Die Faktoren der Buddha-Natur sind jene Zuschreibungen in unserem Geisteskontinuum, die uns befähigen, die verschiedenen Körper eines Buddhas zu erlangen. Es gibt drei Arten:
- die sich entwickelnden Faktoren, die zu den nicht-statischen Buddhakörpern werden – die zwei Formkörper, Nirmanakaya und Sambhogakaya. Sie beziehen sich auf unser Netzwerk positiver Kraft (manchmal als Ansammlung von Verdienst bezeichnet) und unser Netzwerk tiefen Gewahrseins (auch als Ansammlung von Weisheit bezeichnet), die zu dem Dharmakaya des tiefen Gewahrseins (oder Jnana-Dharmakaya) eines Buddhas, Buddhas allwissendem Geist, werden.
- Zusätzlich zu diesen sich entwickelnden Eigenschaften gibt es die andauernden Eigenschaften: die Leerheit unseres Geisteskontinuums, welche die Leerheit des Geistes eines Buddhas begründet. Dabei handelt es sich um den statischen Körper der essentiellen Natur eines Buddhas.
- Die dritte Art der Faktoren der Buddha-Natur ist die Facette unseres Geisteskontinuums, die es den verschiedenen Dingen, die in ihm aufgebaut werden, ermöglicht, stimuliert und zum Wachsen angeregt zu werden.
Sehen wir uns diese Netzwerke etwas genauer an.
Samsara-bildende und Reines-bildende Netzwerke
Wenn von diesen Netzwerken die Rede ist, können wir sie auf zwei Ebenen sehen: die Samsara-bildenden Netzwerke und die Reines-bildenden Netzwerke. Die Samsara-bildenden Netzwerke sind jene, die zu unserer fortgesetzten samsarischen Wiedergeburt beitragen. Bauen wir viel positives Potenzial auf, führt das in der Regel zu besseren Wiedergeburten, zu einer der besseren Wiedergeburten, und auch wenn wir uns gedanklich nicht auf ein Netzwerk negativer Kraft, negativer karmischer Kraft, beziehen, wäre das vergleichbar. Bauen wir also viel negatives Potenzial, negative Kraft, auf, führt das zu einem schlechten Wiedergeburtszustand.
Es gibt jedoch auch Reines-bildende Netzwerke und diese unterscheiden sich je nach Motivation und Widmen, wenn wir sie aufbauen. Dieses Wort Motivation (tib. kun-slong) setzt sich aus zwei Dingen zusammen, aus unserem Ziel und dem Gemütszustand, der sich hinter unserer Absicht (tib. ’dun-pa), dieses Ziel zu erlangen, befindet. Dies zu verstehen ist wirklich wichtig. Wenn wir im Buddhismus von Motivation reden, meinen wir immer diese zwei Aspekte: unser Ziel und den Geisteszustand, der uns antreibt, dieses Ziel zu erreichen.
Es gibt zwei Ebenen von Reines-bildenden Netzwerken. Wenn unser Ziel darin besteht, Befreiung zu erlangen, die Emotion dahinter Entsagung – die Entschlossenheit, frei von Samsara, samsarischer Wiedergeburt, zu sein – ist, und unser konstruktives Verhalten oder unsere Meditation über die vier edlen Wahrheiten oder Leerheit danach dem Erlangen der Befreiung gewidmet wird, kann man diese Art der Reines-bildenden Netzwerke als „Befreiung-bildende Netzwerke“ bezeichnen. Sie entwickeln sich auf die Befreiung, auf unser Erlangen der Befreiung, zu. Besteht unser Ziel hingegen darin, Erleuchtung zu erlangen und ist der Geisteszustand dahinter Liebe, Mitgefühl und diese universale Verantwortung, alle zur Erleuchtung zu führen, also Bodhichitta, und widmen wir nach einer konstruktiven Art der Aktivität oder Meditation über die vier edlen Wahrheiten oder Leerheit die positive Kraft daraus dem Erlangen der Erleuchtung, handelt es sich dabei um „Erleuchtung-bildende Netzwerke“.
Diese Netzwerke sind mit dem Aufrechterhalten unserer samsarischen Existenz, sowie unserem Erlangen der Befreiung und auch unserem Erlangen der Erleuchtung verbunden. Alles hängt von unserer Motivation ab. Was ist also unsere Absicht, was ist unser Ziel? Welcher Geisteszustand oder welche Emotion steckt dahinter? Welche Widmung machen wir, wenn wir überhaupt widmen?
Es gibt vier Möglichkeiten:
- Wir haben kein Ziel und keine Widmung, tun also positive und negative Dinge, und das setzt einfach die Höhen und Tiefen der samsarischen Wiedergeburt, der unkontrollierbar sich wiederholenden Wiedergeburt, fort – manchmal schlechte Wiedergeburtszustände und manchmal bessere. Diese Art des Aufbauens solcher Netzwerke würde man aus einer buddhistischen Sicht überhaupt nicht als spirituelle Praxis betrachten. Wenn wir gar kein Ziel haben oder auch diese Art der Praxis, also zum Beispiel konstruktives Verhalten, anstreben, das uns in diesem Leben weiterhilft, wird dies aus einer buddhistischen Perspektive überhaupt nicht als spirituelle Praxis angesehen. Nur wenn wir daran interessiert sind, unsere zukünftigen Leben zu verbessern, ist dies gemäß dem Buddhismus spirituell. Das Wort „spirituell“ ist nicht ganz passend und eigentlich geht es um den „Dharma“. Handelt es sich also um eine Dharma-Praxis?
