Das Rad scharfer Waffen: Das Greifen nach einem Selbst vernichten

Abschließende Verse im dritten Abschnitt des Textes 

Nachdem er auf die Probleme hingewiesen hat, die durch unser Greifen nach einem Selbst und unsere Selbstbezogenheit verursacht werden, sowie darauf, dass unser Greifen nach einem Selbst und unsere Selbstbezogenheit hinter den verschieden Problemen und Leiden stecken, die wir haben, beendet Dharmarakshita den dritten Abschnitt, beginnend mit Vers 91:

(91) (Oh Yamantaka), geschmückt mit dem Dharmakaya eines Glückselig Gegangenen (Buddhas), Zerstörer des Dämonen, der Ansicht eines „wahren Selbst" - oh, wow - (oh du), der du Stärke und Kraft besitzt, und eine Keule mit einem Schädel an der Spitze, - die scharfe Waffe deiner Handlungen eines nicht „wahren Selbst" - lasse sie dreimal ohne zu zaudern über deinem Kopf kreisen.

Die Keule mit einem Schädel an der Spitze repräsentiert unterscheidendes Gewahrsein der Leerheit oder Leere. Das dreimalige Kreisen bezieht sich hier auf das Vernichten des Greifens nach einem Selbst, der selbstbezogenen Geisteshaltung, die sich daraus ergibt und des samsarischen Körpers mit den fünf Aggregaten, der daraus hervorgeht, zusammen mit den giftigen Emotionen.

Wegen unserer tiefsitzenden Gewohnheit des Greifens nach wahrhaft begründeter Existenz, erschafft unser Geist eine Erscheinung, die einer selbst-begründeten Existenz gleicht. Mit mangelndem Gewahrsein wissen und verstehen wir nicht, dass diese Erscheinung nicht der Realität entspricht. Daher greifen wir nach ihr und meinen, sie würde tatsächlich der Realität entsprechen. Diese Glaubensvorstellungen lassen unsere störenden Emotionen hervortreten, die dazu führen, destruktiv zu handeln und unsere Handlungen schaffen dann karmische Hinterlassenschaften. Die karmische Hinterlassenschaft wird mit weiteren störenden Emotionen aktiviert und wenn sie ausreift, erzeugt sie neben anderen Dingen unsere fünf Aggregate – unseren Körper, Geist und das, was wir erfahren.

Wir machen die Erfahrung, einen begrenzten Körper und einen begrenzten Geist zu haben. Wir fahren damit fort, die verschiedenen Tendenzen nicht nur für zwanghaftes karmisches Verhalten, sondern für die störenden Emotionen, einschließlich der drei Gifte, zu haben und auch die Gewohnheit des Greifens nach wahrhaft begründeter Existenz. Dann wiederholen wir zwanghaft Handlungen, die denen gleichen, die wir in der Vergangenheit begangen haben. Zunächst haben wir Lust, sie auszuführen, was zu weiterem zwanghaften Verhalten, sowie dazu führt, sich auf Situationen einzulassen, in denen uns ähnliches widerfährt, wie das, was wir anderen angetan haben, und so erleben wir weiter die fünf Aggregate. Das ist Samsara, unkontrollierbare sich wiederholende Existenz.

Dharmarakshita beendet diesen Abschnitt mit den nächsten drei Versen:

(92) Wir ersuchen dich, befreie uns von diesem Feind, mit deiner großartigen wilden Kraft! Wir ersuchen dich, zerschmettere diesen üblen Gedanken, mit deinem großartigen unterscheidendem Gewahrsein! Wir ersuchen dich, beschütze uns vor unserem Karma, mit deinem großartigen Mitgefühl! Wir ersuchende dich, vernichte (dieses) „wahre Selbst", ein für alle Mal!
(93) Soviel Leid, wie es in samsarischen Wesen gibt, häufe es auf jeden Fall, darum bitte ich dich flehentlich, auf meinem Greifen nach einem „wahren Selbst" an! So viele giftige, störende Emotionen wie es sie in allen Wesen gibt, häufe sie auf jeden Fall, darum bitte ich dich flehentlich, über diesem hier an, der zur selben Gattung gehört.

Mit anderen Worten geht es darum, Tonglen zu praktizieren. Wir alle haben diese giftigen Emotionen und wir gehören zur selben Klasse wie alle anderen. Jeder ist gleich. Der Vers bittet Yamantaka: „Wirf es auf mich, alles. Lass es mich annehmen, um damit umzugehen und es aufzulösen. Wie ein Pfau kann ich das Gift in etwas umwandeln, das auf dem Pfad zur Erleuchtung hilfreich sein wird.“

Er beendet diesen Abschnitt folgendermaßen:

(94) Wenngleich wir auf diese Weise, mittels der Vernunft, jenseits aller Zweifel, die Wurzeln unserer Fehler ausnahmslos identifiziert haben, wenn du (irgendeinen Teil von uns), der noch immer mit dem (wahren Selbst) Partei ergreift, entblößen kannst, ersuchen wir dich, zerstöre eben diesen, der seine Partei ergreift.

Die anfängliche nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit zu haben reicht nicht aus; das ist nur der Beginn. Wir müssen uns selbst immer mehr damit durch den so genannten „Pfad der Meditation“ oder „Pfad des Sich-Gewöhnens“ vertraut machen. Je mehr wir dazu in der Lage sind, uns nichtkonzeptuell auf Leerheit auszurichten, desto mehr wird die Dynamik dieses Hervorbringens von Erscheinungen wahrhaft begründeter Existenz unterbrochen. Irgendwann wird unser Geist dann damit aufhören, an wahrhaft begründete Existenz zu glauben und sie schließlich nicht mehr erscheinen lassen.

Die Wurzeln unserer positiven Handlungen anderen widmen 

Der vierte Teil des Textes beginnt mit der Diskussion darüber, was wir anderen geben können, wenn wir erst einmal die Hindernisse zerstört haben, die uns davon abhalten, diese Leiden und dessen Ursachen, also diese giftigen Emotionen usw. anzunehmen. An diesem Punkt haben wir durch das Unterlassen von schädlichem Verhalten und das Handeln auf positive Weise stattdessen ein Netzwerk positiver Kraft und tiefen Gewahrseins aufgebaut. Nun haben wir etwas, das wir in diesem Vorgang des Gebens und Nehmens, Tonglen, anderen geben können. Dieser Abschnitt beginnt folgendermaßen:

(95) Nun, da ich alle Schuld auf ein Ding gehäuft habe, wollen wir kraftvoll über Freundlichkeit gegenüber allen Wesen meditieren. Nachdem wir auf unseren eigenen Geistesstrom genommen haben, was andere sich niemals gewünscht haben, wollen wir die Wurzeln unserer konstruktiven Handlungen jedem umherwandernden Wesen widmen. 

Mögen andere mit diesen Wurzeln unseres positiven konstruktiven Verhaltens und Verstehens verankert sein, sodass mehr positives Potenzial in ihnen heranwachsen wird.

Dharmarakshita nimmt wieder das Bild des Pfaus auf:

(96) Indem wir (die negativen Konsequenzen) in dieser Weise auf uns selbst genommen haben, für das, was andere durch die drei Zeiten hindurch mittels der drei Tore (der Handlung) getan haben, mögen die störenden Emotionen in Hilfsmittel für die Erleuchtung verwandelt werden, so wie Pfauen in leuchtenden Farben, sich von giftigen Pflanzen (ernähren).
(97) Und indem wir den umherwandernden Wesen die Wurzeln unserer konstruktiven Taten gegeben haben, und so als ob wir Krähen mit Medizin heilen würden, die giftige Pflanzen gegessen haben, haben wir (dann) das Leben der Befreiung für alle Wesen gerettet; mögen sie schnell die Glückselig Gegangene Buddhaschaft erreichen.

Mit unserer Tonglen-Praxis widmen wir anderen nicht nur die Wurzeln all unseres positiven Potenzials, damit sie Freiheit von schlechten Wiedergeburtszuständen, sowie höhere Wiedergeburtszustände und dann Befreiung und Erleuchtung erlangen können, sondern stellen uns auch vor, ihnen all das zu geben. Um diese Ziele zu erreichen, müssen andere jedoch verstehen, dass nichts von dem, was wir ihnen geben, wahrhaft begründete Existenz besitzt und daher wollen wir ihnen das korrekte Verständnis der Leerheit geben, das letztendliche Gegenmittel für ihr eigenes Greifen nach einem Selbst und ihre eigene Selbstbezogenheit, wegen denen sie in Samsara umherwandern. 

Aus diesem Grund bekräftigen wir erneut dieses Verständnis der Leerheit. 

Entspannen im Alaya, der alles umfassenden Basis 

In der weiteren Ausführung der Praxis des Tonglen, die wir im Geistestraining in sieben Punkten finden, sagt Geshe Chekawa:

Die essentielle Natur des Pfades ist es, sich in einem Zustand der alles umfassenden Basis zu entspannen.

