Beim Übertreten tantrischer Gelübde involvierte Faktoren

Allgemeine Darstellung

Die vier bindenden Faktoren

Laut dem Gelug-Meister Kedrub Norzang Gyatso (mKhas-grub Nor-bzang rgya-mtsho) und seinem Werk „Eine Lampe zum Erhellen der Praktiken enger Bindungen“ (Dam-tshig gsal-ba’i sgron-me) ist eine Übertretung tantrischer Gelübde (gsang-sngags-kyi rtsa ltung) – abgesehen von dem fünften tantrischen Wurzelgelübde (anstrebendes Bodhichitta aufzugeben) – nur dann vollständig, wenn eines der vierzehn Wurzelgelübde mit den vier bindenden Faktoren (kun-dkris bzhi) übertreten wird. Dasselbe gilt für die Bodhisattva-Wurzelgelübde. Nur wenn diese Faktoren ab dem Moment, in welchem man die Motivation entwickelt, ein Gelübde zu übertreten, bis zu dem Moment direkt nach der Übertretungshandlung aufrechterhalten werden, verliert man seine tantrischen Gelübde. Ist das nicht der Fall, sind diese lediglich geschwächt.

[Siehe: Die allgemeinen tantrischen Wurzelgelübde]

Die vier bindenden Faktoren stammen aus dem „Kapitel ethischer Selbstdisziplin“ (Tshul-khrims-gyi le’u) aus Asangas „Bodhisattva-Stufen des Geistes (Byang-chub sems-dpa’i sa, Skt. Bodhisattvabhūmi). Diese sind:

  • negative Handlungen nicht für schädlich halten, nur Positives darin sehen und eine solche Handlung ohne Reue ausführen
  • die Gewohnheit haben, Gelübde zu übertreten, und nicht den Wunsch oder die Intention haben, von nun an davon abzusehen, es zu wiederholen
  • Freude an der negativen Handlung haben
  • keine moralische Selbstachtung haben oder nicht darauf bedacht sein, wie sich die eigenen Handlungen auf andere auswirken, und somit nicht die Intention haben, den Schaden, den man sich selbst und anderen zufügt, zu beheben

Die bindenden Faktoren binden einen in dreierlei Hinsicht. Nur im ersten Fall verliert man seine tantrischen Gelübde:

  • Sind alle vier bindenden Faktoren präsent, wenn man ein tantrisches Wurzelgelübde übertritt, handelt es sich um eine große Bindung (kun-dkris chen-po). 
  • Wenn man die negative Handlung nicht für schädlich hält, aber die anderen drei Faktoren nicht präsent sind, handelt es sich um eine mittlere Bindung (kun-dkris ‘bring). 
  • Wenn man die negative Handlung bzw. die Übertretung für schädlich hält, aber irgendwelche oder alle bindenden Faktoren präsent sind, handelt es sich um eine kleine Bindung (kun-dkris chung-ngu). 

Selbst wenn die vier bindenden Faktoren präsent sind, während man eine der acht schwerwiegenden Handlungen begeht (sbom-po, tantrische Nebengelübde), ist dies keine Übertretung und man verliert seine tantrischen Gelübde nicht.
 
[Siehe: Die tantrischen Nebengelübde]

Notwendige Faktoren, damit die karmischen Wirkungen vollständig in Kraft treten

Außerdem müssen, wie auch bei den zehn destruktiven Handlungen und den Bodhisattva-Gelübden, folgende Faktoren gegeben sein, damit die karmischen Wirkungen vollständig in Kraft treten:

  • eine Handlungsgrundlage, sprich, ein Objekt, auf welches die Handlung gerichtet ist 
  • ein tatsächliches Ausführen der Handlung
  • ein Abschluss, den die Handlung erreicht

An anderer Stelle werden noch folgende drei erwähnt:

  • eine Person, welche die Handlung ausführt, sprich, jemand, der noch nicht überschrittene tantrische Gelübde hält
  • richtiges Unterscheidungsvermögen in Bezug auf das Objekt, auf welches die Handlung gerichtet ist
  • eine Geisteshaltung, welche die vier bindenden Faktoren beinhaltet

[Siehe: Die wesentlichen Punkte über Karma]

Faktoren, welche die Übertretung eines Gelübdes verursachen

Es gibt verschiedene Faktoren, welche uns veranlassen können, unsere tantrischen Gelübde zu übertreten. Das „Tantra der Gelübde einer Dakini“ (mKha’-‘gro-ma’i sdom-pa’i rgyud, Skt. ḍākiṇīsaṃvaratantra) listet folgende auf:

