Im indo-tibetischen Buddhismus gibt es verschiedene Erörterungen des Karma. Ich sollte auch sagen, dass sie alle gegenüber der Art, in der der Theravada das Funktionieren von Karma darstellt, recht verschieden sind. Innerhalb des tibetischen Buddhismus gibt es drei grundlegende Erklärungen. Hiervon werden wir nur eine besprechen, nämlich die, die am wenigsten kompliziert ist – sie ist schon kompliziert genug!
Dies ist die Darstellung der indischen Lehrsysteme des Chittamatra, des Sautrantika und des Yogachara-Svatantrika, wobei es entsprechend der verschiedenen Lehrsysteme dieser Schulen leichte Variationen gibt. Sie ist auf die Chittamantra-Texte von Asanga und Vasubandhu zurückzuführen. Der Sautrantika-Svatantrika und der Prasangika folgen der von Nagarjuna und Chandrakirti modifizierten Vaibhashika-Darstellung Vasubandhus. In unserer Erörterung dieses weniger komplizierten Systems werden wir, was die philosophischen Details betrifft, der Gelug-Darstellung folgen.
Nach dieser Erklärung ist Karma als Impuls ausschließlich ein Geistesfaktor. Ein Geistesfaktor ist eine Art, etwas zu erleben. Hier handelt es sich spezifisch um den geistigen Faktor eines Dranges. Es ist der Impuls oder Drang, der den Geist in Bewegung setzt, sich auf ein bestimmtes Objekt zuzubewegen und ihn dazu antreibt, sich auf eine gewisse Handlungsweise gegenüber oder mit dem Objekt einzulassen – etwas Konstruktives, Destruktives oder Unspezifisches zu tun, zu sagen oder zu denken. Daraufhin folgen dann Impulse oder Dränge, die den Geist in Bewegung setzen, um das Anwenden von Methoden zur Ausübung von Handlungen aufrechtzuerhalten oder zu beenden. Da sich diese Impulse von Gewohnheiten ableiten, sind sie kompulsiv und zwingend.
Arten von Phänomenen im Buddhismus
Ich glaube, dass es hilfreich sein kann, die verschiedenen Arten von Phänomenen, die im Buddhismus vorgestellt werden, kurz zu wiederholen, um zu verstehen, welche Arten von Phänomenen in der Diskussion des Karma eine Rolle spielen.
Wir können in Begriffen von dem, was existiert und dem was nicht existiert sprechen. Das, was existiert, kann in gültiger Weise erkannt werden – egal ob das Erkennen in Anwesenheit oder Abwesenheit von etwas stattfindet. Alles, was nicht gültig erkannt werden kann, existiert nicht. Etwas, das es existiert, kann von unserer normalen Geistesverfassung möglicherweise nicht leicht erkannt werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Leerheit. Doch solange diese Dinge auf irgendeiner Ebene des Geistes in gültiger Weise erkannt werden können, existieren sie. Hühnerlippen existieren nicht, da wir sie nicht gültig erkennen können. Wir können uns ein Huhn mit menschliche Lippen vorstellen oder eine Zeichnung von einem Huhn mit Lippen, doch wir können uns nicht in einer gültigen Weise ein Huhn mit Hühnerlippen vorstellen, da es so etwas nicht gibt. Jede Art, sich dies vorzustellen, wäre eine ungültige Wahrnehmung.
Das, was in gültiger Weise erkannt werden kann (d.h. was existiert) wird in statische und nichtstatische Phänomene unterteilt – zwei Begriffe, die normalerweise mit „ beständige Phänomene“ und „unbeständige Phänomene“ übersetzt werden. Die Unterscheidung hier betrifft allerdings nicht die Dauer der Existenz eines Objektes, ob es ewig oder nur einen kurzen Moment lang existiert. Es geht hier vielmehr um die Frage, ob sich etwas während es existiert verändert. In sehr einfachen Begriffen gesagt sind statische Phänomene wie Tatsachen, die sich nicht verändern: eins plus eins gleich zwei. Die Tatsache wird von nichts verursacht, ist aus nichts anderem erwachsen, produziert keine Wirkung – es ist einfach eine Tatsache.