Das muss korrekt verstanden werden. Obwohl wir bereits in einer früheren Sitzung darüber gesprochen haben, werden wir es uns noch einmal genauer ansehen. Gemäß verschiedener Kommentare gibt es zwei Interpretationen in Bezug darauf, was dieses alaya bedeutet. Es geht hierbei nicht um das, was wir im Chittamatra, der Nur-Geist-Schule, haben. Alaya bezieht sich nicht auf das Alayavijnana, das so genannte „Speicherbewusstsein“ oder das „alles umfassende grundlegende Bewusstsein“. Nach Ansicht der Chittamatra-Behauptungen wird das grundlegende Bewusstsein wahrhaft von sich aus begründet, ist sich nicht klar über sein Objekt, wird weder als destruktiv noch konstruktiv festgelegt – kann also in die eine oder andere Richtung gehen – und ist die Ebene des Geistes oder der geistigen Aktivität, die sich von einem Leben zum nächsten als Grundlage der Zuschreibung der verschiedenen karmischen Tendenzen, Potenziale und Gewohnheiten bewegt. Darüber spricht Dharmarakshita hier nicht. 

Alaya als einer der Faktoren der Buddha-Natur

Worin wir uns entspannen wollen, ist einfach das alaya, die „alles umfassende Basis“. Dabei geht es um einen Aspekt der Buddha-Natur. Buddha-Natur bezieht sich auf die verschiedenen Faktoren, die jeder als Teil seines individuellen geistigen Kontinuums besitzt und die ihm erlauben, den erleuchteten Zustand eines Buddhas, insbesondere die erleuchtenden Körper eines Buddhas, zu erlangen. 

Es gibt drei verschiedene Aspekte der Buddha-Natur, wie sie im „Uttaratantra, Das weitestgehende immerwährende Kontinuum“ – Gyulama auf Tibetisch – einem großen Werk von Maitreya dargestellt werden. Diese drei sind die sich entwickelnden Eigenschaften, die andauernden Eigenschaften und die Tatsache, dass das geistige Kontinuum durch den erleuchtenden Einfluss eines Buddhas stimuliert werden kann. Die sich entwickelnden Eigenschaften werden oft auch als die „zwei Ansammlungen“ bezeichnet. Ich benutze hier lieber den Begriff „Netzwerke“, weil sie aus vielen verschiedenen Aspekten bestehen, die miteinander verbunden sind. Sie sind das Netzwerk positiver Kraft und das Netzwerk tiefen Gewahrseins.

Die sich entwickelnden Netzwerke positiver Kraft und tiefen Gewahrseins

Das Netzwerk positiver Kraft wird zuweilen als „Ansammlung von Verdienst“ bezeichnet. Mann könnte auch ein Netzwerk negativen Potenzials in Betracht ziehen; in der traditionellen Literatur ist jedoch nur die Rede von einem Netzwerk positiven Potenzials. Für gewöhnlich ruft es eine Wiedergeburt in einem der drei besseren samsarischen Wiedergeburtszuständen hervor – Menschen, Asura (ein Möchtegern-Gott) oder ein Götterwesen (ein Gott) – mit einem Körper und Aggregaten, die solchen Ebenen entsprechen. Außerdem bringt es instinktives konstruktives Verhalten, positive Situationen, in die wir geraten und gewöhnliches Glücklichsein hervor. Wird positive Kraft angesammelt und mit Bodhichitta gewidmet, kann sie, anstatt einen gewöhnlichen, etwas besseren samsarischen Körper, die Form des Körpers eines Buddhas entstehen lassen. Anstelle des samsarischen konstruktiven Verhaltens, welches mit Verwirrung vermischt ist, verfügen wir dann über die erleuchtende Aktivität eines Buddhas; anstelle unseres gewöhnlichen Glücks haben wir den ewig glückseligen Geist eines Buddhas; und anstelle einer unreinen förderlichen Umgebung eine reine Umgebung. Solche Erlangungen sind das Ergebnis davon, mit Bodhichitta diesen Aspekt der Buddhanatur zu reinigen und anwachsen zu lassen. Es handelt sich also um ein sich entwickelndes Netzwerk positiver Kraft. 

Es gibt auch ein Netzwerk tiefen Gewahrseins, welches häufig als „Ansammlung von Weisheit“ bezeichnet und mit unserer fortgesetzten nichtkonzeptuellen Wahrnehmung der Leerheit immer weiter aufgebaut wird. Wir können dieses Netzwerk auch im Sinne der fünf Arten des tiefen Gewahrseins, wie dem spiegelgleichen und gleichsetzenden, betrachten. Mit Bodhichitta gewidmet wird es den allwissenden Geist eines Buddhas entstehen lassen, der alle Dinge kennt und für alle gleichermaßen Liebe und Mitgefühl hat. Das ist das Dharmakaya des tiefen Gewahrseins, das Jnana-Dharmakaya. Wir benötigen beide dieser Netzwerke und während wir immer mehr positives Potenzial und tiefes Gewahrsein schaffen, das wir mit Bodhichitta unserem Erlangen der Erleuchtung widmen, entwickeln sie sich zu dem Punkt, an dem sie Buddhakörper hervorbringen. 

Die andauernde Buddha-Natur 

Die andauernden Faktoren der Buddha-Natur beziehen sich auf die konventionellen und tiefsten Naturen des Geistes. Darum geht es, wenn wir über Alaya reden.  Sie dauern in dem Sinne an, dass sie sowohl in Samsara als auch in Nirvana der Fall sind. Sie bleiben gleich und ändern sich nie. 

Die konventionelle Natur des Geistes – unsere individuelle von Moment zu Moment stattfindende subjektive geistige Aktivität des Erfahrens von Dingen – bezieht sich auf dessen definierende Eigenschaften: bloße Klarheit und Gewahrsein.  „Klarheit“ bedeutet die geistige Aktivität, die in jedem Augenblick eine Erscheinung von etwas wie ein geistiges Hologramm hervorbringt, um eine Analogie zu benutzen. Ein geistiges Hologramm von etwas hervorzubringen bedeutet, etwas wahrzunehmen oder etwas zu kennen. Das ist der zweite Begriff in der Definition „Gewahrsein“, eine Art der kognitiven Beschäftigung. Es hervorzubringen heißt nicht, dass zuerst ein Gedanke entsteht und wir ihn dann denken. Klarheit und Gewahrsein sind die gleiche geistige Aktivität, die nur von zwei Blickwinkeln beschrieben wird. „Bloße“, das dritte Wort in der Definition, bedeutet, dass es nur das gibt. Es gibt kein getrenntes „Ich“, welches die geistige Aktivität beobachtet oder versucht, sie oder etwas in der Art zu kontrollieren. In diesem Sinn ist der Geist, die geistige Aktivität, von Natur aus nicht-dual.

Diese konventionelle Natur des Geistes ist da, sogar wenn unsere geistige Aktivität unter dem Einfluss von Unwissenheit, Greifen nach einem Selbst, Selbstbezogenheit usw. steht. Ungeachtet des Inhalts unserer geistigen Aktivität ist es trotz allem ein bloßes Entstehen eines geistigen Holograms, welches eine kognitive Beschäftigung ist. Sogar als ein allwissender Buddha behält unsere geistige Aktivität die gleiche konventionelle Natur bei, nur dass sie nicht länger von den flüchtigen Makeln dieser störenden Emotionen befleckt ist. 

Die tiefste Natur des Geistes besteht darin, dass sie frei davon ist, auf unmögliche Weise zu existieren; sie ist nicht selbst-begründet. Die Tatsache, dass unsere geistige Aktivität weder als samsarisch noch als nirvanisch selbst-begründet ist, sondern abhängig von anderen Faktoren entsteht, ist ein Hinweis darauf, dass die Transformation zur Buddhaschaft stattfinden kann. 

Die sich entwickelnden Faktoren der Buddha-Natur bringen die Körper und den Geist eines Buddhas hervor, wenn sie vollständig gereinigt sind. Die andauernden Naturen setzen sich in der Buddhaschaft als ein Körper der essentiellen Natur, ein Svabhavakaya, fort. 

Die Faktoren der Buddha-Natur des Erwiderns auf den erleuchtenden Einfluss

Der dritte Faktor der Buddha-Natur besteht darin, dass der Geist durch den erleuchtenden Einfluss und die erleuchtende Aktivität eines Buddhas inspiriert werden kann. Er kann zum Wachstum angeregt werden. Die sich entwickelnden Faktoren können durch die „Strahlen der Sonne“ stimuliert werden oder „Schub“ bekommen, um einen klassischen Metapher zu benutzen. Auf diese Weise wird es in den Texten beschrieben.

Sich in die Natur des Geistes entspannen

Worum es uns in unserer Tonglen-Praxis geht, ist, uns nach dem Annehmen der störenden Emotionen und Leiden aller anderen im Alaya, der Natur des Geistes, zu entspannen, was sich auf die andauernden Faktoren der Buddha-Natur bezieht. Es gibt zwei Interpretationen, wie man das in der Meditation umsetzen kann. Beide sind gleichermaßen effektiv. Wir können in unserer Meditation entweder in die konventionelle Natur des Geistes oder in die tiefste Natur des Geistes hinein entspannen. In verschiedenen philosophischen Standpunkten werden beide als tiefste Natur bezeichnet oder es wird eine Unterscheidung zwischen ihnen gemacht. Es geht aber darum zu verstehen, wovon tatsächlich die Rede ist.

Entspannen wir uns in unserer Meditation in das bloße Entstehen eines geistigen Hologramms und das Gewahrsein, ist das Auftreten von geistiger Aktivität wie Wellen auf dem Ozean des Geistes. Die Wellen sind von gleicher Natur wie der Ozean. Erleben wir diese giftigen Emotionen, betrachten wir sie wie Wellen im Ozean; ganz natürlich werden sie zur Ruhe kommen. 

