Ausgewogene Sensibilität: Überblick

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Ich habe mich einige Jahrzehnte mit dem Praktizieren, Übersetzen und Unterrichten des Buddhismus befasst und eines der großen Probleme, die mir aufgefallen sind, besteht darin, dass viele Leute eine Ebene in ihrer Praxis erreichen, über die sie nur schwer hinauskommen. Das große Hindernis, das ich bemerkt habe, liegt darin, dass die Menschen Schwierigkeiten damit haben, die verschiedenen buddhistischen Lehren und Übungen in Bezug auf tatsächliche Probleme, emotionale Probleme, mit denen sie konfrontiert werden, in ihrem täglichen Leben anzuwenden. Die Schwierigkeit besteht im Grunde darin, dass wir so viele der emotionalen Probleme, die wir alle haben, in einer westlichen Weise und nicht in einer traditionellen buddhistischen Denkweise erfassen.

Wir alle wissen, was Unsicherheit ist, was es bedeutet, unsensibel oder überempfindlich zu sein, niedriges Selbstwertgefühl zu haben, den Bezug zu unseren Gefühlen, zu unserem Körper zu verlieren, uns zu entfremden, genervt zu sein und all diese Dinge. Für die meisten oder alle dieser Begriffe gibt es keine traditionellen Sanskrit- oder tibetischen Worte. Das bedeutet jedoch nicht, dass die alten Inder oder die modernen Inder und Tibeter diese Dinge nicht erfahren – sie tun es, aber sie erfassen sie begrifflich auf eine andere Weise. 

Ich habe also ein Programm entwickelt und ein Buch dazu geschrieben. Es heißt „Ausgewogene Sensibilität entwickeln“ und stellt gewissermaßen eine Brücke dar, und zeigt, wie man die verschiedenen buddhistischen Methoden für diese typischen Probleme, die wir alle erleben, anwenden kann. Ich habe es getan, indem ich diese verschiedenen Probleme gemäß dem buddhistischen, konzeptuellen Bezugssystem analysiert habe; mit ihm kann man erkennen, wie man die buddhistischen Methoden einsetzen kann, um mit diesen Problemen fertigzuwerden. Und ehrlich gesagt bestand die größte Motivation, dieses Programm zu entwickeln, darin, dass ich es selbst brauchte. Oft scheint es, als sei Eigennutz und Selbsthilfe zumindest ein Teil unserer Bemühung, anderen zu helfen. „Es wird wahrscheinlich für mich selbst hilfreich sein und daher hoffentlich auch anderen helfen.“ Darum geht es. 

Konstruktiv mit Fragen der Sensibilität umgehen 

Unausgewogene Sensibilität erkennen

Betrachten wir diese verschiedenen Probleme, so habe ich mich hauptsächlich auf die Sensibilität fokussiert. Reden wir hier über Sensibilität, ist emotionale Sensibilität gemeint und da gibt es zwei Extreme: überempfindlich zu sein und unsensibel zu sein. Uns geht es darum, eine Art der ausgewogenen Sensibilität zu haben, die gesund ist, hilfreich ist und diese zwei Extreme meidet. 

Die Sensibilität kann sich entweder auf uns oder auf andere richten und hat im Wesentlichen mit zwei Faktoren zu tun: aufmerksam sein (also Achtsamkeit) und erwidern. Worauf achten wir also und wie erwidern wir? Es kann sich entweder um eine Situation handeln, eine Situation von anderen oder unsere eigene Situation, oder es kann sich auf die Auswirkung unseres Verhaltens beziehen, die Auswirkung unseres Verhaltens auf andere – was wir ihnen sagen, wie wir sie behandeln – und auf die Auswirkung unseres Verhaltens auf uns selbst. Hier gibt es viele Möglichkeiten, was unausgewogen sein könnte: wir schenken einer Sache zu viel oder zu wenig Aufmerksamkeit, wir können überreagieren, gar nicht reagieren oder auf unangemessene Weise reagieren – und wenn man diese Dinge vermischt, gibt es zahlreiche Möglichkeiten, was alles aus dem Gleichgewicht geraten kann. 

Betrachten wir es etwas näher, können wir, wenn wir über die Achtsamkeit sprechen, mit oder ohne Einfühlungsvermögen achtsam sein. Als ein Mann kann ich zum Beispiel versuchen, gegenüber der Schwangerschaft meiner Frau und dem Gebären eines Kindes achtsam und verständnisvoll zu sein, aber es ist wirklich schwer für einen Mann, sich in die tatsächlichen Gefühle einer Frau hineinzuversetzen. Und die Achtsamkeit kann entweder mit einem Verständnis oder ohne einem Verständnis stattfinden. Ich merke vielleicht, dass ich mich mental oder emotional nicht wohl fühle und verstehe nicht, was los ist, doch ich könnte darauf erwidern, indem ich eine Pause mache und mich hinlege. Das ist ein Beispiel dafür, etwas nicht zu verstehen, aber doch einen ausgewogenen, sensiblen Umgang damit zu haben.

Der erste Schritt der Übung besteht darin, in uns selbst zu erkennen und zu verstehen, welche Sensibilitätsprobleme wir haben.

Der Buddhismus ist natürlich ziemlich hilfreich, denn es gibt zahlreiche Methoden, um mit diesen Problemen klarzukommen. In diesem Programm habe ich viele verschiedene Methoden aus zahlreichen unterschiedlichen buddhistischen Übungen genommen und sie auf bestimmte Weise zusammengefügt, die sinnvoll dafür ist, wie wir ausgewogene Sensibilität entwickeln. Alles beruht also auf den buddhistischen Lehren. Ich habe sie jedoch auf eine Weise präsentiert, dass es überhaupt nicht notwendig ist, einen buddhistischen Hintergrund zu haben oder den Buddhismus zu kennen, um diese Übungen ausführen zu können. Ich gebe jedoch an, welche buddhistischen Quellen ich genutzt habe.

