Realistisch sein im Hinblick auf den Buddhismus

Für Menschen des Westens, die sich zum ersten Mal mit buddhistischen Lehren befassen, erscheinen viele der Vorstellungen und Praktiken, auf die sie dabei stoßen, fremd oder sogar unsinnig. In diesem Artikel betrachten wir realistische Möglichkeiten, an den Buddhismus heranzugehen, und zwar indem man die kulturellen Hintergründe versteht, seine Methoden im Alltag anwendet und Kenntnis darüber erlangt, wie man Entmutigungen dabei vermeidet.

Die traditionelle tibetische Kultur verstehen

Um sich als Westler sinnvoll mit dem Buddhismus – insbesondere dem tibetischen Buddhismus – befassen zu können, ist es wichtig, ein gewisses Verständnis der traditionellen Kultur einzubeziehen, aus der er entstanden ist. Ohne den Kontext zu verstehen, aus dem der Buddhismus hervorgegangen ist, bevor er zu uns gelangte, laufen wir Gefahr, uns einer großen Anzahl potenzieller Missverständnisse auszusetzen.

Es ist nicht nötig, die tibetische Kultur oder überhaupt irgendeine traditionelle asiatische Kultur zu übernehmen – wir brauchen keine andere Kultur nachzuäffen. Wir brauchen weder unsere Ernährung noch unsere Kleidung zu ändern oder so etwas. Ein wenig Verständnis des Hintergrundes wird unsere Verwirrung angesichts der fremden Bräuche verringern und dazu führen, dass wir weniger eigene Vorstellungen darauf projizieren.

In fast jeder Kultur werden die Menschen in ein bestimmtes Glaubenssystem hineingeboren. In der traditionellen tibetischen Kultur betrachten die Menschen es als völlig selbstverständlich, dass es Karma, Wiedergeburt und erleuchtete Wesen gibt. Es besteht eine große Wertschätzung für Mönche und Nonnen, die ihr gesamtes Leben dem Studium und der Praxis der buddhistischen Lehren widmen.

Für Laien gab es wenig Möglichkeiten, Buddhismus zu studieren, doch sie rezitierten Mantren und umschreiten heilige Gegenstände im Kreis. Sie unterstützten die Klöster mit materiellen Gaben, empfingen dort Initiationen, die als förderlich für ein langes Leben galten, und baten die Mönche, in ihr Haus zu kommen, um bestimmte Rituale auszuführen. Jeder akzeptierte die Tatsache, dass man, wenn man wirklich studieren wollte, seine ganze Zeit darauf verwenden und Mönch oder Nonne werden musste.

Hier im Westen haben wir all diese Gepflogenheiten nicht. Die meisten von uns glauben nicht an Wiedergeburt oder Karma, und selbst wenn wir sagen, wir würden an Karma glauben, verwechseln wir das oft mit Schicksal, was jedoch keineswegs dem korrekten Verständnis von Karma entspricht. Wenn wir an einen Buddha denken, neigen wir dazu, ihn mit einer Art Gott gleichzusetzen, und andere Buddha-Gestalten sind für uns so etwas Ähnliches wie Heilige, denen man Gebete und Kerzen darbringt wie zum Beispiel vor den Ikonen in einer Kirche.

Die kulturelle Perspektive im Westen

Die meisten von uns wollen sicherlich nicht Mönch bzw. Nonne werden. In den westlichen Ländern bringt man im Allgemeinen Landsleuten, die Mönch oder Nonne sind, keinen besonders großen Respekt entgegen, was eigentlich bedauerlich ist. Wir erwarten, dass wir als Laien das Hauptgewicht auf Studium, praktische Anwendung und Unterweisungen legen können, obwohl die Wirklichkeit so aussieht, dass wir keine Zeit haben. Wir haben unsere Arbeit oder Ausbildung, unsere Familie und unsere sozialen Aktivitäten. Wir kommen nach der Arbeit nach Hause, oft erst nach dem Stau im Berufsverkehr, und sind erschöpft. Selbst wenn wir willens sind, noch etwas zu lernen und vielleicht abends einen Vortrag mit Unterweisungen besuchen, sind wir dann schon so müde, dass wir dabei fast einschlafen. Und wir können höchstens ein oder zwei Abende in der Woche dafür erübrigen. Das stellt also tatsächlich ein Problem dar, wenn man intensiv studieren oder praktizieren will.

