Das Uttaratantra: Einführung in den Text

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Einleitung

Der Text, den ich erläutern werden, nennt sich „Das weitest gehende, immerwährende Kontinuum“ (Skt. Uttaratantra, tib. rGyud bla-ma). Er besteht aus fünf Kapiteln; es würde also eine oder zwei Wochen dauern, wenn ich alles langsam erklären würde – heute müssen wir jedoch in acht Stunden fertig werden. Von dieser Zeit bleibt dann noch lediglich die Hälfte übrig, denn was ich sage, wird anschließend auch noch übersetzt. Wir haben also nur vier Stunden Zeit, um die fünf Kapitel durchzugehen, und das ist schlichtweg unmöglich. Deswegen werde ich an dieser Stelle nur den ersten und wichtigsten Teil erklären. 

Außerdem wird es am Ende jeder Sitzung die Möglichkeit geben, Fragen zu stellen. Solltet ihr Fragen haben, schreibt sie euch bitte auf, damit wir einige davon zu Beginn der folgenden Sitzung beantworten können. 

Gemeinsame Ziele der Religionen in Bezug auf spirituelle Entwicklung

Ich denke, ich werde einige Dinge zunächst mit meinem schlechten Englisch darstellen. Wie ihr wisst, gibt es in dieser Welt eine ganze Reihe verschiedener Religionen, von denen jede einzelne ihre besonderen Charakteristiken besitzt. Für manche Menschen ist die eine Religion hilfreicher; für andere Menschen eine andere. Worauf es ankommt, ist, dass alle Religionen jedoch mehr oder weniger das gleiche Ziel verfolgen, denn in unserer heutigen Zeit brauchen die Menschen trotz des großen materiellen Fortschritts auch einen inneren Fortschritt – das heißt inneren Frieden und spirituelle Entwicklung. Dies ist trotz des äußeren Fortschritts sehr wichtig. 

Unter diesen Umständen ist die Einheit all der verschiedenen Religionen zentral. Es stimmt mich sehr freudig, dass ich euch heute buddhistische Lehren in einer christlichen Kirche übermitteln kann. Das ist etwas Wunderbares, nicht wahr? Es zeigt, dass wir ein viel besseres Verständnis und ein Gefühl von Nähe zueinander haben. Das hat eine sehr positive Bedeutung. 

Die Struktur der buddhistischen Lehren 

Buddha Shakyamuni

Gelehrte haben unterschiedliche Berechnungen darüber angestellt, wann Buddha Shakyamuni gelebt hat. Einige sagen, es sei vor mehr als 2800 Jahren gewesen. Im Allgemeinen wird akzeptiert, dass er vor mehr als 2500 Jahren gelebt hat. Wie dem auch sei, Buddha Shakyamuni kam, um die Erde mit seiner Präsenz zu beehren und erlangte dann die Erleuchtung als Ausdruck des Zustands seiner inneren Entwicklung. Darauf vollzog er verschiedene erleuchtende Taten zum Wohle aller. Hierbei gibt es verschiedene Interpretationen dieser zwölf erleuchtenden Taten. 

Gemäß der Darstellung der Hinayana-Texte, des Fahrzeuges derer mit bescheidenem Geist, war der Buddha selbst im früheren Teil seines Lebens ein fühlendes Wesen, d.h. ein Wesen mit begrenztem Geist und Gewahrsein. Dann, im späteren Teil seines Lebens, nachdem er die Erleuchtung erlangt hatte, wurde er ein erleuchtetes Wesen mit vollkommen klarem und entwickeltem Geist. 

In den Mahayana-Texten, dem Fahrzeug derer mit weitreichendem Geist, gibt es die Darstellung der drei bzw. vier Körper eines erleuchteten Wesens. Dazu gehört der „Nirmanakaya“ – ein Emanationskörper oder Ausstrahlungskörper. Unter diesen Emanationen zählt Buddha Shakyamuni als sogenannter „höchster Ausstrahlungskörper“. Während seiner zahllosen vergangenen Leben war Buddha jemand, der fortwährend die verschiedensten erleuchteten Taten vollbrachte. 

Verschiedene Pfade und Resultate im Buddhismus

Obwohl es in Bezug auf den Buddha verschiedene Darstellungen gibt, wird auch darüber diskutiert, ob der Mahayana ein gültiger Pfad bzw. eine gültige Methode ist, um den erleuchteten Zustand eines Buddhas zu erlangen. Diese Diskussion findet sich in der „Kostbaren Girlande“ von Nagarjuna. In unserer Darstellung heute denken wir im Rahmen des erleuchteten Zustandes eines Buddhas; denn wenn es lediglich die Pfade der Arhats gäbe – d.h. die Pfade der Shravakas (die Hörer der Lehren) und Pratyekabuddhas (die sich selbst entwickelnden Praktizierenden) –, wäre es sehr schwierig das Erlangen der Erleuchtung nur auf Basis der Existenz dieser Pfade zu begründen.

Man sollte es sich so vorstellen, dass es verschiedene Pfade und somit auch verschiedene Ziele geben muss, zu denen diese Pfade führen. Wenn man an die Ergebnisse der Praktiken denkt, die der Buddha selbst gelehrt hat, und dann an die Pfade, die zu solchen Ergebnissen geführt haben müssen, kann man auf diese Weise auch die Existenz der Mahayana-Pfade als einen gültigen Weg zur Erleuchtung etablieren. Akzeptiert man die Mahayana-Pfade nicht, ist es auch sehr schwierig, Buddhaschaft zu akzeptieren. 

Die Texte berichten davon, wie der Buddha auf die Erde kam und Unterweisungen gab. Es ist aus den Hinayana-Texten wohl bekannt, dass er die Hinayana-Lehren an Schüler mit verschiedenen Kapazitäten lehrte. Darüber hinaus lehrte er den Mahayana für die Schüler mit reinem Geist. Dann gibt es noch die Lehren des Tantra-Fahrzeuges für jene Schüler, die kraft ihrer früheren Gebete eine besondere geistige Reinheit besaßen. 

Es ist nicht so, dass all diese Lehren zwangsläufig gegeben wurden, als sich Buddha tatsächlich persönlich auf unserer Erde aufhielt. 

