Fragen zu nicht-offenbarenden Formen von Gelübden und Karma

Nicht-offenbarende Formen können nur mit geistiger Wahrnehmung erkannt werden 

Wenn wir über eine nicht-offenbarende Form reden, wie kann sie erkannt werden? Können wir in unserer Praxis lernen, sie wahrnehmen zu können?

„Nicht-offenbarend“ bedeutet, dass sie ihre Motivation niemandem offenbart. Sie ist etwas, das erkannt werden kann, jedoch nur mit geistiger Wahrnehmung. Sie ist nicht etwas, das wir sehen oder hören können. Sie ist wie eine Traumform, denn wir können sie nur durch unseren Geist kennen. Beispielsweise können wir einen Traum nicht wirklich mit unseren Augen sehen. 

Wenn wir uns zum Beispiel der nicht-offenbarenden Form einer gelobten Enthaltung gewahr sind, die wir genommen haben, um nicht zu töten, was sind wir uns dann tatsächlich gewahr? Wir sind uns gewahr, dass wir diese gelobte Enthaltung haben und uns vornehmen, sie einzuhalten. Wird durch sie die Motivation offenbart, mit der wir sie genommen haben? Nein. Ob wir uns über sie bewusst sind oder nicht, die nicht-offenbarenden Formen setzen sich allerdings mit unserem Geisteskontinuum als extrem subtile Formen fort.

Wir können auch eine bekennende Nicht-Enthaltung nehmen, beispielsweise Menschen zu töten oder zu erschießen, wenn wir der Armee beitreten, und können uns gewahr sein, dass wir eine bekennende Nicht-Enthaltung genommen haben, um diese Verhaltensweise zu haben. Zum Beispiel treten wir der Mafia bei und versprechen, jeden zu töten, den der Mafia-Boss uns anweist zu töten. Wir können uns dieser bekennenden Nicht-Enthaltung gewahr sein, doch sie offenbart nicht unsere Motivation, wie Furcht und den Wunsch nach Geld. Sie offenbart überhaupt nichts.

Motivationen für das Ablegen gelobter Enthaltungen

Natürlich können wir eine gelobte Enthaltung mit verschiedenen Arten der Motivation ablegen. Wir können die Bodhisattva-Gelübde nehmen, weil wir Erleuchtung erlangen und allen Wesen damit von Nutzen sein wollen. Wir können die Gelübde der individuellen Befreiung – die monastischen oder Laien-Gelübde – nehmen, weil wir Befreiung aus Samsara erlangen wollen. Solche konstruktiven Motivationen können wir haben. Es ist jedoch auch möglich, gelobte Enthaltungen mit vielen anderen, weniger positiven Arten der Motivation abzulegen, zum Beispiel weil all unsere Freunde Mönche werden und wir mit unseren Freunden zusammen sein wollen. Ein anderes Beispiel ist, dass wir nicht mit dem anderen Geschlecht klarkommen oder vom gleichen Geschlecht angezogen sind und somit eine gleichgeschlechtliche Gemeinschaft von Mönchen oder Nonnen suchen. Vielleicht gehen wir in ein Kloster, weil unsere Eltern uns dazu geraten haben – wie es oft in der tibetischen Gemeinschaft der Fall ist – oder weil wir kostenlos essen, nicht arbeiten oder nicht der Armee beitreten wollen. Es kann viele Motivationen oder Gründe geben. Nur die Tatsache, dass wir eine gelobte Enthaltung eingehen, offenbart nicht die Motivation.

Die gelobte Enthaltung, nicht zu jagen, könnte beispielsweise folgenden Hintergrund haben: Vielleicht würden wir es gern tun, doch wir wissen, dass es destruktiv ist und Leiden hervorruft. Daher verzichten wir darauf. Oder es könnte sein, dass es uns nie in den Sinn käme zu jagen und es daher keine große Sache ist, es zu vermeiden. Die Stärke der Motivation und die Art der Motivation werden nicht einfach dadurch offenbart, dass wir eine gelobte Enthaltung genommen haben.

 Was ist das ursprüngliche Sanskrit-Wort für ein nicht-offenbarende Form? 

