Mit Worten fassbare und nicht fassbare letztendliche Phänomene

Letztendliche Phänomene

Im Kontext des Madhyamaka-Systems im Allgemeinen bezieht sich der Begriff „letztendliche Phänomene“ (don-dam-pa) auf Leerheiten. Davon gibt es zwei Arten:

  • mit Worten fassbare letztendliche Phänomene (rnam-grangs-pa’i don-dam),

  • mit Worten nicht fassbare letztendliche Phänomene (rnam-grangs ma-yin-pa’i don-dam).

Mit Worten fassbare letztendliche Phänomene sind Leerheiten, die begrifflich gültig wahrgenommen werden. Sie sind „fassbar“ in dem Sinne, dass sie zu dem gezählt werden können, was einem Geist erscheint, der Phänomene gültig erkennt, indem er sie mittels Worten und Konzepten geistig bezeichnet.

Mit Worten nicht fassbare letztendliche Phänomene sind Leerheiten, die unbegrifflich gültig wahrgenommen werden. Sie sind „nicht fassbar“ in dem Sinne, dass sie nicht zu dem gezählt werden können, was einem Geist erscheint, der Phänomene gültig erkennt, indem er sie mittels Worten und Konzepten geistig bezeichnet.

Behauptung des Svatantrika gemäß Gelug-Erklärung

Gemäß der Erklärung der Gelug-Tradition hinsichtlich der Behauptungen der Svatantrika-Untergruppe des Madhyamaka bezieht sich die oberflächliche Wahrheit (kun-rdzob bden-pa, relative Wahrheit, konventionelle Wahrheit) über etwas auf dessen Erscheinung – die Erscheinung davon, was es ist. Die tiefste Wahrheit (don-dam bden-pa, letztendliche Wahrheit) über etwas bezieht sich auf dessen Leerheit von wahrhaft erwiesener Existenz (bden-par grub-pa, wahre Existenz) – oder anders gesagt: darauf, wie es existiert. Diese Leerheit – ganz gleich ob sie begrifflich oder unbegrifflich wahrgenommen wird – ist die nicht-implizierende Negierung wahrhaft erwiesener Existenz: es ist die Art von Negierung, die bloß negiert, dass es so etwas gibt.

Vom Gesichtspunkt der oberflächlichen Wahrheit haben Phänomene eine Existenz, die durch ihre Eigennatur erwiesen (rang-bzhin-gyis grub-pa) ist. Das bedeutet: wenn eine gültige Wahrnehmung die oberflächliche Wahrheit von etwas genauer untersucht, so findet sie auf Seiten der genauer untersuchten Phänomene das Ding, worauf sich der Name oder die Bezeichnung des Phänomens bezieht (btags-don) und das diesem Namen oder der Bezeichnung entspricht. Diese Aussage ist gleichbedeutend damit, dass die Existenz der Phänomene durch individuelle definierende charakteristische Merkmale (rang-mtshan-gyis grub-pa) erwiesen wird, die auf Seiten der Phänomene auffindbar sind. Allein fehlt jedoch diesen individuellen definierenden charakteristischen Merkmalen die Kraft, um die Existenz der Phänomene zu erweisen. Sie können dies nur in Verbindung mit geistiger Bezeichnung erreichen. Daher existiert vom Gesichtspunkt der tiefsten Wahrheit kein Phänomen unabhängig davon, das zu sein, worauf sich das Wort oder die Bezeichnung dafür bezieht. Oder anders gesagt: Kein Phänomen hat wahrhaft erwiesene Existenz – Existenz, die wahrhaft von Seiten der Phänomene erwiesen ist, unabhängig von geistiger Bezeichnung.

Wenn Leerheit begrifflich wahrgenommen wird, erscheint ihre oberflächliche Wahrheit. Das bedeutet, dass dem Geist, der diese Leerheit begrifflich erkennt, ein individuelles charakteristisches Merkmal, auffindbar auf der Seite des nicht-implizierenden Negierungs-Phänomens „ Leerheit von wahrer Existenz“, erscheint. Auf der Basis dieses auffindbaren Merkmals nimmt der begrifflich arbeitende Geist die Leerheit wahr, indem er sie mittels der Bedeutung/Objekt-Kategorie (don-spyi, bedeutungsbezogenes Allgemeines) Leerheit von wahrer Existenz geistig bezeichnet. Solch eine Leerheit, mit einem auf ihrer eigenen Seite auffindbaren, individuellen definierenden charakteristischen Merkmal, ist ein mit Worten fassbares letztendliches Phänomen. Es kann als etwas zählen, das einem Geist erscheint, der Phänomene gültig wahrnimmt, indem er sie mittels Worten und Konzepten geistig bezeichnet.

