.“ Um diesen Feind zu vernichten, gilt es Gegenmittel anzuwenden.
Den Feind vernichten
(50) Nun, (Yamantaka), erhebe über deinem Kopf die scharfe Waffe deiner Handlungen! Kreise sie in kraftvoller Weise dreimal über deinem Kopf herum! Pflanze deine beiden Füße weit auseinander für die zwei Wahrheiten! Starre mit weit aufgerissenen Augen Methode und Weisheit an! Entblößte deine Reißzähne für die vier Kräfte, und durchbohre den Feind!
Dieser Vers ist voller Begriffe, die eine Erklärung benötigen:
Kreise sie dreimal bezieht sich auf das korrekte Verständnis der konventionellen Wahrheit, der tiefsten Wahrheit und der zwei Wahrheiten gleichzeitig. Das ist nicht so leicht zu verstehen.
- Die konventionelle Wahrheit von etwas ist, wie es erscheint. Es erscheint auf trügerische Weise, als wäre es wahrhaft begründet. Konventionelle Wahrheit ist trügerisch; sie kann jedoch auch richtig oder falsch sein. Es bedeutet nicht, dass alles falsch ist.
- Die tiefste Wahrheit ist, dass es nicht auf die Weise existiert, wie es zu existieren scheint.
- Fokussieren wir uns auf die Abwesenheit eines tatsächlich auffindbaren „Dinges“, das der trügerischen Erscheinung entspricht, so kann dieses Objekt nicht gleichzeitig auf trügerische Weise erscheinen. Wir können nicht gleichzeitig eine trügerische Erscheinung und eine Abwesenheit der trügerischen Erscheinung von etwas haben. Es kann nicht zur gleichen Zeit sowohl erscheinen und nicht erscheinen. Wenn ein Buddha die zwei Wahrheiten gleichzeitig sieht, sieht er die Leerheit der zwei Wahrheiten gleichzeitig nichtkonzeptuell und eindeutig. Ein Buddha nimmt nicht die trügerische Erscheinung der konventionellen Wahrheit wahr, sondern sieht vielmehr das, was man in der Gelug-Tradition als „bloße Konventionalitäten“ bezeichnet, während er die Leerheit der zwei Wahrheiten wahrnimmt. Das bezieht sich auf die Allwissenheit eines Buddha, mit der ein Buddha die gegenseitige Abhängigkeit und das abhängige Entstehen aller Phänomene gleichzeitig wahrnimmt.
Was bedeutet es, dass der Buddha allwissend ist? Hier ist mein eigenes Verständnis dazu, was vielleicht nicht ganz korrekt ist. Es gibt einige Analogien, die vielleicht hilfreich sind, um Allwissenheit zu verstehen. Ein einfaches Beispiel besteht laut Richard Feynman darin, in Betracht zu ziehen, dass sich in diesem Raum alle elektromagnetischen Frequenzen jedes einzelnen Radiosenders, jeder Webseite und jedes Telefonanrufes oder telefonischen Nachricht befinden, die es jemals gab. All das befindet sich hier, in diesem Raum und je nachdem, welches Gerät wir haben – unseren begrenzten Geist und so weiter – können wir eine davon auf unserem Bildschirm anzeigen. Wir könnten jede Nachricht, jede Webseite, jedes Fernsehprogramm, jedes Radioprogramm auf unserem Gerät anzeigen. Wenn es erscheint, sieht es so aus, als würde es nur diese eine Sache geben, die gerade stattfindet, und als wäre sie wahrhaft begründet, nicht abhängig von Teilen oder all den Menschen, welche die Webseite erstellt haben. Sie ist einfach da, selbst-begründet. Das ist unsere begrenzte Wahrnehmung oder unser begrenztes Gewahrsein. Mit ihm nehmen wir konventionell wahre trügerische Erscheinungen wahr. Ein Buddha hingegen verfügt über unbegrenzte Hardware und nimmt all die elektromagnetischen Frequenzen gleichzeitig wahr.
Die andere Analogie besteht darin, dass unser begrenzter Geist ein Quantenfeld zu einer scheinbaren konkreten Sache reduziert, was durch die Allwissenheit eines Buddhas nicht geschieht. Ein Buddha ist sich gleichzeitig gewahr über die ganze Sache – alle Quantenzustände – und ist frei davon, sie zu reduzieren, weil das nicht die Wirklichkeit von Dingen ist. Es gibt nicht nur eine Webseite, eine Nachricht, einen Telefonanruf oder einen Quantenzustand, der in diesem Moment stattfindet.
Ich weiß nicht, ob diese zwei Analogien den allwissenden Geist eines Buddhas und den begrenzten Geist korrekt beschreiben oder nicht. Für mich handelt es sich dabei aber um hilfreiche Vorstellungen.
Geraten wir in eine Situation, sollten wir sie nicht auf unsere vorgefasste Meinung dessen, was gerade stattfindet, reduzieren, sondern versuchen, alle Informationen zu bekommen. Es ist wie in der Familientherapie: alle Sichtweisen, wie das Kind das Familienproblem wahrnimmt und wie die Mutter und der Vater es tun, sind gültig. Wir müssen sie alle in Betracht ziehen. Es geht nicht nur um die Sichtweise des Vaters, obwohl es für ihn so erscheinen mag. Für die Mutter stellt es sich völlig anders dar und das Kind nimmt es natürlich auch wieder ganz anders wahr.