Das Sanskrit-Wort für das Offenbaren ist prajñapti und für das Nicht-Offenbaren aprajñapti. Prajñapti ist ein Kausativ und bezieht sich somit darauf, uns etwas wissen zu lassen, was aus der Wurzel prajñā, zu wissen, kommt. Es ist also etwas, das uns dazu bringt, die Motivation zu kennen. Die Vorsilbe „a“ macht aus dem Wort eine Negierung und bezieht sich somit auf etwas, das uns nicht dazu bringt, die Motivation zu kennen.

Die Beziehung zwischen offenbarenden und nicht-offenbarenden Formen und Kategorien 

Ist eine offenbarende Form eine Kategorie und eine nicht-offenbarende Form keine Kategorie? 

Eine nicht-offenbarende Form ist keine Kategorie, aber die offenbarende Form ist ebenso keine. Kategorien sind statische Phänomene: sie ändern sich nicht von einem Augenblick zum nächsten und erfüllen keine Funktion. Offenbarende und nicht-offenbarende Formen sind nicht statisch. Sie ändern sich von einem Augenblick zum nächsten, während sie Funktionen erfüllen. Die offenbarende Form des Körpers ist die Form der Bewegung des Körpers, während die Methode zum Umsetzen einer Handlung des Körpers stattfindet. Die offenbarende Form der Rede ist der Klang der Äußerungen der Rede als Methode, die zum Umsetzen einer Handlung der Rede stattfindet. Sie sind nicht-statische, sich ändernde Phänomene, denn in jedem Augenblick, in dem wir etwas tun, befindet sich unser Körper in einer anderen Position und in jedem Augenblick, in dem wir etwas sagen, sind die Klänge der Silben und Worte, die wir sagen, anders. Eine nicht-offenbarende Form, wie eine gelobte Enthaltung vom Töten, ändert sich ebenfalls von einem Augenblick zum nächsten, während sie die Funktion erfüllt, uns davon abzuhalten, ein Leben zu nehmen.  

Eine Kategorie ist statisch und tut nichts. Sie ist wie eine Schublade, in die viele Dinge passen. Mit der Kategorie des Tötens oder Stehlens tut die Kategorie selbst beispielsweise nichts. Dennoch kann jedes Mal, wenn eine Person jemanden tötet, diese Handlung einer Kategorie des Tötens zugeordnet werden. Wir können sie als ein Töten konzeptuell erfassen und erkennen. Kategorien können Namen oder Worte haben, mit denen sie bezeichnet werden, und somit können wir alle Instanzen, die in die Kategorie passen, als „Morde“ bezeichnen; sie passen in die Kategorie des „Tötens“. Kategorien und Worte werden mit konzeptuellem Denken in Verbindung gebracht.

Wie konzeptuelles Denken mit Kategorien zu offenbarenden und nicht-offenbarenden Formen führt 

Beruhend auf konzeptueller Wahrnehmung mit Kategorien kommunizieren wir mit Worten. Wenn wir denken: „ich werde töten“, definiert die Kategorie des Tötens, was töten ist. Wie wird das zu einer offenbarenden Form und zu einer nicht-offenbarenden Form? 

Eine karmische Handlung des Geistes ist eine Kette konzeptueller Gedanken und sie umfasst Kategorien, wie „Töten“. Die Kategorie kann mit einem Wort benannt werden und das Wort kann durch den geistigen Klang des Wortes „Töten“ repräsentiert werden. In ähnlicher Weise ist der Gedankengang mit weiteren Kategorie verbunden, wie „ich“ und „was ich tun werde“. 

Eine Kategorie ist eine statische Klassifizierung, die alle Elemente mit einschließt, die der Definition dessen entsprechen, was zu der Kategorie gehört. In dem konzeptuellen Denken wird die Kategorie durch ein geistiges Hologramm eines spezifischen Elementes repräsentiert, das in die Kategorie passt. Dieses geistige Hologramm könnte eines der nicht-statischen Handlungen des Tötens sein, die wir planen und uns entscheiden auszuführen. Gehen wir weiter und begehen diese Handlung, wird die offenbarende Form der Bewegung unseres Körpers als eine Methode, die wir einsetzen, um das Töten auszuführen, in Anlehnung an das geistige Hologramm in unserem konzeptuellen Denken gestaltet. Zusammen mit der offenbarenden Form gibt es eine nicht-offenbarende Form.  