Wir führen diese Übungen aus, indem wir mit tatsächlichen Menschen praktizieren. Oft sitzen wir in der buddhistischen Meditation und visualisieren Mitgefühl für alle fühlenden Wesen. Nun, alle fühlenden Wesen, um wen geht es denn da? Das ist viel zu vage und allgemein. Und sogar wenn wir sie in alle Menschen, alle Tiere, alle Geister unterscheiden, berührt das nicht wirklich unser Herz. Das ist viel zu abstrakt. Allerdings hat es einen Nutzen, weil wir damit eine ebenbürtige Geisteshaltung gegenüber allen haben. Denken wir also an alle, betrachten wir damit nicht nur jene, die wir mögen (diesen mag ich und jenen nicht). Es gibt also einen Grund, warum es in der generellen Dharma-Praxis auf diese allgemeine Weise ausgeführt wird. Doch es gibt auch noch eine andere Art der Praxis, in der man mit jenen beginnt, die man kennt und es dann auf alle ausweitet.

Hier üben wir in drei Phasen:

  1. Zunächst mit Menschen, die nicht anwesend sind, Menschen, die wir nicht kennen, mit Fremden und Menschen, die wir nicht mögen. Für viele von uns ist es nicht leicht zu visualisieren und daher nutze ich Bilder. Für Menschen, die wir nicht kennen, hänge ich Bilder auf, die ich aus einem Magazin ausgeschnitten habe. Wir richten also unseren Fokus auf diese Menschen und versuchen, mehr auf ihren Ausdruck zu achten und somit Sensibilität ihnen gegenüber zu entwickeln. Wir können mit Fotos von Menschen arbeiten, die wir kennen und mögen, und dann mit Menschen, die wir nicht besonders mögen. Es könnte auch jemand sein, den wir nicht persönlich kennen, aber nicht mögen, wie einen politischen Anführer, also irgendjemand, den wir nicht mögen. So eine Person gibt es immer.
  2. Dann praktizieren wir miteinander. Dafür setzen wir uns normalerweise in einen Kreis und sehen uns jeden in diesem Kreis an. Danach teilen wir uns in Gruppen von jeweils zwei Paaren auf und arbeiten miteinander.
  3. Die dritte Phase besteht dann darin, mit uns selbst zu arbeiten. Dafür können wir einen Spiegel benutzen und unsere Aufmerksamkeit auf uns selbst richten, ohne einen Spiegel arbeiten, und dann eine Reihe von Fotos von uns selbst zur Hand nehmen, die uns im Laufe unseres Lebens darstellen. Dabei geht es darum, auf unsere Haltung uns selbst gegenüber in der Vergangenheit zu achten. Ziemlich oft fällt es uns nicht leicht zu sehen, wie wir einmal waren. Vielleicht denken wir: „Ich war so ein Idiot, als ich jung war“ oder ähnliches. Gegenüber diesen Dingen sind wir überempfindlich, oder dann gibt es Zeiten in unserem Leben, die wir am liebsten gleich vergessen wollen. Um diese Dinge geht es, sie sind nicht gerade gesund.

Den Geist beruhigen und eine fürsorgliche Geisteshaltung schaffen

Um in der Lage zu sein, eine dieser Übungen zu machen, benötigen wir eine gewisse geistige und emotionale Schublade, in die wir all die Übungen stecken können. Hier gibt es zwei Aspekte: der eine ist ein ruhiger Geist und der andere ist eine fürsorgliche Geisteshaltung. 

Ein ruhiger Geist

Ruhiger Geist bedeutet nicht, das Radio auszuschalten, nichts zu empfinden und völlig ausdruckslos zu sein. Darum geht es nicht. Mit einem „ruhigen Geist“ meinen wir, all das innere Geplapper zu beruhigen, das ständig abläuft – bla bla bla bla bla – was entweder verurteilend sein kann („was trägt diese Person denn für komische Sachen?“), etwas mit uns selbst zu tun haben kann, indem wir uns irgendwelche Sorgen machen, oder abgelenkt sind (wenn wir also mit jemandem zusammen sind, aber der Geist woandershin abschweift). Das sollten wir zur Ruhe kommen lassen. Um sensibel gegenüber jemandem zu sein, müssen wir achtsam sein. „Achtsam sein“ heißt, dass unser Geist nicht woanders ist, wir nicht ständig innere Gespräche führen, den anderen nicht verurteilen oder kommentieren: „oh, wie langweilig. Kann diese Person nicht endlich ihren Mund halten, damit ich nach Hause gehen kann?“ Dies Dinge sollten wir beruhigen. Außerdem sollten wir diese Geisteshaltungen und Projektionen, die wir haben, zur Ruhe kommen lassen. Beispielsweise gehen wir mit dem Gefühl in eine Situation: „Das wird wirklich langweilig werden. Was soll ich bloß auf dieser Feier machen?“ Diese Art der Geisteshaltung und der Vorurteile sollten wir beruhigen. 

Im Buddhismus gibt es zahlreiche Methoden, um zur Ruhe zu kommen, um Konzentration zu entwickeln und so weiter. Die einfachste besteht darin, loszulassen. Wir üben ganz einfach, indem wir unsere Hand zu einer Faust ballen, sie dann öffnen und loslassen. Dasselbe versuchen wir dann, mit unserem Geist zu machen, wenn diese inneren Gespräche stattfinden; wir lassen sie einfach los. Natürlich kommen sie wieder, aber wenn wir uns ausreichend üben, werden wir sie schließlich ganz loslassen können. 

Diese Fähigkeit des Loslassen zu entwickeln, ist ausgesprochen nützlich, besonders wenn wir versuchen einzuschlafen und unser Geist von einem Gedanken zum nächsten springt. Wir lassen einfach los und hören auf zu denken, was nicht einfach ist, aber wir können es üben. Meist schlafen wir dann ziemlich schnell ein, wenn wir den Geist beruhigen können. Das ist wirklich notwendig, besonders wenn unser Denken mit Ängsten verbunden ist. Das kann ziemlich lähmend sein. Ich bin mir sicher, dass wir das alle kennen. 