Wenn Leerheit unbegrifflich wahrgenommen wird, so erscheint ihre oberflächliche Wahrheit nicht. Kein auffindbares individuelles charakteristisches Merkmal erscheint. Es erscheint lediglich die völlige Abwesenheit wahrhaft erwiesener Existenz.

Geistiges Bezeichnen tritt nur mit begrifflicher Wahrnehmung auf. Die Leerheit, die unbegrifflich wahrgenommen wird, ist daher ein mit Worten nicht fassbares letztendliches Phänomen. Sie kann nicht als etwas zählen, das einem Geist erscheint, der Phänomene gültig wahrnimmt, indem er sie mittels Worten und Konzepten geistig bezeichnet.

Kurz: Gemäß Gelug-Erklärung behaupten die Svatantrika, dass mit Worten fassbare und mit Worten nicht fassbare Leerheiten – sofern uns diese Begriffsprägung hier gestattet sei – die gleichen Leerheiten sind. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der Geist, der begrifflich eine mit Worten fassbare Leerheit wahrnimmt, die oberflächliche Wahrheit von Leerheit wahrnimmt, deren Existenz mittels eines auffindbaren individuellen charakteristischen Merkmals erwiesen wird, wohingegen der Geist, der unbegrifflich eine mit Worten nicht fassbare Leerheit wahrnimmt, die tiefste Wahrheit von Leerheit wahrnimmt.

Die Madhyamaka-Behauptung gemäß Sakya- und Nyingma-Tradition

Gemäß der Erklärung des Madhyamaka seitens vieler Meister der Sakya- und Nyingma- Traditionen des tibetischen Buddhismus sind mit Worten fassbare und mit Worten nicht fassbare Leerheiten jeweils verschiedene Leerheiten.

Mit Worten fassbare Leerheit ist einfach nur das nicht-implizierende Negierungs-Phänomen „ völlige Abwesenheit wahrhaft erwiesener Existenz“. Mit Worten nicht fassbare Leerheit ist die Leerheit, die jenseits von Worten und Begriffsvorstellungen ist (brjod-dang rtog-pa-las ‘das-pa).

Gemäß der Sakya- und Nyingma-Erklärung des Madhyamaka ist „ Negierungs-Phänomen“ bloß eine begriffliche Kategorie (spyi, Allgemeines), bloß eine geistige Fabrikation (spros-pa, geistiges Konstrukt). Daher können Negierungs-Phänomene, einschließlich der Leerheit als eben solches Negierungs-Phänomen, nur sich begrifflich gültig wahrgenommen werden. Das bedeutet: Wenn etwas begrifflich gültig wahrgenommen wird, dann lässt der Geist die Negierungs-Phänomene nicht nur als wahrhaft existierend erscheinen, sondern er greift auch nach ihnen, als ob sie tatsächlich in dieser unmöglichen Weise existieren würden. Oder genauer gesagt: Ein Geist, der Leerheit begrifflich gültig wahrnimmt, erzeugt die Erscheinung einer wahrhaft existierenden völligen Abwesenheit wahrer Existenz und greift nach dieser Abwesenheit, als ob sie auf diese Weise existieren würde. Deswegen kann Leerheit als nicht-implizierendes Negierungs-Phänomen nur begrifflich gültig wahrgenommen werden.

Um eine unbegriffliche Wahrnehmung von Leerheit zu erlangen, muss man über das Wahrnehmen von Leerheit mittels Worten und Konzepten hinausgehen. Deshalb ist die Leerheit, die unbegrifflich gültig wahrgenommen wird (mit Worten nicht fassbare Leerheit) nicht die gleiche Leerheit wie die Leerheit, die begrifflich gültig wahrgenommen wird (mit Worten fassbare Leerheit). Mit Worten nicht fassbare Leerheit ist eine Leerheit, die jenseits der begrifflichen Kategorie eines Negierungs-Phänomens ist.

In der Tat ist die mit Worten nicht fassbare Leerheit jenseits aller begrifflichen Kategorien von Bestätigungs- oder Negierungs-Phänomenen, beidem oder keinem von beidem. Mit anderen Worten: Sie ist jenseits der begrifflichen Kategorien der vier Extreme: (1) Bestätigung wahrer Existenz, (2) Negierung wahrer Existenz, (3) vom Gesichtspunkt der oberflächlichen Wahrheit Bestätigung wahrer Existenz und vom Gesichtspunkt der tiefsten Wahrheit Negierung von wahrer Existenz oder (4) weder Bestätigung noch Negierung wahrer Existenz.