Video: Der 41. Sakya Trizin — „Buddhismus und die heutige Welt“ 
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Mit realistischen Erwartungen an die Praxis des Dharma herangehen

Es hängt viel davon ab, wie realistisch wir in unseren Erwartungen sind. Das ist eine etwas bittere Pille, aber Buddhismus zu praktizieren ist nicht einfach. Es beinhaltet, dass man an sich arbeitet und versucht, missliche Gewohnheiten wie Selbstsucht, Ärger, Gier usw. abzulegen – all diese unliebsamen Begleiter, die Seine Heiligkeit der Dalai Lama „Unruhestifter“ nennt. Das sind die Geisteszustände, die uns und anderen die meisten Probleme bereiten. Buddhismus zu praktizieren bedeutet auch, sich darin zu üben, bessere, konstruktivere und förderlichere Gewohnheiten zu entwickeln, und das ist wirklich schwierig. Selbstsucht und Ärger lösen sich nicht einfach dadurch auf, dass wir einmal in der Woche einen Vortrag besuchen oder uns eine halbe Stunde am Tag zum Meditieren hinsetzen – und für die meisten von uns fühlt sich schon diese halbe Stunde wie eine lange Zeit an und der Zeitaufwand scheint uns fast zu hoch. Da nun der Buddhismus hier in den Westen gelangt ist, müssen wir hinsichtlich der zeitlichen Gegebenheiten eine realistische Einstellung entwickeln.

Viele Menschen fühlen sich anfangs aus Gründen zum Buddhismus hingezogen, die für einen Fortschritt nicht sehr förderlich sind. Einige finden ihn interessant, weil er gerade in Mode ist, und halten ihn für den neuesten Trend. Die Mode wechselt natürlich ständig, und folglich ist das kein dauerhafter Grund, sich mit Buddhismus zu befassen. Andere sind fasziniert davon, weil sie sich von exotischen Dingen angezogen fühlen - vielleicht haben sie gelesen, dass die Tibeter den Leuten Löcher in die Stirn bohren, um das dritte Auge zu öffnen [wie es in einem erfundenen Roman beschrieben wird] oder so etwas in der Art.

Einmal übersetzte ich in New York für Nechung Rinpoche, und unter den Zuhörern befand sich jemand, der aussah, als würde er unter Drogen stehen; er stand auf und sagte: „Ich habe gehört, dass sich Atlantis unter der Erdoberfläche befindet und es dort fliegende Untertassen gibt, die durch Vulkane aus dem Erdzentrum hervorschießen; und meine Frage ist: ‚Ist denn die Erde hohl?‘“ Der Lama sah ihn mit ernstem Blick an und sagte: „Nein, tatsächlich ist die Erde flach und quadratisch. Nächste Frage bitte.” Meiner Meinung nach war das eine geschickte Antwort, denn sie war noch bizarrer als die Frage. Wenn wir im Buddhismus nach Exotika suchen, werden wir nach einer Weile enttäuscht sein. Die tibetische Kultur ist zwar sehr verschieden von der unseren hier in Europa, aber es ist eigentlich nichts Unerklärliches daran.

Manche Menschen wenden sich dem Buddhismus zu, weil sie verzweifelt sind und ein Wundermittel für ein körperliches oder emotionales Problem suchen. Darin liegt eine große Gefahr, denn mit solchen Erwartungen und Hoffnungen an etwas heranzugehen öffnet Missbrauch Tür und Tor. Es gibt Menschen, die flehen: „Oh Meister, Meister, nenn mir die magischen Worte, ich werde alles befolgen!“ Das kann zu recht misslichen Folgen führen.

Doch selbst wenn wir anfangs aus derartigen Beweggründen zum Buddhismus kommen, kann sich das ändern. Viele von uns kommen zunächst einmal einfach aus Neugier, oder vielleicht auch aufgrund einer karmischen Verbindung, die einen quasi unbewusst antreibt.