- Reden wir jedoch von einer Dharma-Praxis, gibt es die drei Ebenen des Lam-rim (des Stufenpfades). Wir können positive Kraft aufbauen und meditieren – über die vier edlen Wahrheiten, Leerheit – mit dem Ziel, zukünftige Leben zu verbessern und es diesem Ziel widmen. Unsere Motivation, unser Antrieb ist die Angst vor schlechten Wiedergeburtszuständen, wir fürchten uns vor ihnen und wollen sie wirklich vermeiden. Das kann man dann mit der anfänglichen Ebene vergleichen.
- Führen wir diese verschiedenen Praxis-Formen aus und meditieren mit dem Ziel, Befreiung zu erlangen, angetrieben von Entsagung (der Entschlossenheit, frei zu sein) und widmen es der Befreiung, wäre das vergleichbar mit der mittleren Ebene der Motivation im Lam-rim.
- Führen wir diese Praktiken und die Meditation mit dem Ziel aus, Erleuchtung zu erlangen, motiviert durch Liebe, Mitgefühl und der universalen Verantwortung, Bodhichitta, und widmen sie der Erleuchtung, wäre das vergleichbar mit der fortgeschrittenen Ebene der Motivation im Lam-rim, ob wir diese Art der Praxis nun beruhend auf Sutra- oder Tantra-Methoden ausführen.
Nun, um diese Netzwerke geht es in diesem ganzen Prozess, entweder Samsara aufrechtzuerhalten, Samsara zu verbessern, Samsara zu entkommen oder Erleuchtung zu erlangen. Lassen wir das einen Moment einwirken und untersuchen dann, welche Art der Praxis wir eigentlich ausführen. Tun wir irgendetwas Konstruktives und unterlassen einfach nur schädliches Verhalten oder gehen wir tatsächlich raus und helfen anderen? Ist es uns überhaupt wichtig, die positive Kraft zu widmen? Und wenn wir sie widmen, wem widmen wir sie? Wenn wir uns auf diese Weise mit dem Verständnis untersuchen, dass diese Netzwerke mit all diesen Zielen verbunden sind, hilft uns das nicht nur, uns im Klaren darüber zu sein, was wir tun, sondern vielleicht auch, etwas zu verbessern wenn wir merken, dass unsere bisherigen Bemühungen nicht gerade effektiv waren.
Eine korrekte Absicht zu haben und auf angemessene Weise zu widmen, sind keine simplen Angelegenheiten. Wir können ganz einfach die Worte sagen: „Zum Wohle aller fühlenden Wesen widme ich dies dem Erlangen der Erleuchtung“ oder noch besser: „damit alle Erleuchtung erlangen“. Es ist einfach, das zu sagen, doch damit das Ziel und die Widmung korrekt sind, müssen sie mit dem korrekten Verständnis darüber aufgeführt werden, was dies tatsächlich bedeutet. Befreiung erlangen? Was bedeutet eigentlich Erleuchtung? Wir müssen wirklich Gewissheit haben, nicht nur in Bezug darauf, was es bedeutet – das korrekte Verständnis – sondern auch Gewissheit in Bezug auf unsere Fähigkeit, es zu erlangen. Auch die Emotion, die dahinter steckt, diese konstruktive, positive Emotion, die uns dorthin treibt, muss wirklich von Herzen kommen, ernsthaft und nicht einfach nur mechanisch sein.
Daher sollten wir darauf achten, es in Bezug auf Absicht, Ziel, Motivation und Widmen nicht nur auf der Ebene des Aufsagens von Worten zu belassen, ob wir nun in unserer eigenen Sprache etwas rezitieren oder auf Tibetisch (was wir nicht einmal verstehen). Bitte zieht das in Betracht, wenn es darum geht, auf welche Weise wir diese Motivation oder dieses Ziel haben und wie wir tatsächlich widmen. Wie überzeugt sind wir denn von der Existenz der Wiedergeburt, der Existenz von Befreiung, Erleuchtung und diesen Dingen, die im Grunde auf unser Verständnis und unsere Überzeugung in die vier edlen Wahrheiten hinauslaufen? Denn andernfalls streben wir etwas an, was wir nicht einmal verstehen, von dem wir uns nicht sicher sind, ob es das überhaupt gibt und ob wir es erreichen können, was nicht gerade effektiv ist. Bitte denkt hinsichtlich eures eigenen Verhaltens darüber nach und seid euch darüber bewusst, dass es nicht reicht, einfach zu sagen: „ja ja, ich glaube es“, ohne wirklich etwas zu verstehen.
Ebenbilder und tatsächliche Reines-bildende Netzwerke
Wenn wir anstreben, dass diese Netzwerke, diese Aspekte unserer Buddha-Natur, als Reines-bildende wirken, können wir dann etwas mit ihnen auf unserer derzeitigen Ebene tun? Das ist eine große Frage. Es ist wirklich wichtig zu wissen, wo die Grenzen liegen und wann unsere positiven Handlungen etwas Reines oder nur Samsara hervorbringen. Aus diesem Grund werden diese Netzwerke in so genannte Ebenbild-Reines-bildende und tatsächliche Reines-bildende unterteilt, ob wir nun über Befreiungsbildende oder Erleuchtungsbildende Netzwerke sprechen. „Ebenbild“ heißt, dass es etwas ähnliches, aber nicht die eigentliche Sache ist. Um hier den Unterschied zwischen den Ebenbildern und den tatsächlichen Netzwerken zu verstehen, ist es notwendig, sich über einige Variablen bewusst zu sein, die damit verbunden sind. Der Geisteszustand, die Emotion, die uns antreibt, nach Befreiung oder Erleuchtung zu streben, ist, wie gesagt, auf der einen Seite Entsagung (oder die Entschlossenheit, frei zu sein) und auf der anderen Seite Bodhichitta.
