Die vier Ausrichtungen der Vergegenwärtigung im Theravada

Es gibt vier feste Ausrichtungen der Vergegenwärtigung (tib. dran-pa nyer-bzhag, Skt. smrtyupasthana, Pali: satipatthana): auf den Körper, auf die Gefühle, auf den Geist und auf die wahre Natur der Dinge (tib. chos, Skt. dharma, Pali: dhamma). Vergegenwärtigung (Achtsamkeit) (tib. dran-pa, Skt. smrti, Pali: sati) ist der Geistesfaktor, der uns – einem geistigen Klebstoff gleich – davor bewahrt, von einem gewählten Objekt der Konzentration abzuweichen. Obgleich es unterschiedliche Weisen gibt, sie zu praktizieren, werden wir hier die Theravada-Methoden der Thai-Tradition untersuchen, wie sie von Buddhadasa Bhikkhu gelehrt werden.

Die Ausrichtung der Vergegenwärtigung auf den Körper

Indem wir unsere Vergegenwärtigung auf die verschiedenen Arten des Atems ausrichten, gelangen wir zu der Erkenntnis, dass der Atem Einfluss auf den Körper hat. Wir erfahren, dass das Beherrschen des Atems zur Beherrschung des Körpers führt.

Die Ausrichtung der Vergegenwärtigung auf die Gefühle

Indem wir unsere Vergegenwärtigung ausrichten auf die verschiedenen Weisen uns glücklich oder unglücklich zu fühlen, gelangen wir zu der Erkenntnis, dass Gefühle den Geist beeinflussen. Wir erfahren, dass wir durch die Beherrschung unserer Gefühle unseren Geist beherrschen können.

Die Ausrichtung der Vergegenwärtigung auf den Geist

Indem wir unsere Vergegenwärtigung ausrichten auf die verschiedenen Gedanken, beginnen wir zu erkennen, wann die Gedanken von sehnsüchtigem Verlangen (tib. ‘dod-chags, Skt. raga, Pali: raga), Feindseligkeit (tib. zhe-sdang, skt. dvesha, Pali: dosa) oder Unwissenheit (tib. gti-mug, Skt. moha, Pali: moha) beherrscht werden und wann nicht. Wir lernen zu erkennen, wann der Geist ruhelos (tib. rgod-pa, Skt. auddhatya, Pali: uddhacca, Flatterhaftigkeit des Geistes) und wann er zufrieden ist (tib. bde-ba, Skt. su:kha, Pali: sukkha, glücklich) oder von außergewöhnlicher Wahrnehmungskraft (tib. lhag-mthong, Skt. vipashyana, Pali: vipassana), wann er abgelenkt und wann er konzentriert ist, wann er gefesselt ist und wann frei. Wir lernen, den Geist zu beherrschen, indem wir die Gedanken beherrschen, so dass unser Geist einen höchsten Zustand der Befreiung erlangen kann. Auf diese Weise lernen wir an diesem Punkt, vertiefte Konzentration zu erlangen (tib. ting-nge-‘dzin, Skt. samadhi, Pali: samadhi). Indem wir Ruhelosigkeit und ablenkende umherschweifende Gedanken loslassen, erreichen wir vertiefte Konzentration. Eine solche Konzentration besitzt drei Qualitäten: Sie ist stabil oder unerschütterlich, von jedem störenden Faktor bereinigt und geeignet, auf alles angewendet zu werden.

Als nächstes wenden wir diese erlernte Fähigkeit des Loslassens auf die vier Arten von Objekten der Geistesfaktoren des Geburt Annehmenden (tib. len-pa, Skt. upadana) an – die geistigen Faktoren, durch die wir kontinuierlich eine Wiedergeburt in Samsara annehmen. Sehen wir, welches Leid wir dadurch erfahren, dass wir an ihnen festhalten, lassen wir ab von

  • Sinnesobjekten, an denen wir anhaften,

  • verzerrten, falschen Sichtweisen, Theorien, Meinungen und Glaubenssätzen,

  • Aktivitäten und Praktiken, die auf religiösem und weltlichem Aberglauben und falschen Sichtweisen beruhen,

  • allem, an dem wir als ,ich’ oder ‚mein’ hängen.