Wie gelobte Enthaltungen sich nach dem Tod fortsetzen 

Was den Tod betrifft, so lösen sich alle Ebenen des Bewusstseins auf, aber wie setzen sich dann Gelübde fort? Bedeutet dies, sie werden so subtil, dass sie tatsächlich den Sterbeprozess überleben können, obwohl sich die gröberen Ebenen auflösen?

Eine gelobte Enthaltung ist als eine nicht-offenbarende Form die extrem subtile Form eines physischen Phänomens, das nicht aus materiellen Elementen besteht. Die Gelübde der individuellen Befreiung – die monastischen oder Laien-Gelübde – dauern nur für ein Leben an, weil sie nur für ein Leben genommen werden. Die Bodhisattva- und tantrischen Gelübde legen wir jedoch für all unsere Leben ab. Wir verpflichten uns, sie bis zur Erleuchtung nicht aufzugeben. 

Im Vaibhashika und Sautrantika werden keine Bodhisattva- oder tantrischen Gelübde vertreten und somit gehen für sie nicht-offenbarende Formen zum Zeitpunkt des Todes verloren und haben keine Kontinuität in zukünftigen Leben. Im Chittamatra vertritt man, dass Bodhisattva- und tantrische Gelübde sich in zukünftigen Leben fortsetzen, aber dort akzeptiert man keine nicht-offenbarenden Formen. Diese gelobten Enthaltungen sind Tendenzen (tib. sa-bon) – wörtlich „Samen“ – im grundlegenden Bewusstsein, dem Alayavijnana, und sie setzen sich mit dem grundlegenden Bewusstsein nach dem Tod und in zukünftigen Leben fort.

So wie das geistige Bewusstsein der Wesen auf der Ebene der formlosen Wesen von den subtilsten Ebenen der Elemente begleitet wird, begleiten auch die nicht-offenbarenden Formen der Gelübde das subtile geistige Bewusstsein, von dem man im Sutra-System des Prasangika ausgeht und das in der Todes-Existenz da ist und sich weiter in zukünftigen Leben fortsetzt. Im Anuttarayoga-Tantra setzen sich die nicht-offenbarenden Formen der Gelübde als Teil des subtilsten Energiewindes fort.

Was passiert, wenn wir die Bodhisattva-Gelübde genommen und nicht verloren haben, aber dann als Fliege wiedergeboren werden? Haben wir die Bodhisattva-Gelübde dann noch immer? Die Antwort ist: Ja, aber sie sind verborgen. Auch wenn wir als ein Mensch wiedergeboren werden, müssen sie gewissermaßen erneut abgelegt und wiederbelebt werden. Etwas ähnliches kann innerhalb eines Lebens passieren. Während unseres menschlichen Lebens schwächen wir die Gelübde, wenn wir unsere Bodhisattva-Gelübde verletzen, doch wir verlieren sie nicht. Wir haben sie nicht aufgegeben. Wir können die Gelübde erfrischen und wiederbeleben, indem wir unsere Übertretungen bedauern und die gelobten Enthaltungen erneut ablegen. Wenn wir unsere Motivation vor einer Belehrung oder Meditationssitzung erneut bekräftigen, erfrischen wir sie damit ebenfalls. Wir erzeugen Bodhichitta nicht neu. Daher sage ich stets: „lasst uns unsere Bodhichitta-Motivation erneut bekräftigen“ und nicht „lasst uns Bodhichitta erzeugen“.  

Eine Strategie des Beilegens von unentschlossenem Schwanken 

Sie haben erwähnt, dass wir, wenn wir uns Sorgen machen, Zweifel oder Fragen in unserem Geist haben, die wir nicht lösen können, und uns immer wieder damit beschäftigen, was es irgendwie unvollständig macht. Wie können wir dieses Problem lösen, damit es uns nicht weiter stört?