Es ist wichtig, uns daran zu erinnern, was Bodhichitta eigentlich bedeutet. Unser Ziel ist unsere eigene, individuelle Erleuchtung, die noch nicht stattgefunden hat, aber auf der Grundlage unserer Faktoren der Buddha-Natur stattfinden kann, gestützt von Liebe (dem Wunsch, alle mögen glücklich sein), Mitgefühl (dem Wunsch, alle mögen frei von Leiden und den Ursachen des Leidens sein) und dem außergewöhnlichen Entschluss (tib. lhag-bsam), der zuweilen mit „universaler Verantwortung“ übersetzt wird, die Verantwortung dafür zu übernehmen, allen zu helfen, Befreiung und Erleuchtung zu erlangen. Das ist Bodhichitta.
Es gibt zwei Stufen; die einfachen Worte dafür sind Entsagung und Bodhichitta, und es wird als mühevoll (tib. rtsol-bcas) und mühelos (tib. rtsol-med) bezeichnet. Mühevoll heißt, dass wir diesen Geisteszustand durch eine Art der Überlegung aufbauen müssen. Im Fall von Bodhichitta könnte das zum Beispiel die siebenteilige Meditation über Ursache und Wirkung sein, also dass auf der Grundlage des Gleichmuts jeder unsere Mutter gewesen ist, wir uns an die Güte der mütterlichen Liebe erinnern usw. Wir müssen darauf hinarbeiten, tatsächlich dieses Bodhichitta oder diese Entsagung zu empfinden. Es ist nicht so tief in uns verwurzelt, dass es ganz automatisch entsteht, ohne etwas dafür tun zu müssen. Wenn wir dieses Gefühl, diesen motivierenden Antrieb haben, ohne uns dafür zu bemühen, also ohne Bemühung hineinstecken zu müssen, um sie hervorzubringen, nennt man sie mühelose Entsagung (tib. rtsol-med nges-’byung) oder müheloses Bodhichitta (tib. rtsol-med byang-sems). Geschieht es auf eine mühelose Weise, ist das eine ziemlich fortgeschrittene Ebene.
Die fünf Pfade
Nun gibt es eine Darstellung von so genannten fünf Pfaden, wenn wir darauf hinarbeiten, Befreiung oder Erleuchtung zu erlangen. Das Wort Pfad ist nicht wirklich eine gute Übersetzung dafür, weil es sich auf einen Weg bezieht, den wir gehen. Es handelt sich dabei aber um fünf Ebenen des Geistes, die Pfade sind, weil sie uns von einer Ebene zur nächsten, bis hin zur Befreiung oder Erleuchtung führen.
Allerdings erreichen wir nur die erste dieser Ebenen, wenn wir mühelose Entsagung oder mühelose Entsagung und müheloses Bodhichitta haben. Das ist der Anfangspunkt dieser fünf und wir können unseren Geist auf zweierlei Pfaden entwickeln. Auf dem einen streben wir Befreiung an, entweder als ein Shravaka (tib. nyan-thos) (jemand, der die Lehren des Buddhas hört) oder als ein Pratyekabuddha (tib.rang-rgyal) (jemand, der während der dunklen Zeitalter, wenn die Lehren Buddhas nicht verfügbar sind, auf der Grundlage von Neigungen praktiziert). Oder wir können diese Stufen auf dem Pfad mit dem Ziel der Erleuchtung durchlaufen und auf diesem Weg auch Befreiung erlangen (oder laut einigen indischen Lehrsystemen Befreiung und Erleuchtung gleichzeitig erreichen). Ungeachtet dessen, welchem Pfad wir folgen, entwickeln wir uns durch diese fünf Ebenen des Pfadgeistes.
Verfügen wir über mühevolle Entsagung und mühevolles Bodhichitta, die wir momentan erlangen können, würden wir Ebenbild-Reines-bildende Netzwerke aufbauen. Verbunden mit großen Anstrengungen muss dies, wie gesagt, natürlich ernsthaft sein und mit Verständnis einhergehen. Es ist ein Ebenbild; es wird zu unserer Befreiung oder Erleuchtung beitragen – auch wenn wir momentan bestmöglich diese positiven Dinge tun und über Leerheit meditieren – es wird zu unserer Befreiung oder Erleuchtung beitragen, solange wir zumindest eine mühevolle Ebene der Entsagung und des Bodhichitta als Teil der Absicht und des Widmens haben. Daher sollten wir uns zu Beginn unserer Meditation wirklich bemühen. Es wird stets betont, dass man vor der Meditation eine Absicht fassen und mit der Widmung abschließen sollte. Das wird in den Lojong-Texten erwähnt (den Texten zur Schulung der Geisteshaltungen); im Grunde wird es überall erwähnt, auch im Lam-rim, jeder sagt es, denn es ist wirklich wichtig. Warum? Weil dann die positive Kraft und das tiefe Gewahrsein, die wir aufgebaut haben, tatsächlich als ein Ebenbild der reinen Ursache für Befreiung und Erleuchtung dienen werden; sie werden dazu beitragen, ansonsten nicht. Sogar jetzt können wir daran arbeiten, diese Ebenbild-Reines-Bildende aufzubauen.