Wir praktizieren es mit anderen. Es ist eine recht interessante Übung, andere Menschen im Raum zu betrachten und nichts dazu zu sagen – sie einfach nur anzusehen und nichts zu kommentieren. 

Das ist die Art der Übung, die wir ausführen. Und man kann sie natürlich im Bus praktizieren, oder beim Autofahren, wenn es da andere Autos gibt und man im Stau steckt – einfach einen ruhigen Geist zu haben und nicht zu kommentieren. Das ist im Grunde sehr hilfreich für die geistige Gesundheit, sich auf diese Weise zu beruhigen, einen ruhigen Geist zu haben. Das das heißt nicht, dass wir konstruktive Emotionen zur Ruhe kommen lassen. Vielmehr wollen wir ein Gefühl der Angst, ein Gefühl der Unsicherheit, ein Gefühl der Nervosität beruhigen, wenn wir können. Wir kommen ganz einfach zur Ruhe.

Eine fürsorgliche Geisteshaltung

Eine fürsorgliche Geisteshaltung ist der zweite Aspekt dieses Raumes, den wir versuchen zu schaffen. Wir erschaffen oder erzeugen ihn, indem wir jemanden ansehen und in Bezug auf den anderen oder uns selbst denken: 

  • „Du bist ein menschliches Wesen. Du hast Gefühle, genau wie ich.“
  • „Die Art und Weise, wie ich dich behandle und wie ich mit dir spreche, wird einen Einfluss auf deine Gefühle haben, genau wie auch die Weise, wie du mit mir redest und wie du mich behandelst, meine Gefühle beeinflussen wird.“
  • „Aus diesem Grund nehme ich dich und deine Gefühle ernst. Du liegst mir am Herzen.“
  • „Ich kümmere mich darum, wie es dir geht.“

Tatsächlich ist es überaus effektiv, uns, wenn es geht, an diesen ersten Schritt zu erinnern: „Das ist ein menschliches Wesen und es hat Gefühle und sie können durch das, was ich tue oder sage, verletzt werden.“ Das ist ziemlich aufschlussreich, sich jeden in diesem Raum anzusehen und beispielsweise zu denken: „Nun, du bist ein menschliches Wesen. Du hast Gefühle. Du hast Gefühle, du hast Gefühle… Jeder in diesem Raum hat Gefühle. Niemand will ignoriert werden. Niemand will abgelehnt werden. Wir alle haben Gefühle. Wir sind alle gleich.“ Das ist die fürsorgliche Geisteshaltung. 

Wir nehmen uns also viel Zeit, das zu entwickeln, diese zwei Aspekte – ich beschreibe sie als die zwei Flügel, mit der sich die ganze Praxis bewegt – den ruhigen (nicht wertenden) Geist und die fürsorgliche Geisteshaltung. Haben wir das entwickelt oder zumindest Schritte in diese Richtung unternommen, schafft das einen geschützten Raum, in dem wir die restlichen Übungen ausführen. Denn dann haben wir ein Gefühl dafür, dass alle in dem Raum zumindest versuchen, nicht wertend zu sein und uns ernsthaft als ein menschliches Wesen mit Gefühlen betrachten. All das gehört zum ersten Teil der Praxis in vier Teilen; er ist die Grundlage. 

Vorstellung einer idealen Sensibilität

Als nächstes stellen wir uns vor, wie Sensibilität idealerweise aussehen würde. Wir müssen eine Vorstellung davon haben, was wir anstreben, also ideale Sensibilität, und dann stellen wir uns vor, so zu sein und versuchen es ein wenig. Wir würden nicht bewerten und uns selbst nicht zu viel Bedeutung beimessen, indem wir meinen, wir wären so viel besser als der andere. Wir würden keine feste Wand zwischen uns und dem anderen sehen, die es uns unmöglich macht, uns mit dem anderen zu befassen. Wir könnten uns vor der anderen Person fürchten oder davor, einen Fehler zu machen. Vielleicht haben wir Angst, dass der andere uns nicht mögen wird. All diese Ängste haben wir nicht, sondern haben das Gefühl, dass es eine Freude ist, mit dem Anderen oder mit sich selbst zu sein. Denkt daran, dass wir auch uns selbst nicht bewerten und denken sollten: „oh, ich bin so furchtbar“ usw. Wir haben emotionale Warmherzigkeit und Verständnis, sowie Selbstbeherrschung, um die andere Person nicht durch das, was wir sagen und wie wir handeln, zu verletzen. Es ist ausgesprochen wichtig, sich über den Ton der eigenen Stimme bewusst zu sein, wenn man mit anderen redet. Manchmal klingen wir vielleicht richtig grob, weil wir nicht entspannt sind. Der Ton unserer Stimme ist also auch wichtig. 

Und wir würden rücksichtsvoll handeln. Ist es beispielsweise heiß draußen und jemand kommt gerade an, nimmt man Rücksicht und fragt: „Möchtest du ein Glas Wasser?“ Kommt jemand von der Arbeit nach Hause ist man rücksichtsvoll: Die Person ist müde und man sollte sie nicht gleich mit den eigenen Belangen überfallen. Ruft man jemanden auf dem Handy an, fragt man: „Hast du gerade Zeit? Ist es in Ordnung, jetzt zu reden oder störe ich gerade? Soll ich später anrufen?“ Da gibt es diese eigene Wichtigkeit, mit der wir meinen, die andere Person sollte sofort alles fallen lassen, was sie gerade tut und mit mir sprechen – ich kann sie jederzeit unterbrechen. Das ist ziemlich unsensibel, oder? Und wir denken daran, dass der andere, genau wie wir, Gefühle hat; darum geht es. Mir würde es gefallen, wenn du gegenüber mir so sein würdest und daher versuchen wir, uns gegenüber anderen so zu verhalten.