Nichtstatische Phänomene sind diejenigen, die sich vom Moment zu Moment verändern. Sie entstehen aus Ursachen und produzieren Wirkungen. Es gibt drei Kategorien: die Formen physische Phänomene (tib. gzugs); die Weisen, in denen man sich etwas gewahr ist (tib. shes-pa) und nichtstatische Abstraktionen die weder das eine noch das andere sind (tib. ldan-min ‘du-byed, nicht gemeinsam teilende beeinflussende Variablen).
Grundschema der Fünf Aggregate
Es sind diese drei Arten nichtstatischer Phänomene, die jeden Augenblick unserer Erfahrung ausmachen, und jeder Augenblick unserer Erfahrung ist leicht anders. Mit anderen Worten verändert sich unsere Erfahrung von Moment zu Moment. Die Bestandteile jedes Erfahrungsmoments können den fünf Aggregaten zugeordnet werden, doch wir werden dies heute nicht tun. Lasst uns das Thema auf einfachere Weise behandeln.
Grundsätzlich gesagt wird in jeder Wahrnehmung eines jeden Augenblicks irgendeine Form eines körperlichen Phänomens vorhanden sein – ein Anblick, ein Geräusch, ein Geruch, ein Geschmack, eine körperliche Empfindung – und ebenfalls die kognitiven Sensoren der Sinnesorgane – der Körper, die lichtempfindlichen Zellen der Augen, die geräuschempfindlichen Zellen der Ohren, und so weiter, die mit der Wahrnehmung dieses Sinnesobjektes zu tun haben. Es kann auch die Form eines physischen Phänomens geben, die nur durch geistiges Bewusstsein erkannt werden kann, wie die Bilder, die in Träumen erscheinen. Normalerweise findet mehr als eine Wahrnehmung auf einmal statt – wir können jemanden sprechen sehen und gleichzeitig hören, was er sagt.
Dann gibt es die Weisen, in denen man sich etwas gewahr ist oder in der man etwas erlebt. Auf diese bezieht man sich normalerweise mit der Bezeichnung „geistige Phänomene“, doch dies ist wirklich ein ziemlich irreleitender Begriff, da dies im westlichen Kontext Geistesobjekte mit einschließen würde, die nicht in diese Kategorie fallen. Tatsächlich sind alle Bestandteile dieser Kategorie verschiedene Arten geistiger Aktivität. Um es einfach zu halten kann die Art, Dinge zu erfahren in zwei unterteilt werden: in Primärbewusstsein und Geistesfaktoren.
Die erste Unterteilung ist die des Primärbewusstseins (tib. rnam-shes). Dies kann ein Sinnesbewusstsein sein, wie beim Sehen, Hören, Riechen, Schmecken oder wenn man einen körperlichen Sinneseindruck wie Hitze, Kälte, Schmerz, Bewegung und so weiter erfährt. Oder es kann ein geistiges Bewusstsein sein, wie beim Denken, Träumen und so weiter. Grundsätzlich gesagt ist Primärbewusstsein der „Kanal“ auf dem sich die Erfahrung abspielt, wie im Falle eines Fernsehkanals. Es gibt den Sehkanal, den Hörkanal und so weiter.
Im Chittamatra-System geht man auch von einem grundlegenden Bewusstsein (tib. kun-gzhi rnam-shes, Skt. alayavijnana) aus, auf dessen Grundlage die karmische Hinterlassenschaft getragen wird, sowie von einem verblendeten Bewusstsein (tib. nyon-yid), mit dem man sich auf das grundlegende Bewusstsein fokussiert und es fälschlicherweise für das Selbst der Person hält. Hier werden wir nicht näher auf diese zwei eingehen.
Jedes Primärbewusstsein tritt immer mit begleitenden Geistesfaktoren (tib. sems-byung) auf. Ich bezeichne diese manchmal als „Arten von Nebengewahrsein“, von denen es viele gibt. Asanga zählt einundfünfzig davon auf. Doch dies sind nur die Nennenswertesten, denn eigentlich gibt es noch viel mehr. Diese Geistesfaktoren qualifizieren die Art, in der wir etwas erfahren. Das Primärbewusstsein erlebt nur die essentielle Natur (tib. ngo-bo) seines Objektes – mit anderen Worten, zu welcher Art von Phänomenen das Objekt gehört, also ob es sich um einen Anblick, ein Geräusch, etc., handelt. Die anderen Faktoren, wie etwa der Grad der Aufmerksamkeit und des Interesses oder die Emotionen, qualifizieren die Erfahrung des Objekts durch weitere Details.