Eine angemessene Einstellung und Herangehensweise dem Dharma gegenüber

Wenn wir uns die traditionellen Texte ansehen, finden wir zahlreiche Hinweise darauf, welches die richtige Einstellung für jemanden ist, der sich dem Buddhismus nähert und ihn studieren möchte.

Aryadeva, ein klassischer indischer Meister, sagte, dass ein potentieller Schüler zuerst einmal unvoreingenommen sein sollte. Das bedeutet, ohne vorgefasste Meinungen mit offenem Geist an die Inhalte heranzugehen. Zu denken: „Ich habe ein paar Bücher gelesen und kenne das alles schon; ich brauche nur noch etwas Zuckerguss für den Kuchen zur Vervollständigung“ ist nicht hilfreich. Es ist nicht förderlich, seltsame Vorstellungen vom Buddhismus zu hegen und zu meinen, das wäre schon alles, oder parteiisch zu sein und zu denken: „Das ist meine Religion, meine Tradition, meine Religionsgemeinschaft, und alles andere ist falsch.“ Wir brauchen einen aufgeschlossenen Geist mit der Einstellung: „Ich möchte etwas lernen.“

Des Weiteren sagte Aryadeva: Wir brauchen einen gesunden Menschenverstand. Wir müssen erkennen können, was an den Lehren vernünftig ist und was nicht. Das traditionelle Beispiel dafür lautet: Wenn es in einem Text heißt, man müsse warme Kleidung tragen, und in einem anderen, dass leichte Kleidung angemessen sei, dann gilt es, den gesunden Menschenverstand zu gebrauchen. Man weiß, dass man im Winter warme Kleidung trägt und im Sommer leichtere Stoffe.

Die Absicht im Buddhismus besteht darin, uns dazu zu verhelfen, dass wir selbst nachdenken. Die Einstellung ist nicht wie beim Militär, wo einem der Vorgesetzte sagt, was man zu tun hat, und man mit „Jawohl“ antwortet, ohne etwas zu hinterfragen. Das ist nicht die buddhistische Vorgehensweise. Wir können nachlesen, welche Qualifikationen ein spirituelle Lehrer haben muss und wie er lehren und handeln sollte, und wenn wir sehen, dass er damit nicht im Einklang steht, benutzen wir unseren gesunden Menschenverstand und stellen fest, dass da etwas nicht in Ordnung ist. Wir stellen Fragen und untersuchen, was vor sich geht.

Das dritte Kennzeichen eines potentiellen Schülers ist, dass er sich ernsthaft für die Lehre Buddhas interessiert. Ein großer Meister der Sakya-Tradition namens Sönam-Tsemo schrieb einen Text mit dem Titel „Das Eingangstor zum Dharma“, in dem drei Voraussetzungen genannt werden, die erforderlich sind, um in die buddhistischen Lehren einzutreten. Im Grunde wird damit Aryadevas Aussage erläutert. Einer der wesentlichen Ausgangspunkte ist, dass wir das Leiden in unserem Leben erkennen. Mit anderen Worten: Warum sind wir am Buddhismus interessiert? Ist es nur aus Neugier, damit wir mit unseren Freunden beim Kaffee über etwas Interessantes plaudern können? Oder ist es, weil wir über unser Leben nachgedacht und gemerkt haben, dass es Probleme und Schwierigkeiten gibt, dass wir manchmal schädliche Emotionen haben und uns nicht einfach damit zufriedengeben wollen, sondern den aufrichtigen Wunsch haben, das zu ändern? Es gibt viele psychologische Ansätze, die besagen: „Das Leben ist hart und Ihre Situation ist schwierig, aber Sie müssen lernen, damit zu leben, ohne sich allzu sehr zu beklagen.“ Aber das ist nicht das, was im Buddhismus angestrebt wird. Wir wollen aus dieser Situation heraus, und zwar ein für alle Mal.