Unsere natürlichen Fähigkeiten erkennen und zugänglich machen

Als nächstes erkennen wir unsere natürlichen Fähigkeiten und machen sie zugänglich. Bin ich in der Lage, mich so zu verhalten? Das bedeutet auf einer recht praktischen Ebene, an das, was wir allgemein als Buddha-Natur bezeichnen, zu denken. Was wird uns befähigen, ein Buddha zu werden? Was wird uns befähigen, ausgewogen in unserer Sensibilität zu werden? Wir bekräftigen also diese grundlegenden Talente, die wir haben: die Fähigkeit, Freude zu empfinden, fokussiert zu sein, Warmherzigkeit zu haben, sowie Verständnis und Selbstbeherrschung. Und das kann uns aufbauen; wir fühlen uns inspiriert. Wir bestärken diese Fähigkeiten, indem wir uns an alltägliche Erfahrungen erinnern, in denen wir sie haben. Zum Beispiel könnten wir nichts am Computer schreiben und keine SMS mit unserem Handy verschicken, wenn wir nicht fokussiert wären. Wir sind dazu in der Lage. Wir besitzen Warmherzigkeit, wenn wir beispielsweise ein Kätzchen oder kleinen Hund auf unserem Schoß streicheln. Wir wissen, wie wir unsere Schuhe zubinden. Wir nutzen solche gängigen Beispiele, um zu bekräftigen, dass wir diese natürlichen Fähigkeiten haben; wir müssen nur mit ihnen arbeiten.

Schädliches Verhalten unterlassen

Die nächste ganz grundlegende Sache ist, schädliches Verhalten zu unterlassen. Im Buddhismus werden zehn grundlegende Arten schädlichen Verhaltens aufgezählt, doch sie können auch erweitert und auf viel freiere und breitere Weise verstanden werden. 

Wir versuchen also zum Beispiel zu erkennen, worum es geht, wenn die Rede davon ist, jemanden oder uns selbst nicht zu töten. Wir sollten keinen körperlichen Schaden zufügen, was sich auch darauf beziehen könnte, mit einem älteren Menschen zu schnell zu laufen, denn das ist schädlich. Der ältere Mensch fühlt sich dabei ziemlich unwohl. Oder Lügen: Wir machen uns oft selbst etwas vor und belügen uns. Da gibt es wirklich viele ganz allgemeine Beispiel, an die wir denken können. Grobe Worte: Wie oft nutzen wir grobe Worte gegenüber uns selbst in unserem Geist? 

Wir versuchen also, diese Dinge zu erkennen – wie wir uns gegenüber anderen verhalten haben, wie wir uns gegenüber uns selbst verhalten – und anstatt sich schuldig zu fühlen, denken wir: „Das sind Dinge, an denen ich arbeiten muss. Ich werde wirklich versuchen, das zu vermeiden.“ 

Wärme mit Verständnis kombinieren

Die nächste Übung besteht dann in folgendem: Wir treffen die Entscheidung zu versuchen, Warmherzigkeit und Verständnis miteinander zu verbinden. Dabei handelt es sich um zwei Dinge, die wirklich notwendig im Umgang mit anderen sind, also wie wir erwidern – mit Warmherzigkeit und Verständnis. Manche dieser Entscheidungen bestehen darin, andere ernst zu nehmen, sich nicht vor einer Erwiderung zu scheuen, alle Informationen aufzunehmen und nicht voreilig Schlussfolgerungen zu ziehen, sowie davon Abstand zu nehmen, ungewollte oder nicht benötigte Hilfe oder Ratschläge zu geben.

Das ist der erste Teil, die Grundlagen. 

Die Talente unseres Geistes und unseres Herzens aufdecken 

Die Aufmerksamkeit vom Geist und von uns selbst auf die geistige Aktivität verschieben

Der zweite Teil der Übung besteht darin, die Talente unseres Geistes und unseres Herzens aufzudecken. Dafür gilt es, all unseren Fokus von unserem Geist und uns selbst auf die geistige Aktivität zu schieben. Das beruht eigentlich auf den Mahamudra-Lehren. 

Was in jedem Moment stattfindet, ist das Entstehen einer Art geistigen Hologramms (einer Erscheinung) und Wahrnehmung. All diese Lichtimpulse treffen auf die Augen und werden in elektrische Impulse und chemische Impulse umgewandelt; daraus erschafft das Gehirn dann irgendwie ein geistiges Hologramm. Das ist es was wir sehen und das ist es, was Sehen oder Hören ist. Es gibt kein konkretes „Ich“, das getrennt davon und der Beobachter oder Kontrollierende ist. Es gibt nur geistige Aktivität, von Moment zu Moment. 

Das hilft uns, besonders wenn wir überempfindlich sind, ein wenig Abstand zu bekommen. Und obgleich es kein getrenntes „Ich“ gibt, dass der Kontrollierende ist, in unserem Kopf sitzt, alles beobachtet und die Knöpfe drückt, habe ich dennoch einen Anteil daran, was ich erfahre und was ich tue. Und die Inhalte dessen, was ich erfahre, ändern sich ständig und sind ganz individuell. Was ich in einer Situation beobachte ist ganz anders als das, was du beobachtest, und ich erlebe die Auswirkungen meiner geistigen Aktivität: ich bin niedergeschlagen, ich fühle mich schlecht. 

In gewissem Sinne nehmen wir damit ein wenig Abstand von diesem übertriebenen Bezug auf dieses „ich ich ich ich ich.“ Es ist also nur grundlegende geistige Aktivität, von Moment zu Moment. Damit haben wir den so genannten groben Geist identifiziert. 