Wenn wir zu keiner Entscheidung kommen können, nennt man dies unentschlossenes Schwanken und es handelt sich dabei um eine der sieben Arten der Wahrnehmung von Dingen. Für gewöhnlich wird es als eine Unentschlossenheit in Bezug darauf beschrieben, etwas im Dharma zu verstehen und zu akzeptieren. Entweder schwankt eine Person zu einem korrekten Verständnis, zum fehlerhaften Verständnis oder befindet sich irgendwo dazwischen. Vielleicht sehen wir etwas in der Ferne und uns ist nicht klar, wer es ist. Wir können uns nicht wirklich entscheiden und so nutzen wir eine andere Form der Wahrnehmung, die darin besteht zu erkennen, dass wir mehr Informationen benötigen, um die Entscheidung zu treffen. In diesem Fall müssen wir uns beispielsweise der Person nähern, um sie korrekt zu identifizieren.

Diese Strategie ist hier im unentschlossenen Schwanken äußerst relevant. Können wir uns nicht entscheiden, was wir tun oder sagen sollen, benötigen wir eventuell mehr Informationen, um eine intelligente Entscheidung zu treffen. Vielleicht sprechen wir mit jemanden und wissen nicht so recht, was wir ihm sagen sollen. Wir können die Person jedoch bitten, uns etwas genauer zu sagen, was sie meint oder warum sie etwas gesagt hat. Wenn wir mehr Informationen bekommen, hilft uns das, eine Entscheidung zu treffen. 

Das ist eine wirklich wichtige Art der Wahrnehmung von Dingen, die wir tatsächlich anwenden sollten. Wir müssen uns bewusst darüber sein, dass wir keine Entschiedenheit über etwas haben können, wenn wir keine weiteren Informationen bekommen. Können wir uns zum Beispiel nicht entschließen, ob es die Wiedergeburt gibt oder nicht, benötigen wir mehr Informationen darüber, wie sie funktioniert, was wiedergeboren wird usw., bevor wir zu einer echten Gewissheit gelangen können. 

Vielleicht hat ein Person gestern schlechte Dinge zu uns bei der Arbeit gesagt. Sollen wir ihr heute etwas darauf erwidern, wenn wir zur Arbeit gehen? Ich denke, das ist ein häufiges Problem, wenn wir uns mit konstruktivem und destruktivem Verhalten befassen und uns fragen, ob wir eine konstruktive oder destruktive Handlung ausführen sollten, und Schwierigkeiten damit haben zu entscheiden, ob wir es tun sollten oder nicht. Sogar in dieser Situation bei der Arbeit können wir versuchen, mehr Informationen zu bekommen. Was hat die Person damit gemeint? 

Es gibt eine Taktik, die Thích Nhất Hạnh stets hervorhebt. Man geht zu der Person und sagt: „Ich habe ein Problem mit dem, was du gestern zu mir gesagt hast. Es hat mich ziemlich aufgebracht. Könntest du mir helfen, es klarzustellen und zu erklären, warum du es gesagt hast?“ Das gibt der anderen Person die Möglichkeit großmütig zu sein und uns eine Erklärung anzubieten, was die ganze Dynamik der Situation verändert. Es baut darauf auf, mehr Informationen zu bekommen und zu erkennen, dass wir mehr Informationen benötigen, bevor wir die Entscheidung treffen, dieser Person etwas Schlechtes zu erwidern. 

Systeme miteinander vermischen 

Könnten wir bezüglich offenbarender und nicht-offenbarender Formen sagen, dass eine offenbarende Form mit unserem Bewusstsein und die nicht-offenbarende Form mit unserem Unterbewusstsein verbunden ist, wenn wir es in westlichen Begriffen definieren? 

Ja, das könnte man sagen. Ich würde es allerdings nicht so formulieren, sondern etwas vorsichtiger damit sein, wie ich es genau ausdrücke. Wir können uns einer offenbarenden Form bewusst sein, weil wir sie sehen oder hören können. Der nicht-offenbarenden Form wären wir uns jedoch nicht bewusst. So würde es meiner Meinung nach in das Schema des Bewussten und Unbewussten passen. Bewusst oder unbewusst hat etwas damit zu tun, ob wir achtsam gegenüber etwas sind. So sind wir beispielsweise nicht achtsam gegenüber der nicht-offenbarenden Form einer gelobten Enthaltung, die wir abgelegt haben, aber wir können über sie nachdenken, wenn wir wollen. Das wäre konzeptuell und die nicht-offenbarende Form wäre ein Objekt der konzeptuellen Wahrnehmung. 