Gibt es ein Problem in der Familie? Ja, es gibt ein Problem in der Familie. Wo ist das Problem? Ist es eines der Teile? Ist es das Kind, die Mutter oder die Wechselbeziehung? Wo ist die Interaktion? Befindet es sich in jedem Augenblick der Interaktion oder gibt es Teile? Wir können die definierende Eigenschaft des Problems nicht finden. Was ist dann das Problem? Es gibt jedoch ein Problem; es ist nicht so, als gäbe es keines. Wir versuchen zu erkennen, welche Faktoren die Situation beeinflussen und was wir innerhalb der Ursache/Wirkung-Beziehungen tun können, um die Faktoren zu verändern. Es gibt nichts Solides. Auf Seiten der Familie gibt es nichts, was darauf hinweist, dass es sich um eine problematische Familie handelt.
Wir haben eine Kategorie „Problem“. Wie definieren wir sie? Existieren diese definierenden Eigenschaften auf Seiten der Familiensituation? Die Situation muss diese definierende Eigenschaft haben, denn sonst würde sie zu der Kategorie „kein Problem“ gehören. Mit dem geistigen Bezeichnen unterscheiden wir, welcher Schublade wir es zuordnen: „Problem“ oder „kein Problem“. Wir haben die Kategorie „Problem“ mit einer Definition, die entweder aus dem Wörterbuch oder einem Lehrbuch stammt. In jeder Kultur gibt es eine unterschiedliche Definition und jeder Psychologe wird eine andere Definition dafür haben. Die Kategorie hat also keine festgelegte Definition, aber sogar die Definition ist eine Konvention.
Können wir die definierende Eigenschaft der Kategorie „Problem“ seitens des Objektes finden? Wenn ja, wo? Ungeachtet dessen können wir die Situation betrachten und sie dann, beruhend auf einer definierenden Eigenschaft von anderen Situation unterscheiden, obwohl wir diese definierende Eigenschaft nicht an einer bestimmten Stelle finden können. Das Aggregat des auseinanderhaltenden Gewahrseins ist hier aktiv, aber was wir als die definierende Eigenschaft bestimmen, wird wiederum durch Konventionen begründet. Sie befindet sich nicht auf Seiten der Familie und hat nicht die Macht, ganz allein festzulegen, dass die Familie ein Problem hat.
Um es noch einmal zu wiederholen, steht das dreimalige Kreisen für das korrekte Verstehen der konventionellen Wahrheit – dass Dinge als das erscheinen, für was sie konventionell akzeptiert werden, aber die Tatsache, dass sie von sich aus wahrhaft begründet zu sein scheinen, ist trügerisch. Das korrekte Verständnis der tiefsten Wahrheit ist, dass es eine völlige Abwesenheit, eine Leerheit, von etwas gibt, das tatsächlich der Weise entspricht, in der die Existenz konventionell wahrer Objekte begründet zu sein scheint. Das korrekte Verständnis der konventionellen Wahrheit und der tiefsten Wahrheit zur gleichen Zeit ist, dass dennoch alles abhängig von Ursache und Wirkung, Teilen und geistigem Bezeichnen sowie Funktionen entsteht, obwohl konventionell wahre Objekte auf unmögliche Weise zu existieren scheinen und diese Erscheinung nicht ihrer Wirklichkeit entspricht.
Das Problem ist, dass eine Abwesenheit erscheint, wenn wir uns auf die Leerheit richten. Nehmen wir zum Beispiel die Abwesenheit des Apfel auf dem Tisch. Es erscheint nichts, aber wir wissen, was es ist. Es ist die Abwesenheit des Apfels. Auf die gleiche Weise erscheint nichts, wenn wir uns auf die Abwesenheit wahrhaft begründeter Existenz richten, aber wir wissen, dass es die Abwesenheit wahrhaft begründeter Existenz ist. Nichts erscheint und wenn wir uns nichtkonzeptuell auf die Leerheit richten, gibt es weder die Erscheinung eines Apfels, noch eines „Ichs“ oder dessen Grundlagen – den Teilen, meines Körpers oder meines Namens.
Kommen wir aus unserer nichtkonzeptuellen meditativen Versenkung heraus, ist unsere nachfolgende Verwirklichung, implizit zu wissen, dass konventionelle Dinge nicht so existieren, obwohl sie fortwährend wahrhaft begründet zu sein scheinen. Während dieser Phase der nachfolgenden Verwirklichung ist unsere Wahrnehmung der Leerheit lediglich implizit, was bedeutet, dass eine Abwesenheit nicht zusammen mit wahrhaft begründeten konventionell wahren Objekten erscheint. Das ist das Problem. Wir wollen in der Lage sein, gleichzeitig eine Erscheinung von konventionellen Objekten und der Abwesenheit ihrer unmöglichen Existenzweise zu haben; damit das jedoch geschieht, kann es keine Erscheinung konventionell wahrer Objekte sein, da sie wahrhaft begründet zu sein scheinen. Wir müssen die Erscheinung bloßer Konventionalitäten haben, die lediglich in Abhängigkeit entstehen.
Zum Beispiel ist alles in diesem Raum nicht wie in Plastik gehüllt. Es ist nicht so, dass jede Webseite, jeder Telefonanruf wie in Plastik gehüllt und von allem anderen getrennt ist. Vielmehr sind all diese Dinge vorhanden, ohne diese Erscheinung, in Plastik eingehüllt zu sein. Das ist unser korrektes Verständnis der zwei Wahrheiten zur gleichen Zeit, oder so etwas in der Art.