Wir erkennen also das Leiden in unserem Leben, haben den aufrichtigen Wunsch, es zu überwinden, und dann benötigen wir noch Kenntnis der Lehren Buddhas und eine gewisse Überzeugung davon, dass sie tatsächlich einen Ausweg zeigen. Genau darum geht es bei Entsagung. Im Grunde entsagen wir unserem Leiden und dessen Ursachen - das ist es, was wir loswerden wollen. Wir sind völlig bereit, dies aufzugeben, und wir wenden uns dem Buddhismus als einer Möglichkeit zu, die uns dabei helfen kann. Das ist es im Grunde, was Zuflucht ausmacht - das Einschlagen dieser Richtung in unserem Leben.

Auch wenn wir Westler nicht all unsere Zeit der buddhistischen Praxis widmen können, indem wir Mönche oder Nonnen werden, sondern mit den Realitäten von Arbeit, Schule Familie, Verkehr usw. zurechtkommen müssen, können wir dennoch großen Nutzen aus den Lehren Buddhas ziehen, wenn wir diese drei Punkte berücksichtigen, die die großen indischen und tibetischen Meister genannt haben.

Wieviel Zeit wir der buddhistischen Praxis widmen können, hängt im Grunde auch davon ab, wieviel wir davon verstehen. Buddhismus zu praktizieren bedeutet nicht, sich eine Auszeit von einer halben Stunde zu nehmen, um still dazusitzen oder etwas zu rezitieren und sich in eine Art Traumwelt zu versetzen. Viele Menschen tun das, aber eigentlich ist es nur eine Flucht. Und obwohl so etwas einem helfen kann, sich zu entspannen, wissen diese Menschen in Wirklichkeit nicht, wie man die buddhistischen Lehren im Alltag anwendet. Das Ganze wird gespalten - ihre Praxis ist eine Sache und das „wirkliche“ Leben eine andere. Das klassische Beispiel dafür ist folgendes: Jemand meditiert und ein anderer kommt vorbei, fragt ihn etwas, woraufhin der Meditierende wütend wird und sagt. „Geh weg und stör mich nicht! Ich meditieren gerade über Liebe!“

Die buddhistischen Lehren im Alltag anwenden

Je mehr wir die buddhistischen Lehren studieren und verstehen, umso mehr verstehen wir, wie sie tatsächlich auf unser tägliches Leben anzuwenden sind. Dafür ist es natürlich zunächst einmal erforderlich, die Lehren zu hören, und der Prozess verläuft in etwa so, als würde man ein Puzzle zusammensetzen – wir finden hier und dort ein Stück, und es ist an uns, zu erkennen, wie sie zusammenpassen. Die Stücke passen nämlich auf vielerlei Weise zusammen, nicht nur auf eine. Weil das Leben kompliziert und vielfältig ist, sind auch die buddhistischen Lehren und Praktiken sehr tiefgründig, umfangreich und komplex. Deshalb muss man eine Menge lesen und seinen Verstand benutzen, um die Inhalte zusammenzufügen. Und wenn wir etwas nicht verstehen, ist es von Vorteil, es nicht gleich zurückzuweisen, sondern weiter darüber nachzudenken und einen offenen Geist zu bewahren. Einer dieser Inhalte ist Karma. Statt es gänzlich abzulehnen, können wir zum Beispiel denken: „Gut, ich verstehe das jetzt nicht. Ich lasse es für eine Weile auf sich beruhen; später werde ich darauf zurückkommen und sehen, wie ich es dann verstehe.“

Wenn wir einige Teile des Puzzles zusammengesetzt haben, ist es wichtig, über all das nachzudenken, wobei alles darauf ausgerichtet ist, ein umfassenderes Verständnis zu gewinnen. Dafür benutzen wir wieder unseren gesunden Menschenverstand. Wenn etwas wirklich sonderbar und verrückt zu sein scheint, ist es gut, Fragen zu stellen. Wenn kein Lehrer da ist, den wir fragen können, gibt es doch immerhin eine Menge Bücher und auch Informationen im Internet. Natürlich findet man darunter auch allerhand Unsinn; wir müssen also in Bezug darauf Vorsicht walten lassen. Wenn etwas die Inhalte zu einer mystischen und okkulten Sache hochstilisiert - vergessen Sie es. Einige der großen Meister mögen sehr weit fortgeschritten sein, aber sie können gewiss nicht in der Luft schweben oder Wunder vollbringen.