Entspannen wir uns in unserer Meditation in die tiefste Natur des Geistes, richten wir uns auf die Tatsache, dass alles, was wir erfahren, eine Welle oder ein ruhigen Ozean, frei von selbst-begründeter Existenz, ist. Sprechen wir über Leerheit oder Leere, bezieht sich das, wie gesagt, auf die völlige Abwesenheit selbst-begründeter Existenz, die es niemals gegeben hat, da sie unmöglich ist. Leerheit bedeutet nicht, dass nichts existiert. Alles, einschließlich der giftigen, störenden Emotionen, entstehen abhängig von anderen Faktoren.

Abhängiges Entstehen 

Abhängiges Entstehen hat drei Ebenen der Bedeutung. Erstens entstehen unbeständige Dinge, nichtstatische Phänomene, die sich ändern können, abhängig von Ursachen und Bedingungen. So entsteht beispielsweise ein samsarischer Körper abhängig von Ursachen und Bedingungen, wie eine Mutter und einen Vater, das geistige Kontinuum eines bereits existierenden fühlenden Wesens, dem es an Gewahrsein in Bezug auf die Realität mangelt und dergleichen.

Eine zweite Ebene des abhängigen Entstehens ist, dass alle Dinge, ob statisch oder nichtstatisch – ob sie sich also ändern oder nicht – abhängig von Teilen entstehen. Die dritte Ebene des abhängigen Entstehen bezieht sich auf das geistige Bezeichnen mit Konzepten und das Benennen mit Worten. Es ist nicht so, als würde ein konzeptueller Gedanke Dinge erschaffen; das tut er nicht. Ob wir nun ein Konzept von Schmerz haben oder nicht, wir fühlen dennoch etwas. Dinge funktionieren trotz allem; aber alle Phänomene, die konventionell existieren, können nur abhängig davon als konventionell existierend begründet werden, worauf sich das konventionell akzeptierte Konzept und der Name für sie beziehen. Das ist die dritte Ebene dessen, was abhängiges Entstehen bedeutet.

Obwohl Dinge selbst-begründet zu sein scheinen – also durch etwas von sich aus festgelegt und unabhängig von abhängigem Entstehen – ist es wie eine Illusion. Es ist trügerisch und scheint so zu sein, entspricht jedoch nicht wirklich der Realität. Die Wirklichkeit ist, dass Dinge in Abhängigkeit entstehen. Wir können ihre konventionelle Existenz nur abhängig von Ursachen und Bedingungen, Teilen, sowie davon festlegen, worauf sich die Namen und Konzepte für sie beziehen.

So sagt Dharmarakshita:

(104) Hei, die ihr so seid wie ich! All dieses sind Dinge, die abhängig entstehen; und was sich auf das abhängige Entstehen stützt, kann nicht selbst-unterstützend sein. Sich in dieses hier drüber zu verwandeln und sich in jenes dort drüben zu verwandeln; ihre irrigen Erscheinungen sind Illusionen. Sie sind Spiegelungen die (lediglich) erscheinen, wie ein wirbelnder Feuersturm.
(105) Gleich einer Bananenstaude hat unsere Lebenskraft keinen Kern. Gleich einer Wasserblase hat unsere Lebensspanne kein Herzstück. Gleich einem Nebel, der sich niederlässt, handelt es sich um Dinge, die sich auflösen. Gleich einem Zauberspiegel, handelt es sich um Dinge, die (lediglich) aus der Ferne schön erscheinen.
(106) Wie Spiegelungen in einem Spiegel, erscheinen sie so wahr, so wirklich. Wie eine Wolke oder Nebel in den Bergen, scheinen sie zu bleiben und zu bleiben.

Diese Verse drücken auf poetische Weise das aus, worüber wir gesprochen haben. Dinge scheinen einen „Kern“ oder etwas im Innern zu haben, was ihre Existenz begründet, aber das wird durch die Leerheit widerlegt. So etwas auf Seiten eines Objektes, das es wie einen Kern aufrechterhält, gibt es nicht.

Dinge sind auch nicht wie leere Video-Kassetten, auf die unser Geist verschiedene Dinge projiziert. Das ist eine weitere falsche Sichtweise. So ist das nicht. Es ist nicht so, als gäbe es da etwas, wie eine Sache, die von sich aus begründet ist. Vielmehr wird das, was es ist, die Eigenschaften und der Name, mit dem wir es bezeichnen, durch den Geist projiziert. Auf diese Weise existiert auch nichts. Es scheint so zu sein und eine Ebene der Verstehens lässt uns so denken. Wir stellen uns vielleicht vor und glauben, es gäbe da nur das „Ich“ – eine Art neutrale, feste Entität – und in diesem Leben hat das „Ich“ diesen Namen und in jenem einen anderen. Aber so ist es auch nicht, obwohl es so zu sein scheint.

Sogar von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet haben wir Atome, subatomare Teilchen, Wellen, Energiefelder und so weiter, die nicht von festen Begrenzungen umschlossen sind. Dinge sind nicht in Plastik gehüllt und existieren auch nicht wie in einem Kindermalbuch, von Linien umzogen und von anderem getrennt, damit man sie ausmalen kann. Das ist eine andere Ebene des abhängigen Entstehens, auf der Dinge abhängig von einem Kontext auftreten.

Ein wunderbares Beispiel besteht darin, wie wir die verschiedenen Emotionen und Geistesfaktoren unterscheiden, die wir ständig gleichzeitig fühlen. Wir könnten Wut oder Begierde haben, aber gleichzeitig eine Ebene der Konzentration, eine Ebene der Aufmerksamkeit, auch wenn sie nicht sehr stark sein mag, eine Ebene des Interesses und eine Ebene des mangelnden Gewahrseins oder der Unwissenheit. Es gibt auch eine Ebene des Greifens. Sie könnte vermischt sein mit einer Ebene der Liebe, wenn wir jemanden lieben, aber große Anhaftung gegenüber der Person haben. In diesem Fall findet eine Überbewertung statt und wir erkennen nur bestimmte Aspekte der Person.

Wie unterscheiden wir bei all dem die individuellen Faktoren, die diesen Augenblick der Erfahrung ausmachen? Es ist nicht so, als wären sie voneinander getrennt, in Plastik gehüllt oder von dicken Linien umzogen, nicht wahr? All diese Faktoren sind interaktiv; sie sind miteinander verbunden und voneinander abhängend. Konzeptuell können wir natürlich jeden von ihnen isolieren. Der technische Begriff für das konzeptuelle Werkzeug, das wir dafür nutzen, ist „konzeptuelles Isolat“ (tib. ldog-pa), was wörtlich bedeutet: „nichts anderes als das, was es ist“. Konzeptuell können wir etwas isolieren und ihm einen Namen geben; aber in Wirklichkeit sind alle Komponenten, die jeden Augenblick unserer Erfahrung ausmachen, voneinander abhängend. Es erscheint jedoch, dass die gesamte Mischung der Geistesfaktoren als eine solide Sache selbst-begründet ist, wie etwa „meine schlechte Laune“. Sie setzt sich aber aus all diesen Teilen zusammen und sie ändern sich ständig. Im Text werden verschiedene Bilder benutzt, um all diese Punkte zu beschreiben, wie eine Bananenstaude, die konzentrische Baumringe aber keine Mitte besitzt, oder eine Wasserblase, Nebel, ein Zauberspiegel, Spiegelungen in einem Spiegel usw. 

Das falsche Selbst besaß nie eine wahrhaft begründete Existenz 

Hier müssen wir vorsichtig sein. Das unmögliche Selbst, das wahrhaft begründete Selbst, hat niemals existiert. Es gab lediglich eine Erscheinung von etwas, die dem ähnelte. Es ist das konventionelle Selbst, das in Abhängigkeit entsteht.

(107) Dieser Schlächter, das „wahre Selbst", der Feind, ist genau so. Er scheint zu existieren und zu existieren, doch er hat überhaupt nie existiert. Er scheint wahr zu sein und wahr zu sein, doch er wurde niemals irgendwo als wirklich erlebt. Er scheint zu erscheinen und zu erscheinen, er ist jenseits dessen, ein Objekt zu sein, das hinzugefügt oder weggenommen werden kann.

Wenn etwas nicht im entferntesten existiert – wie dieses falsche „Ich“ – können wir es nichts hinzugeben oder von etwas wegnehmen. Es war nie da. Wir haben uns nur vorgestellt, es wäre da. Unser Geist erschuf eine Art Erscheinung, die es repräsentierte und die so zu sein schien. Es ist nicht so, dass unser Geist wahrhaft begründete Existenz erschafft und etwas projiziert. Unser begrenzter Geist erzeugt eine Erscheinung von etwas, das wie eine wahre, selbst-begründete Existenz zu sein scheint; aber er kann nichts erschaffen, dass es gar nicht gibt. Wir können ein Bild vom Weihnachtsmann erzeugen, aber keinen echten Weihnachtsmann, Osterhasen und auch keine Micky Maus erschaffen. Was unser Geist hervorbringt, ist eine Erscheinung, die etwas darstellt, das völliger Unsinn ist und das es nicht gibt.