Das Drehen des Dharma-Rades

Laut den Berichten der Mahayana-Texte übermittelte der Buddha, nachdem er selbst seine eigene Erleuchtung demonstriert hatte, die Lehren der vorbeugenden Maßnahmen des Dharma in drei Übertragungsrunden – die sogenannten „drei Drehungen des Dharma-Rades“. Bei der ersten Drehung bzw. Übertragungsrunde im Wildpark bei Sarnath lehrte er die vier edlen Wahrheiten. Diese sind Tatsachen, die von den hochverwirklichten Aryas als wahr angesehen werden. In der zweiten Übertragungsrunde auf dem Geiergipfel lehrte Buddha die Prajnaparamita-Sutras (Die Sutras über die Vollkommenheit der Weisheit); das sind Lehren über die Leerheit, die Abwesenheit einer wahrhaft begründeten Existenz. Im Anschluss lehrte der Buddha dann die dritte und letzte Übertragungsrunde seiner Lehre. 

Übertragung der Lehre nach Tibet

Der Buddha setzte diese drei Übertragungsrunden nach und nach in Gang, eine nach der anderen, und alle drei wurden mit der Zeit auch nach Tibet gebracht. Die Blütezeit der Lehren in Tibet lässt sich in zwei Perioden aufteilen: die ältere Periode bzw. die Übertragung der Nyingma und die spätere Übertragung, auch Sarma genannt. 

Die spätere Sarma-Übertragungsperiode beinhaltet die Traditionslinien der Sakya, Kagyü und Kadam, wobei letztere aus der Zeit vor Je Rinpoche, also Tsongkhapa, stammt. Dessen Lehren wiederum gehören zur Gelug- oder Ganden-Tradition. In Tibet ist es so, dass die Belehrungen des Buddha in all ihrer Vollständigkeit bewahrt wurden: die Lehren des bescheidenen Fahrzeugs bzw. des Hinayana, die des weitreichenden Fahrzeugs bzw. des Mahayana, sowie auch die Tantra-Lehren. 

Die Lehren des Tantra sind in vier Klassen gegliedert. Besonders in Tibet finden wir eine äußerst umfangreiche Tradition der höchsten Tantra-Klasse vor: die unvergleichliche Anuttarayoga-Praxis, die die Praxis mit Gottheiten beinhaltet.

Die indischen Lehrsysteme

In Bezug auf die Methode bzw. das Verhalten gibt es eine Unterteilung innerhalb der Lehren der beiden Fahrzeuge des bescheidenen Hinayana und des weitreichenden Mahayana. Dabei gibt es unterschiedliche Sichtweisen bzw. Lehrmeinungen und somit eine Unterteilung in vier Lehrsysteme: die Vaibhashikas, die Sautrantikas, die Chittamatrins und die Madhyamikas. 

Bei diesen Lehrsystemen gehören die ersten beiden, Vaibhashika und Sautrantika, zum Hinayana. Die beiden letzteren, Chittamatra und Madhyamaka, sind Mahayana-Schulen. Es ist durchaus denkbar, dass jemand im Verhalten ein Hinayana-Anhänger ist, aber dennoch die Mahayana-Grundsätze akzeptiert; und genauso könnte jemand im Verhalten ein Mahayana-Anhänger sein und trotzdem die Hinayana-Grundsätze akzeptieren – beides funktioniert. In Tibet wurden die meisten der wichtigsten Texte dieser vier Lehrsysteme ins Tibetische übersetzt. 

„Das weitest gehende, immerwährende Kontinuum“ und die vier Schulen des tibetischen Buddhismus

Innerhalb der verschiedenen Lehrsysteme gibt es viele weitere, feinere Unterteilungen. Wenn wir unseren Text, „Das weitest gehende, immerwährende Kontinuum“, von einer Perspektive des Nyingma, also der alten Tradition, betrachten, sieht man dessen Verbindung mit den Nyingma-Lehren über die ursprüngliche Reinheit und spontane Vollendung aller Phänomene.  

Außerdem ist unser Text mit den Lehren der Kagyü-Tradition über das große Siegel, Mahamudra, und in den Sakya-Lehren über Pfad und Ergebnis (tib. lam-’bras) verbunden. In der Sakya-Tradition spricht man von drei Erscheinungen im Kontext des Pfades und von drei immerwährenden Kontinua im Kontext des Ergebnisses. Innerhalb dieser drei Kontinua gibt es das kausale, immerwährende Kontinuum als Grundlage aller Phänomene, das direkt mit dem „weitest gehenden, immerwährenden Kontinuum“ in Verbindung steht. 

In der Gelug-Darstellung der Untrennbarkeit von Leerheit und glückseligem Gewahrsein gibt es, insbesondere im Hinblick auf die Diskussion über das ursprüngliche Gewahrsein, ebenso eine Verbindung zu den Lehren unseres Textes. In allen vier Traditionen des tibetischen Buddhismus ist es so, dass die letztendliche Sichtweise der Realität in erster Linie aus der Sichtweise des Anuttarayoga-Tantra dargestellt wird. 

„Das weitest gehende, immerwährende Kontinuum“: ein Sutra-Text

In Bezug auf die Einteilung in Sutra- und Tantra-Lehren lässt sich unser heutiger Text in die Kategorie der Sutra-Lehren einordnen. Obwohl viele gelehrte Meister ihre eigenen Erklärungen haben, ist der einzige Weg, den Text kohärent zu erklären, ihn als Sutra-Lehre zu sehen. 

Wenn man sich fragt, worin dessen Verbindung zum Tantra besteht, ist auf Folgendes hinzuweisen: Da das letztendliche, tiefste Ziel, auf das die Lehren des Textes hindeuten, mit der Darstellung des Anuttarayoga-Tantras übereinstimmt, können wir sagen, dass diese Ebene des Annuttarayoga die letztendliche Basis ist, von der die Lehren unseres Textes abgeleitet sind und worauf sie abzielen – darin besteht also die Verbindung zu den Tantra-Lehren. 

In Tibet gibt es durch die Überlieferungslinie von Yumo Mikyö Dorje und später durch Dölpopa in der Jonang-Tradition die Auffassung der sogenannten Leerheit oder Abwesenheit von anderem, die in allen vier tibetischen Traditionen – Sakya, Kagyü, Nyingma und Gelug – behandelt wird. Meistens wird diese Sichtweise jedoch nicht akzeptiert; und doch haben einige Praktizierende basierend auf dieser Sicht meditative Erfahrung, Verwirklichung und Einsicht erlangt.