Video: Tsenshap Serkong Rinpoche II — „Buddhismus für vielbeschäftige Menschen“ 
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Fragen stellen

Wenn wir einen buddhistischen Lehrer aufsuchen können, ist es sehr lohnend, Fragen zu stellen, aber nur, wenn der Zeitpunkt angemessen ist. Es ist angebracht, zunächst die gesamte Information anzuhören - wie bei einem Vortrag warten wir bis zum Ende, bevor wir Fragen stellen. Es ist nicht zweckdienlich, sofort aufzuspringen und eine Frage zu stellen, sobald man einen Satz hört, ohne zu wissen, wie die Darstellung weitergeht.

Im tibetischen Buddhismus ist es üblich, dass Mönche nicht so viele Fragen direkt an den Lehrer richten. Vielmehr debattieren sie miteinander und manchmal auch mit dem Lehrer. Der Lernprozess ist also sehr aktiv: Jeder muss debattieren. Man kann nicht einfach nur da sitzen und passiv zuhören.

Die Debatten sind voller herausfordernder Fragen, die einen veranlassen, über das eigene Verständnis nachzudenken. Sie zwingen einen dazu, genau darauf zu achten, welche Implikationen darin enthalten sind, und etwaige Widersprüche aufzudecken. Das ist wirklich sehr von Nutzen, denn wir würden unser eigenes, möglicherweise falsches Verständnis nie so hinterfragen wie es jemand anderes tut – sonst würden wir es sehr schnell revidieren. Am Ende der Debatte haben wir ein gründliches Verständnis des jeweiligen Themas erlangt und keine Fragen oder Zweifel mehr. Erst dann können wir das Thema wirklich integrieren und darüber meditieren.

In gewisser Weise ist die Art, wie wir hier im Westen Fragen stellen, nicht sonderlich hilfreich für die persönliche Entwicklung. Wir erwarten, dass man eine Frage stellt und dann einfach die Antwort darauf erhält und fertig. Das entspricht nicht der buddhistischen Methode. Diese besteht darin, es den Studenten zu überlassen, etwas selbst herauszufinden, sodass sie ihren eigenen Erkenntnisprozess durchlaufen und ihren Geist weiterentwickeln. Das ist natürlich schwierig in einer Welt, in der wir eine sofortige Antwort erwarten, sobald wir eine Frage in eine Suchmaschine eingegeben haben. Der traditionelle Stil im tibetischen Buddhismus ist davon sehr verschieden.

Ganz gleich, ob wir nun formale Debatten führen oder nicht - wir können auf jeden Fall miteinander über die buddhistischen Lehren diskutieren. Am Ende eines Vortrags können sich zum Beispiel die Studierenden jeweils zu zweit zusammensetzen und miteinander diskutieren, was sie von dem Inhalt verstanden haben. Wenn es etwas gibt, was wir wirklich nicht verstehen und selbst herausfinden können, dann können wir einen Lehrer fragen. Gleichzeitig müssen wir jedoch damit rechnen, dass der Lehrer uns fragt und unser Verständnis überprüft - was viele Menschen im Westen gar nicht mögen, weil es sie an Prüfungssituationen in der Schule erinnert.

Doch die Debatten sind sehr energiegeladen und vergnüglich. Und wenn jemand etwas Falsches sagt, lachen alle darüber - das ist eine gute Übung, ein allzu großes Ego in den Griff zu bekommen. Es werden so viele Debatten geführt, dass jeder mal etwas Dummes sagt und ausgelacht wird, und niemand stört sich daran. Wenn hier im Westen jemand in der Klasse anfängt zu lachen, weil wir etwas Falsches oder Dummes gesagt haben, würde das höchstwahrscheinlich ein niedriges Selbstwertgefühl intensivieren. Es scheint, dass viele westliche Menschen an geringem Selbstwertgefühl leiden, wohingegen das bei Tibetern sehr selten der Fall ist. Manchmal scheint es eher, als würden sie etwas zu viel von sich halten! Tibeter sind stolze Bergvölker, die immer meinen, sie seien im Recht, und Debatten, in denen alle lachen, tragen wirklich dazu bei, sie etwas zu mäßigen.