Kein Phänomen hatte jemals wahrhaft begründete Existenz 

Diese völlige Abwesenheit von wahrer, selbst-begründeter Existenz bezieht sich auch auf alle Phänomene. Im nächsten Vers wird deutlich gemacht, dass sich dieser Text nicht nur auf Hinayana oder Vaibhashika bezieht und lediglich das Fehlen eines unmöglichen Selbst von Personen vertritt, obgleich Dharmarakshita ein Spezialist darin war, Vaibhashika zu erklären. Es ist ziemlich klar, denn im Text geht es auch um die Leerheit von Karma, störenden Emotionen und so weiter.

(108) Welche scharfen Waffen des Karmas dieser (Schlächter) auch besitzen mag, obwohl auch ihnen die selbst-bestätigende Natur fehlt, ebenso wie sie diesem (Feind) fehlt, sie steigen wie die Spiegelung des Mondes in einer mit Wasser gefüllten Tasse empor. Diese karmischen Ursachen und Wirkungen sind bunt zusammen gewürfelte Schaustellungen, die falsch sind, doch obwohl sie bloße Erscheinungen sind, sage ich dir, hei: „Wir müssen die (richtigen Handlungen) annehmen und ablehnen."

Welche scharfen Waffen des Karmas dieser (Schlächter) auch besitzen mag, obwohl auch ihnen die selbst-bestätigende Natur fehlt, ebenso wie sie diesem (Feind) fehlt, bedeutet, dass nicht nur das Selbst, sondern alle Phänomene frei von wahrhaft begründeter Existenz sind. Dennoch steigen sie wie die Spiegelung des Mondes in einer mit Wasser gefüllten Tasse empor. Diese karmischen Ursachen und Wirkungen sind bunt zusammengewürfelte Schaustellungen, die falsch sind, doch obwohl sie bloße Erscheinungen sind, sage ich dir, hei: „Wir müssen die richtigen Handlungen annehmen und ablehnen.“ Das ist ausgesprochen wichtig, diese „dennoch“-Klausel. Obwohl Dinge wahrhaft begründet zu sein scheinen, sind sie es nicht; sie sind frei davon, auf diese Weise zu existieren. So etwas gibt es nicht, wie eine Realität, die Dingen entspricht, die in Plastik gehüllt sind und sich selbst, unabhängig von allem anderen, erzeugen. Dennoch funktionieren Dinge und aus diesem Grund müssen wir entsprechende Handlungen annehmen und ablehnen. Es geht darum, destruktives Verhalten abzulehnen, welches auf den drei giftigen Emotionen basiert, und Verhalten anzunehmen, das dem Gegenteil entspricht und dies mit Verständnis zu tun.

Es ist wichtig, nicht in das nihilistische Extrem des Denkens zu verfallen. Nur weil Dinge laut konventioneller oder oberflächlicher Wahrheit tatsächlich mit einer trügerischen Erscheinung als selbst-begründet zu existieren scheinen, heißt das nicht, konventionelle Objekte würden gar nicht existieren. Würde es sie nicht geben, wären Ursache und Wirkung nicht aktiv. 

Wäre es wahr, dass es unser Leiden und uns selbst nicht gäbe, wären wir alle frei von all unseren Problemen. Offensichtlich sind wir jedoch nicht frei und das liegt daran, dass wir uns fortwährend Probleme schaffen. Der Nihilismus ist ein fehlerhaftes Verständnis. Stattdessen gilt es zu erkennen, dass alles bloß wie eine Illusion ist. Wir müssen destruktives Verhalten und falsche Ansichten ablehnen und konstruktives Verhalten und korrekte Ansichten annehmen. Ursache und Wirkung sind nach wie vor aktiv, obwohl sie wie eine Illusion sind. 

Drei Arten des unterscheidenden Gewahrseins 

Dharmarakshita weiter:

(109) Auch wenn dort, in der Traum-Welt, ein Zeitalter-beendendes Feuer lodert, so haben wir doch, obwohl ihm die selbst-begründende Natur fehlt, immer noch große Angst (vor ihm). Obwohl auch dem, was in den freudlosen Höllen-Bereichen erscheint, gleichermaßen die selbst-begründende Natur fehlt, müssen wir doch aus Furcht davor, gekocht, verbrannt oder ähnliches zu werden, (ihre karmischen Ursachen) aufgeben.
(110) Wenn wir im Fieberwahn fantasieren, (fühlen wir uns,) obwohl wir uns nicht im Dunkeln befinden, (so als ob) wir in eine tiefe, längliche Höhle gleiten und dort ersticken. Gleichermaßen müssen wir, obwohl ihnen die selbst-begründende Natur fehlt das Delirium der Unwissenheit und so weiter mittels der drei Arten des unterscheidenden Gewahrseins beiseite räumen. 

Was die „drei Arten des unterscheidenden Gewahrseins“ betrifft, so gibt es das unterscheidende Gewahrsein, welches auf das Hören oder Lesen der Lehren zurückzuführen ist und mit dem wir zwischen den Wörtern unterscheiden, die korrekt und denen die falsch sind. Beim Hören der Lehren war dies besonders wichtig, da sie auswendig gelernt wurden. So wurden die Worte des Buddhas damals auf diese Weise weitergegeben und man musste sicherstellen, dass sie korrekt gehört und auch korrekt rezitiert wurden. Da gibt es dieses unterscheidende Gewahrsein. Oft sagt jemand etwas, aber wir verstehen etwas ganz anderes oder erinnern uns nicht richtig an das, was gesagt wurde. Tatsächlich die korrekte Belehrung zu bekommen und sich sicher darüber zu sein, worum es in den Lehren geht, ist unterscheidendes Gewahrsein in Bezug auf das Hören.

Dann haben wir das unterscheidende Gewahrsein in Bezug auf das Denken, mit dem wir korrekt verstehen, was die Lehren bedeuten und überzeugt von deren Gültigkeit sind. Dies erzielen wir, indem wir über sie nachdenken und sie analysieren.

Schließlich haben wir das unterscheidende Gewahrsein in Bezug auf die Meditation, bei dem es darum geht, sich tatsächlich mit einer Lehre vertraut zu machen, damit wir sie im Grunde in unserem Leben anwenden können. Unterscheiden bedeutet in diesem Sinne, dass wir sie wirklich verinnerlichen. Das sind die drei Arten des unterscheidenden Gewahrseins.

Glück und Leid entstehen in Abhängigkeit 

(114) Wenn wir irgendeine Form von Glück oder Leid als eine karmische Wirkung erleben, so geschieht das nicht durch den ersten Augenblick seiner Ursache und auch nicht durch den letzten Augenblick und so weiter. Wir erleben Glück oder Leid durch eine abhängig entstandene Ansammlung. Doch, obwohl sie bloße Erscheinungen sind, sage ich dir, hei: „Wir müssen die (richtigen Handlungen) annehmen und ablehnen.“

Dinge entstehen abhängig von Ursachen und Bedingungen, eine nach der anderen. Das kann man in den grundlegenden Lehren über Karma finden. Ein Resultat entsteht nicht aus einer Ursache, sondern aus einem Netzwerk zahlreicher Ursachen und Bedingungen. Eine Ursache bringt nicht zwangsläufig ein Resultat hervor. Es lässt ein ganzes Netzwerk von Konsequenzen entstehen, die aus einer Handlung folgen. 

Dinge sind auch abhängig von Teilen. Wie Buddha sagte, wird ein Eimer nicht durch den ersten oder letzten Tropfen gefüllt, sondern durch die Ansammlung von Tropfen. Wir haben über viele Leben zahlreiche Ursachen angesammelt und was wir erfahren, ist das Reifen einer ganzen Ansammlung von Ursachen. 

Es gibt so viele Dinge, die gleichzeitig heranreifen. So haben wir beispielsweise eine karmische Tendenz, etwas tun zu wollen. Aber es gibt auch die Tendenz einer störenden Emotion und so wird ein Aspekt davon zur gleichen Zeit in Erscheinung treten. Außerdem gibt es eine Ebene der Aufmerksamkeit oder Konzentration, die heranreifen wird. All die Geistesfaktoren haben Tendenzen und sie alle haben unterschiedliche Stärken und verschiedene Aspekte, und unterschiedliche Bedingungen werden das Ergebnis beeinflussen.

Vielleicht fühlen wir uns durch etwas genervt, aber gleichzeitig könnten wir ziemlich schläfrig sein. Das ist eine andere Bedingung, die einen Einfluss darauf haben wird, wie wir erwidern. All dies sind Teile; nichts ist solide. Was wir erfahren ist ein großes Netzwerk vieler Dinge.

Die Notwendigkeit der Meditation über konventionelles und tiefstes Bodhichitta 

(115) Wow!  Diese Erscheinungen angenehmer Dinge, die ununtersucht (so erscheinen, als ob sie) ganz für sich allein (existieren würden), haben keinen Wesenskern, und doch erscheinen diese Dinge (immer noch so), als ob sie wahrhaft existierten! Das ist profund! Aber für jene mit geringeren Geistesfähigkeiten ist es schwer zu begreifen.

Abhängiges Entstehen ist nicht so offensichtlich. Nichts ist leicht. Daher ist es notwendig, über konventionelles und tiefstes Bodhichitta zu meditieren und auf diese Weise Erleuchtung zu erlangen. Dharmarakshita schließt im letzten Vers mit diesem Punkt ab: 

(118) Indem wir das relative Bodhichitta üben, und ebenso das tiefste Bodhichitta, und ohne Unterbrechung den Aufbau unserer zwei erleuchtenden Netzwerke zur Vollendung bringen, mögen wir die Pracht (der Erleuchtung) erlangen, welche die zwei Absichten erfüllt.