In Bezug auf die Einteilung in die eigentlichen erleuchtenden Worte Buddhas selbst und die verschiedenen Texte – die sogenannten Shastras – d.h. die erklärenden Texte, die später geschrieben wurden – gehört unser heutiger Text zu letzterem. Die ursprüngliche Quelle für dessen Inhalte liegt jedoch in den erleuchtenden Worten Buddhas, genauer gesagt im Tathagatagarbha-Sutra („Das Sutra über den Mutterleib für einen So-Gegangenen“), allgemein bekannt als das Sutra über die Buddha-Natur. Dieses Sutra liegt uns auch in tibetischer Übersetzung vor. Was die Sicht der Wirklichkeit, d.h. der Leerheit, betrifft, so stehen die Inhalte dieses Sutras im Einklang mit den Inhalten, die in den Prajnaparamita-Sutras zu finden sind. Wenn die Inhalte der Prajnaparamita-Sutras und des Tathagatagarbha-Sutras jedoch in Bezug auf die zweite Drehung des Dharma-Rades identisch wären, bestünde die Gefahr der Redundanz. Aus diesem Grund verfasste Maitreya den Text „Das weitest gehende, immerwährende Kontinuum“.

Es gibt zwei Sutras über die Buddha-Natur. Das erste, das Tathagatagarbha-Sutra, war eines der ersten Sutras, und wie ich bereits erwähnt habe, liegt es auch in tibetischer Übersetzung vor. Das zweite Sutra ist das „Sugata-Girlanden-Sutra” („Das Sutra über die Girlande für einen glückselig Gegangenen“). Dieser Text wurde noch nicht ins Tibetische übersetzt. Es stellt eine auslegbare Lehre dar, d.h. dessen Bedeutung muss interpretiert werden. Darin wird die Buddha-Natur – der Schoß, in dem sich ein So-Gegangener befindet – als statisches Phänomen und als konventionelle Wahrheit präsentiert. Das Tathagatagarbha-Sutra hingegen ist ein Sutra, dessen Lehrinhalte endgültige Bedeutung haben.  

Manchen Gelehrten zufolge präsentieren drei der fünf Texte von Maitreya – „Filigranschmuck für die Mahayana-Sutras“, „Die Mitte von den Extremen unterscheiden“ und „Unterscheidung der Phänomene von ihrer tiefsten Natur“ – die Chittamatra-Sicht, nicht aber die endgültige Sichtweise. Die anderen beiden der fünf Texte – „Filigranschmuck der Verwirklichung” und unser heutiger Text – präsentieren die letztendliche Madhyamaka-Sichtweise. „Das weitest gehende, immerwährende Kontinuum” im Besonderen ist von dem Prasangika-Standpunkt aus geschrieben, was gleichzeitig auch die tiefste Absicht des Textes darstellt. 

Andere Gelehrte wiederum sagen, dass „Das weitest gehende, immerwährende Kontinuum“ und „Die Unterscheidung der Phänomene von ihrer tiefsten Natur“ als die gleiche intendierte Bedeutung habend interpretiert werden müssen. Beide gelten als äußerst tiefgründige und subtile Texte; deshalb wurden Belehrungen darüber ursprünglich nicht weit verbreitet. Stattdessen wurden sie zunächst als Schatztexte versteckt, später in Indien wiederentdeckt und dann von Maitripa verbreitet. 

Analyse des Texttitels

Unser Text kam durch verschiedene Übertragungen in Tibet an – ich selbst habe die Übertragung von Gen Rigdzin Tenpa, einem Lama aus Kunu, erhalten. Der Text beginnt mit dem Titel in indischer Sprache, Mahāyana-uttaratantra-śāstra, und dann in tibetischer Sprache: Theg-pa chen-po rgyud bla-ma’i bstan-bcos. Im Deutschen bedeutet dies: „Eine bezeichnende Komposition über ein weitreichendes Fahrzeug des Geistes: Das weitest gehende, immerwährende Kontinuum.“ 

Die Titelgebung der Sutras, welche Darstellungen eines bestimmen Themas sind, kann man auf unterschiedliche Weise erklären. In unseren Fall wurde der Titel in Bezug auf den eigentlichen Textinhalt gewählt. Der Titel „Das weitest gehende, immerwährende Kontinuum“ zeigt an, was im Text besprochen wird, wohingegen andere Texte wie das achttausend Verse umfassende Prajnaparamita-Sutra entsprechend der Anzahl der Verse des Textes benannt wurden. Andere Texte wiederum, wie z.B. das Lankavatara-Sutra („Das Sutra über das Hinabsteigen nach Lanka“), wurden nach dem Ort benannt, an dem die Lehre des Textes gegeben wurde – in diesem Beispiel Sri Lanka. Dann gibt es da noch Texte, wie „Das Sutra, das von dem Mädchen Ratna erbeten wurde“, bei denen der Titel auf die Person hinweist, die um die jeweilige Unterweisung gebeten hat.  

Lasst uns nun näher auf jedes Wort des Titels eingehen. Es beginnt mit dem Wort theg-pa, was auf ein Fahrzeug des Geistes hindeutet. Ein solches Fahrzeug ist etwas, das jemanden irgendwo hinbringt; daher bezieht sich der Begriff sowohl auf einen Pfad des Geistes, der in eine bestimmte Richtung führt, als auch auf ein Fahrzeug des Geistes, welches das eigentliche Resultat, das man erlangen wird, darstellt.

Es handelt sich um ein weitreichendes Fahrzeug des Geistes, genannt Mahayana, da es weitreichendes tiefes Gewahrsein, ein weitreichendes Ziel und ein weitreichendes Unterfangen usw. beinhaltet. Hierbei gibt es sieben „weitreichende“ Punkte. Der wichtigste unter ihnen ist, ein weitreichendes Ziel bzw. eine weitreichende Absicht zu haben. Basierend darauf nimmt man weitreichende Unterfangen auf sich.

Die nächsten Worte des Titels werden mit „immerwährendes Kontinuum“ übersetzt. Ein solches immerwährendes Kontinuum ist eine Kontinuität; d.h. etwas, das sich von vergangenen Momenten über die Gegenwart bis hin in zukünftige Momente fortsetzt, mit anderen Worten ein Kontinuitätsstrom. Der Text erklärt, wie man die Makel dieses immerwährenden Kontinuums unseres Geistes bereinigt. So ist also der Titel zu verstehen. Darüber hinaus zeigt uns der Text, wo man in Bezug auf das immerwährende Kontinuum letztendlich ankommt, sobald man diese verschiedenen Makel bereinigt hat. 