Die Ausrichtung der Vergegenwärtigung auf die Natur der Dinge

Indem wir unsere Vergegenwärtigung noch einmal auf die ersten drei Objekte ausrichten, doch diesmal mit vertiefter Konzentration, erlangen wir eine Vergegenwärtigung, die auf die Natur dieser Objekte ausgerichtet ist. Noch einmal richten wir unsere Vergegenwärtigung aus: 1. auf den Atem, 2 auf die Gefühle lustvoller Freude (tib. dga’-ba, Skt. priti, Pali: piti, frisches, freudvolles Interesse) sowie die Gefühle des Glücks (des Entzückens) der Zufriedenheit, die ein Ergebnis unserer tiefen Vergegenwärtigung ist, und dann 3. auf die Gedanken. Wir beobachten, wie diese drei Objekte sich ständig ändern und wie sich ständig auch alles ändert, auf das sie einen Einfluss haben; auf diese Weise erkennen wir die Unbeständigkeit (tib. mi-rtag-pa, Skt. anitya, Pali: anicca, Vergänglichkeit) aller Einflussfaktoren (tib. ‘dus-byas, Skt. samskara, Pali: sankhara, bedingte Phänomene). Zu den Einflussfaktoren gehören die Faktoren, die andere Faktoren beinflussen, die Faktoren, die von ihnen beeinflusst werden, sowie die Aktivität bzw. der Prozess der gegenseitiger Beeinflussung. Erkennen wir die Unbeständigkeit all dieser Faktoren, erkennen wir auch ihre Leidensnatur (die Tatsache, dass sie nie befriedigend sind) (tib. sdug-bsngal, Skt. du:kha, Pali: dukkha).

Das volle Ausmaß der Unbeständigkeit aller Einflussfaktoren wird uns erst dann voll bewusst, wenn wir durch weiteres Ausrichten unserer Vergegenwärtigung und genaue Prüfung der Objekte, auf die wir uns konzentrieren, vier weitere Charakteristika erkennen, die allen Einflussfaktoren zu Eigen sind. Das Erkennen der Unbeständigkeit und des Leids führt zum Erkennen des ersten Charakteristikums; das Erkennen dieses ersten Charakteristikums führt seinerseits zum Erkennen des zweiten und so fort. Die vier zu erkennenden Charakteristika sind:

  • Abwesenheit einer Seele, deren Existenz unhaltbar ist (tib. bdag-med, Skt: anatmya, Pali: anatta, Ichlosigkeit, Abwesenheit einer Identität). Indem wir uns mit Vergegenwärtigung und Erkenntnis auf den unbeständigen und unbefriedigenden Charakter der sich gegenseitig beeinflussenden Variablen konzentrieren, erkennen wir, dass sie sich unserer Kontrolle entziehen.

  • Leerheit (tib. stong-nyid, Skt. shunyata, Pali: sunnata). Indem wir uns mit Vergegenwärtigung und Erkenntnis auf die unbeständigen, unbefriedigenden Einflussfaktoren konzentrieren, die sich unserer Kontrolle entziehen, erkennen wir, dass sie leer von ‚ich’ oder ‚mein’ sind.

  • Die übereinstimmende Natur (tib. de-bzhin-nyid, Skt. tathata, Pali: tathata). Indem wir uns mit Vergegenwärtigung und Erkenntnis auf die unbeständigen, unbefriedigenden Einflussfaktoren konzentrieren, die sich unserer Kontrolle entziehen und leer von ‚ ich’ oder ‚mein’ sind, erkennen wir, dass sie einfach so und nicht anders sind. Das ist ihre übereinstimmende Natur.