Die tatsächlichen Reines-Bildenden beginnen wir aufzubauen, wenn wir über mühelose Entsagung oder sowohl mühelose Entsagung und müheloses Bodhichitta verfügen. Sind wir auf dieser mühelosen Stufe, erlangen wir, wie gesagt, den ersten dieser fünf Pfade des Geistes, der für gewöhnlich als Pfad der Ansammlung (tib. tshogs-lam) übersetzt wird. Es ist ein Pfadgeist des Aufbauens; eigentlich bauen wir Shamatha (tib. zhi-gnas) und Vipashyana (tib. lhag-mthong) auf. Shamatha, wenn wir es nicht schon zuvor erlangt haben, ist ein still geworden und zur Ruhe gekommener Geist, der eingerichtet (tib. rtse-gcig) auf die sechzehn Aspekte der vier edlen Wahrheiten oder Leerheit mit einem Gefühl der Leistungsfähigkeit (tib. shin-sbyangs) gerichtet ist; wir können uns auf alles fokussieren. Vipashyana ist ein Geisteszustand von außergewöhnlicher Wahrnehmungsfähigkeit, mit dem wir neben dieser Ruhe, Stille und dem Gefühl der Leistungsfähigkeit, uns auf alles konzentrieren zu können, auch ein zusätzliches Gefühl der Leistungsfähigkeit haben, alles wahrnehmen und alles mit all den feinen Unterschieden und dem Auseinanderhalten (tib. dpyod-pa, Untersuchen, Analysieren, subtiles Unterscheidungsvermögen) verstehen zu können. Im Kontext dieses aufbauenden Pfadgeistes richten wir uns auf die sechzehn Aspekte der vier edlen Wahrheiten oder auf die Leerheit. Von diesem Punkt an, wenn wir das erste Mal diesen aufbauenden Geisteszustand erlangen, bis hin zum letzten Moment des vierten Pfadgeistes – direkt bevor wir Befreiung oder Erleuchtung erlangen – während dieser Periode verfügen wir über die tatsächlichen Reines-bildenden Netzwerke.
Sprechen wir nun von dem Netzwerk tiefen Gewahrseins, so muss dieses tiefe Gewahrsein der sechzehn Aspekte der vier edlen Wahrheiten oder der Leerheit nicht nicht-konzeptuell sein; es wird nicht-konzeptuell, wenn wir den dritten dieser fünf Pfade erlangen, den so genannten Pfad des Sehens oder Pfadgeist des Sehens (tib. mthong-lam). Und es muss nicht einmal eine völlige Vertiefung (tib. mnyam-bzhag) in die sechzehn Aspekte der vier edlen Wahrheiten oder der Leerheit sein, die manchmal (beispielsweise von Jeffrey Hopkins) als „meditative Ausgewogenheit“ übersetzt wird, was sich auf einen Zustand der Vereinigung von Shamatha und Vipashyana bezieht. Diese erreichen wir mit dem Erlangen des zweiten dieser Pfade des Geistes (tib. sbyor-lam), den ich als den „Pfadgeist der Anwendung“ bezeichne und der oft als Pfad der Vorbereitung übersetzt wird. Wir müssen nicht einmal Shamatha oder einsgerichtete Konzentration (tib. ting-nge-’dzin, Skt. Samadhi, vertiefte Konzentration) haben, denn wenn wir diesen ersten der fünf Pfade des Geistes nicht schon zuvor erlangt haben, können wir sie während diesem ersten erlangen. Das ist doch ziemlich ermutigend, wenn wir einmal darüber nachdenken.
Alles, was wir tun müssen und was wir für ein tatsächliches Erleuchtungsbildendes Netzwerk brauchen – als wäre es ganz leicht, was es nicht ist – ist unsere aufbauende positive Kraft, unser tiefes Gewahrsein und unsere Meditation über die vier edlen Wahrheiten und Leerheit im Kontext müheloser Entsagung und Bodhichitta. Davor sind Entsagung und Bodhichitta mühevoll und das ist das Ebenbild; hierfür muss es einfach mühelos sein. Wir müssen nicht unbedingt Shamatha haben. Wir brauchen nicht unbedingt eingerichtete Konzentration, Shamatha, die Vereinigung von Shamatha und Vipashyana, nicht-konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit oder dergleichen, da sich diese Dinge auf dem Weg entwickeln werden.
Verinnerlicht dies und wiederholt es in eurem Geist, um zu sehen, ob ihr euch wirklich daran erinnern und mit Gewissheit sagen könnt, dass ihr es verstanden habt. Ich werde euch nicht testen. Wärt ihr eine Gruppe von Tibetern in einem Kloster und würdet so eine Vorlesung bekommen, würdet ihr euch danach in Paare aufteilen und miteinander debattieren, um das Verständnis des anderen zu testen und sicherzustellen, dass es verstanden wurde. Niemand kommt einfach so davon, passiv und mit einem netten Lächeln im Gesicht dazusitzen, aber nichts verstanden oder sich eingeprägt zu haben.
Gut, ein kleines Quiz. Wirkt Shamatha, perfekte Konzentration, über die wir verfügen und die auf Leerheit gerichtet ist, als ein Reines-Bildendes für unsere Befreiung und Erleuchtung, indem sie ein reines Netzwerk tiefen Gewahrseins aufbaut? Tut sie das? Nein. Warum? Weil wir keine mühelose Entsagung und kein müheloses Bodhichitta haben. Es könnte auch einfach eine intellektuelle Übung sein, dort zu sitzen, zu meditieren und vollkommene Konzentration über Leerheit zu erlangen; sie wird nur Samsara fortsetzen und wir werden schlauer sein, was Samsara betrifft. Motivation und Widmung sind wirklich sehr wichtig.
Jetzt können wir diese Reines-bildenden Netzwerke noch genauer definieren. Nehmen wir einmal an, wir haben mühelose Entsagung und müheloses Bodhichitta, üben uns in konstruktivem Verhalten, gehen herum und helfen Menschen als ein anstrebender Bodhisattva. Mit mühelosem Bodhichitta wären wir ein Bodhisattva, doch wir sind noch kein Arhat, noch kein befreites Wesen. Was begleitet unser konstruktives Verhalten? Was läuft in unserem Geist ab? Wir sind kein Arhat – wir sind noch nicht befreit – und greifen somit nach wie vor nach wahrer Existenz. Wir könnten durchaus immer noch mangelndes Gewahrsein haben. Es könnte sogar noch Anhaftung geben und Stolz, manche dieser Dinge sind vielleicht auch noch da.