Wenn wir außersinnliche Wahrnehmung erlangen, die ein Nebenprodukt vollkommener Konzentration ist, und uns auf diese nicht-offenbarende Form fokussieren, sollten wir theoretisch in der Lage sein, sie nicht-konzeptuell zu erkennen. Das liegt daran, dass wir dann kein geistiges Abschweifen, keine geistige Dumpfheit, haben und völlig darauf fokussiert sind. Ich bin mir jedoch nicht ganz sicher, ob das der Fall ist. Es scheint, als sollte es theoretisch möglich sein.

Um deine Frage zu beantworten, ist es notwendig, etwas weiter in die Richtung der sieben Arten der Wahrnehmung zu gehen. Es gibt zum Beispiel die schlussfolgernde Wahrnehmung, die immer konzeptuell ist. Wir können schlussfolgern, dass unsere Gelübde schwach sind. Beruhend auf einer Überlegung, dem Betrachten unseres Verhaltens, wie wir vielleicht die Gelübde ein wenig umgangen sind und sie nicht wirklich rein gehalten haben, können wir schlussfolgern, dass sie geschwächt worden sind. Sind wir uns damit der Gelübde bewusst oder nicht?

Das westliche konzeptuelle Bezugssystem des Bewussten und Unbewussten passt da nicht wirklich hinein. Mit anderen Worten gibt es viele verschiedene Weisen, wie unser konzeptuelles geistiges Bewusstsein die nicht-offenbarenden Formen der Gelübde oder auch nur die nicht-offenbarende Form unseres Verhaltens als ein Objekt erfassen könnte. 

Damit kommen wir zu dem Punkt, Systeme miteinander zu vermischen. Wir haben gesagt, dass man Prasangika und Chittamatra nicht wirklich auf harmonische Weise miteinander verbinden kann. In ähnlicher Weise können wir auch eine buddhistische Erklärung nicht so gut auf eine westliche psychologische Erklärung anwenden. Die Kategorien, mit denen wir in jedem System Dinge konzeptuell erfassen, überlappen sich nicht und in vielen Fällen kreuzen sie sich nicht einmal.

Greifen nach einem selbst-begründeten „Ich“ 

Sie haben die Definition von Karma als Zwanghaftigkeit beschrieben, aber ich verstehe Zwanghaftigkeit als den vierten Aspekt der zweiten edlen Wahrheit, wenn es um die verschiedenen festen Absichten geht. Wenn unsere Absicht nicht so stark ist, handelt es sich dabei doch nicht um Karma, weil sie nicht zwanghaft genug ist. Könnten Sie etwas dazu sagen?

Karma existiert nicht nur für sich, sondern entsteht aus verschiedenen Ursachen und Bedingungen und führt auch zu verschiedenen Arten von Resultaten und Hinterlassenschaften. Betrachten wir diese ganze Karma-Thematik, ist es notwendig, sich zwanghafte Wiederholungen bestimmter Verhaltensmuster anzusehen, wenn ich es so ausdrücken kann. Wir haben eine gewohnheitsmäßige Verhaltensweise und eine Verhaltensweise, die durch Wiederholungen verstärkt wird. Darauf bezieht sich der zweite Aspekt, die wahren Ursachen des Leidens, auf den Ursprung wahren Leidens. Ein befleckter Körper wird durch unsere Begierde immer wieder entstehen, weil sich das Begehren immer weiter wiederholt. Das können wir auch im Sinne karmischer Muster verstehen, die sich ständig wiederholen. 

Was sich wiederholt, könnte destruktives Verhalten, konstruktives Verhalten oder unspezifisch sein. Wenn es destruktiv ist, wird es durch eine störende Emotionen motiviert. Ist es konstruktiv, wird es entweder durch kein störende Emotion oder durch eine positive Emotion motiviert und ist es unspezifisch, treffen keine dieser Dinge zu. Sie alle haben jedoch das Greifen nach einem selbst-begründeten „Ich“ als Teil des motivierenden geistigen Rahmens. 