  • Bedingtheit (tib. de-rkyen-nyid, Skt. idampratyayata, Pali: idappacayata). Indem wir uns mit Vergegenwärtigung und Erkenntnis auf die unbeständigen, unbefriedigenden Einflussfaktoren konzentrieren, die sich unserer Kontrolle entziehen, leer von ‚ich’ oder ‚mein’ sind und einfach so, wie sie sind, erkennen wir, dass wahre karmische Ursachen ihr Entstehen bedingen. Das heißt, wir erkennen die Verbindung zwischen den verursachenden Gliedern des abhängigen Entstehens und den resultierenden Gliedern der Einflussfaktoren der Wiedergeburten in Samsara, die aus ihnen heranreifen..

Nur die Erkenntnis der Unbeständigkeit aller dieser Charakteristika der Einflussfaktoren ist die vollständige Erkenntnis der Unbeständigkeit aufgrund der Ausrichtung der Vergegenwärtigung.

  • Folgt man den Vaibhashika- und Sautrantika-Traditionen des Hinayana, konzentriert man sich zuerst auf die Erkenntnis der Leerheit und erst dann auf die Abwesenheit einer Seele, deren Existenz unhaltbar ist. Leerheit bedeutet, dass ein Mensch (tib. gang-zag) leer von einer oder vielen für sich allein erkennbaren Seelen ist (tib. rang-rkya thub-‘dzin-pa’i rdzas-yod-kyi bdag). Dies wird bewiesen durch gültige indirekte Erkenntnis, zu der man durch die Kraft der Logik gelangt. Die Abwesenheit einer Seele, deren Existenz unhaltbar ist, müssen wir als logische Schlussfolgerung daraus ableiten: Ein Mensch ist leer von jeglicher für sich allein erkennbarer Seele.

Gemäß dem Theravada beseitigt die vollständige Erkenntnis der Unbeständigkeit der Einflussfaktoren allmählich die vier Arten der Geistesfaktoren des eine Geburt Annehmenden.

  • Indem wir uns mit Vergegenwärtigung und Erkenntnis auf den allmählichen Abbau dieser Geistesfaktoren konzentrieren, verwirklichen wir Nicht-Anhaftung an sie (tib. ‘dod-chags med-pa, Skt. viraga, Pali: viraga).

  • Indem wir uns mit Vergegenwärtigung und Erkenntnis auf die Nicht-Anhaftung an die Einflusfaktoren konzentrieren, die wir erfahren, verwirklichen wir Gleichmut ihnen gegenüber (tib. btang-snyoms, Skt. upeksha, Pali: upekkha). Wir konzentrieren uns auf sie ohne Anhaftung, Abneigung, Unwissenheit sowie jegliche störende Emotion oder Einstellung.

  • Dann konzentrieren wir uns auf die von uns erlangte wahre Beendigung (tib. ‘gog-pa, Skt. nirodha, Palx: nirodha) der Anhaftung an ein ‚Ich’, auf das Versiegen der störenden Emotionen und Einstellungen sowie die Beendigung allen Leids. Die Beendigung allen Leids bedeutet das Aufhören 1. aller Furcht vor Geburt, Alter, Krankheit und Tod, 2. aller Symptome des Leids, wie Schmerz, Kummer, Traurigkeit und Verzweiflung, 3. aller Hoffnungen auf oder Begierden nach attraktiven oder sogar unattraktiven Dingex und 4. aller Versuche, die fünf Aggregate als ‚ich’ oder ‚mein’ zu betrachten. Dies ist das Erlangen des Nirwana (tib. mya-ngan-las’das, Skt. nirvana, Pali : nibanna).

Der letzte Schritt ist das Abwerfen (Pali: patinissagga), das heißt, wir werfen alles ab, was wir uns als ‚mein’ zu Eigen gemacht haben. Wir entledigen uns aller Last, die uns in samsarischer Existenz (tib. ‘jig-rten-pa, Skt. lokita, Pali: lokiya, weltliche Existenz) gefangen hielt, und leben ein vollständig befreites Leben, das über Samsara hinausgeht (tib. ‘jig-rten-las ‘das-pa, Skt. lokottara, Pali: lokuttara, jenseits weltlicher Existenz).

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