Die Klare-Licht-Natur der geistigen Aktivität

Kommen wir zum nächsten. In Bezug auf den subtilen Geist oder die subtile geistige Aktivität, betrachten wir beispielsweise das Gesicht einer Person, die sich gerade ärgert. Da gibt es das Erzeugen eines geistigen Hologramms und das Sehen. Das ist es, was gerade stattfindet. Und egal, welche Art der Emotion ich in Erwiderung darauf habe – mich selbst zu ärgern, mich zu erschrecken oder was auch immer – verhindert das nicht diese geistige Aktivität des Sehens dieses Bildes, dieses Gesichtes. Und auch meine verbalen Gedanken verhindern es nicht; ich sehe nach wie vor das Gesicht. Wenn ich meine, keinen Bezug zu dieser Person haben zu können, entstehe dadurch kein inhärenter Makel. Ich kann diese Person trotz allem wahrnehmen und sehen, egal was ich glaube. Mit anderen Worten verhindern meine Projektionen, meine Geisteshaltung, keinen Bezug zu der Person haben zu können, nicht die geistige Aktivität. Sie ist trotz allem da; das Sehen der Person findet statt, egal was ich denke, ich bin nicht in der Lage, die Realität zu verändern. Ich könnte denken, diese Person wäre ein Monster, aber dadurch würde sie nicht zu einem Monster werden; wir sehen nach wie vor ihr Gesicht. 

Das ist also wirklich wichtig zu erkennen, dass diese subtile Ebene des bloßen Wahrnehmens – nur ein geistiges Hologramm zu erzeugen und wahrzunehmen – fortwährend da ist, egal wie sehr wir uns ärgern und wie viel verbaler Müll in unserem Geist ist. Das ist immer da und es ist wirklich wichtig, weil wir dann einen Zugang dazu haben. 

Zugang zu den natürlichen Talenten unseres Geistes und Herzens finden

Die nächste Übung ist dann, Zugang zu den natürlichen Talenten des Geistes und des Herzens zu finden. Wir haben also diese Kontinuität identifiziert, diese ganz grundlegende Ebene, die immer da ist, aber wie finden wir Zugang zu ihr und ihren natürlichen Talenten? Beruhend auf diesem Loslassen, dass wir geübt haben, lassen wir zunächst die Anspannung unserer Muskeln los, wir lassen unser verbales Denken los und die Filme, die wir in unserem Geist projizieren, sowie unsere vorgefassten Meinungen und nichtverbalen Bewertungen (wir bewerten nicht oft auf nichtverbale Weise, aber das gibt es auch) und lassen diese projizierten Rollen und damit verbundenen Erwartungen los, die wir von der anderen Person und von uns selbst haben mögen, was ziemlich subtil ist: „ich sollte stark sein“, „du bist das Kind und ich bin der Erwachsene“, „ich bin die Mutter“, „ich bin der Vater“ und all diese damit verbundenen Projektionen und Rollen, die man spielen muss, um diese Position einzunehmen. All das gilt es loszulassen. Wir sind nur ein menschliches Wesen. 

Können wir uns wirklich tief entspannen, all den Stress und all diese Dinge loslassen, versuchen wir dann zu erkennen, wie wir uns in diesem Zustand fühlen, in dem wir nur diese ganz subtile geistige Aktivität sind. Sind wir wirklich tief entspannt, entdecken wir, dass es da ganz natürlich ein Gefühl der Warmherzigkeit gibt, eine ganz leichte Ebene der Freude, kein Freudenfest, sondern ein gutes Gefühl ohne Betrübtheit. Wir sind gegenüber der anderen Person völlig offen; wir sind nicht defensiv, sondern von Natur aus aufmerksam und fürsorglich. Und wir zögern nicht und haben keine Scheu, mit Worten oder Taten zu erwidern, die wir für angemessen halten. 

Das ist der eigentliche Schlüssel hier, sich entspannen und einfach Zugang zu diesen natürlichen Talenten finden zu können. Das kommt aus den Dzogchen-Lehren: sich entspannen und Zugang zu den Talenten des Geistes zu finden. Sie sind da, wenn man nur richtig zur Ruhe kommen kann. 

Die fünf Arten Tiefen Gewahrseins

Dann arbeiten wir mit den fünf Arten des tiefen Gewahrseins, wie ich sie nenne. Dabei handelt es sich um die spezifischen Talente, die wir haben. Es hat etwas damit zu tun, wie diese geistige Aktivität arbeitet. 

  • Wir sind in der Lage, Informationen aufzunehmen.
  • Wir sind in der Lage, Muster zu erkennen und sehen, wie Dinge zusammenpassen – Muster im Verhalten von jemanden, Muster in uns selbst, Dinge, die zusammenpassen. Und wenn wir mit anderen Umgang haben, ist es wichtig, eine Vorstellung von ihren Mustern zu haben und Verhaltensweisen einzuordnen.
  • Wir können die Individualität von Dingen sehen. Es ist nicht so, als würden wir in einem Buch lesen, was zu tun ist, wenn jemand ein bestimmtes Problem hat, und es dann gleichermaßen auf alle anwenden. So funktioniert das nicht. Wir erkennen die Individualität der Menschen und können uns auf sie einstellen, weil wir in der Lage sind, sie zu verstehen.
  • Und dann können wir uns mit Dingen auseinandersetzen. Das ist eine andere Weise des Gewahrseins – was wir mit etwas tun. Ich weiß was zu tun ist: Ich kann dieses Glas nehmen, es an meinen Mund führen und trinken. Ich weiß, wie das geht. Das ist die grundlegende Funktionsweise des Geistes.
  • Und wir wissen, was etwas ist und dass Dinge nicht auf völlig absurde, unmögliche Weise existieren.

Damit decken wir die Talente unseres Geistes auf, mit denen wir arbeiten können. 

Beseitigung von Missverständnissen bezüglich der Erscheinungen 

Der nächste Teil ist das Beseitigen von Missverständnissen bezüglich der Erscheinungen. Wollen wir also erwidern, sollten wir auf etwas erwidern, was real ist. Geistige Aktivität ist das Erzeugen von geistigen Hologrammen, doch zunächst müssen wir prüfen, ob sie gültig sind. Ist das, was erscheint, gültig? Denn es kann sein, dass wir etwas verzerren und nicht wirklich die Realität sehen. 