„Weitest gehend” kann so verstanden werden, dass der Text zeitlich später gelehrt wurde, d.h. nach der zweiten Übertragungsrunde des Dharma mit den Sutras über die Vollkommenheit der Weisheit. „Weitest gehend“ weist also darauf hin, dass es darüber hinausgeht. Da es in dieser Hinsicht auf dem „Sutra über den Mutterleib für einen So-Gegangenen“ basiert – das Sutra über die Buddha-Natur – ist es ein Text, der die Bedeutung dieses Sutras erklärt. Aus diesem Grund heißt es „Eine Komposition, die das weitreichende Fahrzeug des Geistes erklärt, das weitest gehende, immerwährende Kontinuum“.

Analyse der Huldigung

Der Text beginnt folgendermaßen:

Ich verneige mich vor allen Buddhas und Bodhisattvas.

Diese Huldigung brachten die Übersetzer dar, die den Text ins Tibetische übertrugen. Sie folgt einem in Tibet eingeführten Brauch, nach dem der Huldigungsvers am Anfang in Übereinstimmung mit demjenigen der drei Körbe des Tripitakas gemacht wurde, zu dem der jeweilige Text gehört. Hier wirft man sich also vor den Buddhas und Bodhisattvas nieder, was darauf hindeutet, dass dieser Text zum Korb der Sutra-Lehren gehört. 

Die sieben Vajra-Punkte

Der erste Vers präsentiert eine kurze Darstellung des Textinhalts:

(1) Buddhas, Dharma, Versammlung und die Quelle, Erleuchtung, Eigenschaften und schließlich der erleuchtende Einfluss der Buddhas: der Korpus aller Abhandlungen, kurz zusammengefasst, besteht aus diesen sieben Vajra-Punkten. 

Hier werden nun die sieben Vajra-Punkte dargestellt. Zuerst werden die vollkommen entwickelten Buddhas, dann die vorbeugenden Maßnahmen des Dharma, der Sangha, und schließlich die Quelle für Buddhaschaft genannt, womit die Buddha-Natur gemeint ist: die tatsächliche Natur des Geistes. 

Wenn die Buddha-Natur als die Quelle bezeichnet wird, bezieht sich dies auf den Zeitraum, in der sie von Makeln verdeckt ist – mit anderen Worten, die Zeit, in der die verschiedenen Makel, die die Quelle bzw. die essenziellen Faktoren verdecken, noch nicht bereinigt worden sind. Der Zustand, in dem die Makel dann beseitigt oder bereinigt wurden, wird als bodhi – bereinigter Zustand – bezeichnet: die Erleuchtung.  

Der nächste Punkt betrifft den erleuchtenden Einfluss, welcher die Korrektur von Unzulänglichkeiten darstellt. Dies bezieht sich auf die 32 Qualitäten des Erleuchtungszustandes, wie die zehn Kräfte des Geistes usw. Diese sind geteilte Qualitäten. Ebenso gibt es die 32 herangereiften Qualitäten, nämlich die Merkmale des physischen Körpers eines Buddha. Der letzte Punkt der sieben ist der erleuchtende Einfluss oder die Buddha-Aktivität dieses Erleuchtungszustand. 

Die sieben Vajra-Punkte sind der Inhalt unseres Textes. Diese sind in fünf Kapitel gegliedert. Die ersten vier Punkte – Buddha, Dharma, Sangha und die Quelle oder Buddha-Natur – werden im ersten Kapitel, das die Quelle behandelt, dargestellt. 

Der fünfte Punkt, der gereinigte Zustand der Erleuchtung, wird im zweiten Kapitel vorgestellt. Die erleuchtenden Eigenschaften dieses Zustandes werden im dritten Kapitel behandelt, und das vierte Kapitel beschäftigt sich mit dem siebten Vajra-Punkt, dem erleuchtenden Einfluss. Anschließend diskutiert das fünfte Kapitel den Nutzen bzw. die Vorteile, die es hat, diesen Text zu studieren.

Der grundlegendste Punkt 

Von allen sieben Punkten, die in diesem Text diskutiert werden, ist der grundlegendste Punkt jener über die Quelle bzw. die Buddha-Natur. Dies kann man so verstehen, dass diese Quelle, die essenziellen Faktoren, uns erlaubt, auf dem Weg zur Erleuchtung Fortschritte zu machen und das Ziel der Erleuchtung tatsächlich auch zu erreichen. Diese Quelle ist allerdings von verschiedenen Makeln bedeckt – deshalb muss sie bereinigt werden. 

Um den Zustand zu erreichen, in dem all diese Makel bereinigt sind – das heißt den Erleuchtungszustand –, müssen wir uns auf die ersten drei Vajra-Punkte – Buddha, Dharma und Sangha – stützen; d.h. auf jene, die die Quelle bereits von den Makeln bereinigt haben, damit wir dann den fünften Punkt selbst auch erlangen können: den bereinigten Zustand.

In diesem Zustand werden wir dann ebenso all die verschiedenen erleuchtenden Qualitäten besitzen. Indem wir also die Quelle in uns von den Makeln bereinigen, trennen wir uns von unseren Unzulänglichkeiten. Wenn wir daraufhin den Erleuchtungszustand mit all seinen Qualitäten erlangt haben, werden wir in der Lage sein, erleuchtenden Einfluss auf andere auszuüben und somit auch die Quelle in anderen aufzuzeigen. Dies wird ihnen erlauben, denselben Weg zu gehen und auch ihre Quelle von den Makeln zu reinigen. 

Verhalten und Sicht

Um die Bedeutung dessen, was unser Text zu lehren beabsichtigt, abzurunden und auszufüllen, gibt es da einige Worte, die man hinzufügen könnte. Die Essenz der Lehren Buddhas steckt in unserem Verhalten und unserer Sichtweise bzw. Auffassung. Der Hauptpunkt beim Verhalten ist Gewaltlosigkeit; der Hauptpunkt der Sicht ist das bedingte Entstehen. 

Oberflächlich betrachtet bedeutet Gewaltlosigkeit im Buddhismus, anderen Wesen keinen Schaden zuzufügen. Auf einer tieferen Eben geht es darüber hinaus darum, anderen, wenn möglich, zu nutzen und ihnen zu helfen. Dafür ist es nicht notwendig, komplizierte Argumentationslinien durchzugehen; es basiert einfach auf der Tatsache, dass jeder Mensch nach Glück strebt und Leid vermeiden möchte. Unter dem Hintergrund dieses Wunsches ist Gewaltlosigkeit zentral. 