Weit geöffnete Augen für Methode und Weisheit. Was die Methode betrifft, so haben wir konventionelles Bodhichitta, was mit konventioneller Wahrheit oder Erscheinung in Zusammenhang gebracht wird. Da gibt es die Erscheinung aller Wesen und alle erscheinen wahrhaft begründet zu sein. Wir wollen Erleuchtung erlangen können, um anderen zu helfen und daher benötigen wir konventionelles Bodhichitta. Tiefstes Bodhichitta bezieht sich auf die tiefste Wahrheit, dass alle frei davon sind, auf die Weise als existierend begründet zu werden, wie sie zu existieren scheinen. Unsere Augen müssen weit offen für diese Weisheit sein. Zwei Füße bezieht sich auf die zwei Wahrheiten.
Die vier Reißzähne werden in den Texten des Geistestrainings für gewöhnlich als die vier Kräfte der Reinigung beschrieben. Wir haben das in der Vajrasattva-Praxis: Da gibt es das Bedauern, mit dem wir offen zugeben, dass unsere Taten ein Fehler waren. Es ist wichtig Fehler zuzugeben, jedoch nicht sich einzureden, wie schlecht es war und wie schlecht wir selbst sind. Wir bedauern, was wir getan haben, weil wir es nicht besser wussten oder von unseren Gewohnheiten überwältigt wurden und nicht nachgedacht haben. Dann bedauern wir, dass wir so gehandelt haben, anstatt uns schuldig zu fühlen. Wir wünschen uns wirklich, nicht so gehandelt und gesprochen zu haben. Dann versprechen wir, unser Bestes zu geben, es nicht zu wiederholen und bekräftigen unsere sichere Ausrichtung und Bodhichitta. Wir versuchen, mit unserem Leben in eine sinnvolle Richtung zu gehen, wie sie von Buddha, Dharma und Sangha vorgegeben wurde. Wir versuchen Erleuchtung zu erlangen und allen damit zu helfen. Dann bekräftigen wir dies und wenden Gegenkräfte an, wobei die tiefste das Verständnis der Leerheit ist.
Die vier Maras
In der Yamantaka-Lehre selbst durchbohren die vier Reißzähne Yamantakas die vier Maras, die oft als dämonische Kräfte bezeichnet werden. Das Sanskrit-Wort „mara“ kommt aus dem Wort für Tod. Diese Vier sind der Tod, störende Emotionen, die Aggregate und die Söhne der Götter – die sich auf falsche Sichtweisen beziehen. Das sind die vier Dinge, die schlicht und ergreifend Hindernisse hervorrufen. „Maras“, wenn sie als Dämonen verkörpert werden, sind jene, die zu diesen Hindernissen führen.
Wenn man darüber nachdenkt, so ist der Tod etwas Furchtbares. Wir verbringen unser ganzes Leben damit zu praktizieren und wenn wir endlich ein wenig Verständnis erlangen, sterben wir und müssen wieder von vorn anfangen, wenn wir mit einem kostbaren menschlichen Körper wiedergeboren werden. Vielleicht gibt es ein paar Instinkte, die es etwas einfacher machen, aber wir sind wieder Babys, müssen lernen, auf die Toilette zu gehen, müssen die Schule besuchen und all diese Dinge. Das ist das große Hindernis des Todes.
Dann gibt es störende Emotionen, über die wir schon gesprochen haben. Wie können wir jemanden helfen, wenn wir ihn einfach nur in unser Bett bekommen wollen? Vielleicht sind wir wütend, weil der andere nicht hört, was wir sagen oder wir ignorieren ihn, weil wir zu beschäftigt sind. Diese Dinge sind störende Emotionen.
Der nächste Mara bezieht sich auf die Aggregate: ich bin krank, ich bin alt, ich habe eine Erkältung, ich kann dir momentan nicht helfen – um diese Art von Hindernissen geht es.
Der Sohn der Götter bezieht sich auf falsche Ansichten; mit Göttern sind nichtbuddhistische Gottheiten gemeint, die nichtbuddhistische Sichtweisen repräsentieren. Es ist nicht so, dass diese Sichtweisen vollkommen nutzlos sind, aber sie führen nicht zu tatsächlicher Befreiung und Erleuchtung. Darauf wird mit Nachdruck in den Lehren über die sechzehn Aspekte der vier edlen Wahrheiten hingewiesen. So gibt es beispielsweise die Gefahr, eine zu große Betonung auf Shamatha zu legen, eine Praxis, die auch in den nichtbuddhistischen Lehren geübt wird, sowie die Gefahr, nicht zufrieden damit zu sein, einfach Shamatha zu erlangen, sondern weiter in diese Richtung zu gehen und die noch tieferen Zustände der geistigen Stabilität, die Dhyanas, zu erlangen. Wir könnten dann diese höheren Zustände der Konzentration für die Befreiung halten, weil wir, wenn wir uns in sie vertiefen, immer weniger samsarische Empfindungen haben. Aber solche Zustände sind nur vorübergehend. Die samsarischen Empfindungen kehren wieder, wenn wir aus diesen Zuständen zurückkehren. Des Weiteren können wir große Anhaftung an diese Zustände entwickeln. Konzentration allein kann nicht die wahre Beendigung der Befreiung bewirken. Dies zu glauben, ist ein maßgebliches Hindernis. Nur nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit kann zum Erlangen der wahren Beendigungen führen.