In diesem System, über das wir reden werden, ist Karma einer dieser Geistesfaktoren, ein Drang. Wie bereits erwähnt, ist Karma, als ein Drang oder geistiger Impuls, ein Geistesfaktor, während das Fokussieren auf ein Objekt den Geist beeinflusst und ihn in Bewegung setzt, um eine konstruktive, destruktive oder unspezifische Handlung gegenüber oder mit dem Objekt auszuführen. Wie eine Lokomotive zieht er das Primärbewusstsein und dessen begleitende Geistesfaktoren mit zum Objekt im nächsten Augenblick und bringt die Person, also das „Ich“, das Teil der Aggregate ist, dazu, eine Handlung ihm gegenüber oder mit ihm einzuleiten oder auszuführen.
Ich denke nicht, dass es jetzt angebracht wäre, alle geistigen Faktoren einzeln durchzugehen. Betrachten wir daher nur noch einen von ihnen: die Empfindung (tib. tshor-ba). Dieser Fachterminus bezieht sich ausschließlich auf das Empfinden eines Grades an Glücklichsein, Unglücklichsein oder ein neutrales Gefühl. Es könnte sich irgendwo auf diesem Spektrum befinden. Wann auch immer wir etwas erfahren, wird dies durch das Erleben eines gewissen Grades von Glücklichsein begleitet.
Bei den Emotionen handelt es sich um andere Geistesfaktoren. Es kann sich um störenden oder nicht-störende Emotionen handeln, um destruktive oder konstruktive Emotionen. Wir machen die Erfahrung, jemanden mit Wut zu sehen oder jemanden mit Liebe zu sehen, wir sind glücklich oder unglücklich, sie zu sehen und dann kommt der starke Drang oder Impuls auf, der uns dazu bringt, ihnen im nächsten Moment etwas Liebes oder etwas Hässliches zu sagen.
Die Chittamatra- und die Yogachara-Unterteilung des Svatantrika geht auch vom reflexiven Gewahrsein (tib. rang-rig) aus, das jede Wahrnehmung begleitet und mit dem man sich einfach über die anderen Gewahrseinsweisen gewahr ist, aber darüber werden wir hier nicht weiter reden.
Fragen bezüglich der mentalen Faktoren, die mit dem Karma verbunden sind
Karma als Impuls, etwas zu tun
Handelt es sich bei diesem Impuls immer um Karma?
Ja, Karma bezieht sich auf diesen geistigen Impuls. Die Gesetze des Karmas erklären, warum der Impuls entsteht, der unseren Geist dazu bringt eine Person oder eine andere anzuschauen, etwas bestimmtes und nicht etwas anderes zu sagen, oder sich in eine Situation zu begeben oder eine neue Person kennenzulernen.
Ist der Impuls meinen Kindern zu helfen auch Karma?
Ja, ganz im Gegensatz zu dem Impuls der Spinnenmutter, der sie dazu bringt, die eigenen Kinder aufzufressen.
Sind sowohl positive als auch negative Impulse Karma?
Richtig, Karma umfasst ebenso neutrale Impulse, wie der zwanghafte Impuls, der dazu führt, sich am Kopf zu kratzen. Man sollte sich Folgendes vor Augen halten: in allgemeinen Darstellungen steht das Wort Karma für das Gesamtthema der Dinge, die geschehen und der Gründe dafür, warum sie geschehen. Aber spezifischer gesagt bezieht sich das Wort Karma innerhalb dieses Gesamtthemas auf zwanghafte geistige Impulse. All die verschiedenen Aspekte des Prozesses werden mit verschiedenen Namen bezeichnet.
Manchmal sehen wir, dass das Wort „Karma“ als „Handlung“ übersetzt wird. Dies ist eine sehr weitgefasste Art, den Begriff zu übersetzen, was in bestimmten Darstellungen, wie Nagarjunas Analyse der Beziehung zwischen dem Handelnden und der Handlung nützlich ist. In dem philosophischen System, das hier erläutert wird, bezieht sich Karma nicht auf Handlungen, sondern vielmehr auf einen zwanghaften, geistigen Impuls, der uns zum Ausüben einer Handlung treibt, aber nicht die Handlung selbst darstellt.