Die zwei Ziele sind zunächst das Erlangen eines Svabhavakaya, eines Körpers der essentiellen Natur – die wahre Beendigung aller Schleier, was gleichbedeutend mit der Leerheit des Geistes ist. Das ist das Ziel des tiefsten Bodhichitta und dessen Erlangung erfüllt unsere Zweck, anderen helfen zu können. Um das Wohl anderer zu bewirken, streben wir nach einem Jnana-Dharmakaya, einem Dharmakaya des tiefen Gewahrseins – einem allwissenden, allgütigen Geist. Das ist das Ziel von konventionellem Bodhichitta. Der allwissende, allgütige Geist eines Buddhas lässt verschiedene Dinge, Formkörper, erscheinen, mit denen wir tatsächlich anderen helfen werden, indem wir sie belehren. Obwohl solche Formen für den begrenzten Geist fühlender Wesen selbst-begründet zu sein scheinen, spielt dies keine Rolle. Obwohl ihr Geist trügerische Erscheinungen der Formkörper hervorbringen werden, können wir dennoch in diesen Formen anderen helfen, sie inspirieren und ihre Faktoren der Buddha-Natur, ihre positiven Potenziale usw. zum Reifen bringen. Durch diese Entwicklung werden andere beginnen, auf positivere Weise zu handeln, mehr Verständnis entwickeln und ähnliches.

Ein korrektes Verständnis der zwei Wahrheiten anbieten 

Das beschließt unsere Diskussion des Textes „Das Rad scharfer Waffen“. Letztendlich wollen wir anderen mit der Tonglen-Praxis ein korrektes Verständnis der zwei Wahrheiten geben.

Auf einer oberflächlichen, konventionellen Ebene scheinen Dinge selbst-begründet zu sein, als gäbe es etwas in ihrem Innern, was sie zu dem macht, was sie sind, von sich aus und unabhängig von allem anderen.

Das ist jedoch nur eine trügerische Erscheinung; dennoch funktionieren konventionelle Objekte. Und so führt unsere Wechselbeziehung mit konventionellen Dingen zu Leid, wenn wir auf destruktive Weise handeln und zu gewöhnlichem Glück, wenn wir positiv handeln. Handeln wir mit Bodhichitta auf positive Weise und widmen die positive Kraft unserer Handlungen, kann sie zu unserem Erlangen der Erleuchtung beitragen.

Wir wollen dieses Verständnis über karmische Ursache und Wirkung anderen schenken und ihnen außerdem das Verständnis der tiefsten Wahrheit vermitteln. Mit konventionellem Bodhichitta engagieren wir uns dafür, anderen von Nutzen zu sein und denken: „Ich werde ihnen helfen.“ Dies tun wir durch konventionelle Erscheinungen. Darüber hinaus wollen wir ihnen auch mit tiefstem Bodhichitta helfen, damit sie das Verständnis der Leerheit haben.

Mit Tonglen nehmen wir die giftigen Emotionen anderer auf uns und lösen sie in die alles umfassende Basis oder Grundlage, dem Alaya, auf. Auf dieser Ebene können wir anderen die grundlegenden Qualitäten dieser Basis, wie Mitgefühl, Glückseligkeit, Verständnis und dergleichen schenken. Wir können ihnen auch die fünf Arten des tiefen Gewahrseins – spiegelgleiches, ausgleichendes usw. – als weitere Aspekte der Natur des Geistes geben. Außerdem können wir anderen die Potenziale geben, die wir selbst entwickelt haben, um all diese Aspekte zu erreichen. Es gibt viele Arten der Erklärung, was wir anderen mit Tonglen schenken können. 

Nur wenn wir uns in diese wirklich grundlegende Ebene der Natur des Geistes hinein beruhigen, können wir ein Gefühl der Traurigkeit überwinden, das wir wegen den Leiden und Problemen der anderen haben und die auf ihre störenden Emotionen zurückzuführen sind, und ihnen gegenüber Glück ausstrahlen. Es ist nicht so, dass wir bitterböse, zornig oder töricht werden, wenn wir ihre Wut oder Unwissenheit auf uns nehmen. Es ist notwendig, die störenden Emotionen der anderen zur Ruhe kommen zu lassen, damit wir die Qualitäten der alles umfassenden Basis zugänglich machen und ihnen all diese positiven Dinge geben können. 

Drei Arten von Mitgefühl 

Wenn wir Tonglen praktizieren und die drei giftigen Emotionen der anderen auf uns nehmen, sollten wir natürlich unsere Praxis mit Mitgefühl begleiten und denken: „Mögen sie frei von Leiden und den Ursachen des Leidens sein.“ Das erinnert mich an die drei Arten des Mitgefühls, über die Chandrakirti spricht. 

Zunächst haben wir Mitgefühl für andere, weil sie wegen der drei giftigen Emotionen leiden und nicht einmal erkennen, dass sie leiden. Mit Tonglen nehmen wir diese drei Gifte und das dadurch entstehende Gefühl des Unglücklichseins auf uns und geben ihnen das Verständnis, dass diese drei störenden Emotionen die wahren Ursachen ihres Leidens und Unglücks sind. Sind wir voller Begierde, Wut oder Naivität handelt es sich dabei nicht wirklich um glückliche Geisteszustände. 

Die zweite Ebene des Mitgefühls bezieht sich auf die Unbeständigkeit. Erleben andere diese störenden Emotionen, erkennen oder verstehen sie nicht, dass diese Emotionen und sie selbst unbeständig sind und sich ständig ändern. Weil sie diese Dinge nicht verstehen, leiden sie. Mit Mitgefühl wollen wir von ihnen diese Leiden der Unkenntnis in Bezug auf die Unbeständigkeit auf uns nehmen und ihnen ein korrektes Verständnis darüber schenken.

Dann gibt es Mitgefühl, das sich auf Leerheit bezieht. Andere verstehen nicht die Leerheit dessen, was sie erfahren und dass sie selbst frei von wahrhaft begründeter Existenz sind. Es ist wirklich traurig, dass sie dies nicht verstehen. Aus diesem Grund wollen wir diese Ursache ihres Leidens auf uns nehmen, sie beseitigen und ihnen das korrekte Verständnis der Leerheit geben.

Diese drei Arten des Mitgefühls, vermischt mit so genannter mitfühlender Weisheit, sind ausgesprochen hilfreich in unserer Praxis des Tonglen.

Um es noch einmal zu wiederholen: Uns geht es darum, ihnen das Verständnis zu vermitteln, dass sie selbst leiden, unbeständig sind und frei davon sind, wahrhaft zu existieren. Natürlich ist es nicht so, als würde ein wahrhaft existierendes „Ich“ diesen armen, leidenden Kreaturen dort drüben auf nicht-dualistische Weise helfen. Wir sollten dieses Verständnis des Leidens, der Unbeständigkeit und Leerheit auf allen Ebenen haben und uns bewusst darüber sein, dass sowohl die Objekte unseres Mitgefühls als auch wir selbst über diese drei Eigenschaften verfügen. Wir wollen die Gegenmittel des korrekten Verstehens allen, einschließlich uns selbst, zukommen lassen.

Nehmen wir uns ein paar Minuten Zeit, um zur Ruhe zu kommen und über diese Punkte nachzudenken. Danach haben wir dann noch viel Zeit für Fragen und Diskussionen.

[Pause]

Fragen, Kommentare und Diskussion 

Was man anderen geben kann, die depressiv sind           

Es kommt vor, dass ich Menschen treffe, die recht depressiv sind, und auch wenn ich glaube, dies hätte etwas mit ihrem Glauben an ein wahrhaft existierendes Selbst zu tun, kann ich es ihnen nicht sagen. Was fragen wir sie, um zu versuchen ihnen dabei zu helfen, ihre Gefühle zu differenzieren? „Warum bist du traurig?“ oder „Warum bist du wütend?“

In dieser Tonglen-Praxis geht es im Wesentlichen darum, sie dafür zu nutzen, unsere zögerliche Haltung zu überwinden, die wir haben, wenn es darum geht anderen zu helfen. Wir wollen ihnen nicht helfen, weil wir ständig nur an uns selbst denken und meinen: „Ich bin beschäftigt und habe andere Dinge zu tun, ich habe keine Lust, es ist zu schwierig, es ist zu chaotisch“ usw.

Uns geht es darum, an den Hemmungen zu arbeiten, die von uns aus kommen. In Bezug darauf, was wir anderen geben, um ihnen zu helfen, so heißt das nicht unbedingt damit zu beginnen, sie über Leerheit zu belehren, ganz sicher nicht. Es ist eins der Bodhisattva-Gelübde, nicht jene über Leerheit zu belehren, die völlig unvorbereitet sind, da sie es missverstehen würden. Begegnen wir jemanden, der depressiv und entmutigt in Bezug auf das Leben ist, sollten wir uns laut Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama daran erinnern, dass Hoffnung das beste Gegenmittel für Depression ist. Wir sollten sie auf etwas hinweisen, das in ihrem Leben einigermaßen gut läuft und die Betonung auf das Positive anstatt auf das Negative in ihrem Leben legen.