Mit nichtkonzeptueller Wahrnehmung der Leerheit lösen wir uns von all den störenden Emotionen – sowohl den doktrinär bedingten und den automatisch entstehenden – und erlangen eine wahre Beendigung von ihnen. Beide Arten beinhalten zwei Gruppen von störenden Emotionen.
- Die erste Gruppe sind jene, die mit der Ebene des Sinnesbegehrens verbunden sind, auf der wir an anderen hängen, sowie an Geld, unserem Telefon, und genervt sind von all den Autos im Straßenverkehr. In diesem Zusammenhang gibt es auch die störenden Emotionen, die mit dem „Ich“ verbunden sind, das all die störenden Emotionen in Bezug auf diese Sinnesobjekte erlebt.
- Die zweite Gruppe sind die störenden Emotionen, die mit den höheren Ebenen der samsarischen Existenz verbunden sind, auf denen unser Geist in diese Dhyanas und andere Dinge vertieft ist. In diesen Zuständen der tiefen Konzentration können wir eine zu große Faszination für sie entwickeln. Wir entwickeln eine übermächtige Anhaftung an diese Zustände und wollen sie nicht verlassen. Indem wir uns dann auf das „Ich“ richten, das diese Zustände erlebt, entwickeln wir störende Emotionen, wie „unterbrich mich nicht“, und solche Dinge. Wir greifen nach dem „Ich“, das in diese tranceähnliche Zustände vertieft ist und meinen, es wäre nun befreit und denken: „jetzt fühle ich nichts mehr“, „jetzt bin ich einfach nur glückselig“ oder „mein Geist ist so klar, das ist einfach fantastisch.“
Die fälschliche Sichtweise besteht darin zu denken, diese Zustände höherer Konzentration wären Befreiung. Sie können hilfreich sein; niemand sagt, sie wären nutzlos. Aber wir sollten darauf achten, nicht besessen davon zu sein, vollkommene Konzentration zu erlangen und dies für das letztliche Ziel zu halten.
Die Macht von Mantras
Dharmarakshita weiter:
(51) Oh König der Mantras des Reinen Gewahrsein, die den Feind quälen, reiße den Verderber deiner spirituellen Bindungen heraus, der uns selbst und anderen das Verderben bringt, - den bösartigen Wilden, der auch als „der nach einem ‚Wahren Selbst' greifende Dämon" bezeichnet wird - der verursacht hat, das wir von den scharfen Waffen des Karmas getroffen wurden, und der uns durch den Dschungel des Samsara laufen ließ, ohne dass wir darüber Kontrolle gehabt hätten.
Mantras des reinen Gewahrseins sind laut Definition jene, die uns über unser unterscheidendes Gewahrsein oder unsere Weisheit bewusst bleiben lassen, wie das Prajnaparamita-Mantra „Gate gate paragate parasamgate bodhi svaha“. Der alte Serkong Rinpoche, mein damaliger Lehrer, sprach immer von den drei mächtigsten Dingen im Universum als die Macht der Medizin, die Macht der Technologie und die Macht der Mantras.
Medizin kann uns von Krankheit erlösen, Technologie kann uns helfen, von gewöhnlichen Arten des Leidens frei zu werden, aber ich verstand nie wirklich, warum er Mantras miteinbezog. Ich dachte, es hätte vielleicht etwas damit zu tun, mit den subtilen Energien zu arbeiten oder dergleichen. Aber der Tulku, die Wiedergeburt von Serkong Rinpoche erklärte es mir. Er sagte, man müsse sich die Zeilen des Herzsutra ansehen, in denen es heißt:
Weil es sich so verhält, ist das weitreichende unterscheidende Gewahrsein das (großartige), den Geist beschützende Mantra, das den Geist beschützende Mantra des herausragenden Wissens, das den Geist beschützende Mantra, das unübertroffen ist, das den Geist beschützende Mantra, das dem Unvergleichlichen gleicht, das den Geist beschützende Mantra, das vollkommen alle Leiden stillt. Weil es nicht trügerisch ist, ist es auch als die Wahrheit bekannt. Im weitreichenden unterscheidenden Gewahrsein wurde das den Geist beschützende Mantra kundgetan: ‚Tadyatha, (om) gate gate paragate parasamgate bodhi svaha. Die tatsächliche Natur (ist): Gegangen, gegangen, darüber hinaus gegangen, weit darüber hinaus gegangen, gereinigter Zustand, so sei es.’ Oh Shariputra, ein mit einem großen Geist begabter Bodhisattva Mahasattva muss sich in dieser Weise (im Verhalten) des tiefgründigen und weitreichenden unterscheidenden Gewahrseins üben.
Dieses Prajnaparamita-Mantra ist da für die Ebenen des Verständnisses der Leerheit auf unserem Weg entlang der fünf Pfade bis hin zur Befreiung und Erleuchtung. Das ist die Referenz dafür, dass Mantras eines der drei mächtigsten Dinge im Universum sind. Dieses Mantra dient dem immer tieferen Verständnis der Leerheit und der Vertrautheit damit. Das ist die mächtigste Sache. Das Mantra des reinen Gewahrseins hilft uns, dieses reine Gewahrsein oder unterscheidende Gewahrsein zu vergegenwärtigen.