Eine destruktive Handlung ist beispielsweise, wenn ich dich schlage. Ich schlage dich mit der Absicht, dir wehzutun, weil eine destruktive Emotion dahintersteckt. Ich mag dich nicht und bin wütend auf dich. Da gibt es ein großes „Ich“: Du hast mir wehgetan und ich mag dich nicht; deswegen werde ich dir wehtun. Der Schwerpunkt liegt hier auf dem „Ich“. 

Mit einer konstruktiven Handlung meide ich es, dich zu schlagen. Vielleicht möchte ich nicht unter dem Einfluss von Wut handeln. Es heißt nicht, dass wir völlig frei von Wut sind. Vielleicht möchte ich dir helfen und dich nicht verletzen. Das „Ich“ ist jedoch nach wie vor da. Warum will ich so handeln? Ich möchte gut sein. Ich bin ein guter Mensch und tue solche Dinge nicht. Da gibt es dieses große „Ich“, das trotz allem da ist. Ich möchte verhindern, dass du mich nicht magst und ich will nicht, dass du mich im Gegenzug auch verletzt. 

Ein Beispiel für eine unspezifische Handlung wäre, dass ich um 1 Uhr Mittag esse und immer Suppe dazu habe. Dahinter steckt die Weise, wie ich nun einmal bin. Ich esse immer um diese Zeit Mittag und möchte nicht um 2 Uhr Mittag essen. Das ist mir zu spät und ich möchte immer Suppe dazu haben. Hinter all dem steckt ein starkes „Ich“. „So bin ich, das tue ich und so führe ich mein Leben. Am besten, du akzeptierst das einfach.“ Das ist jedoch unspezifisch, denn es geht lediglich darum, um 1 Uhr Mittag mit Suppe zu essen. 

In all diesen Handlungen gibt es eine Absicht. Die Absicht mag darin bestehen, dir wehzutun, dir nicht wehzutun oder um 1 Uhr Mittag mit Suppe zu essen. Es gibt immer eine Absicht. Die Stärke des Potenzials, welches durch den karmischen Impuls geschaffen wird, und somit auch die Stärke des Resultats, das daraus heranreift, stehen im Verhältnis zur Stärke der motivierenden Emotion. Gibt es ein wenig Anhaftung oder eine große Anhaftung? Gibt es ein wenig Wut oder starke Wut? 

Was auch die Stärke des Potenzials und des Resultats beeinflusst, ist das Maß an Leiden, die unsere Handlungen einer anderen Person zuführen. Werde ich dich zum Beispiel schlagen oder werde ich dich töten? Werde ich ein paar harte Worte zu dir sagen oder etwas wirklich Furchtbares über deine Mutter sagen? Es gibt viele verschiedene Weisen, wie ich beabsichtige, es zu tun. Wenn ich jemanden verletzen will, könnte die Absicht, wie ich das tun möchte, in der Stärke des Potenzials und des karmischen Resultats variieren, je nachdem, wie viel Leid es der anderen Person bereiten wird.

Stimmt es, dass all unsere Handlungen aller drei Kategorien zwanghaft sind, wenn wir kein korrektes Verständnis der Leerheit haben? Das hieße ja, dass alles, was wir tun, auf Karma und Zwanghaftigkeit beruht. 

Das wird wie immer etwas kompliziert und hat etwas mit den Schleiern von Karma zu tun und damit, eine wahre Beendigung davon zu erlangen. Wir lösen uns von Karma und karmischen Tendenzen mit der Befreiung, doch die ständigen Gewohnheiten des Karma, die uns dazu bringen, eine begrenzte Wahrnehmung und keine Allwissenheit zu haben, werden wir nur los, wenn wir Erleuchtung erlangen. 