Innerhalb dieses ganzen Netzwerks all der Geistesfaktoren und Dinge, die gleichzeitig auftreten und in jedem Moment da sind, wenn wir jemanden helfen, gibt es einige Faktoren – dieses Greifen nach wahrer Existenz, das mangelnde Gewahrsein usw. – die nicht zu den Formkörpern eines Buddhas werden. Nur die positive Kraft (das so genannte Verdienst) und die Aspekte des tiefen Gewahrsein werden die positive Kraft zu den Formkörpern transformieren, das tiefe Gewahrsein in den Dharmakaya des tiefen Gewahrseins, nicht dieser andere Müll, der gleichzeitig auch in unserem Geist abläuft.
Warum ist das wichtig? Weil es ziemlich entmutigend wäre und wir denken könnten: „Ich bemühe mich wirklich. Ich habe sogar dieses mühelose Bodhichitta und dennoch bin ich immer noch verblendet.“ Nun, was erwarten wir eigentlich? Bis hin zur Arhatschaft werden wir noch verblendet sein und störende Emotionen haben. Wir sollten also Geduld haben. Obwohl ich also Anhaftung gegenüber anderen habe, wird dieses Ziel (die Absicht), diese positive Kraft, wenn ich ihnen helfe und sie widme, als Ursache dafür dienen, Erleuchtung zu erlangen. Ich widme sie also der Erleuchtung und auch wenn es Anhaftung gibt, wird sie als Ursache dafür dienen, tatsächlich Erleuchtung zu erlangen, solange ich entweder mühevolles oder müheloses Bodhichitta habe. Es ist äußerst wichtig dies zu verstehen, denn sonst verlieren wir den Mut und denken: „Wie um alles in der Welt kann ich jemals diese Ursachen, die rein sind, aufbauen?“
Lass das einen Moment einwirken, denn es ist ein sehr wichtiger Punkt. Andernfalls sind wir so hart gegenüber uns selbst und meinen: „Ich kann das niemals umsetzen, weil ich keine vollkommene Konzentration habe. Ich habe immer noch Anhaftung“, und all diese Dinge. Wir sind trotz allem vollkommen konzeptuell. Natürlich sind wir das. Aber dennoch können wir diese Reines-Bildende aufbauen, diese tatsächlichen Ursachen oder Ebenbilder der Ursachen für Befreiung und Erleuchtung, solange wir mühevolle oder schließlich mühelose Entsagung und Bodhichitta haben. Dann arbeiten wir auf dem Pfad an diesen anderen Dingen. Lasst das einsinken. Dies gibt uns eine Vorstellung von den Prioritäten in unserer Praxis.
Gut, ein Quiz. Wenn wir eine Menge Niederwerfungen, hunderttausende Mantras, sowie alle möglichen Dinge machen, wie Wasser zu segnen, dies und jenes zu segnen, und keine Motivation für mühevolles oder müheloses Bodhichitta haben, wirken diese Dinge – unsere Mantras und Niederwerfungen – dann als eine Ursache dafür, Erleuchtung zu erlangen? Wir bauen positive Kraft auf, doch trägt diese positive Kraft zu unserer Erleuchtung bei? Tut sie das? Nein. Tun wir es mit mühevollem Bodhichitta, sind aber stolz auf uns selbst, haben ein wenig Anhaftung an das, was wir tun, und sind nicht vollkommen fokussiert, wirkt diese positive Kraft dann als eine Ursache für die Erleuchtung? Ja.
Es ist notwendig zu verstehen, was wichtig ist und was unsere Prioritäten sind. Zu was die gleiche Handlung – das Rezitieren von Mantras, die Niederwerfungen oder jemandem zu helfen – heranreifen oder in was sie resultieren wird, hängt sehr von unserer Absicht, Motivation und Widmung ab, auch wenn sie eine positive Handlung und das Aufbauen positiver Kraft sein mag. Sogar, wenn wir dem Buddha ein Glas Wasser mit einer korrekten Motivation darbringen, hat das eine viel stärkere Auswirkung, als tausenden von Arhats oder Mönchen die schönsten Speisen ohne eine Motivation darzubringen. Das stammt aus einem der Sutras, einer der Erzählungen des Buddhas. Sogar einem Hund eine Schale Wasser zu geben, hat, wenn wir es mit der richtigen Motivation tun, eine viel größere Auswirkung, als alle möglichen fantastischen Dinge, hunderttausende Niederwerfungen ohne Motivation zu machen. Das müssen wir verstehen.
Fragen
Könnten Sie mühelose Entsagung anhand eines Beispiels beschreiben, nachdem Sie für Bodhichitta einige Beispiele aufgeführt haben?
Mühelos bedeutet, keine Kette von Argumenten durchzugehen, mit der wir an all die Leiden von Samsara denken (die ganze Liste der Leiden in Samsara, die Schwierigkeiten eines jeden Wiedergeburtszustandes und so weiter), und nicht einmal für einen Augenblick die kleinste Anhaftung an irgendetwas in Samsara zu haben und alles wie ein brennendes Haus zu betrachten, aus dem wir einfach nur entfliehen wollen – so wird es, glaube ich, in einem der Verse beschrieben. Das ist mühelose Entsagung: wir betrachten alles wie ein Gefängnis und diesen Geisteszustand hervorzubringen ist gar nicht so leicht.