Shantidevas allgemeiner Ratschlag dazu lautet: Wenn es etwas gibt, das wir ändern können, warum sollten wir uns Sorgen machen? Wir ändern es einfach. Und wenn es nichts gibt, was wir tun können, warum sollten wir uns sorgen, denn das wird uns auch nicht weiterhelfen. Das ist eine wirklich tiefgreifende Lehre. Vielleicht hat unser Flugzeug Verspätung. Da gibt es absolut gar nichts, was wir tun können, warum sollten wir uns also nerven? Es würde uns nur unglücklich und trübsinnig machen. Es ist natürlich nicht leicht, dies umzusetzen, aber dennoch ist das die Art und Weise, damit umzugehen. „Es gibt nichts, was ich tun kann. Ich muss es ganz einfach akzeptieren.“ Wir versuchen, das Beste aus der Situation zu machen, und beispielsweise die Verspätung zum Lesen zu nutzen oder dazu, uns mit jemandem zu unterhalten.

Mit solchen Vorschlägen können wir anderen dabei helfen, ihre negativen Umstände in positive zu wandeln. Das ist eine allgemeinere Lehre des Geistestrainings.

Unser geistiges Kontinuum und unsere Faktoren der Buddha-Natur haben keinen Wesenskern

In Vers 105 geht es um unsere Lebenskraft, die keinen Wesenskern hat und um all die anderen Dinge, die keinen Wesenskern haben. Wie ich es verstehe, liegt das an ihren Erscheinungen usw., aber es wird auch gesagt, unsere „Lebensspanne hätte keinen Wesenskern.“ Wie sollten wir unser geistiges Kontinuum und dessen Buddha-Natur sehen? Ich weiß, dass es nicht unser Wesenskern ist, aber wie sollten wir es betrachten?

Wie gesagt ist die Buddha-Natur nicht nur eine Sache. Es gibt zahlreiche Faktoren, die es uns ermöglichen werden, die Körper eines Buddhas zu erlangen. Reden wir über die sich entwickelnden Faktoren, diese zwei Netzwerke, so geht es um Zuschreibungen unseres geistigen Kontinuums hinsichtlich Ursache und Wirkung. Wir haben verschiedene positive Handlungen ausgeführt, wie das Praktizieren vieler verschiedener Arten von Meditationen, und wir haben verschiedene Sitzungen mit tiefem Verständnis über die vier edlen Wahrheiten, die zwei Wahrheiten usw. gehabt. Es gibt Ursachen und sie werden in der Zukunft Auswirkungen haben. Sowohl diese Ursachen als auch deren Resultate sind Erfahrungen in unserem geistigen Kontinuum.

Im Moment jedoch, wenn die Ursachen nicht mehr stattfinden und deren Auswirkungen oder Resultate noch nicht stattfinden, haben wir gegenwärtig stattfindende Tendenzen und Potenziale dieser Ursachen, die zu ihren Auswirkungen heranreifen können. Diese Tendenzen und Potenziale sind Zuschreibungen unseres geistigen Kontinuums als dessen Grundlage der Zuschreibung und das Netzwerk positiven Potenzials ist eine Zuschreibung all dieser positiven Potenziale. Aber wie im Fall anderer Zuschreibungen findet man die definierenden Eigenschaften dieses Potenzials und dessen Netzwerks nicht in der Grundlage der Zuschreibung, dem geistigen Kontinuum. So drückt man auf poetische Weise aus, dass das, was zugeschrieben ist, keinen Wesenskern hat. 

Es ist wie mit dem Beispiel des Selbst. Gibt es eine definierende Eigenschaft des „Ichs“, welche die Kraft hat, das Ich als „Ich“ zu begründen? Wenn ja, wo ist sie? Ist sie in meiner Hand? Ist sie in meinen Emotionen? Ist sie in meinem Charakter? Wo ist sie? Sogar wenn wir sagen würden, sie wäre in der DNA, wäre das dann das „Ich“, wenn wir nur einen Teil der DNA hätten? 

Im Chittamatra, der Nur-Geist-Schule, wird gesagt, dass sich die definierende Eigenschaft des Selbst im „alayavijnana“ befindet, während man in der Svatantrika-Zweig des Madhyamaka davon ausgeht, dass sie im geistigen Bewusstsein zu finden ist. Laut des Prasangika-Zweiges des Madhyamaka sind jedoch die definierenden Eigenschaften des Selbst und der Netzwerke positiven Potenzials und tiefen Gewahrseins nicht auf Seiten des geistigen Kontinuums zu finden. Sogar die definierende Eigenschaft des geistigen Kontinuums selbst kann man nicht im geistigen Kontinuum finden. Schließlich ist ein geistiges Kontinuum nur das individuelle, subjektive Augenblick-zu-Augenblick-Erfahren von Dingen, wobei immer nur ein Moment auf einmal erlebt wird. Die definierende Eigenschaft von dem, was zugeschrieben wird, kann man nicht in der Grundlage finden; sie wird lediglich durch geistiges Bezeichnen begründet.

Ein geistiges Kontinuum oder Geist hat, wie alle anderen gültig erkennbaren Objekte auch, seine konventionelle Natur und seine konventionellen definierenden Eigenschaften; ansonsten wären wir nicht in der Lage, ihn von etwas anderem zu unterscheiden. Es gibt jedoch nichts auf Seiten des Geistes, was begründet, dass er eine konventionelle Natur und definierende Eigenschaften besitzt. Das gleiche gilt in Bezug auf die tiefste Natur des Geistes, seine Leerheit. Es gibt nichts Auffindbares auf Seiten des Geistes, was dessen Leerheit begründet. Die Leerheit ist nicht wie ein schwarzes Loch innerhalb eines Objektes; und die definierende Eigenschaft des Geistes – bloße Klarheit und Gewahrsein – ist nicht so etwas wie ein „Ding“, das sich in einem jeden Augenblick befindet und geistige Aktivität erschafft, indem es erklärt „ich bin bloße Klarheit und Gewahrsein.“ Das ist nicht da. Wir können die konventionelle Existenz des „Geistes“ nur in Bezug darauf begründen, worauf sich das Konzept und das Word „Geist“ bezieht und wir können die konventionelle Existenz der Leerheit nur hinsichtlich dessen begründen, worauf sich das Konzept und das Word „Leerheit“ beziehen. 

Die Aussage „Dinge haben keinen Wesenskern“ bedeutet, dass es im tiefen Inneren von Dingen oder auf Seiten irgendwelcher Objekte nichts gibt, was durch Analyse gefunden oder gestützt werden könnte. Etwas Auffindbares, was solch eine Macht hat, etwas einer Grundlage Zugeschriebenes zu stützen, wird als „selbst-begründende Natur“, rangzhin (rang-bzhin) im Tibetischen, oder zuweilen auch als „innewohnende Natur“ bezeichnet. Leerheit ist die Negierung, die völlige Abwesenheit einer selbst-begründenden Natur. Es gibt nichts, dessen Existenz durch eine selbst-begründende Natur festgelegt werden kann, weil es so etwas, wie eine selbst-begründende Natur, nicht gibt.

Sogar die essentielle Natur von Dingen – ngowo (ngo-bo) im Tibetischen – ihre konventionelle, definierende Eigenschaft begründet sie nicht als das, was sie konventionell aus eigener Kraft sind. Dieses Wort „begründen“ – drub (grub) im Tibetischen – ist mit dem Wort „bestätigen“ (tib. sgrub) verwandt, bei dem es darum geht, zu bestätigen, was etwas ist. 

Bei der Leerheit geht es nicht so sehr um das Widerlegen oder die Abwesenheit von unmöglichen Existenzweisen von Dingen, sondern um unmögliche Weisen des Begründens, dass etwas existiert. Wie begründen oder wie erkennen wir, dass etwas existiert? Zunächst würden wir erkennen, dass es etwas tut und funktioniert, und daher existiert. Zum Beispiel tut es weh und daher gibt es Schmerz; Schmerz existiert also. In gewissem Sinne ist das wahr, aber fälschlich scheint es so, als gäbe es da eine wahrhaft begründete Wunde, die wehtut. Unser Verständnis der Situation ist nicht so tief.

Was begründet also, dass etwas existiert? Ist es, dass wir es wahrnehmen? Nun, wir nehmen auch Unsinn wahr; das begründet oder beweist also nicht unbedingt, dass etwas existiert. Eine andere Variation dieses Wortes „begründen“ oder „bestätigen“ ist „zu beweisen“, dass es existiert. Wodurch wird bewiesen, dass etwas existiert? Was begründet, dass es existiert?

Die einzige Sache, die beweist oder begründet, dass etwas existiert, ist, dass wir ein Konzept und ein Wort dafür haben, auf das sich eine Gruppe von Menschen geeinigt haben – einschließlich der definierenden Eigenschaft oder Definition des Wortes – und das Konzept und Wort beziehen sich auf etwas, das wir gültig erfahren können und was nicht im Widerspruch zur gültigen Wahrnehmung dessen konventioneller oder tiefster Wahrheit steht. Aber es ist nicht so, dass es dort etwas Konkretes und Auffindbares gäbe, wie eine leere Leinwand, auf die wir unsere Konzepte und Worte projizieren. So ist das nicht.