Das erreichen wir stufenweise. Zuerst können wir an einen bestimmten Punkt gelangen, an dem wir nicht mehr in einem der niederen Bereiche wiedergeboren werden. Wir können, glaube ich, eine bestimmte Ebene erreichen, wenn wir am Ende der siebenten Bhumi befreit werden, wo wir kein weiteres karmisches Potenzial mehr ansammeln. Es geschieht schrittweise, dass wir eine Beendigung bestimmter Aspekte des Karma erlangen. Alle Aspekte des Karma werden wir jedoch erst los, wenn wir erleuchtet werden und Buddhaschaft erlangen. Die eigentliche Befreiung kommt als ein Arhat und das vollständige Paket der Befreiung ständiger Gewohnheiten, wenn wir ein Buddha sind.

Das Netzwerk positiver Kraft 

Nun gibt es einen wichtigen Punkt, der später kommt, wenn wir die Hinterlassenschaft unseres karmischen Verhaltens besprechen. Eines der Resultate, eine Hinterlassenschaft, die sich mit unserem Geisteskontinuum fortsetzt, ist die so genannte „Ansammlung von Verdienst“. Ich ziehe es vor, sie als ein „Netzwerk positiver Kraft“ zu bezeichnen.

Es gibt drei Arten von Netzwerken positiver Kraft. Eine hat gar keine Definition und sie ist der normale Zustand – unser normales, so genanntes „gutes Karma“, das einfach für ein besseres Samsara beiträgt. Dabei handelt es sich beispielsweise um das positive Potenzial, das durch Großzügigkeit aufgebaut wurde, und drückt sich dadurch aus, dass andere Menschen uns Geld geben. Als nächstes gibt es da die positive Kraft, die dem Erlangen der Befreiung gewidmet ist, und die positive Kraft, die mit Bodhichitta dem Erlangen der Erleuchtung gewidmet ist. Gemäß einem Kommentar zu diesem Thema von Haribhadra, einem indischen Meister, bedeutet das Sanskrit-Wort, das für gewöhnlich mit „Ansammlung“ oder „Netzwerk“ übersetzt wird, eigentlich „etwas, das etwas anderes aufbaut“. Es baut die positive Kraft auf, ein schöneres Samsara, Befreiung oder Erleuchtung zu erlangen. 

Das begriffsbestimmende Netzwerk positiver Kraft, das erleuchtungsbildend ist, ist jenes, das wir haben, wenn wir müheloses Bodhichitta erreichen. „Mühelos“ (tib. rtsol-med) bedeutet, dass wir uns nicht auf die siebenteilige Meditation über Ursache und Wirkung stützen müssen, um es hervorzubringen. Wir verfügen einfach ständig über Bodhichitta als unsere vorrangige Motivation und unbewusst ist es immer da. Mit ihm erlangen wir den ersten der fünf Pfade des Geistes, den Pfadgeist des Aufbauens – den so genannten „Pfad des Ansammelns“ – mit dem wir immer mehr aufbauen, um ein vereintes Paar von Shamatha und Vipashyana zu erlangen. Der Pfad des Ansammelns ist nicht ein Pfad, auf dem wir gehen, sondern eine Ebene des Geistes, auf der wir uns auf dieses Erlangen zubewegen. Das ist begriffsbestimmendes Bodhichitta. Haben wir die Ebene von Bodhichitta erreicht, wird sie zum Erlangen unserer Erleuchtung beitragen. Wir müssen dazu noch keine nicht-konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit haben. Diese wir mit einem Pfadgeist des Sehens, dem Pfad des Sehens, erlangt. 

Bevor wir diese Ebene mühelosen Bodhichittas und einen Pfadgeist des Aufbauens als ein Bodhisattva erreichen, haben wir ein so genanntes „Ebenbild eines Netzwerkes“ von erleuchtungsbildender positiver Kraft. Sie wird mit mühevollem Bodhichitta aufgebaut, trägt jedoch auch zu unserer Erleuchtung bei. In gewisser Weise wird ein Teil dieser positiven Kraft unser Samsara auf dem Weg zur Erleuchtung verbessern, weil wir kostbare menschliche Wiedergeburten und solche Dinge benötigen. Wir wollen sicherstellen, dass wir dieses samsarische Reifen haben, aber es wird auch zu unserem eigentlichen Erlangen der Erleuchtung beitragen.

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