Im Vaibhashika- und im Prasangika-System umfasst der Begriff des Karmas die Gestalt oder Bewegung unseres Körpers während der Durchführung eine physischen Handlung, den Klang oder die Äußerung von Klängen unserer Stimme während einer verbalen Handlung, sowie auch die feinstoffliche Energie während der Handlungen und dem Fortsetzen unseres geistigen Kontinuums nach Beenden der Handlungen. Doch selbst in diesen beiden Systemen schließt Karma nie die geistige Handlung des Denkens mit ein. Daher scheint mir, dass es besser ist, das Wort „Handlung“ nicht als Übersetzung von „Karma“ zu benutzen.
Der karmische Impuls etwas zu tun und die sehnsuchtsvolle Begierde danach
Ist ein Impuls auf etwas hin dasselbe wie Anhaftung dieser Sache gegenüber?
Die Anhaftung (tib. ‘dod-chags) ist ein anderer Geistesfaktor. Etwas gerne zu tun und Lust zu haben, etwas zu tun, sind wieder andere geistige Faktoren. Wir müssen eigentlich zwei Bedeutungen des hier stehenden tibetischen Fachbegriffs dochag unterscheiden: Anhaftung und sehnsuchtsvolle Begierde. „Anhaftung“ bezieht sich auf etwas, das wir bereits besitzen und das wir nicht loslassen wollen. „Sehnsuchtsvolle Begierde“ bezieht sich auf etwas, das wir zur Zeit nicht haben und wonach wir uns sehnen.
Was ist der Unterschied zwischen einem Impuls und sehnsuchtsvoller Begierde?
Es handelt sich um unterschiedliche geistige Faktoren. Sie können zusammen auftreten, tun dies aber nicht notwendigerweise. Genau wie es die Anhaftung tut, übertreibt auch die sehnsuchtsvolle Begierde die guten Eigenschaften der Dinge. Wir könnten Schokolade sehen und sagen: „Wow! Das ist das köstlichste Ding auf Erden!“ und trotzdem tritt nicht der geringste Impuls auf, sie jetzt zu essen, da wir satt sind.
Kann es einen Impuls ohne sehnsuchtsvolles Begehren geben? Was ist die Beziehung zwischen den beiden?
Der Geistesfaktor eines Dranges, also ein karmischer Impuls, begleitet jeden einzelnen Augenblick unserer Erfahrung. Er ist einer der fünf immer arbeitenden Geistesfaktoren (tib. kun-’gro lnga). Das sehnsuchtsvolle Begehren tritt andererseits als eine spezifische störende Emotion in Abständen und nur gelegentlich, nicht ständig, auf. Statt von sehnsuchtsvollem Begehren könnte ein Impuls beispielsweise von Wut begleitet werden. Er könnte auch von Liebe begleitet werden. Karmische Impulse dagegen entstehen jeden Augenblick – nicht nur während unserer wachen Stunden, sondern auch wenn wir schlafen. Es sind die Impulse, die uns veranlassen, einen Traum zu haben, uns umzudrehen, weiterzuschlafen oder aufzuwachen. Wir können unserem Karma gegenüber nie eine „Auszeit“ einlegen. Es tritt in jedem Augenblick in Erscheinung.
Der karmische Impuls etwas zu tun und die Absicht, es zu tun
Wir müssen auch zwischen einem karmischen Impuls und einer Absicht (tib. ‘dun-pa) unterscheiden, denn es handelt sich um zwei verschiedene Geistesfaktoren. Ein karmischer Impuls ist einfach das, was das Primärbewusstsein und dessen begleitende Geistesfaktoren dazu treibt, im nächsten Augenblick eine Handlung gegenüber dem Objekt auszuführen, auf das es ausgerichtet ist. Eine Absicht ist der Wunsch, etwas Spezifisches gegenüber oder mit einem bestimmten Objekt zu tun, mit dem wir es tun möchten, um es zu bekommen oder nicht, oder um uns davon zu trennen oder nicht. Eine Absicht ist demzufolge eine Willensregung.
Ein karmischer Impuls und eine Absicht stehen immer miteinander in Beziehung. Deshalb sagt man immer, dass das Karma absichtlich oder willentlich ist. Dies bedeutet allerdings nicht notwendigerweise, dass ich mit dem, was ich gern tun würde, die Absicht habe, zu schaden oder nützlich zu sein. Es kann sein, dass wir nicht wissen, ob unsere Handlungen schädlich oder nützlich sein werden. Es könnte sich einfach um die Absicht handeln, jemanden anzuschauen oder um die Absicht, auf jemanden zuzugehen. Es besteht der Impuls oder der Wunsch zu gehen, sowie der karmische Impuls, der uns dazu treibt, im nächsten Moment loszulaufen; diese beiden sind verschieden.