Wie kann nun diese Gewaltlosigkeit für das Glück anderer sorgen und deren Leid beseitigen? Es funktioniert aufgrund des bedingten Entstehens. Das Glücklichsein, das wir erreichen wollen, beruht auf Ursachen. Da sowohl Leiden oder Unglücklichsein als auch das angestrebte Glücklichsein an Ursachen und Bedingungen geknüpft ist, müssen wir – wie auch sonst, wenn wir ein gewisses Resultat erzielen wollen – im Kopf behalten, wenn wir in Richtung dieses Ziels arbeiten, dass es in Abhängigkeit von gewissen Ursachen entsteht. Wenn wir nun von der Tatsache sprechen, dass Glück und Leid nur aufgrund ihrer spezifischen Ursache und Bedingungen entstehen, handelt es sich hierbei um die buddhistische Darstellung eines „Schöpfers der Welt“. 

Bedingtes Entstehen verstehen

In Bezug auf bedingtes Entstehen gibt es eine subtile und eine grobe Ebene des Verständnisses. Die eine bezieht sich auf das Glück, das wir erlangen wollen, und das Unglücklichsein, das wir loswerden wollen. Diese entstehen beide in Abhängigkeit von ihren jeweiligen Ursachen und Bedingungen. Wenn bedingtes Entstehen in einer umfassenderen und ausführlicheren Form dargestellt wird, würde man die zwölf Glieder des abhängigen Entstehens in die Erklärung miteinbeziehen. 

Bei einer anderen Verständnisebene geht es um das, was man bedingte bzw. beeinflusste Phänomene nennt. Dabei handelt es sich um Phänomene, die beeinflusst durch oder abhängig von ihren jeweiligen Ursachen und Umständen entstehen. Hierbei ist es so, dass alle beeinflussten bzw. bedingten Phänomene abhängig von Ursachen und Wirkungen entstehen. 

Der Begriff des abhängigen Entstehens kann so erweitert werden, dass er auch solche Phänomene umfasst, die nicht durch Ursachen und Bedingungen beeinflusst sind, sprich, nicht bedingte Phänomene. Auch wenn sie nicht in Abhängigkeit von Ursachen und Bedingungen entstehen, so hängt ihre Existenz doch von ihren eigenen Teilen ab. Diese sind insofern abhängig, da sie Teile besitzen, die als Grundlage für die Zuschreibung eines Ganzen dienen. In diesem Sinne entstehen auch diese Phänomene in Abhängigkeit von anderen Dingen, nämlich ihren Teilen. Darum geht es bei der Verständnisebene von bedingtem Entstehen in Bezug auf beeinflusste und unbeeinflusste Phänomene bzw. bedingte und nicht bedingte Phänomene. Beide hängen von anderen Dingen ab; keines von ihnen besitzt eine von ihrer eigenen Seite begründete, unabhängige Existenz, unabhängig von Ursachen und Bedingen und unabhängig von Teilen, die Grundlagen für eine Zuschreibung darstellen. 

Wenn wir etwas mit unseren Augen anschauen, können wir durchaus sehen, dass die Dinge aufgrund von Ursachen und Bedingungen entstehen. Dies überzeugt uns davon, dass die Dinge nicht aus eigener Kraft hervorgerufen werden. Wenn wir dann das abhängige Entstehen der Dinge sehen, können wir verstehen, dass sich nichts von selbst ergibt, so als ob es eine unabhängige Existenz von eigener Seite oder eigener Kraft gäbe. 

Aufgrund der Tatsache, dass Dinge in Abhängigkeit von Ursachen und Bedingungen entstehen, verstehen wir auch, dass Ursachen und Bedingungen die Grundlage sind, auf der verschiedene Wirkungen wie Nutzen und Schaden entstehen. Dies führt uns dann zu dem Verständnis, dass bedingtes Entstehen unweigerlich gültig ist. Was Nutzen und Schaden anbelangt, diese entstehen ebenso immer aus entsprechenden Ursachen und Bedingungen. Diese Tatsache ist unumgänglich, unweigerlich gültig und niemals falsch.  

Wenn wir von dieser Gesetzmäßigkeit überzeugt sind – dass die Dinge aus Ursachen und Bedingungen entstehen –, führt uns das ganz natürlich auch zu der Überzeugung in der Ansicht, dass den Dingen eine in sich selbst begründete Existenz fehlt. Wir haben dann mehr Gewissheit, dass die Dinge nicht aus eigener Kraft existieren, unabhängig von Ursachen und Bedingungen. 

Hierbei gibt es zwei Arten des Verständnisses: Zunächst gibt uns das Verständnis der unweigerlichen Gültigkeit des bedingten Entstehens Überzeugung in die Tatsache, dass die Dinge nicht unabhängig aus ihrer eigenen Kraft heraus oder in sich selbst begründet existieren. Zweitens: Die Tatsache, dass Phänomene keine in sich selbst begründete Existenz von ihrer eigenen Seite aus haben, gibt uns die Überzeugung, wie sie stattdessen tatsächlich existieren bzw. wie deren Existenz etabliert ist. Sie existieren nämlich als bedingt entstehende Phänomene. Diese sind die zwei wahren Fakten, die zwei Wahrheiten. 

Von den zwei Wahrheiten zu den vier edlen Wahrheiten

Wenn wir diese zwei Wahrheiten erweitern, gelangen wir zu den vier Wahrheiten – den vier edlen Wahrheiten. Es gibt wahre Probleme bzw. wahres Leid und wahre Ursachen für all dieses Leid. Das sind die ersten beiden Wahrheiten. All das können wir auch aus der Sicht des bedingten Entstehens betrachten. Da es der Wahrheit entspricht zu sagen, dass Phänomene aus Ursachen und Bedingungen entstehen, ist es so, dass dann auch die wahren Probleme, mit denen jeder Mensch konfrontiert ist, aus wahren Ursachen entstehen. 

Ebenso ist es im Hinblick auf das bedingte Entstehen notwendig, Ursachen zu kreieren, wenn wir ein wahres Aufhören bzw. ein wahres Ende dieser Leiden erreichen wollen, nämlich die Arten von Geist, die als wahre Pfade wirken. Die anderen beiden zwei Wahrheiten – die Arten von Geist, die als Pfade wirken, und die wahre Beendigung – folgen ebenfalls der Gesetzmäßigkeit von Ursache und Wirkung bzw. bedingtem Entstehen. 