Kraftvolle Formen des unterscheidenden Gewahrseins nutzen
Dharmarakshita weiter:
(52) Reiß' ihn heraus! Reiß' ihn heraus! Kraftvoller Yamantaka! Zerschlage ihn! Zerschlage ihn! Durchbohre den Feind, das „Wahre Selbst", mitten im Herzen! Zerschmettere, ja, zerschmettere diese verderbliche Vorstellung, (schmettere) ihr genau auf den Kopf. Versetzte diesem Schlächter, dem „wahren Selbst", unserem Feind, den Todesstoß mitten ins Herz.
Worum es geht, ist, energisch in unserem Einsatz des unterscheidenden Gewahrseins der Leerheit zu sein. Wir sollten kraftvoll und energisch sein, wenn wir wir selbstsüchtig sind und beispielsweise denken: „ich will das für mich; ich will es nicht mit dir teilen“ oder „ich will ganz vorn in der Reihe stehen.“ Wir handeln so selbstsüchtig und es ist so tief in uns verwurzelt. Es ist ein ausgesprochen starker neuronaler Pfad. In all unseren Leben haben wir so gehandelt und daher gilt es energisch gegenüber uns selbst zu sein.
(53) Hum! Hum! Erzeuge übernatürliche Emanationen, oh große Buddha-Gestalt! Dzah! Dzah! Fessle diesen Feind straff! Phat! Phat! Ich bitte dich flehentlich, befreie uns von all unseren Fesseln! Zerschneide! Zerschneide! Ich bitte dich flehentlich, durchtrenne den Knoten unseres Greifens!
Diese doppelten Silben „hum hum“ „dzah dzah“ und so weiter sind eine kraftvolle tibetische Weise des Schreibens, um etwas hervorzuheben. Wir wollen, dass Yamantaka in verschiedenen Formen erscheint. Yamantaka ist die kraftvolle Form des unterscheidenden Gewahrseins. Er ist jedoch keine solide Sache, die auf eine Form begrenzt ist, sondern hat in verschiedenen Situationen unterschiedliche Emanationen. Das bezieht sich darauf, dass sich unser Verständnis in verschiedenen Umständen auf unterschiedliche Weise manifestieren soll und wir die Lehren, Kenntnisse und Methoden auf flexible und geschickte Weise gegenüber den diversen Problemen, die auftauchen, anwenden können.
(54) Komm her, wilder Yamantaka, du Buddha-Gestalt! Bitte lasse, genau jetzt, - pow! Pow! - diesen Sack mit Karma und den fünf störenden Emotionen des Giftes zerplatzen, der uns im Sumpf samsarischer Handlungen festsitzen lässt.
Ich denke, diese kraftvollen Zeilen helfen uns, unsere Energie zu steigern. Es gibt viele Verse, in denen all die Probleme beschrieben werden, die auf unser Greifen nach einem Selbst und auf unsere Selbstbezogenheit zurückzuführen sind und in denen Yamantaka, das Verständnis der Leerheit, angerufen wird, um sie zu zerschlagen. Hier ist es wiederum notwendig zu versuchen, diese Verse als Themen für die Meditation zu betrachten. Indem wir mit diesen Versen arbeiten, versuchen wir herauszufinden, wie unser Greifen nach einem wahrhaft begründeten Selbst diese Probleme verursacht. Mit anderen Worten gilt es unsere Denkweise zu untersuchen, als diese solide, selbst-begründete Entität zu existieren und die Selbstbezogenheit zu identifizieren, die sich daraus ergibt: „ich bin so wichtig – dieses Ich ist so wichtig und es sollte immer seinen Willen bekommen“, „jeder sollte mich mögen“ usw. Es ist deutlich zu erkennen, wie das zu Problemen führt.
Sich Verse zunutze machen, um über die Nachteile des Greifens nach einem Selbst zu meditieren
Versuchen wir nun, über einen oder zwei dieser Verse zu meditieren. Dies ist eine Meditation über die Nachteile des Greifens nach einem wahren Selbst.
(56) Unser Wunsch nach Glück ist groß, dennoch versäumen wir, ein Netzwerk seiner Ursachen aufzubauen. Unsere Toleranz gegenüber dem Unglück ist klein, doch unser anspruchsvolles Begehren und unsere Gier sind immens. Zerschmettere, ja, zerschmettere diese verderbliche Vorstellung, (schmettere) ihr genau auf den Kopf. Versetzte diesem Schlächter, dem „wahren Selbst", unserem Feind, den Todesstoß mitten ins Herz.
Denkt: „Ich will glücklich sein!“ Das ist eine ziemlich motivierende Sache. Wir wollen glücklich sein, aber wollen nicht an den Ursachen dafür arbeiten. Warum ist das so? Es ist so, weil wir ständig nur „ich, ich, ich“ denken und alles mögliche auf egoistische Weise tun, was nicht zu Glück führen wird. Tatsächlich blockieren wir damit unser eigenes Glück. Das Problem ist das Greifen nach dem „Ich“ und die Selbstbezogenheit, die daraus resultiert.
Unsere Toleranz gegenüber dem Unglück ist klein – wir wollen nicht die Arbeit hineinstecken – doch unser anspruchsvolles Begehren und unsere Gier sind immens. Wir wünschen es uns so sehr, aber sind nicht bereit, hart dafür zu arbeiten. Es ist dieses „ich, ich, ich“, mit dem wir denken: „Ich bin so einzigartig, ich will es auf die leichte Tour bekommen.“ Das ist das Greifen nach einem Selbst, die Selbstbezogenheit.