  • Unkenntnis des Gelübdes
  • Nachlässigkeit
  • von störenden Emotionen überwältigt sein
  • Mangel an Respekt
  • Vergesslichkeit
  • Schwaches Vermögen zur Vergegenwärtigung

Reinigungsmethoden

Die Methoden, sich von der negativen Kraft, welche man durch Übertretung und den darauffolgenden Verlust eines tantrischen Gelübdes aufgebaut hat, zu reinigen, bestehen im Allgemeinen darin, die vier Gegenkräfte anzuwenden (gnyen-po'i stobs-bzhi), nachdem man zuvor die Übertretung offen eingestanden hat. Diese Kräfte werden auch angewendet, um tantrische Gelübde wieder zu stärken, falls man diese geschwächt hat:

  • aufrichtige Reue
  • der feste Entschluss, die Übertretung nicht zu wiederholen
  • unsere Basis zu bekräftigen, welche in der sicheren Richtung (Zuflucht) und der Bodhichitta-Motivation besteht
  • Das Anwenden von Gegenmaßnahmen, zum Beispiel Rezitieren des hundert-silbigen Mantras von Vajrasattva oder des Mantras von Samayavajra (Dam-tshig rdo-rje)

Hat man seine tantrischen Gelübde durch eine Übertretung verloren, beinhalten die Gegenkräfte Folgendes:

  • hunderttausend Wiederholungen des hundert-silbigen Mantras von Vajrasattva und das erneute Empfangen der tantrischen Gelübde in einer weiteren Ermächtung
  • Die Gelübde erneut als Teil der Selbst-Initiation (bdag-‘jug) der Buddha-Gestalt (yi-dam) der eigenen Praxis zu nehmen. Man sollte die Selbst-Initiation nur durchführen, wenn man zuvor ein Tauglichkeitsretreat (las-rung) auf diese Buddha-Gestalt vollendet hat, in welchem man das entsprechende Mantra mindestens hunderttausend Mal rezitiert und daraufhin die dazugehörige Feuerpuja (sbyin-sreg) durchgeführt hat.

Weitere Details

Die sieben verbindenden Faktoren

Der Drigung-Kagyü Meister Rigdzin Chödrag (Kun-mkhyen Rig-‘dzin chos-grags) listet in seinem Text „Vajra-Girlande: Dinge, die es bezüglich der Gelübde des unvergleichlichen Tantras zu üben gilt“ (Bla-med rdo-rje theg-pa’i sdom-pa’i bslab-bya rdo-rje’i phreng-ba) sieben verbindende Faktoren (sbyor-ba bdun), welche zusammenkommen müssen, damit es zu einer Übertretung der tantrischen Gelübde kommt:

  • von einer der drei störenden Emotionen motiviert sein
  • dies als das erkennen – das kann so verstanden werden, die Handlung als Verstoß zu erkennen (wie bei den vier bindenden Faktoren), oder dass man die Grundlage der Handlungen richtig identifiziert (wie bei den Faktoren, welche notwendig sind, damit die karmischen Wirkungen vollständig in Kraft treten)
  • die Handlungen des Körpers und der Rede nicht zügeln
  • keine Beeinträchtigung [der Übertretung] – laut der „Enzyklopädie aller Dinge, die erkannt werden können“ (Shes-bya kun-khyab) des Rime-Meisters Kongtrül (‘Jam-mgon Kong-sprul Blo-gros mtha’-yas) bedeutet dies, dass zu wenig Schädigung bzw. Unterbrechung daran getätigt wurde, dass die Übertretung vollständig wurde. Mit anderen Worten: Wenn man innerhalb von drei Stunden nach der Übertretung eines Gelübdes die Gegenkräfte anwendet, schädigt bzw. bricht dies den Verstoß; aber wenn dieser Faktor vorhanden ist, lässt man mehr als drei Stunden vorübergehen
  • wissen, dass die Handlung fehlerhaft war, aber diese nicht bereuen
  • sich daran erfreuen
  • nicht in der eigenen Natur getäuscht sein – dies bedeutet, während der Handlung geistig verwirrt zu sein oder keinen gesunden Geist zu haben

Rigdzin Chödrag fügt weiterhin folgende Bedingung hinzu:

  • mehr Zeit (als die erlaubte) vorübergehen lassen, bevor man (die Übertretung seinem tantrischen Meister, während dieser oder diese noch am Leben ist,) eingesteht und die Gelübde erneut nimmt

Auf der anderen Seite fasst Kongtrül die Tatsache, die Handlung nicht zu bereuen, und die Tatsache, sich daran zu erfreuen, zu einem Punkt zusammen und führt das Vorübergehenlassen von mehr als der erlaubten Zeit als siebten Punkt in der Liste der sieben verbindenden Faktoren auf.