Unser kulturelles Gepäck zurücklassen

Um sich dem Buddhismus zu nähern, ist es also wichtig, auf das kulturelle Gepäck zu achten, das wir mit uns herumtragen und das in unserer Praxis für Verwirrung sorgen kann. Erinnern Sie sich an die Aussage Aryadevas, dass die erste Anforderung an einen geeigneten Schüler ist, unvoreingenommen zu sein - d.h. für uns: dem Buddhismus ohne vorgefasste Meinungen gegenüberzutreten. Oft haben wir unangemessene Einstellungen gegenüber dem Buddhismus, die durch unseren kulturellen Hintergrund bedingt sind, sei er religiös oder nicht. Das spiegelt sich schon in den Übersetzungsbegriffen, mittels derer wir die buddhistischen Auffassungen lernen. Tugend und Untugend, Verdienst und Sünde, gut und böse - solche Begriffe bringen oft all die Schuldgefühle mit ein, die in vielen abendländischen Religionen eine vorherrschende Rolle spielen und uns das Gefühl geben, wir wären schlechte Menschen, wenn wir nicht genug praktizieren. Allein das bewirkt schon riesige Probleme in unserer Praxis buddhistischer Methoden. Solche Vorstellungen stammen aus Religionen, die auf Gesetzen beruhen, welche von einer höheren Autorität erlassen wurden, und deren Ethik auf Gehorsam basiert. Wenn man gehorsam ist, wird man belohnt, und wenn nicht, wird man bestraft. Das gilt auch für Atheisten – zur Zeit der Sowjetunion war man entweder Mitglied der kommunistischen Partei oder ein schlechter Mensch. Das ist die gleiche Mentalität.

Im Buddhismus hingegen ist die Grundannahme, dass wir, wenn wir destruktiv handeln, dies nicht deshalb tun, weil wir schlechte Menschen sind und uns deshalb schuldig fühlen müssten, sondern weil wir eine grundlegende Verwirrung in uns haben. Wir erkennen nicht, dass es zu unsäglichen Problemen führt, wenn wir auf bestimmte Arten handeln. Die Reaktion auf jemanden, der etwas Schreckliches tut, ist also nicht das Urteil: „Du bist schuldig und wirst zur Hölle fahren“, sondern Mitgefühl. In manchen Religionen herrscht die Vorstellung von der Einen Wahrheit - was beinhaltet, dass es nur einen richtigen Weg gibt und alles andere falsch ist. Auch das wird zu Problemen in der buddhistischen Praxis führen, denn Buddha lehrte eine große Vielzahl verschiedener Wege, um unterschiedlichen Menschen zu helfen, und das war nützlich und absolut notwendig.

Es ist nicht hilfreich zu denken, es sei überaus problematisch, aus diesem oder jenem kulturellen Umfeld oder einer bestimmten Religion zu stammen. Worauf es ankommt, ist, sich bestimmter Denkweisen bewusst zu sein, die kulturell bedingt sind und lediglich aus einer bestimmten Kultur oder Religion stammen – und diese nicht auf den Buddhismus zu projizieren.

Eine aufgeschlossene Herangehensweise

Es ist immer klug, mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben, wenn man sich den Buddhismus nähert. Auch wenn einiges, worauf wir beim Studium des tibetischen Buddhismus stoßen werden, uns sehr fremdartig erscheinen mag, heißt das nicht, dass es magisch oder absonderlich wäre; es ist eben einfach anders. Als ich für Serkong Rinpoche übersetzte, erklärte dieser einmal, auf welche Weise Tibeter rechnen – sie addieren und subtrahieren, aber anders, als wir es im Westen machen –, und mein Kommentar war: „Oh, das ist wirklich skurril“, woraufhin er mit mir schimpfte und sagte: „Sei nicht so arrogant. Das ist nicht befremdlich, es ist anders. Das skurril zu nennen ist einfach ein Zeichen von Arroganz.“