Diese wahren Beendigungen können auf verschiedene Weisen erklärt werden; zunächst im Hinblick auf die Darstellung der Leerheit, die vollkommene Abwesenheit wahrhafter, in sich selbst begründeter Existenz. Genauso lassen sie sich aber auch in Hinblick auf die Klare-Licht-Natur des Geistes erklären. So wird es auch in unserem Text dargestellt. In dem Text wurde diese zweite Herangehensweise gewählt, da diese erklärt, dass die Makel, die die Natur des Geistes bedecken, flüchtig sind, während der Geist selbst etwas ist, das vollkommen mit all seinen Qualitäten ausgestattet ist. Auf der Grundlage dieser Tatsache wird in dem Text das Argument hervorgebracht, dass eine solche wahre Beendigung des Leids möglich ist.

Im Text wird dargestellt, wie die verschiedenen Makel, die die Natur des Geistes bedecken, beseitigt und bereinigt werden können, um einen Zustand der wahren Beendigung dieser Makel zu erreichen. Dies geschieht durch die Anwendung unterschiedlicher Gegenmittel. Das eigentliche Gegenmittel ist das Umsetzen der wahren Pfade des Geistes, was die vierte edle Wahrheit ist. Diese sind, wie auch unser Text beschreibt, die vorbeugenden Maßnahmen bzw. der Dharma – das sind die wahren Pfade des Geistes.  

Wenn man diese wahren Pfade des Geistes, d.h. die vorbeugenden Maßnahmen des Dharma, anwendet, wird man an einen Punkt kommen, an dem man sich von den Dingen, die man loswerden möchte, trennt oder an dem sie abwesend sind. Schließlich wollen wir ja bestimmten Dingen ein Ende setzen, und wenn sie dann tatsächlich einmal zu diesem Ende gekommen sind, ist es dieser Zustand, den man eine „wahre Beendigung“ nennt – ein Zustand, in dem wir das losgeworden sind, was wir loswerden wollten. 

Von den vier edlen Wahrheiten zu den Drei Juwelen

Dieser Zustand, in dem wir eine wahre Beendigung erreicht haben, ist das eigentliche Dharma-Juwel, bzw. das Juwel der vorbeugenden Maßnahmen. Jeder, der in seinem geistigen Kontinuum einen solchen Zustand erlangt hat, zählt dann als Mitglied der Absichtsgemeinschaft, das Sangha-Juwel.

Nach und nach entwickeln wir diese wahren Pfade des Geistes, um eine solche wahre Beendigung zu erlangen. Stück für Stück setzen wir mehr dieser Pfade des Geistes um und werden dabei immer mehr das los, was wir loswerden wollen, um dann schließlich an einen Punkt zu gelangen, an dem nichts mehr übrig bleibt. 

Wenn wir diesen Zustand einmal erreicht haben, sind wir zu dem geworden, was einen wirklichen Buddha ausmacht, der alles losgeworden ist, was es loszuwerden gibt. Ein Buddha ist jemand, der einen völlig klaren und gereinigten Geist besitzt und alle Qualitäten vollkommen entwickelt hat. Auf diese Weise sind also Buddha, Dharma und Sangha zu sehen. 

Ursächliche und resultierende Zuflucht

Mit der Zuflucht schlagen wir die sichere Richtung der Drei Juwelen ein: die vollkommen entwickelten Buddhas, die vorbeugenden Maßnahmen des Dharma und die Absichtsgemeinschaft des Sangha. Diese Richtung können wir einschlagen im Sinne der Tatsache, dass diese in dem geistigen Kontinuum anderer existieren, d.h. andere als wir selbst. Die Buddhas, die nicht wir selbst sind, und auch das Dharma- und Sangha-Juwel in anderen geistigen Kontinua zu betrachten kann als Ursache dafür wirken, dass auch wir selbst diese Richtung tatsächlich einschlagen. Dies wird als „ursächliche Zuflucht“ bezeichnet, da es hier darum geht, was als Ursache unserer Zuflucht wirkt – die Quelle bzw. der Ursprung, der uns dazu veranlasst, das, wofür die Drei Juwelen stehen, auch selbst zu erlangen.  

Diese sichere Richtung schlagen wir also im Hinblick auf andere ein. Bei der zweiten Art, Zuflucht zu nehmen, betrachten wir das zukünftige Ziel bzw. Resultat, das wir erreichen wollen, und das sind Buddha, Dharma und Sangha. Mit anderen Worten geht es um das, was wir in Zukunft aufgrund des Dharma-Juwels in unserem geistigen Kontinuum und aufgrund der Tatsachen erlangen werden, dass wir zur Absichtsgemeinschaft des Sangha gehören und letztendlich ein vollkommen erleuchteter Buddha sein werden. 

Bei dieser Art von sicherer Richtung mit Blick auf das Resultat, das wir dadurch später erlangen werden, handelt es sich um die „resultierende Zuflucht“. Dabei orientieren wir uns an dem zukünftigen Resultat, das wir selbst erreichen werden. 

Um das noch einmal zu verdeutlichen; es gibt also zwei Arten der sicheren Richtung bzw. Zuflucht: jene, bei der unsere Quelle der Zuflucht die Drei Juwelen sind, die aus anderem bestehen und dann als Ursache dafür wirken, dies auch selbst zu erreichen; und dann die Zuflucht, bei der es um die Richtung geht, die wir von den Resultaten ableiten können, die wir selbst zukünftig in unserem eigenen geistigen Kontinuum erlangen werden. 

Buddha, Dharma und Sangha als Arzt, Medizin und Pfleger

Bei den Drei Juwelen, den Quellen der sicheren Richtung, nehmen die Buddhas die wichtigste Stellung ein; sie sind wie Ärzte. Die tatsächliche sichere Richtung, die wir aus ihnen ableiten, ist der Dharma, dessen Maßnahmen wie Medizin sind. Wenn wir von einer Krankheit geheilt werden wollen, dann ist es das Einnehmen der Medizin, das die Krankheit heilt. Es ist der Dharma, auf den wir uns während des gesamten Prozesses der vollständigen Beseitigung all unserer Probleme und Leiden verlassen müssen – auf diese Weise geben uns die vorbeugenden Maßnahmen des Dharma unsere eigentliche Quelle der Orientierung: wie Medizin heilen bzw. helfen sie uns, all unsere Probleme und Leiden loszuwerden und sind somit das eigentliche Zufluchtsjuwel. Das Sangha-Juwel, d.h. die Gemeinschaft, die unser Ziel auch anstrebt, sind Helfer auf dem Weg zu diesem Ziel – ähnlich wie Krankenpfleger, die den Heilungsprozess unterstützen. 