Wir könnten es missinterpretieren und denken, wir dürften nichts mehr genießen. Es ist jedoch nichts verkehrt daran, eine gute Mahlzeit oder was immer wir haben zu genießen, solange wir nicht danach greifen und es zur wunderbarsten Sache der Welt machen. Wir können es mit einem Glücksgefühl, mit Freude erleben, daran ist nichts falsch. Haben wir ein hohes Maß an positiver Kraft aufgebaut, werden wir fortwährend glücklich sein, obgleich das natürlich nicht die unbefleckte Glückseligkeit eines Buddhas ist; es handelt sich dabei nur um unser gewöhnliches Leiden der Veränderung, das gewöhnliche Glücklichsein, welches nicht andauert. Aber dennoch werden wir eine gute Mahlzeit genießen. „Möge ich diese Nahrung nicht aus Genuss oder Anhaftung zu mir nehmen, sondern wie eine Medizin, die mich am Leben erhält, damit ich anderen weiter helfen kann. Und mögen alle so eine wunderbare Mahlzeit genießen.“ All diese Dinge sind ausgesprochen hilfreich, aber dennoch genießen wir die Mahlzeit. Und mit Gleichmut ist es einerlei, ob die Nahrung nun gut oder furchtbar ist.
Wenn Ngöndro ohne eine korrekte Motivation uns nicht zur Erleuchtung führt, heißt das dann nicht im Umkehrschluss, dass das Ausführen irgendeiner anderen Aktivität, wie herumzuspringen oder vielleicht jemanden zu füttern, uns mit einer korrekten Motivation zur Erleuchtung führen kann?
Sicher, es kann als Ursache zum Erlangen der Erleuchtung beitragen. „Ich werde hoch und runter springen. Ich werde einhundert Klimmzüge machen und sie der Erleuchtung widmen.“ Nun, das ist eine unspezifische Handlung.
Wir sollten daran denken, dass Phänomene in destruktive (tib. mi-dge-ba), konstruktive (tib. dge-ba) und unspezifische (tib. lung ma-bstan) unterteilt werden können. Konstruktive werden positive Kraft aufbauen und in Glück resultieren und destruktive bauen negative Kraft auf und resultieren in Leid, wie in dem Beispiel, entweder davon abzusehen, die Mücke zu töten, oder sie zu töten. Niederwerfungen sind eine konstruktive Handlung, denn es geht nicht nur um die physische Handlung – obwohl die physische Handlung selbst als konstruktiv betrachtet wird – sondern auch um den ganzen Respekt und diese Dinge, die damit einhergehen. Wenn wir Niederwerfungen machen, gibt es alle möglichen Visualisierungen und Dinge, die damit verbunden sind und die wir wiederholen.
Eine unspezifische Handlung ist eine Art neutrale Handlung, die je nach der Motivation in beide Richtungen gehen kann, konstruktiv oder destruktiv. Führen wir eine unspezifische Handlung mit der konstruktiven Motivation von Bodhichitta aus, dann dient sie natürlich als eine Ursache für die Erleuchtung. Das klassische Beispiel ist, durch die Tür in das andere Zimmer zu gehen und damit Samsara zu verlassen und zur Erleuchtung zu gehen, wobei wir alle Wesen mit uns zu einem Zustand der Erleuchtung nehmen, wenn wir durch die Tür gehen. Durch die Tür zu gehen ist eine unspezifische Handlung und sie kann in eine Ursache für die Erleuchtung umgewandelt werden. Gehen wir jedoch, als vorbereitende Praxis, hunderttausend Mal ohne die korrekte Motivation durch die Tür, ist das wahrscheinlich etwas weniger effektiv, als hunderttausend Niederwerfungen mit einer korrekten Motivation zu machen.
Ich war 9 Jahre der Dolmetscher, Sekretär und Assistent meines Lehrers Serkong Rinpoche und betrachtete immer alles, was ich für ihn tat, als ein Ngöndro, als eine vorbereitende Praxis. Hunderttausende Briefe zu schreiben, all die Visas und diese Dinge zu besorgen, das war Teil meiner vorbereitenden Übungen. Hunderttausende Telefonanrufe zu machen, um seine Vorlesungen und Reisen zu organisieren; Visas für Lehrer zu besorgen, damit sie zum Beispiel hier nach Russland kommen konnten, all diese Vorkehrungen zu treffen, kann man mit einer korrekten Motivation zu einer vorbereitenden Übung machen.
Wie kann man feststellen, ob die Motivation korrekt ist? Denn manchmal sagt uns unser Geist, dass unser Motiv wirklich gut ist, wie jemandem zu helfen, doch dann verstehen wir, dass wir falsch lagen.
Das ist eine sehr gute Frage. Hier gibt es, wie immer, mehrere Dinge zu beachten.
Zunächst ist es so: Auch wenn wir die wirklich beste Motivation haben, wird sie trotz allem vielleicht mit dem Greifen nach wahrer Existenz, mit Selbstbezogenheit und störenden Emotionen vermischt sein, solange wir kein Arhat, kein befreites Wesen sind. Bevor wir ein Arhat sind, ist sie niemals hundertprozentig rein. Es gilt zu untersuchen, welcher beteiligte Faktor am stärksten ist und zu versuchen, diese anderen bestehenden Faktoren zu minimieren, denn wir sind noch nicht von ihnen befreit.
Zweitens tun wir sogar mit der besten und reinsten Absicht und Motivation eventuell etwas, das Schaden verursacht. Es führt nicht zu dem, was wir uns erhoffen. Warum? Weil eine Million anderer Faktoren daran beteiligt sind und ein Resultat hervorbringen. Ein klassisches Beispiel ist folgendes: Vielleicht geben wir jemandem eine Million Rubel mit der Absicht, ihm zu helfen, doch am nächsten Tag wird er wegen diesem Geld ausgeraubt und ermordet. Das war nicht unsere Absicht, oder? Aus diesen Grund ist es wichtig, die Motivation zu betonen und Buddhaschaft zu erlangen, denn nur ein Buddha würde all die ursächlichen Faktoren kennen, die einen Einfluss auf das Ergebnis von etwas haben und daher weiß nur ein Buddha wirklich, wie man anderen bestmöglich helfen kann. Auf unserer Ebene und auf jeder Ebene vor der Buddhaschaft versuchen wir einfach unser Bestes zu tun, beruhend auf den Informationen und der Erfahrung, die wir haben.