Wenn wir dann etwas von den Lehren verstanden haben, entwickeln wir es durch Meditation zu einer förderlichen Gewohnheit. Meditation besteht nicht bloß darin, auf einem Kissen in unserem Zimmer zu sitzen, sondern wir können sie überall üben, den ganzen Tag über. Wir können den ganzen Tag lang an buddhistische Lehren denken. Wenn wir allerdings nicht viele Unterweisungen hören oder viel Zeit damit verbringen, darüber nachzudenken und sie zu verstehen, werden wir voller Zweifel sein und unentschlossen schwanken. Wie können wir Fortschritte machen?

Entmutigung überwinden

Bei der buddhistischen Praxis ist es ganz wichtig, im Sinn zu behalten, dass es zur Natur unseres Lebens gehört, dass es immer auf und ab geht. Das gilt insbesondere im Hinblick auf unseren Alltag und die tägliche buddhistische Praxis. An manchen Tagen wird unsere Praxis richtig gut verlaufen und an anderen Tagen nicht. An manchen Tagen werden wir überhaupt keine Lust haben zu üben, an anderen sind wir voller Begeisterung. Das ist vollkommen normal.

Wenn etwas nicht gut läuft - nun, was erwarten wir denn? Es wird nie das Paradies sein. Es wird auf keinen Fall so sein, dass unsere buddhistische Praxis geradlinig verläuft und einfach nur stetig besser und besser wird bis zum seligen Ende, wie im Märchen. Selbst nach vielen, vielen Jahren werden wir uns noch über so manches aufregen. Worauf es hier ankommt, ist, sich nicht entmutigen zu lassen.

Ganz gleich, ob man Laie oder Mönche oder Nonne ist - fest steht, dass wir keine augenblicklichen Ergebnisse erwarten können, nicht einmal, wenn wir 24 Stunden am Tag üben würden. Unsere Selbstbezogenheit und andere ungünstige Gewohnheiten sind ausgesprochen stark, aber dennoch können wir Stück für Stück daran arbeiten – wie der berühmte indische Meister Shantideva sagte: „Die Zeit, in der meine störenden Emotionen mich bezwingen konnten, ist vorbei. Nun werde ich mich von ihnen befreien, und ich werde nicht aufgeben.“

Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt: Versuchen Sie nicht anhand von kurzzeitigem Üben zu beurteilen, ob Sie irgendeinen Fortschritt gemacht haben. Betrachten Sie die letzten fünf Jahre, wenn Sie schon so lange praktiziert haben, um festzustellen: Ja, es ging von Tag zu Tag auf und ab, aber hat es in der gesamten Zeit einen Fortschritt gegeben hinsichtlich der Art, wie wir mit unseren Problemen, mit Trauer, Ärger usw. umgehen? Wenn Sie mit den Schwierigkeiten des Lebens etwas ruhiger umgehen können, dann haben Sie einen gewissen Fortschritt gemacht.

Doch mit diesem bisschen Fortschritt sollten wir uns nicht zufriedengeben. Wenn wir an die weit ausgedehnte Natur des Geistes denken, gewinnen wir die Zuversicht, dass es möglich ist, all den Unsinn loszuwerden, der unsere sämtlichen Probleme verursacht. Es gibt lebendige Beispiele dafür wie etwa Seine Heiligkeit den Dalai Lama, und auch viele andere können uns durch ihr Beispiel inspirieren und zeigen, was man erreichen kann. Ob sie nun erleuchtet sind oder nicht – wer kann das schon beurteilen? –, auf jeden Fall können wir sehen, wie sie mit den Schwierigkeiten des Lebens umgehen. Stellen Sie sich den Dalai Lama vor: Millionen von Menschen in China halten ihn für den schlimmsten Übeltäter der Welt, aber das stört ihn überhaupt nicht. Und wir regen uns schon auf und halten es kaum aus, wenn eine einzige Person schlecht von uns denkt.