All das erfordert ein hohes Maß an Überlegung und Verinnerlichung, und zwar nicht nur von einem theoretischen Standpunkt aus. Wir müssen versuchen zu erkennen, was es in unserem Leben bedeutet. Am Anfang sollten wir unsere Bemühungen auf das Verständnis der Leerheit von Personen, wie „ich“ und „du“ richten. Beispielsweise neigen wir dazu zu denken: „Du gehst mir wirklich auf die Nerven, weil du dieses oder jenes getan hast.“ Beginnen wir mit Leerheit zu arbeiten, analysieren und kontemplieren wir: „Wer ist es, der da wütend ist?“ „Auf wen bin ich wütend?“ und dann können wir analysieren: „Was ist es, auf das ich wütend bin?“

Was geschieht in diesem Moment, wenn die Wut auftritt? Wir analysieren es, indem wir an die fünf Aggregate denken. Da gibt es das Sehen bestimmter Handlungen, das Hören von Geräuschen und Wörtern, die körperliche Empfindung eines Stoßes, oder was immer es sein mag. Wir unterscheiden diese körperliche Empfindung von der Temperatur des Raumes. Da ist Aufmerksamkeit: Ich widme der Sache große Aufmerksamkeit. Da ist Konzentration: Ich bin vollkommen bewusst. Es gibt viele Teile und das „Ich“ als eine Person ist eine Zuschreibung all dessen. 

Aber wo ist dieses „Ich“? Es gibt kein „Ich“, das getrennt von all diesen Faktoren ist und das sie erfährt. Wäre das „Ich“ in Plastik eingehüllt und wären all diese Dinge, die hier stattfinden ebenfalls von Plastik umschlossen, wäre das eine klassische Dualität. Wie kann es irgendeine Verbindung zwischen ihnen geben? Gibt es da ein Kabel zwischen ihnen, durch das die Information weitergegeben wird? Das ist albern. Aber ich bin auch nicht identisch mit irgendeinem dieser Teile meiner Erfahrung, wo ist also das „Ich“? Wo ist die definierende Eigenschaft des „Ichs“ in alldem?

Und was „dich“ betrifft, die Person, auf die ich wütend bin, so hat jemand eine ganze Reihe von Worten gesagt und auf bestimmte Weise gehandelt. Die Handlung bestand aus einer Abfolge von Augenblicken, in denen die Hand der Person zuerst hier, dann dort und dann dort war. Die Person, „du“, und die Handlungen sind beides Zuschreibungen all dieser Augenblicke. Aber wie wir es in Bezug auf das „Ich“ analysiert haben, fragen wir uns, wo wir das Objekt unserer Wut – die Person, das „Du“ – und wo wir in all diesen Augenblicken die Handlung finden können. Was ist es, auf das wir wütend sind und wer ist es, auf den wir wütend sind? Es ist wichtig, nicht nur das Objekt unserer Wut zu dekonstruieren, sondern vor allem und in erster Linie das „Ich“, welches diese Wut empfindet. Dekonstruieren wir lediglich das Objekt unserer Wut und vernachlässigen das Dekonstruieren des „Ichs“, das wütend ist, werden wir ohne Zweifel später wieder auf eine andere Person oder wegen einer anderen Sache wütend werden. 

So beginnen wir, unsere Erfahrung zu analysieren. Nur wenn wir beginnen, mit dieser Art des Dekonstruierens zu arbeiten und eine Auswirkung dadurch zu erfahren, werden wir anfangen, echte Überzeugung zu entwickeln. Zunächst arbeiten wir mit Leerheit von einem Standpunkt der Logik und dann von einem der Erfahrung. Die Logik kommt zuerst, damit wir davon überzeugt sind, dass die Analyse sinnvoll und nicht verrückt ist. Wir wollen nicht etwas anwenden, das wir für verrückt halten. Daher beginnen wir mit der Logik und das braucht Zeit. Unsere negativen neuronalen Pfade sind ziemlich tief verankert, sogar wenn wir nur diese Leben betrachten. Unser Denken auf diesen Pfaden fand schon statt, als wir Säuglinge waren, ganz zu schweigen von früheren Leben. Die so genannten „befleckten Aggregate“ sind nahezu biologisch mit uns verbunden. Der Instinkt der Selbsterhaltung ist so stark; ständig ist es nur „ich, ich, ich!“

Man sagt immer, die einfachsten Momente des Erkennens des falschen „Ichs“ sind jene, in denen starke Emotionen herrschen. Das klassische Beispiel ist, wenn jemand uns etwas vorwirft, was wir nicht getan haben. „Du bist ein Dieb, du hast etwas gestohlen!“ und dann erwidern wir „Was? Ich? Ich habe das nicht getan!“ In diesem Augenblick ist das Gefühl eines „Ichs“, welches von allem anderen getrennt ist, äußerst stark, und wie erwidern: „Wie kannst du so etwas zu mir sagen!“ Auf einer wirklich fortgeschrittenen Ebene sollten wir in der Lage sein, Tonglen zu praktizieren, wenn andere in ähnlicher Weise und mit solchen Emotionen nur „ich, ich, ich“ denken.

Wie man wählt, wem man hilft

Kann ich Sie um Rat fragen, wie man anderen hilft? Es gibt Menschen, die einem sagen, man solle doch einfach verschwinden. Sie benötigen zwar Hilfe, aber wollen nicht reden. Sie sind einsam, wollen aber keinen Austausch, wie vielleicht viele Obdachlose, die auf der Straße leben. Wie können wir helfen und wem können wir helfen?

Ich kann den Ratschlag mit euch teilen, den ich von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama bekommen habe, als ich erwähnte, dass es so viele Bereiche gibt, in denen ich tätig sein könnte, um anderen zu helfen und ihn fragte, worauf ich mich fokussieren sollte. Er sagte: „Tu das, wofür du die größten Fähigkeiten besitzt und was nicht viele andere bereits tun; und achte darauf, dass andere empfänglich für deine Hilfe sind.“ Als ich später darüber mit Ringu Tulku sprach, fügte er hinzu: „Es ist auch gut, etwas zu tun, was du gern tust.“ Damit kann man es ergänzen.

Achte also darauf, wo du wirklich effektiv sein kannst und wo deine größten Fähigkeiten liegen, wenn du etwas geben willst. Ist man beispielsweise ein Arzt, kann man medizinische Hilfe anbieten, was viel effektiver ist, als jemanden dabei zu helfen, ein Zelt aufzustellen. Obwohl jemand vielleicht Hilfe beim Aufstellen eines Zeltes benötigt, sollte man ihm lieber medizinische Hilfe zukommen lassen, wenn es notwendig ist. Stehen bereits unzählige Ärzte zur Verfügung und ist sonst niemand da, der helfen könnte, das Zelt aufzustellen, ist das etwas anderes. Ihnen jedoch in irgendeiner Weise zu helfen, ist nur möglich, wenn sie empfänglich dafür sind. Sind sie es nicht, könnte nicht einmal Buddha ihnen weiterhelfen. Es gibt ein buddhistisches Sprichwort: „Die Sonne scheint gleichermaßen auf alle, aber um sich in der Sonne zu wärmen, muss man selbst hinaus in die Sonne kommen.“

Wie man bestmöglich helfen kann

Ich habe einige Zeit als Freiwilliger beim Roten Kreuz gearbeitet und Menschen geholfen, zu einem normalen Leben zurückzukehren, nachdem sie aus dem Gefängnis entlassen wurden. Diese Hilfe anzubieten war etwas frustrierend, wenn sie überhaupt etwas bewirkt hat. Ich bin ein Elektriker von Beruf und auch etwas müde davon, ständig Kabel zu reparieren. Es fühlt sich nicht wirklich so an, als wäre es für die meisten hilfreich, da sie eigentlich spirituelle Hilfe benötigen.

Werfen wir einen Blick auf die so genannten Lehren der „niederen Bereiche“ – die Zustände der schlimmeren Leidensbereiche – so geht es uns zunächst darum, sie von groben Leiden zu befreien. Wenn jemand hungert, bringen wir ihnen kein Gebet bei, sondern geben ihm Nahrung. Wenn die Elektrik in ihrem Haus nicht funktioniert und sie nicht kochen oder heizen können, reparieren wir die Kabel. Wir müssen auf einer materiellen Ebene beginnen. Sind physische Leiden zu groß, sind sie überhaupt nicht empfänglich für spirituelle Hilfe.

Ein großer Teil des Geschicks im Helfen anderer besteht darin, Informationen aufzunehmen. Versucht also, so viele Informationen wie möglich zu bekommen: was ihre Situation ist und was zur Verfügung steht. Sammelt alle Informationen und findet heraus, wo wirklich das Problem liegt.

Um dies zu tun, ist es notwendig, die fünf Arten des tiefen Gewahrseins anzuwenden: 

  • Mit spiegelgleichem tiefen Gewahrsein nehmen wir die Information über die Person auf. 
  • Mit gleichsetzendem tiefen Gewahrsein vergleichen wir diese Information mit Ähnlichem, um das Muster zu verstehen. 
  • Mit individualisierendem tiefen Gewahrsein betrachten wir die spezifische Person als ein Individuum und nicht nur als eine Einheitsgröße. 
  • Mit vollbringendem Gewahrsein sind wir bereit, tatsächlich etwas zu tun und zu erkennen, was man tun kann, um zu helfen. 
  • Mit dem tiefen Gewahrsein der Realitätssphäre, des Dharmadhatu, betrachten wir die Situation als das, was sie ist und geraten nicht aus der Fassung, weil das Problem so furchtbar ist. 