Wenn wir aufgrund einer Krankheit Medizin einnehmen müssen, ist es notwendig, sich vorher auf einen kompetenten Arzt zu verlassen. Dieser Arzt untersucht einen und verschreibt eine bestimmte Medizin, um der jeweiligen Krankheit entgegenzuwirken. Ebenso müssen wir uns auf Krankenpfleger und andere Personen verlassen, die uns bei der Genesung von unserer Krankheit helfen werden. 

Auf diese Weise sind die Drei Juwelen als Arzt, Medizin und Krankenpfleger zu verstehen: Die Buddhas sind diejenigen, die uns die Maßnahmen verschreiben, die wir ergreifen müssen; der Dharma repräsentiert genau diese Maßnahmen, die uns von unseren Problemen heilen werden; und der Sangha sind diejenigen, die uns während des Prozesses der Anwendung des Dharmas unterstützen. 

Obwohl wir nicht mehr in einer Zeit leben, in der Buddha Shakyamuni selbst anwesend ist, benötigen wir einen Stellvertreter, der diesen repräsentiert. In diesem Sinne ist es für uns wichtig, einen spirituellen Lehrer zu haben, der als Ersatz für den Buddha fungiert und uns die jeweiligen Maßnahmen des Dharma an die Hand gibt. 

Es liegt an uns, die Maßnahmen des Dharma, die andere umgesetzt haben und dadurch zu ihrem Ziel gekommen sind, auch so zu ergreifen, wie es die Buddhas getan haben. Wie sie, arbeiten wir an unserem Geist, um uns von unseren Problemen zu befreien und zu verhindern, dass zukünftige entstehen. 

Wenn wir die sichere Richtung der Zuflucht im Sinne dieser Maßnahmen einschlagen, dann tun wir das den ganzen Weg bis hin zum Erreichen der Erleuchtung. 

Der Dharma: defensive und offensive Maßnahmen für das Erreichen einer wahren Beendigung

Wenn wir das Wort „Dharma” in einer leicht verständlichen Weise erklären, wird es vielleicht etwas einfacher sein, den gesamten Prozess, wie wir uns von unseren verschiedenen Makeln und Fehlern trennen können, zu verstehen. Jemand, der dem Dharma folgt und dessen vorbeugende Maßnahmen ergreift, ist jemand, der mit großer Anstrengung versucht, die verschiedenen Makel in seinem eigenen Geisteskontinuum zu überwinden. 

Bei diesen Präventivmaßnahmen gibt es sowohl offensive als auch defensive Maßnahmen, die man ergreifen kann. Bei den defensiven stellen wir zunächst einmal fest, wen oder was wir überwinden wollen. Unsere Gegner bzw. Feinde sind die störenden Emotionen und Geisteshaltungen – die sogenannten „Kleshas“. Solche störenden Emotionen sind zum Beispiel Stolz, verblendete Anhaftung, Eifersucht, Wut und so weiter – diese sind unsere Feinde. 

Bevor wir uns offensiv dafür einsetzen können, diese Kleshas loszuwerden, müssen wir in uns selbst erstmal so etwas wie eine Verteidigungslinie aufbauen. Was wir brauchen ist ethische Selbstdisziplin. Es gilt zu verhindern, die störenden Emotionen und Geisteshaltungen in unserem Geist auf unsere Handlungen des Körpers oder der Rede übergreifen zu lassen. Dagegen müssen wir uns behaupten und stark sein, wenn es darum geht, sie zurückzuhalten und zu verhindern, unter deren Einfluss zu handeln oder zu sprechen. 

Es geht also darum, auf die zehn destruktiven bzw. nicht tugendhaften Handlungen zu verzichten, denn das ist die Grundlage der ethischen Selbstdisziplin – uns gegen unsere störenden Emotionen zu behaupten, damit wir nicht unter deren Macht geraten und uns in destruktiver Weise verhalten bzw. sprechen. Sobald wir dazu einmal in der Lage sind, können wir einen offensiven Gegenangriff gegen sie starten. 

Zuerst tun wir das, indem wir die Methoden anwenden, um einen ruhigen und beständigen Geist zu erlangen, der es uns erlaubt, uns gut zu konzentrieren. Dies nennt man „Shamatha“ im Sanskrit bzw. „Shine“ im Tibetischen. Sobald wir diesen Geisteszustand erreicht haben, entwickeln wir „Vipashyana“ („Lhagtong“ im Tibetischen), einen außergewöhnlich wachsamen Zustand, mit dem wir ein Gewahrsein der Leerheit entwickeln. In diesem kombinierten Zustand, in dem unser Geist sowohl ruhig und gelassen als auch außergewöhnlich wachsam ist, stehen uns alle Waffen bereit, um störende Emotionen und die Probleme, die uns diese bereiten, zu bekämpfen. 

Vorläufige Gegenkräfte

Was wir noch tun können, ist das Einsetzen vorläufiger Gegenkräfte in diesem „Kampf“. Beispielsweise können wir Liebe und Geduld als vorläufige Gegenmittel gegen Wut einsetzen. Gegen verblendete Anhaftung können wir zum Beispiel meditieren oder die Gewohnheit entwickeln, die hässliche Seite von Dingen zu betrachten. Das hilft uns, die Faszination zu überwinden, die zu unserer starken Anhaftung führt.  Auch können wir über die Unbeständigkeit nachdenken – die Tatsache, dass nichts so bleibt, wie es ist. Wir können uns vor Augen führen, dass alle Dinge auf irgendeine Weise mit Problemen und Leid verbunden sind. So können wir also unsere Faszination und Anhaftung überwinden. 

Um Stolz und Arroganz loszuwerden, denken wir darüber nach, wie viele Dinge es gibt, die wir noch nicht wissen, aber gerne wissen würden. So können wir unseren Stolz zu denken, dass wir bereits alles wissen, ein wenig abschwächen. Als Gegenmittel für Neid und geistiges Abschweifen versuchen wir, in unserer Meditation über das Glücklichsein anderer Freude zu empfinden. Dies sind einige vorläufige Gegenmittel, die wir anwenden können. 