Bewertung der wahrgenommenen Erscheinungen

Die erste Übung ist ganz allgemein. Das Beispiel, das ich hier benutze, ist, schmutziges Geschirr in der Spüle zu sehen. 

  • Zunächst gilt es, die konventionelle Erscheinung dessen, was wir sehen, zu bestätigen: ja (es hilft nichts, es zu leugnen), ich habe nicht abgewaschen.
  • Und dann sind wir uns dieser übertriebenen Gefühle bewusst: dieser ewige, furchtbare Dreck überall und mein Partner, dieser faule Chaot, mit dem ich zusammenlebe und der nicht abgewaschen hat.
  • Daraufhin beseitigen wir dieses Bild und das Gefühl, indem wir uns vorstellen, einen Luftballon mit einer Nadel zum Platzen zu bringen. Wir haben die Situation hochgespielt und aufgebläht – nicht das es da ein getrenntes „Ich“ gibt, dass daherkommt und den Luftballon mit einer Nadel zum Platzen bringt, sondern er platzt einfach.

Was ist dieser aufgeblasene Ballon, den wir zum Platzen bringen? Er ist wie ein Märchenbuch: „Die Prinzessin und der Abwasch“ oder „Das Opfer und der faule Sack“, in dem steht, dass mein Partner es nicht getan hat, ich das arme, selbstgerechte Opfer bin und dieser furchtbare Typ einfach nicht abgewaschen hat. Diesen Ballon bringen wir zum Platzen. Wir können also entweder das Bild nutzen, in dem wir den Ballon zum Platzen bringen, oder das Märchenbuch, mit der Geschichte: „Die Prinzessin und der Abwasch“. Wir schließen es ab, betrachten die Situation und akzeptieren einfach die Realität. Es ist ziemlich wirksam, in einen Spiegel zu schauen, wenn die Geschichte „die Schöne und das Biest“ losgeht, wobei die Schöne das Biest im Spiegel betrachtet und sich fragt: „sehe ich wirklich so aus?“ Damit endet die Geschichte. Es ist ziemlich effektiv, was das geistige Bild betrifft. 

Handelt es sich um eine trügerische Erscheinung, wie „die Schöne und das Biest“ oder „du bist so ein furchtbarer Mensch“, gilt es, diese trügerischen Erscheinungen zu dekonstruieren. Und dazu gibt es hier einige Übungen. 

Die Veränderungen des Lebens visualisieren

Zunächst müssen wir die Veränderungen des Lebens visualisieren. Was passiert, ist, dass wir uns über jemanden ärgern und die Person in einem starren Bild festlegen. Oder nehmen wir das Beispiel einer älteren Person mit Alzheimer in einem Pflegeheim. Sie sitzt in einem Rollstuhl, nestelt an einem Handtuch herum und Speichel tropft aus ihrem Mund – ihr kennt das Bild. Das Problem ist hier die trügerische Erscheinung, dass diese Person immer so wahr und dann wird man äußerst unsensibel und hat Angst, wie man mit der Person umgehen soll. Wir versuchen also zu erkennen, dass diese Person auch einmal ein Kind war, ein Erwachsener, sie hatte eine Familie und einen Beruf. Sie hatte ein ganzes Leben und das ist nur ein Teil davon. Wir versuchen also, dieses starre, kleine Bild zu dekonstruieren und die ganze Lebensgeschichte mit all den Veränderungen zu erkennen. Dann ist es viel einfacher, mit dieser Person auf sensible Weise umzugehen. 

Das können wir auch in die andere Richtung tun, indem wir uns im Umgang mit einem Kind oder Jugendlichen bewusst darüber sind, dass diese Person ein Erwachsener werden und ein ganzes Leben haben wird. Das hilft uns dann, mehr Respekt für diese Person zu entwickeln. Momentan ist sie gerade ein Kind oder ein Säugling. Manchmal meinen die Eltern, sie könnten in der Gegenwart eines Zweijährigen einfach streiten und kämpfen: „Er ist ja erst zwei Jahr alt, ihm ist das egal.“ Doch es ist ihm nicht egal, es hat eine Auswirkung, denn das Kind wird auch irgendwann ein Erwachsener sein. 

Erfahrungen in Teile und Ursachen zerlegen

Die nächste Übung ist dann, Erfahrungen in ihre Teile und Ursachen zu zerlegen. Wenn diese Person uns beispielsweise so nervt, sind wir uns bewusst, dass sie aus einer Ansammlung von Atomen und kleinen Teilchen eines Körpers besteht. Das ist also nur ein Aspekt ihres Lebens und es gibt viele andere Facetten ihrer Persönlichkeit. Es gibt auch andere Facetten meiner Beziehung zu dieser Person. Das ist nur ein kleiner Teil, eine kleine Szene dessen, was passiert ist. Wir vergessen oft den ganzen Zusammenhang. 

Dann denken wir an all die Ursachen. Oft denken wir nie an die ursächlichen Faktoren, die zu diesem nervenden Verhalten geführt haben. Vielleicht hatte die Person einen harten Tag im Büro, vielleicht hatte sie Ärger mit den Kindern oder etwas ist im Haus kaputt gegangen. An diese Dinge denken wir nicht einmal. Wir reagieren nur auf genau das, was wir vor uns sehen. Und dann könnten wir natürlich wie Psychiater oder Psychologen sein und an die Ursachen in deren Kindheit denken und daran, wie sie von der Familie oder der Gesellschaft behandelt wurde. Gehen wir in unserer Analyse wirklich tief, gibt es eine Million Ursachen dafür, warum diese Person so gehandelt hat. Und natürlich kann man auch auf frühere Leben eingehen. 