Folgendes ist wirklich hilfreich. Wie Dharmarakshita sagt und Geshe Chekawa wiederholt: „Gib alle Schuld einer Sache, der Selbstbezogenheit.“ Dieser Rat ist äußerst hilfreich, wenn wir unglücklich sind. Immer, wenn wir unglücklich sind, denken wir: „Ich bin unglücklich, na und.“ Wir machen einfach mit dem weiter, was wir sowieso tun müssen. „Ich habe keine Lust zur Arbeit zu gehen“, aber wir gehen trotzdem. Wir erkennen, dass wir uns wegen der Selbstbezogenheit, wegen dem Greifen nach einem Selbst, unglücklich fühlen.
„Ich will nicht zur Arbeit gehen“ – ich – „Ich will im Bett bleiben.“ „Ich will einen Blick auf mein Telefon werfen, weil ich vielleicht sonst etwas verpasse.“ „Ich will nicht hier am Schreibtisch sitzen und arbeiten.“ Sogar wenn es nur um das „arme Ich“ geht, ist das eine klassische Ursache dafür, unglücklich zu sein, oder nicht? „Ich Armer, ich fühle mich allein, ich bin unglücklich.“ „Ich Armer, ich habe keine Lust zu irgendetwas.“
„Ich, ich, ich“ – das ist der wahre Feind. Hört einfach damit auf, so besessen von dem „Ich“ zu sein, und davon, was „ich“ empfinde. Im Sinne von Ursache und Wirkung tun wir einfach, was getan werden muss und machen keine große Sache aus irgendetwas. Denken wir einmal über diesen Vers nach:
(56) Unser Wunsch nach Glück ist groß, dennoch versäumen wir, ein Netzwerk seiner Ursachen aufzubauen. Unsere Toleranz gegenüber dem Unglück ist klein, doch unser anspruchsvolles Begehren und unsere Gier sind immens. Zerschmettere, ja, zerschmettere diese verderbliche Vorstellung, (schmettere) ihr genau auf den Kopf. Versetzte diesem Schlächter, dem „wahren Selbst", unserem Feind, den Todesstoß mitten ins Herz.
Zerschmettere, ja, zerschmettere diese verderbliche Vorstellung, schmettere ihr genau auf den Kopf. Das bezieht sich auf das Konzept, die Kategorie „ich, ich, ich“. Versetzte diesem Schlächter, dem „wahren Selbst", unserem Feind, den Todesstoß mitten ins Herz.
[Pause]
Fragen und Kommentare
Habt ihr irgendwelche Fragen oder Kommentare dazu?
Naivität
Sie benutzen das Wort „Naivität“ anstelle von Unwissenheit. Könnten Sie vielleicht etwas dazu sagen.
Ich benutze das Wort „Naivität“, weil ich denke, dass es das Gefühl etwas besser vermittelt. Im Tibetischen gibt es zwei Begriffe. Der eine ist „ma rigpa“ (ma-rig-pa) im Tibetischen oder „avidya“ im Sanskrit – er wird normalerweise mit „Unwissenheit“ übersetzt und ich benutze dafür das Wort „mangelndes Gewahrsein“. Wir wissen es einfach nicht, wir sind uns nicht gewahr; das Wort „Unwissenheit“ im Deutschen funktioniert da viel besser. Entweder wissen wir es nicht oder betrachten es auf fehlerhafte oder verdrehte Weise. Das ist die Definition. In der Regel nehme ich Worte und Definitionen aus der Abhidharma-Literatur. Naivität ist eine Unterkategorie dieses mangelnden Gewahrseins oder der Unwissenheit. Das Wort dafür ist „timug“ (gti-mug) im Tibetischen oder „moha“ im Sanskrit. Für dieses Wort benutze ich die Übersetzung Naivität. Eine Definition bezieht sich auf die Unwissenheit oder das mangelnde Gewahrsein in Verbindung mit destruktivem Verhalten und eine andere auf die Art des mangelnden Gewahrseins, welches gezielt auf Menschen gerichtet ist.
Ich finde es ziemlich hilfreich, das Wort „Naivität“ zu benutzen, wie im Sensibilitätstraining. Dort gibt es zwei Sachen, denen gegenüber wir mangelndes Gewahrsein haben: wir sind naiv in Bezug auf verhaltensbedingte Ursache und Wirkung sowie darüber, wie wir und andere existieren. So kann ich beispielsweise naiv in Bezug darauf sein, welchen Einfluss mein Verhalten auf mich hat und auf destruktive Weise bin ich naiv demgegenüber, wie mein Verhalten dich beeinflusst. Wenn ich arbeite und nie eine Pause mache, wird sich das schädlich für mich auswirken, und wenn ich zu spät komme, ist das nicht gut für dich.
Mit Hinblick darauf, wie wir existieren, bin ich auch in dem Sinne naiv, dass ich nicht erkenne, das du beispielsweise gerade beschäftigt bist. Ein klassisches Beispiel ist Folgendes: Wir kommen von der Arbeit nach Hause, oder vielleicht sind wir selbst die ganze Zeit zu Hause und unser Partner kommt von der Arbeit und es sieht so aus, als wäre er gerade aus dem Nichts erschienen und fragt: „Wo ist mein Abendessen?“ Wir sind naiv gegenüber der Tatsache, dass die Person während des Tages so viel mit den Kindern zu tun hatte, als würden sie nicht existieren oder als wäre nichts geschehen. Auf der anderen Seite sehen wir nicht, dass die Person, die von der Arbeit nach Hause kommt, den ganzen Tag im Büro zugebracht hat und vielleicht einen furchtbaren Tag hatte. In diesem Fall sind wir naiv demgegenüber und auch gegenüber der Tatsache, dass wir übermüdet sind usw.