Prasangika-Behauptung gemäß Gelug Erklärung

Gemäß der Gelug-Erklärung der Prasangika-Madhyamaka-Behauptungen handelt es sich bei der mit Worten fassbaren und der mit Worten nicht fassbaren Leerheit um dieselbe Leerheit. Beide sind Leerheiten als nicht-implizierende Negierung wahrhaft erwiesener Existenz – ähnlich der Svatantrika- Behauptung gemäß Gelug-Erklärung. Gelug-Prasangika stimmt hier den Svatantrika-Aussagen auch darin zu, dass gültige begriffliche Wahrnehmung von mit Worten fassbarer Leerheit die oberflächliche Wahrheit von Leerheit wahrnimmt, und dass diese oberflächliche Wahrheit ihr dabei so erscheint, dass ihre Existenz durch ein auffindbares individuelles definierendes charakteristisches Merkmal erwiesen wird. Anders als die Gelug-Svatantrika Behauptung behauptet Prasangika jedoch, dass selbst dann, wenn man etwas vom Gesichtspunkt der oberflächlichen Wahrheit genauer untersucht, kein solch charakteristisches Merkmal zu finden ist. Leerheit von wahrhaft erwiesener Existenz ist gleichbedeutend mit Leerheit von Existenz, die durch individuelle definierende charakteristische Merkmale erwiesen ist.

Daher gilt: zwar erscheint mit Worten fassbare Leerheit als wahrhaft existierend und mit Worten nicht fassbare Leerheit als nicht wahrhaft existierend; nichtsdestotrotz existieren sowohl mit Worten fassbare als auch mit Worten nicht fassbare Leerheiten in genau derselben Weise.

Man beachte, dass die Gelug-Tradition nicht behauptet, irgendein gültig erkennbares Phänomen wäre jenseits von Worten und Konzepten in dem nicht Gelug-gemäßen Sinne, dass es nicht begrifflich gültig wahrgenommen werden könnte. Gemäß Gelug-Tradition gilt: Wenn etwas existiert, dann ist es auch durch begriffliche Wahrnehmung gültig erkennbar. Das bedeutet jedoch nicht, dass etwas, wenn es existiert, nur durch begriffliche Wahrnehmung gültig erkennbar wäre. Viele Phänomene sind auch durch unbegriffliche Wahrnehmung gültig erkennbar. Es gibt aber nur zwei Alternativen: Phänomene sind

  • nur durch begriffliche Wahrnehmung gültig erkennbar, wie im Falle von Kategorien.

  • sowohl durch begriffliche als auch durch unbegriffliche Wahrnehmung gültig erkennbar, wie im Falle einer Vase, im Falle von Ärger oder von Leerheit als völliger Abwesenheit.

Es gibt keine gültig erkennbaren Phänomene, die

  • nur durch unbegriffliche Wahrnehmung gültig wahrgenommen werden können.

  • weder durch begriffliche noch unbegriffliche Wahrnehmung gültig wahrgenommen werden können.

Es ist sogar so, dass Gelug-Prasangika gültig erkennbare Phänomene im Zusammenhang mit deren begrifflicher Wahrnehmung definiert. Gültig erkennbare Phänomene sind lediglich das, worauf sich die Worte und Begriffe dafür beziehen, indem sie die Grundlagen der Bezeichnung (gdag-gzhi, Grundlage der Zuschreibung) gültig bezeichnen (diesen gültig zugeschrieben werden). Zwar tritt die Handlung des geistigen Bezeichnens nur mit begrifflicher Wahrnehmung auf; nichtsdestotrotz wird die Existenz aller existierenden Phänomene – ob sie nun begrifflich oder unbegrifflich wahrgenommen werden – lediglich in Verbindung mit den geistigen Bezeichnungen dafür erwiesen.