Die erlaubte Zeitspanne, in welcher die Übertretung einzugestehen ist und die tantrischen Gelübde erneut zu nehmen sind, variiert je nach Ebene des tantrischen Meisters, von welchem wir die Gelübde empfangen haben.

  • Hat man sie von einem tantrischen Meister mit drei Qualifikationen (gsum-ldan-gyi slob-dpon) bekommen, beträgt die erlaubte Zeitspanne ein Jahr.
  • Hat er zwei Qualifikationen (gnyis-ldan-gyi slob-dpon), sind es zwei Jahre.
  • Hat er eine Qualifikation (gcig-ldan-gyi slob-dpon), sind es drei Jahre.

Die drei Ebenen von spirituellen Meistern werden gemäß dem, was man von ihnen erhalten hat, unterschieden:

  • Ein tantrischer Meister mit einer Qualifikation ist jemand, von dem man lediglich eine Ermächtigung (dbang; Initiation) erhalten hat.
  • Einer mit zwei Qualifikationen ist jemand, von dem man zusätzlich zu der Ermächtigung auch eine Tantra-Erklärung erhalten hat.
  • Einer mit drei Qualifikationen ist jemand, von dem man über die Ermächtigung und die Erklärung der verborgenen (geheimen) Punkte des Tantra hinaus auch Quintessenz-Lehren (man-ngag) bezüglich Tantra-Praxis erhalten hat.

Grade der Übertretung

Es gibt verschiedene Grade der Übertretung tantrischer Gelübde. Rigdzin Chödrag erklärt:

  • Sind alle sieben verbindende Faktoren vollständig beim Übertreten eines Gelübdes, aber die vorgeschriebene Zeit ist noch nicht vorüber, bevor man die Übertretung offen eingesteht und die Gelübde erneut nimmt, handelt es sich um eine Übertretung der Wurzelgelübde (rtsa-ltung). In einem solchen Fall kann man die tantrischen Gelübde erneut nehmen.
  • Wenn nicht nur die Faktoren vollständig sind, sondern die vorgeschriebene Zeitspanne auch noch vorüber ist, handelt es sich nicht mehr nur noch um eine Übertretung, sondern um einen völligen Bruch (pham-pa). Dies bedeutet, dass man keine weitere Ermächtigung nehmen und auch die Gelübde nicht erneut nehmen darf.
  • Wenn die Übertretung unbeeinträchtigt bleibt – mit anderen Worten, wenn man die Gegenkräfte innerhalb von drei Stunden nach der Übertretung anwendet –, aber die ersten drei verbindenden Faktoren präsent sind, handelt es sich um eine schwerwiegende Handlung (sbom-po). 
  • Wenn die Handlungen von Körper und Rede nachlässig (bag-med-pa) wurden, aber die anderen sechs verbindenden Faktoren nicht vorhanden sind, handelt es sich lediglich um eine fehlerhafte Handlung. Kongtrül fügt hinzu, dass es auch eine fehlerhafte Handlung ist, wenn man ein Gelübde übertritt, da man es vergessen hat.

Gibt es einen besonderen Grund, ein tantrisches Gelübde zu übertreten, handelt es sich nicht um eine fehlerhafte Handlung. Solche Fälle werden in „Herzornament der allgemeinen Methoden für alle Geheimnisse“ (gSang-ba thams-cad-kyi spyi’i cho-ga’i snying-po rgyan, Skt. sarvaguhyavidhigarbhālaṃkāra) aufgelistet:

  • wenn dies für einen höheren Zweck getan wird, wie beispielsweise zum Nutzen anderer
  • wenn das Einhalten des Gelübdes ein Hindernis verursacht, welches das eigene Leben bedrohen würde
  • wenn man von dem eigenen tantrischen Meister die Erlaubnis bekommen hat, ein Gelübde nicht zu beachten
  • wenn man beispielsweise aufgrund von Krankheit ein Gelübde nicht einhalten kann
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