Müssen wir die Absicht jedes mal festlegen, wenn wir eine positive Handlung ausführen wollen und beispielsweise einem alten Menschen etwas zu essen kaufen, der es sich nicht leisten kann, und diese Person versorgen. Müssen wir dann immer denken: „ich tue dies, damit ich Befreiung und Erleuchtung erlangen kann“? Ist das dann nicht eine Art spiritueller Materialismus, wenn wir immer nur an unsere Ansammlungen und diese Dinge denken? Wäre es nicht besser, es einfach zu tun?
Deine Frage hat zwei Aspekte. Zunächst widmen wir, wie Shantideva betont: „mögen alle Wesen Erleuchtung erlangen“. Es geht nicht nur um uns, wir vergessen nicht, dass auch alle anderen Erleuchtung erlangen müssen.
Zweitens streben wir die mühelose Ebene dieser Motivation an, auf der dies ganz von selbst kommt. Dann müssen wir uns nicht bemühen, die Motivation vorher irgendwie künstlich hervorzubringen. Am Anfang ist es allerdings wichtig, all die Schritte durchzugehen, aber später denken wir einfach an die Motivation; wir gehen nicht mehr alle Schritte durch und schließlich entsteht sie dann ganz von allein.
Was ist der praktische Aspekt davon? Der praktische Aspekt ist, dass wir jemandem, an dem wir wirklich hängen, natürlich gern helfen, weil wir mit der Person zusammen sein und Zeit mit ihr verbringen wollen, doch dann müssen wir sehr vorsichtig sein, weil es keine reine Motivation ist, sondern reine Anhaftung.
Wann ist es wichtig, sich zu bemühen eine Motivation aufzubauen? Wir sehen einen Bettler, eine Babuschka, eine alte Frau in der Metro betteln, haben aber gerade kein Kleingeld in unserer Tasche und wollen ihr auch nichts geben, weil wir in Eile sind. Dann erinnern wir uns: „Das könnte meine Mutter sein; das könnte meine Großmutter sein; das könnte auch ich sein, der gerade dort sitzt und bettelt.“ Dann beginnen wir, diese Überlegung durchzugehen, dass jeder schon einmal unsere Mutter gewesen ist, um uns zu motivieren, uns diese Zeit zu nehmen und dieser alten Frau die Münzen zu geben, die wir in der Tasche haben. Das sind die praktischen Beispiele, wo es notwendig ist, dies anzuwenden und nicht einfach nur zu denken: „Ich will ein gutes Mädchen, ich will ein guter Junge sein und daher werde ich etwas geben.“ Das ist spiritueller Materialismus.
Welche Motivation sollten wir haben, wenn andere Menschen uns helfen und wir ihre Hilfe annehmen?
Wie es in den Bodhisattva-Nebengelübden heißt, geben wir ihnen die Möglichkeit positive Kraft aufzubauen. Wir akzeptieren also ihre Großzügigkeit und dies hilft auch, selbst Großzügigkeit zu entwickeln.
Aber um noch einmal darauf zurückzukommen, was ich auf die Frage davor gesagt habe: Es ist eine wirklich ausgesprochen hilfreiche Übung, mit den Menschen zu arbeiten, denen wir unterwegs in der Stadt begegnen. Hier in Moskau gibt es zum Beispiel diese Geschäfte dort unten in der Metro, wo sie allen möglichen Kleinkram verkaufen. Diese Leute stehen oder sitzen in ihren Buden, sie können sich kaum bewegen, weil es so eng ist. Die Luft ist schlecht und sie stehen den ganzen Tag dort, nur um ein wenig Geld zu verdienen. Oder die Frau in der öffentlichen Toilette, der man ein paar Münzen gibt, wenn man hineingeht; man betrachtet diese Menschen stets mit den Gedanken: „Meine Güte, es könnte meine Mutter oder meine Großmutter sein, die dort arbeitet. Ich selbst könnte es sein“, und so entwickelt man zumindest etwas Mitgefühl; es ist eine mühevolle Weise, diese Art des Mitgefühls, die Wertschätzung für andere aufzubauen. Wir nehmen auch alle anderen um uns herum wahr, wie sie leiden, was wirklich überaus hilfreich ist.
Wenn wir anderen Menschen auf materielle Weise helfen, kann das ja auch schädlich für sie sein, weil es ihnen Hoffnung macht, dass Samsara gar nicht so schlecht ist. Es kann also ein Grund dafür sein, Anhaftung an Samsara zu entwickeln.
Die absurde Schlussfolgerung daraus wäre, dass wir nie jemandem helfen sollten – niemals den Hungernden Nahrung, den Kranken Medizin geben, niemals unseren Hund, nie unsere Kinder füttern und nie irgendetwas tun sollten – weil sie dann an der Behaglichkeit Samsaras hängen werden. Hier bediene ich mich der buddhistischen Methode namens „prasanga“, die von den Prasangikas genutzt wird und darin besteht, etwas aus der logisch absurden Schlussfolgerung zu betrachten, die uns hilft, es zu verstehen. Wie gesagt wissen wir nie, was das Resultat unserer Handlung sein wird.
Ich denke, hier geht es um das, was wir als verwöhnen bezeichnen würden, also unserem Kind ständig Spielsachen, Schokolade und all diese Dinge zu geben. Wir können es natürlich auch übertreiben. Man muss unterscheidendes Gewahrsein nutzen, um zu diskriminieren, was hilfreich und was schädlich ist.