Es ist erstaunlich, wie trügerisch die Erscheinungen sind, die wir wahrnehmen. So vergessen wir zum Beispiel die Tatsache, dass diese Person auch Freundschaften und Beziehungen mit anderen Leuten hat. Wir sind nicht die einzigen in ihrem Leben. Warum sollte sie also immer für mich zur Verfügung stehen? Doch für uns scheint es so, wir vergessen den ganzen Zusammenhang und erkennen nicht, dass ihre Beziehung zu uns nur ein Teil ihres Lebens ist. 

Erfahrungen als Wellen auf dem Ozean sehen

Dann geht es darum, den Dualismus zu zerlegen und dafür benutzen wir das Bild, Erfahrungen als Wellen auf dem Ozean zu sehen. Das Beispiel ist: „Was fällt dir ein, mir das zu sagen?“ Da gibt es dieses dualistische Gefühl des Richters und des Übeltäters. Nun, was ist wirklich passiert? Alles, was passiert ist, war, dass wir den Klang einer Stimme gehört haben, die diese Worte gesagt hat; das ist alles, was es wirklich war. Wir stellen uns diese Erfahrung des Hörens dieser Worte wie eine Welle auf dem Ozean unserer subtilen geistigen Aktivität vor. Aufgrund unserer Projektionen, ist die Welle immer größer geworden. Mit dieser dualistischen Sache von Richter und Übeltäter, sowie den Worten: „Was fällt dir ein?“ und der störenden Emotion der Wut, ist sie zu einer großen Monsterwelle geworden. 

Wir stellen uns vor, der Ozean zu sein, und egal, wie groß die Welle ist, es ist nur Wasser. Sie kann den Ozean selbst nicht stören, denn er ist riesig. Dann kehren wir zu der bloßen Erfahrung zurück: alles, was passiert ist, war, dass wir Worte gehört haben. In einem ruhigen Geisteszustand, in dem wir aus nichts eine große Sache machen, bewältigen wir die Situation. Wir haben einen klaren Geist und erkennen, wie wir mit der Situation fertig werden. 

Das Dekonstruieren mit Mitgefühl verbinden

Dann versuchen wir, Mitgefühl mit all diesen verschiedenen Arten des Dekonstruierens zu verbinden. Hier gibt es genau genommen drei getrennte Übungen. 

Nun, dies ist der dritte Teil, das Dekonstruieren von trügerischen Erscheinungen. Wir haben also unsere Grundlage, den ersten Teil, dann erkennen wir, dass wir alle diese natürlichen Talente haben und wie wir Zugang zu ihnen finden, und schließlich gilt es, diese trügerischen Erscheinungen zu dekonstruieren. Wir stellen sicher, dass das, worauf wir erwidern, die tatsächliche Realität, die tatsächliche Situation ist. Wir bauschen sie nicht zu etwas auf oder betrachten nur ein winziges Teil und nicht die gesamte Situation. 

Mit ausgewogener Sensibilität erwidern 

Unsere angeborenen Geistesfaktoren anpassen

Im vierten Teil geht es darum, wie wir auf ausgewogene Weise erwidern. Hier werden wir uns mit diesen Faktoren auseinandersetzen müssen, die mit jedem Augenblick unserer Erfahrung verbunden sind, und wir können sie anpassen. 

  • Wie viel Aufmerksamkeit schenken wir einer Sache?
  • Wie sehr sind wir daran interessiert?

Das ist äußerst wichtig, denn wenn wir kein Interesse an einer Sache haben, schenken wir ihr keine Aufmerksamkeit. 

  • Wir müssen erkennen, welchen Gesichtsausdruck, welche Körperhaltung andere haben, ob sie angespannt sind, müde oder krank.
  • Konzentration.
  • Absicht.

Leiden annehmen und Glück weitergeben

Die nächste Übung besteht darin, unsere Gefühle von Blockaden zu befreien. Viele Leute haben Gefühlsblockaden, doch wie lösen wir sie auf? Nun, dazu ist es zunächst wiederum notwendig, uns zu entspannen. Hier befassen wir uns nun mit anderen Variablen, was das Entspannen betrifft. Wir sollten irgendwie versuchen, Anspannung, Ängste, Nervosität, Dumpfheit, Schläfrigkeit loszulassen und sollten uns in einem Zustand befinden, der entspannt und erfrischt ist, als hätten wir gerade eine erfrischende Dusche genommen. Wir fühlen uns entspannt und frisch. Um die Gefühle von Blockaden zu befreien, ist es wirklich wichtig, keine Angst vor unseren Gefühlen zu haben und zu meinen: „Ich kann mich damit nicht befassen, weil es einfach zu viel ist.“ 

Dann ist es notwendig, eine Art des Gleichmutes zu entwickeln, mit dem wir gegenüber der anderen Person weder Anhaftung, noch Ablehnung oder Gleichgültigkeit empfinden. „Niemand mag es, wenn man sich an ihn hängt. Ich mag es nicht, wenn jemand an mir klammert. Ich mag es nicht, abgelehnt zu werden und auch andere mögen das nicht. Und ich mag es nicht, ignoriert zu werden, genau wie auch alle anderen es nicht mögen.“ 

Wir sollten außerdem darauf achten, ob wir diese Gefühle der Anhaftung, der Abneigung und der Gleichgültigkeit gegenüber uns selbst haben. Nun, was bedeutet das? Gleichmut gegenüber mir selbst heißt, mich selbst nicht überfürsorglich zu behandeln, keine Angst vor meinen Gefühlen zu haben und nicht ständig beschäftigt zu sein. Sind wir zu beschäftigt, haben wir keine Zeit dafür, irgendetwas zu empfinden. 

Und wir sollten offen und interessiert am Wohlergehen anderer sein. Der Schmerz, den andere empfinden, ist real. 