Gemäß Gelug-Prasangika gilt: Weil die Bezugsobjekte (btags-chos) von Worten und Begriffen nicht als eine Art Bezugs-„Ding“ (btags-don) gefunden werden können – und zwar weder begrifflich noch unbegrifflich -, können wir nicht bestimmen, worauf sich ein Wort oder Begriff bezieht, indem wir darauf zeigen. Wir können nur durch den Ausschluss von etwas anderem bestimmen, worauf sich ein Wort oder Begriff bezieht – nämlich durch den Ausschluss von allem anderen, was nicht dasjenige ist, worauf sich das Wort oder der Begriff bezieht, und dies ist ein rein begriffliches Konstrukt. Oder anders gesagt: Wir können gültig erkennbare Phänomene nur im Zusammenhang mit begrifflich isolierten Elementen (ldog-pa, Unterscheidendes, Ausgesondertes) spezifizieren, die nur durch begriffliche Wahrnehmung gültig erkennbar sind. Das begrifflich isolierte Phänomenen „ein Apfel“ ist das Objekt oder die Menge von Objekten, das/die von der Menge all dessen ausgeschlossen wird, was „nicht ein Apfel“ ist (also der Menge von „allem anderen als ein Apfel“). So reduziert sich das begrifflich spezifizierte Phänomen „ein Apfel“ auf „nichts anderes als ein Apfel“. Der „Ausschluss von etwas anderem“ bedeutet jedoch nicht, aktiv jedes einzelne Phänomenen, das „nicht ein Apfel“ ist, eins nach dem anderen auszuschließen. Es handelt sich lediglich um einen Akt der Logik.

Weil alles gültig Erkennbare bestimmbar sein muss, behauptet die Gelug-Tradition, dass alles Erkennbare von begrifflicher Wahrnehmung gültig erkennbar sein muss, selbst tiefste Wahrheiten.

Des Weiteren gilt: Selbst wenn die mit Worten fassbare Leerheit – als nicht-implizierende Negierung einer Existenzweise, die überhaupt nicht existiert – keinerlei Objekt im Zuge ihrer Negierung zurücklässt, bedeutet dies nicht, dass die Ansicht von mit Worten fassbarer Leerheit sich auf dem Extrem des Nihilismus reduziert, wie manche Verfechter der mit Worten nicht fassbaren Leerheit behaupten würden. Die nicht-implizierende Negierung negiert nicht die Grundlage ihrer Negierung (nämlich konventionelle Objekte, wie etwa Äpfel und Tischdecken), sondern lediglich ihr zu negierendes Objekt (nämlich unmögliche Existenzweisen konventioneller Objekte).

Die Madhyamaka-Behauptung gemäß der Karma-Kagyü-Tradition

Seit der Zeit des achten Karmapa (Kar-ma-pa Mi-bskyod rdo-rje) akzeptiert die Karma-Kagyü-Tradition zum größten Teil die Gelug-Interpretation der Svatantrika- und Prasangika-Darlegungen von mit Worten fassbaren und mit Worten nicht fassbaren Leerheiten. Die Karma-Kagyü-Tradition betont jedoch, dass mit Worten fassbare Leerheit eine nicht-implizierende Negierung (völlige Abwesenheit) bloß bezüglich des ersten der vier Extreme ist: wahrhaft erwiesener Existenz. Mit Worten nicht fassbare Leerheit ist die nicht-implizierende Negierung aller vier Extreme.

Die Karma-Kagyü-Tradition macht nur in ihren Darlegung des Maha-Madhyamaka und deren Ansicht der „Leerheit von anderem“ (gzhan-stong) die mit Worten nicht fassbare Leerheit als Leerheit jenseits von Worten und Begriffen geltend. Gemäß dieser Ansicht ist Leerheit jenseits von Worten und Begriffen kein ontologischer Zustand, sondern eher eine Geistesebene.

Quellen für obige Ansichten aus der Kadam-Tradition

Die zwei Strömungen der beiden verschiedenen Interpretation von mit Worten nicht fassbarer Leerheit als jenseits von Worten und Begriffen oder als ein nicht-implizierendes Negierungs-Phänomen gehen in Tibet auf zwei der frühen Meister der Kadam-Tradition zurück.

Der erste davon war Ngog-Lotsawa (rNgog Lo-tsa-ba Blo-ldan shes-rab). Er verbreitete die Tradition, welche die Ansicht vertritt, dass die nicht fassbare Leerheit jenseits von Worten und Begriffen sei. Er erklärte, dass die nicht fassbare Leerheit sich nicht dazu eigne, direktes Objekt (dngos-yul) oder auch nur begrifflich impliziertes Objekt (zhen-yul) von Worten oder Begriffen zu sein.

Der spätere dieser beiden Meister war Chapa (Phyva-pa Chos-kyi seng-ge). Er lehrte, dass die mit Worten nicht fassbare Leerheit eine nicht-implizierende Negierung sei und durchaus dazu geeignet sei, begrifflich impliziertes Objekt von Worten und Begriffen zu sein.

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