Ich möchte etwas zu dem Bettler in der Metro-Station sagen, weil das etwas ist, mit dem jeder vertraut ist. Sieht man beispielsweise eine junge Frau mit einem Baby um Geld betteln, bin ich mir zu 90 Prozent sicher, dass es eine Art Geschäft ist. Jeder kennt es, es gibt so viele Artikel in den Zeitungen darüber, es handelt sich um eine kriminelle Organisation. Sie bitten um Geld, nicht für sich selbst, aber wahrscheinlich bekommen sie eine Art Gehalt, doch das meiste Geld, das sie sammeln, geht weiter an den Boss. In diesem Fall oder auch in anderen Situationen, wenn ich Menschen ohne Beine im dichten Verkehr meiner Stadt sehe, die nach Geld fragen, mache ich mir Sorgen, dass jemand sie dazu zwingt. Was soll ich in solchen Situationen tun? Wenn ich ihnen Geld gebe, trage ich dazu bei, sie zu ermutigen, weiter dieser Art des Geschäfts nachzugehen. Was soll ich in diesem Fall tun?
Das ist eine wirklich schwierige Frage. Hier geht es um Bettler, die grundsätzlich für eine Art Syndikat arbeiten, was es in vielen Ländern gibt. Für gewöhnlich müssen sie einen bestimmten Prozentsatz, meist einen sehr hohen, an ihren Boss geben. Sie gehen mit einem Baby herum, als hätten sie es sich nur geliehen – es ist also nicht einmal ihr eigenes – um Geld damit zu verdienen. Mancherorts verkrüppeln diese Leute sogar Kinder, um sie zum Betteln zu benutzen. Was tut man in so einer Situation? Sollen wir etwas geben (womit man ja den Boss unterstützen würde) oder nicht?
Erweitern wir unser Beispiel auf eine internationale Ebene, auf der wir Menschen in äußerst armen Ländern oder Kriegsgebieten ausländische Unterstützung zukommen lassen, wobei 80 Prozent davon in die Taschen korrupter Beamter fließt und nur 20 Prozent bei den Leuten ankommt. Bestrafen wir die Menschen, wenn wir gar nichts geben? Ist es besser, ihnen die 20 Prozent zu geben und damit die Taschen der korrupten Beamten zu füllen, oder ist es besser, nichts zu geben? Das ist ein ziemlich ernsthaftes Dilemma, was internationale Hilfsorganisationen und Regierungen betrifft, und es ist dasselbe Problem.
Es gibt keine einfach Antwort auf den Bettler, der gezwungen ist, für das Syndikat zu arbeiten. Geben wir diesem Bettler Nahrung – einen Apfel, eine Flasche Wasser oder etwas ähnliches – ist das etwas, woraus er direkt einen Nutzen ziehen kann. Oft ist es jedoch der Fall, dass sie bestraft werden, wenn sie nicht jeden Tag dem Boss eine bestimmte Summe an Geld bringen. Das ist also ein großes Problem. Was internationale Hilfe betrifft, so gibt es zahlreiche Länder mit einem hohen Maß an Korruption, in denen man nicht persönlich seine Medikamente verteilen kann, sondern sie den Regierungsbeamten aushändigen muss. Das ist also auch ziemlich problematisch.
Ich denke, darauf gibt es keine einfache Antwort. Es ist zweifellos besser, wenn der Bettler zumindest etwas bekommt, also dem Bettler etwas zu geben, besonders wenn es so ist, dass er dafür bestraft wird, wenn er nicht genug bringt. Auf jeden Fall sollten wir versuchen, ihm etwas Nahrung zu geben, wenn wir welche haben. Viel schwieriger ist es, wenn es um einen Bettler geht, der eine Zigarette raucht, eine Flasche Bier in der Hand hält, betrunken ist oder ganz offensichtlich unter Drogen steht und um Geld bettelt, damit er Zigaretten, Alkohol oder Drogen kaufen kann. Dann ist es nicht gerade hilfreich, diese Gewohnheit zu unterstützen. Wir können ihm Nahrung geben, aber all dies sind wirklich schwierige Beispiele.
Ich denke an Berlin, wo wir auch Bettler haben. Einige von ihnen sind völlig gesund und betteln seit vielen Jahren in der U-Bahn; sie sind wie Berufstätige, die dies zu ihrem Lebenserwerb gemacht haben. Da fragt man sich, ob es lohnenswert ist, das zu unterstützen.
Hier sollten wir daran denken, was Shantideva schrieb: Die Vollkommenheit der Großzügigkeit ist nicht die Beseitigung aller Armut in der Welt. Wäre das der Fall, hätte Buddha sie nicht erreicht.
Vielmehr besteht die Vollkommenheit (die weitreichende Geisteshaltung, das Paramita, wie auch immer wir es nennen wollen) der Großzügigkeit in der Bereitschaft des Gebens. Dann gilt es zu diskriminieren, ob es hilfreich oder schädlich ist, was wirklich nicht leicht ist. Doch sogar diese Bettler, die zum Betteln gezwungen werden, sind trotz allem menschliche Wesen, sie waren in früheren Leben ebenfalls unsere Mütter und es ist keineswegs hilfreich, auf sie herabzuschauen, ihnen böse Blicke zuzuwerfen, sie verächtlich zu behandeln oder sie zu ignorieren und so zu tun, als wären sie gar nicht da.
Tun wir jedoch etwas, um anderen zu helfen, ist es wichtig nicht nur die Motivation zu haben: „mögen alle durch diese Verdienste Erleuchtung erlangen“, sondern auch: „möge es dieser Person von Nutzen sein.“ Liebe und Mitgefühl sollten wir nicht vergessen: „Mögen sie glücklich sein. Mögen sie frei von Leiden sein.“
Lasst uns mit diesem schönen Gedanken für heute mit der Widmung enden: Möge alle positive Kraft (in Bezug auf das Netzwerk positiver Kraft) und alles Verständnis (in Bezug auf das Netzwerk tiefen Gewahrseins) allen als Ursache dienen, zum Wohle aller Erleuchtung zu erlangen.