Ich glaube, „Naivität“ passt besser, weil es darum geht, unsensibel zu sein. Es passt besser, wenn es darum geht, sich in einer Situation nicht gewahr darüber zu sein, dass es destruktiv oder schädlich ist. Es ist das Nicht-Wissen; wir wissen es einfach nicht. „Ich wusste nicht, dass du gerade beschäftigt warst.“ „Ich wusste nicht, dass meine Worte beleidigend für dich waren. Ich wusste es ganz einfach nicht.“ Es ist also nicht so, dass ich dumm bin, sondern war mir einfach nicht darüber gewahr. Im Englischen hat dieses Wort „ignorance“ diesen starken Beigeschmack, als wären wir ignorant oder dumm. Darum geht es jedoch nicht. Wir wissen es nicht oder verstehen es falsch. „Ich dachte, du hättest Zeit für mich, aber das war nicht der Fall.“ „Ich dachte, du wärst zu Hause, als ich zu Besuch kam, aber du warst nicht da.“ Wir haben etwas auf fälschliche oder gegensätzliche Weise verstanden.
Geschickt reden
Wenn Sie im privaten Leben mit einem Kind oder einem Verwandten und nicht als professioneller Übersetzer reden, benutzen Sie dann auch die Übersetzung aus dem Wörterbuch oder Worte, von denen Sie meinen, dass sie in dem Moment passender oder verständlicher sind? Mir scheint es so viel wichtiger zu sein, Worte zu benutzen, mit denen andere auch etwas anfangen können. Verstehen Sie was ich meine?
Wenn ich mit Menschen rede, versuche ich natürlich geschickt zu sein und Terminologie zu benutzen, die sie verstehen können. Aber das heißt nicht, dass wir in unserem Gebrauch von Worten nachlässig oder weniger präzise sein müssen. Es ist natürlich unterschiedlich, wie wir mit einem Kind, einem Erwachsenen, einem Teenager, einem Professor oder einer ungebildeten Person reden. Da kann es große Unterschiede geben. Zweifellos versuche ich nicht, Menschen zu korrigieren. Ich bin kein „Grammatik-Nazi“; das habe ich gelernt. Ich war einmal so und versuche davon abzulassen.
Wir sollten geschickt darin sein, wie wir kommunizieren. Kommunikation ist überaus wichtig. Buddha wird für seine geschickten Worte gepriesen, in denen er lehrte. Im „Lob des abhängigen Entstehens“ sagt Tsongkhapa:
(19) „Aufgrund der Argumentationskette, wird das abhängige Entstehen nicht in einer extremen Sichtweise begründet.“ Diese (deine) vortreffliche Aussage ist die Ursache dafür, dass deine Rede unvergleichlich ist, oh Beschützer.
Was Buddha so vortrefflich macht, ist seine Rede, seine Worte des abhängigen Entstehens. Wir müssen also auf bestmögliche Weise kommunizieren.
Andere abwerten
Für mich war Vers 81 etwas schwierig zu verstehen und ich frage mich, ob Sie etwas dazu sagen könnten.
Das ist der Vers:
(81) Heftigst machen wir Hochstehende nieder; heilige Wesen betrachten wir als unsere Feinde. Weil unsere Wollust gewaltig ist, nehmen wir eifrig junge Menschen zu (unseren Partnern). Zerschmettere, ja, zerschmettere diese verderbliche Vorstellung, (schmettere) ihr genau auf den Kopf. Versetzte diesem Schlächter, dem „wahren Selbst", unserem Feind, den Todesstoß mitten ins Herz.
Heftigst machen wir Hochstehende nieder. Jemanden herabzusetzen, bedeutet ihn zu kritisieren und eine weniger respektvolle Position zuzuweisen. Vielleicht ist jemand ein Heiliger, ein großer Lama oder ein großer spiritueller Meister und wir kritisieren ihn. Wir sagen, er wäre nicht so gut, sagen dies und das über ihn und halten ihn für eine Bedrohung. Er kommt uns wie ein Feind vor, weil er uns korrigieren wird und wir uns Sorgen um uns, unsere Reputation usw. machen. Mit Konkurrenzdenken ist es ähnlich.
Diese Zeile muss sich nicht unbedingt nur auf heilige Wesen beziehen. Wir können es auch sehen, wenn jemand besser ist als wir und wir uns bedroht fühlen. Es gibt diese Tendenz, die anderen abwerten zu wollen, ihre Schwächen zu finden und ständig darüber zu reden, anstatt sie zu loben, zu bewundern und von ihren Stärken inspiriert zu werden. In diesem Sinne betrachten wir sie als einen Feind oder eine Bedrohung.
Weil unsere Wollust gewaltig ist, nehmen wir eifrig junge Menschen zu unseren Partnern. Wir sind so an den Körper und das Geschlecht gebunden, dass wir als Ältere sogar versuchen, jüngere Menschen zu verführen, als wären wir noch jung und als würden sie uns, als Ältere, noch attraktiv finden. Hier geht es wiederum um das Konzept eines solides „Ichs“, das sich niemals ändert.