All das gehört zu der buddhistischen Praxis des Gebens und Nehmens, in der man das Leid der anderen annimmt und ihnen Glück schenkt. Das große Problem ist hier, dass wir Angst davor haben, ihr Leiden zu fühlen und Empathie zu empfinden. Dafür dürfen wir nicht angespannt oder voller Sorgen sein, wir sollten nicht an der Person hängen, dürfen keine Angst haben, sollten sie nicht ignorieren, sondern einfach offen und fürsorglich sein. 

Dann entwickeln wir Interesse. Der Schmerz muss beseitigt werden. Die Person braucht Trost. Wie Shantideva sagt, sollte Schmerz beseitigt werden, weil er wehtut und nicht, weil er jemanden gehört (weil er dein Schmerz oder mein Schmerz ist). Und dann geht es um Empathie, Mitgefühl und die Bereitschaft, sich darauf einzulassen. 

Wir haben keine Angst davor, traurig zu sein. Es ist nur ein Gefühl und wir können uns darin üben. Was ist der Unterschied, unsere Hand zu kitzeln, sie zu kneifen oder einfach zu halten? Es handelt sich einfach um eine Sinnesempfindung, um ein Gefühl. Es ist keine große Sache. Wir haben also keine Angst, traurig zu sein, wenn wir hören, dass jemand sich gerade in einer wirklich schweren Situation befindet und uns zum Beispiel sagt: „ich habe gerade herausgefunden, dass ich Krebs habe“. 

Dann atmen wir den Schmerz ein, nehmen ihn an und fühlen ihn. Und dann machen wir diese Übungen wie zuvor, in der wir wie der Ozean sind. Wir fühlen es zwar, doch dann beruhigt es sich und wir finden Zugang zu dieser subtilen Ebene, in der es eine natürliche Warmherzigkeit und diese Dinge gibt. Dann projizieren wir die Warmherzigkeit und das Wohlbefinden auf die andere Person. 

Es ist eine ziemlich heikle Situation, wenn uns andere sagen, dass sie Krebs haben; natürlich sind wir dann traurig. Wir akzeptieren ihr Leiden, aber wir freuen uns nicht darüber, dass sie Krebs haben. Wie können wir dieses Leiden empfinden und doch Warmherzigkeit und Wohlbefinden auf sie projizieren, anstatt einfach zu sagen: „oh wie furchtbar“ und dann mit ihnen zu weinen? Das ist die Methode. 

Sensible Entscheidungen treffen

Die letzte Übung besteht darin, sensible Entscheidungen zu treffen. Wie entscheiden wir, was zu tun ist? Und hier geht es um wirklich schwierige Entscheidungen, wie: Soll ich diese Beziehung beenden? Soll ich mir einen anderen Job suchen? Soll ich umziehen? Diese großen Entscheidungen sind wirklich nicht einfach. Wie treffen wir eine sensible Entscheidung? 

Eine Entscheidung, mit der viele von uns konfrontiert werden, ist die einer nicht funktionierenden Beziehung. Zunächst gilt es, diesen Ballon des Opfers („ich Armer/Arme“) und des Täters („du furchtbarer Mensch“) platzen zu lassen und dann zu versuchen, die Fakten zu überprüfen, wie diese Person uns behandelt hat, wie wir sie behandelt haben, und so weiter. Schließlich ist es notwendig, vier Dinge zu untersuchen (und dazu gibt es eine ganze Analyse): 

  • Was würde ich gern tun?
  • Was will ich tun?
  • Was muss ich tun?
  • Was sagt mir meine Intuition?

An einem einfachen Beispiel kann man erkennen, dass diese Dinge ziemlich unterschiedlich sind. Ich mache gerade eine Diät, weil ich abnehmen muss und gehe beim Bäcker vorbei, wo ich meinen Lieblingsschokoladenkuchen sehe: 

  • Natürlich würde ich gern hineingehen, ihn kaufen und essen.
  • Doch ich muss abnehmen.
  • Es geht um meine Gesundheit, um meinen hohen Blutdruck.
  • Meine Intuition sagt mir: „Nun, ich weiß nicht, ein kleines Stück wird vielleicht nicht schaden.“

Wie meine Schwester immer sagt: die Krümel des Kuchens zählen nicht. Andere Leute nehmen den Kuchen und wir essen dann die Krümel von ihrem Teller, oder etwas in der Art. 

Dann analysieren wir: Warum habe ich dieses Gefühl? Warum meine ich, die Beziehung zu dieser Person beenden zu wollen, habe aber das Gefühl, nie wieder einen anderen Partner zu finden? Wir analysieren also, warum das so ist. Welche Faktoren haben einen Einfluss darauf? Hier kann man eine Liste mit den Vor- und Nachteilen erstellen. Handelt es sich um einen berechtigten Grund, warum ich die Beziehung beenden will? Oder ist der Grund berechtigt, das Gefühl zu haben, abgelehnt zu werden? Nun, das liegt an niedrigem Selbstwertgefühl. Ist es realistisch? Auf diese Weise schlussfolgert, für was man sich entscheidet. Man trifft eine Entscheidung beruhend auf all diesen Faktoren, und nicht nur auf dem Gefühl, was man gerade hat. 

Schlussfolgerung 

Das ist also das grundlegende Sensibilitätstraining. Es umfasst achtzehn Übungen und ist ein ziemlich reichhaltiges Programm. Es durchzugehen dauert etwa drei Jahre, wenn man eine Sitzung pro Woche macht. Man geht es langsam durch, weil viele Dinge hochkommen. Doch die Resultate, die ich bei Leuten gesehen habe, die diese Art von Programm durchgegangen sind, sprechen für sich – es ist wirklich ausgesprochen hilfreich. Es gibt noch vier weitere Übungen, die ich als fortgeschrittenes Training bezeichne und die noch ausführlichere Methoden zum Dekonstruieren trügerischer Erscheinungen sind. Für die meisten von uns ist das wirklich ziemlich schwierig, denn wir leben nur in unseren Fantasien, in unseren Projektionen.

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