Diese Lehren über die fünf Arten der so genannten Buddha-Weisheit, die fünf Arten des tiefen Gewahrseins geben einen Hinweis auf den Geisteszustand und die Arten des Gewahrseins die wir benötigen, um anderen tatsächlich helfen zu können. Haben wir nicht alle Informationen zusammengetragen, verstehen wir nicht, was das Problem ist. Wir fragen, betrachten, erfassen und beobachten. Wir müssen eine Grundlage in unserer eigenen Erfahrung haben, damit wir das, was wir wahrnehmen, einem Muster zuordnen können, um eine Vorstellung davon zu haben, was zu tun ist. Aber es ist notwendig, das Muster und die Handlungsweise auf diese individuelle Person anzupassen. Wir entnehmen unsere Anweisungen nicht einfach einem Lehrbuch, in dem steht, wie es immer getan werden muss. Außerdem sollten wir bereit dazu sein, tatsächlich etwas zu unternehmen und nicht auszuflippen.

Wiedergeburt und die sechs Daseinsbereiche

Ich habe eine Frage dazu, wozu sich der Buddhismus im Vergleich zu unserer gegenwärtigen Philosophie bekennt, die recht materialistisch und reduktionistisch ist. Im Grunde wissen wir doch nur, dass es dieses Leben gibt, und was darüber hinaus geht, ist nur Spekulation und wird im Wesentlichen als Zeitverschwendung abgetan. Manchmal scheinen sich Buddhisten dieser Philosophie anzupassen, indem sie ziemlich unbestimmt in Bezug darauf sind, Standpunkte über andere Existenzweisen, frühere Leben, zukünftige Leben und auch über die transzendentale Ebene der Buddhaschaft zuvertreten. Zunächst kann man all diese Dinge als Glaubensfrage betrachten. Will man daran glauben, tut man es, und hat man keine Lust dazu, tut man es nicht. Man kann den Buddhismus sogar als etwas betrachten, mit dem man sich entspannen und ein guter Mensch sein kann. Oder man kann es auch wie die Gelehrten im alten Indien tun, die mit Hinweisen und Beweisen erklärten, dass es Dinge wie Wiedergeburt und Karma gibt. Solche Dinge scheinen dem buddhistischen Unternehmen einen Sinn zu verleihen. Vielleicht sollten wir uns nicht auf diesen Planeten und die Menschen hier in unserem eigenen Leben konzentrierten; es gibt so viel mehr als das. Das scheint ein recht herausforderndes Thema zu sein, denn wenn man den intellektuellen Teil des Buddhismus betont, könnte man den traditionellen Buddhismus als höchst dogmatisch oder etwas noch Schlimmeres betrachten. Was wären Ihre Kommentare dazu?

Seine Heiligkeit der Dalai Lama unterscheidet im Buddhismus drei Bereiche. Es gibt buddhistische Wissenschaft, buddhistische Philosophie und buddhistische Religion. Die buddhistische Wissenschaft befasst sich mit der Analyse des Geistes, den Emotionen, der Wahrnehmung, Logik und diesen Dingen. Die buddhistische Philosophie setzt sich mit der Sicht der Wirklichkeit auseinander, die jener der Quantenphysik recht ähnlich ist. In der buddhistischen Religion geht es um Karma, Wiedergeburt, die verschiedenen Ebenen und so weiter.

Laut ihm sind buddhistische Wissenschaft und buddhistische Philosophie etwas, aus dem jeder einen Nutzen ziehen kann. Es ist gar nicht notwendig, in die buddhistische Religion einzutauchen – das bleibt den Buddhisten vorbehalten. Aber die Lehren des Buddhismus in Bezug auf Wissenschaft und Philosophie sind Dinge, von denen alle profitieren können. Er hat ein Projekt gefördert, um Texte aus den buddhistischen Schriften und indischen Kommentaren zusammenzutragen, die sich mit Wissenschaft und Philosophie befassen, und hat sie in verschiedene Sprachen übersetzen lassen. Ich denke, das ist eine ausgesprochen passende und hilfreiche Weise, dieses Anliegen zu betrachten. 

Ich bin dazu übergegangen, „Dharma-light“ vom „echten Dharma“ zu unterscheiden. Dharma-light ist eine vereinfachte Version des Dharmas, ohne Wiedergeburt, ohne die höllischen Bereiche und all diese Dinge. Diese Version umfasst die allgemeinen Lehren der buddhistischen Analyse des Geistes, der Realität und so weiter. Dies ist völlig in Ordnung, solange wir die Dharma-light-Version nicht als echten Dharma bezeichnen und behaupten, im Buddhismus würde es keine anderen Lehren geben und leugnen, dass Buddha auch über Dinge, wie Wiedergeburt, die sechs Daseinsbereiche und ähnliches gesprochen hat. Diese Themen gibt es im Buddhismus und sie gehören zum echten Dharma.

Es gibt viele Gründe, warum es notwendig ist darauf hinzuweisen, dass Dharma-light nicht der echte Dharma ist, insbesondere wenn es darum geht, die buddhistische Darstellung verhaltensbedingter Ursache und Wirkung zu verstehen. Wenn der individuelle Geist nicht anfangslos ist, ergeben sich daraus viele unlogische Konsequenzen in Bezug darauf, wie Ursache und Wirkung funktionieren. Wie können Dinge beispielsweise in Erscheinung treten, aus dem Nichts heraus existieren und im Nichts enden? Wie kann ein Nichts zu einem Etwas werden? Das führt zu einer ganzen Reihe von Problemen. Ein Nichts kann nicht zu einem Etwas werden, noch kann ein Etwas zu einem Nichts werden. Dieser Punkt ist wirklich wichtig, wenn wir die Konsequenzen unseres Verhaltens hinsichtlich verhaltensbedingter Ursache und Wirkung in Betracht ziehen. Eine nihilistische Position, in der wir der Ansicht sind, unser Verhalten hätte keine Konsequenzen, wenn dessen Auswirkungen nicht in diesem Leben auftreten, ist einer der wichtigen Fehler, die daraus entstehen, dass ein anfangsloser Geist in der Dharma-light-Version des Buddhismus nicht miteinbezogen wird. Karma wird dann nicht viel Sinn ergeben. 

Was die Dharma-Lehren über andere Daseinsbereiche, das Spektrum von Glücklichsein und Unglücklichsein oder Genuss und Schmerz betrifft, wenn wir es auf einer sinnlichen Ebene betrachten, so sind sie nicht nicht nur darauf begrenzt, was die Hardware eines menschlichen Körpers erfahren kann, sondern gehen weit darüber hinaus. Der menschliche Körper wird bewusstlos, wenn der Schmerz oder das Leid zu groß ist. Aber wir könnten uns einen Körper vorstellen, der nicht abschaltet und auf der Skala furchtbarer Schmerzen und Leiden viel schlimmere Erfahrungen macht. Durch diese Art der Analyse öffnen wir uns nicht nur dafür, über die Begrenztheit der menschlichen Hardware nachzudenken, sondern auch mehr Mitgefühl für jene zu entwickeln, die leiden.

Wir sollten die Dinge jedoch nicht missverstehen und unfair gegenüber den buddhistischen Lehren sein, indem wir sagen, es ginge lediglich um Meditation und Achtsamkeit, sowie darum, ein guter Mensch zu sein. Es gibt gewisse grundlegende Faktoren, die etwas zu einer buddhistischen Lehre machen, und wir können sie nicht einfach ignorieren, wenn wir uns auf Dharma-light beziehen. Die vier Kennzeichen des Dharma: Leiden, Unbeständigkeit, Selbstlosigkeit, Nirvana ist Frieden; das sind die grundlegenden Dinge, die eine Lehre als buddhistisch kennzeichnen und da sein müssen.

[Siehe: Die vier Kennzeichen des Dharma]

Abschließender Ratschlag 

Ich denke, die Schlussfolgerung auf all diese Fragen ist, dass es ausgesprochen wichtig ist, über diese Punkte, die Dharmarakshita über Karma anführt, nachzudenken und sie zu analysieren. Seine Heiligkeit der Dalai Lama betont stets, dass Analyse und korrektes Verständnis die wichtigsten Faktoren sind, um den Dharma auf richtige Weise zu praktizieren. Seine größten Bemühungen bestehen in analytischer Meditation, um all die unterschiedlichen Lehren miteinander in Einklang zu bringen und zu verstehen, wie man sie anwendet. 

Wie Seine Heiligkeit sollten auch wir versuchen, einen Sinn in alledem zu finden, was in den Lehren vermittelt wird. Darüber hinaus ist es notwendig, sich durch wiederholte analytische Meditation völlig mit ihnen vertraut zu machen, damit wir sie automatisch in unserem täglichen Leben anwenden. Das ist überaus wichtig. Je mehr wir die Lehren studieren, desto mehr Teile des Dharma-Puzzles werden wir zusammenzufügen können. Das ist das ganze Abenteuer und die Freude des Dharma: hier und dort finden wir Teile des Puzzles und je mehr wir davon haben, desto mehr können wir zusammenfügen. Und sie passen auf unterschiedliche Art und Weise zusammen, nicht nur auf eine. Habt Spaß damit. Vielen Dank.

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