Die effektivste Waffe gegen störende Emotionen

Um die effektivste Waffe einsetzen zu können, entwickeln wir das Verständnis, dass all unsere verschiedenen störenden Emotionen dadurch entstehen, dass wir nach einer nicht zugeschriebenen, in sich selbst begründeten Existenz greifen. Dieses Festhalten an einer wahrhaft begründeten Existenz ist die Wurzel all unserer störenden Emotionen. Die beste Waffe dagegen ist ein Verständnis der Realität. Mit diesem Verständnis können wir unser Festhalten an einer solchen unmöglichen Existenz der Phänomene überwinden. 

Positives Potenzial mit Motivation

Der Treibstoff für diese Waffen, die wir einsetzen können, ist unser positives Potenzial bzw. unser Verdienst, das wir durch konstruktive Handlungen in der Vergangenheit aufgebaut haben. Wenn unsere Rakete jedoch zu wenig Treibstoff hat, wird sie ziemlich schnell abstützen. Um das zu vermeiden, ist es wichtig, eine große Menge Treibstoff getankt zu haben – d.h. eine große Menge positives Potenzial aufgebaut zu haben. 

Was ist nun die Wurzel dieses positiven Potenzials? Es ist unsere Motivation. Wenn diese lediglich darin besteht, Befreiung von unseren eigenen Problemen zu erlangen, dann wird auch der Treibstoff nur bis zu diesem Ziel ausreichen. Wenn unsere Motivation jedoch auf den vollkommen erleuchteten Zustand eines Buddhas – d.h. die Erlangung eines vollkommen klaren Geistes und die vollkommene Entwicklung der erleuchteten Qualitäten für das Wohl aller Wesen – gerichtet ist, dann wird auch unser Treibstoff eine viel größere Antriebskraft besitzen: Wie unsere grenzenlose Motivation wird auch er eine grenzenlose Reichweite haben. 

Wie es in der „Kostbaren Girlande“ heißt, die Zahl der begrenzten Wesen ist unzählbar; sie ist unermesslich. Wenn wir unsere Motivation auf diese unermessliche Zahl begrenzter Wesen – d.h. Wesen mit begrenztem Gewahrsein bzw. fühlende Wesen – richten und den altruistischen Wunsch haben, ihnen allen helfen zu können, werden alle Qualitäten, die wir aus dieser Motivation heraus erreichen werden, diesem unermesslichen Ziel entsprechen. 

Wenn wir uns tatsächlich von all den störenden Emotionen befreit haben, erreichen wir den Zustand der Befreiung. Aber dies ist nur ein erster Schritt unseres „offensiveren Angriffs“. Der erste Schritt besteht darin, unsere störenden Emotionen durch die Anwendung von Methode und Weisheit loszuwerden. Sobald wir diese störenden Emotionen losgeworden sind und Befreiung erlangt haben, gibt es immer noch die verschiedenen Gewohnheiten und subtilen Schleier in unserem geistigen Kontinuum, die uns daran hindern, allwissend zu sein.

Es ist notwendig, gegen diese Gewohnheiten und subtilen geistigen Schleier einen zweiten Angriff zu starten. Wir meditieren immer und immer weiter, um so die gute Gewohnheit der Weisheit bzw. des Verstehens aufzubauen, mit dem wir die Leerheit – die Abwesenheit einer wahrhaft begründeten Existenz – erkennen, und um dieses Verständnis weiter und weiter zu stärken. Auf diese Weise werden wir in der Lage sein, all die verbleibenden Gewohnheiten zu überwinden, sowie all die kognitiven Schleier, die dazu führen, dass uns die Dinge in einer Weise erscheinen, die nicht mit der Realität übereinstimmt, was uns daran hindert, Allwissenheit zu erlangen, insbesondere das Wissen darüber, wie wir jedem Wesen auf angemessene Weise helfen können. 

Methode und Weisheit kombinieren

Deshalb verfolgen wir also eine offensivere Methode; eine, die Methode und Weisheit miteinander verbindet, eine Methode, die einen gelassenen und außergewöhnlich wachsamen Geisteszustand miteinander kombiniert. Wir folgen also einem Weg, auf dem Methode und Weisheit Hand in Hand gehen: Die Methode wird zusammen mit Weisheit angewendet und Weisheit wird unter dem Blickwinkel der Methode bewahrt. Das ist die Art von Pfad, die im Mahayana gemäß den Sutras dargestellt wird.

Wenn wir eine tiefere Ebene der Verbindung von Methode und Weisheit anstreben, geht es nicht nur um Methode im Kontext von Weisheit und Weisheit im Kontext von Methode. Uns geht es darum, die beiden zusammenzubringen, oder mit anderen Worten, dieselbe wesentliche Natur teilen, also im selben Geist auf manifeste Weise zusammenkommen zu lassen.

Auch wenn man sie nach wie vor auf unterschiedliche Weise bezeichnen würde, so könnte man sie doch verbinden, da sie beide in einem Geist zusammenkommen. Zum Beispiel bin ich selbst ein Mönch, aber ebenso Tibeter und auch der Dalai Lama. Dies sind drei unterschiedliche Bezeichnungen, die sich jedoch alle auf dieselbe Sache beziehen. Das ist damit gemeint, wenn man davon spricht, dass mehrere Dinge mit verschiedenen Bezeichnungen verbunden werden. Die Begriffe sind andere, aber im Grunde genommen kommen sie alle zusammen – sie besitzen dieselbe wesentliche Natur. Wenn also Methode und Weisheit in einer Sache – d.h. in einem Geist – zusammenkommen, handelt es sich dabei um die Methode, die man im Tantra anwendet, insbesondere in der höchsten Tantra-Klasse, dem Anuttarayoga.

Werden Methode und Weisheit auf dieser Tantra-Ebene miteinander vereint, wirkt dies wie eine Waffe, die es uns ermöglicht, die Makel und andere Dinge, die wir beseitigen möchten, noch schneller loszuwerden, da diese Methode sehr viel mehr Kraft hat. Wenn wir selbst die subtilsten Arten der geistigen Verdunklungen, die das Erlangen der Allwissenheit verhindern, überwunden haben, sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir alles losgeworden sind, was wir es loszuwerden gilt. Dann haben wir den allwissenden Zustand eines Buddhas erreicht. 

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