Aus meiner persönlichen Sichtweise eines älteren Menschen kann ich sagen, dass unser Selbstbild nicht im entferntesten etwas damit zu tun hat, was wir im Spiegel sehen. Als Älterer kann man es sich wirklich schwer vorstellen, wie andere Menschen uns sehen – und ich denke, anderen älteren Leuten geht es da ganz ähnlich. Wir glauben nicht, dass sie eine alte grauhaarige oder weißhaarige Person sehen. Wir stellen uns trotz allem vor, wir würden wie ein jüngerer Mensch aussehen. Mit dieser Art der Geisteshaltung versuchen wir vielleicht eine zwanzigjährige Person zu verführen, während wir selbst in unseren Sechzigern oder Siebzigern sind, was völlig absurd ist. Darum geht es in dieser Zeile des Verses, diese feste Vorstellung des „Ichs“, die überhaupt nichts mit dem zu tun hat, wie andere uns wahrnehmen und wie wir tatsächlich im Spiegel aussehen.
Nur wenn man müde ist, bemerkt man, wie alt man ist; ansonsten stellen wir uns vor, wir wären immer gleich, egal wie alt wir wirklich sind. Das ist die trügerische Erscheinung, mit der wir meinen: „das bin einfach ich“, und nicht an unser Alter denken. Persönlich kann ich nicht glauben, dass ich 73 Jahre alt werde. Meine Schwester ist gerade 80 geworden uns sagt: „Ich kann nicht glauben, dass ich 80 bin. Kannst Du Dir mich als 80-jährige vorstellen?“ Aber so ist sie, diese trügerische Erscheinung, als könnte es da ein „Ich“ geben, das man unabhängig von der Grundlage eines alten oder alternden Körpers kennen könnte.
Greifen nach einem Selbst auf der Basis verschiedener Sichtweisen überwinden
Vers 49 scheint ziemlich direkt zu sein und sich eher auf ethische Dinge zu beziehen, anstatt auf die Sichtweise der Vaibhashika-Schule, was etwas sonderbar ist, da es hier um Yamantaka geht. Ich denke, der inspirierende Teil ist, wie dieser Begriff „Greifen nach einem Selbst“ in den Versen beispielhaft aufgezeigt und wie dieses Konzept vorgestellt wird. Die philosophischen Überlegungen verschiedener Schulen sind da, aber nicht unbedingt die eigentlichen Lehren. Könnten sie etwas dazu sagen?
Lasst uns den Vers wiederholen, um den es hier geht:
(49) Genau dies ist die Art und Weise, wie es wirklich ist! So, den Feind habe ich gefangen! Ich habe den diebischen Banditen gefangen, der im Hinterhalt lauerte und mich betrog, der Schwindler, als „Ich" verkleidet, hat mich getäuscht! Aha! Das ist das Greifen nach einem „wahren Selbst"! Daran gibt es keinen Zweifel!
Betrachten wir die buddhistischen Lehren, die verschiedenen philosophischen Standpunkte, so wird in den so genannten Lehrsystemen das Greifen nach einem Selbst im Sinne von Selbstlosigkeit, anatta“ auf vielen, immer subtileren Ebenen erklärt. Auch denke ich, dass man es auf einer nichtphilosophischen Ebene erklären könnte. Auf der Ebene wäre das Greifen nach einem Selbst einfach nur Egoismus. Eine Geisteshaltung, mit der wir meinen, es ginge in erster Linie um uns, wir wären der oder die Wichtigste, wir wären wichtiger als andere und es sollte immer nach unserem Kopf gehen, muss keine tiefe philosophische Grundlage haben. Egoismus entsteht automatisch mit Eigeninteresse. Das Überleben des Einzelnen und das Überleben der Arten ist gewissermaßen instinktiv; es ist einfach da. Ich denke, wir können diese Verse auf vielen verschiedenen Ebenen verstehen.
Was bedeutet es, wenn wir lesen, dass Dharmarakshita die Vaibhashika-Sichtweise, Maitriyogi die Sautrantika-Sichtweise und Serlingpa sogar eine nichtbuddhistische Sichtweise vertrat? Es heißt nicht, dass es sich dabei um ihr tiefstes Verständnis oder ihre tiefste Philosophie handelte. Was Vaibhashika und Sautrantika betrifft, so waren Dharmarakshita und Maitriyogi Experten im Lehren dieser Systeme und im Erklären der Texte, die diese Sichtweisen lehren. Bei Serlingpa war es so, dass er zunächst konventionelles Bodhichitta und nicht tiefstes Bodhichitta lehrte. Laut Serlingpa können wir diese Lehren sogar praktizieren, wenn wir keine buddhistische Sichtweise haben. Steht konventionelles Bodhichitta an erster Stelle, können wir es zusammen mit all den falschen Sichtweisen des Selbst haben. Dennoch können wir uns wünschen, Erleuchtung zu erlangen, um allen anderen damit nützen zu können. Um das zu tun, benötigen wir jedoch tiefstes Bodhichitta und ein Verständnis der Realität. Wir können aber trotz allem Lojong und Geistestraining praktizieren, während wir diese nichtbuddhistischen Sichtweisen hegen. In ähnlicher Weise könnten wir Geistestraining auch nur mit der Vaibhashika-Sichtweise, der Sautrantika-Sichtweise oder auf Madhyamaka-Weise praktizieren.