Auch wenn wir den Dalai Lama niemals getroffen oder persönlich gesehen haben, können wir doch über ihn lesen oder Videos über ihn anschauen. Das ist sehr inspirierend, und solche Inspiration gibt uns Antriebskraft, weiterzumachen, auch wenn es schwierig wird und wir die Tiefpunkte des Auf und Ab im Leben erfahren.

Innere Transformation ohne Kostümierung

Ein weiterer wichtiger Punkt bei der Praxis des Buddhismus im Westen oder auch überhaupt ist ein Ratschlag, den wir im „Lojong“, den Lehren des Geistestrainings, finden. Darin wird empfohlen, sich innerlich zu verändern, aber äußerlich vollkommen normal zu verhalten. Das heißt, dass wir hauptsächlich an unserem Bewusstseinszustand, an unserer Geisteshaltung und Persönlichkeit arbeiten. Es ist nicht notwendig, mit zwanzig roten Bändern um den Hals herumzulaufen und Gebetsketten, merkwürdige Kleidung und dergleichen zu tragen. Wenn andere uns damit sehen, halten sie uns bloß für sonderbar und meinen, dass irgendetwas mit uns nicht stimmt. Wenn man rote Bänder und Gebetsketten hilfreich findet, ist das in Ordnung, aber man kann sie auch in der Tasche oder in der Brieftasche aufbewahren; man muss sie nicht aller Welt zeigen. In den Tantra-Lehren wird sehr viel Gewicht darauf gelegt, solche Dinge für sich zu behalten, denn wenn man sie äußerlich zur Schau stellt, kann es gut sein, dass man ausgelacht wird und die Leute sich über einen lustig machen. Und wenn man sich dafür rechtfertigen muss, ist das dem Gefühl abträglich, dass es sich um etwas Heiliges oder Erhabenes handelt. Wenn wir es als etwas sehr Persönliches betrachten, ist es für uns etwas ganz Besonderes, und das reicht völlig aus. Wenn wir äußerlich ganz normale Menschen sind, wird den meisten Leuten der Umgang mit uns leichtfallen und darauf kommt es an.

Bescheiden bleiben

Wenn wir die Kultur verstehen, aus der der Buddhismus stammt, stellen wir weder unangemessene Anforderungen und Erwartungen an uns selbst noch an die Lehrer. Es bewirkt, dass wir bescheidener sind, weil wir wissen, dass wir nicht die Voraussetzung haben, quasi automatisch an Karma zu glauben usw., sondern uns das entsprechende Verständnis erst erarbeiten müssen. Zugleich erkennen wir, dass wir eine westliche Ausbildung genossen haben, die uns befähigt, ziemlich klar über diese Inhalte nachzudenken. Und wir erkennen die Tatsache an, dass wir zwar nicht in der Lage sind, unsere gesamte Zeit dem Studium zu widmen, weil wir ein relativ geschäftiges Leben führen, aber trotzdem gewisse Fortschritte erzielen können. Schließlich überfordern wir uns nicht, und anstelle des Verlangens nach einer magische Pille, die dafür sorgt, dass wir alles sofort verstehen, tritt die realistische Einstellung: „Ich habe ein bestimmtes Ausmaß an Zeit zur Verfügung, und damit werde ich tun, was ich kann.“

Es gibt einen schmalen Grat zwischen Arroganz auf der einen Seite und völliger Entmutigung auf der anderen. Man kann sehr leicht in die Vorstellung verfallen, dass man keine Zeit hat oder unfähig ist, und dann gibt man auf. Es ist wichtig, beide Extreme zu vermeiden und einfach sein Bestes zu tun.

Zusammenfassung

Wenn wir uns dem Buddhismus ohne das Verständnis der traditionellen Kultur zuwenden, aus der er stammt, kann das zu Verwirrung in Bezug darauf führen, worauf es dabei eigentlich ankommt. Es ist nicht nötig, andere Kleidung oder das Haar anders zu tragen oder anderen Schmuck anzulegen; tatsächlich ist es so, dass wir äußerlich überhaupt nichts zu ändern brauchen. Das wichtigste ist, dass wir mit einer aufgeschlossenen Einstellung und der Entschlossenheit, die Lehren zu verstehen, eine innere Transformation im eigenen Geist herbeiführen.

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