Würden die Begriffe des Impulses und der Absicht also das implizieren, was wir als freien Willen bezeichnen?
Wie man es beschreibt ist jedem selbst überlassen. Ich denke allerdings nicht, dass es hier fruchtbar ist, die Begriffe des freien Willens oder der Vorbestimmung zu unterscheiden, da dies bedeuten würde, etwas aus einem anderen begrifflichen Rahmen hier hereinzubringen.
Wie arbeiten ein Impuls und eine Absicht zusammen?
Sie sind stets im Einklang miteinander. Wir könnten die Absicht haben, am Morgen aufzustehen und zu diesem Vortrag zu kommen. Stehen wir im nächsten Augenblick auf, weist das darauf hin, dass der karmische Impuls, der diese Absicht oder diesen Wunsch begleitet, uns dazu gebracht hat, unseren Körper in Bewegung zu setzen und aufzustehen. Sind wir in diesem Augenblick nicht aufgestanden, hat uns der karmische Impuls, der die Absicht oder den Wunsch aufzustehen begleitet, zu der geistigen Handlung getrieben, über das Aufstehen nachzudenken.
Als Folge dieses Nachdenkens entscheiden wir uns vielleicht aufzustehen oder auch nicht. Die karmischen Impulse, die das Denken begleiten, bringen uns dazu im Bett zu bleiben, bis wir uns entschieden haben. Haben wir uns jedoch entschieden aufzustehen, treibt uns der karmische Impuls, der die Absicht begleitet, dazu, tatsächlich aufzustehen. Wir könnten nicht gleichzeitig die Absicht haben, im Bett zu bleiben und den Impuls, der uns zum Aufstehen bewegt. Diese zwei widersprüchlichen Geistesfaktoren könnten nicht gleichzeitig vorhanden sein.
In jedem gegeben Moment konzentrieren sich diese zwei Faktoren auf dasselbe Objekt oder auf dieselbe Handlung und passen harmonisch zusammen. Im gleichen Augenblick würde es eine Absicht des Aufstehens geben und einen begleitenden Impuls, der uns dazu bringt aufzustehen. Oder es besteht eine Absicht, nicht aufzustehen und ein begleitender Impuls, der und dazu bringt, nicht aufzustehen. Wir können natürlich in einer unentschlossenen Weise zwischen den beiden Möglichkeiten hin und her schwanken, bis wir schließlich entscheiden, was wir tun wollen. Unentschlossenes Schwanken (tib. the-tshoms) ist ein anderer Geistesfaktor, der einen Impuls und eine Absicht begleiten kann.
Außerdem kann das, was wir beabsichtigen zu tun, etwas anderes sein, als das, was tatsächlich stattfindet. Vielleicht beabsichtigen wir mit jemandem schön zu tanzen und ein geistiger Impuls bringt unser Körperbewusstsein dazu, unsere Füße zu bewegen, aber das Resultat unserer Handlung ist, dass wir auf den Fuß unseres Tanzpartners treten.
Der Impuls und die Absicht, die uns dazu brachten, aus dem Bett aufzustehen oder der Impuls und die Absicht, die uns dazu brachten, im Bett zu bleiben, können mit Anhaftung verbunden sein oder auch nicht. Auch hier übertreibt die Anhaftung die guten Qualitäten einer Sache, und aufgrund dieser Anhaftung möchten wir es bekommen. „Dies wird die wundervollste Vorlesung der Welt sein und wenn ich sie verpasse, verpasse ich wirklich etwas Gutes.“ „Im Bett zu liegen wird die angenehmste Sache der Welt sein“. Das ist Anhaftung.
Ein weiterer Punkt, an den man sich erinnern sollte ist folgender: wenn wir all diese geistigen Faktoren erleben, treten sie alle zusammen in „einem Paket“ auf; sie interagieren alle miteinander wie ein Netzwerk. Wir könnten mit Logik einen geistigen Faktor vom anderen isolieren; aber tatsächlich sind sie alle in einem Akt der Wahrnehmung miteinander vermischt.
Sich einer Sache bewusst sein und sie sich vergegenwärtigen
Ist der Impuls bewusst oder nicht?
Diese geistigen Impulse sind nicht bewusst. „Bewusst“ und „unbewusst“ sind Variablen, die in einer westlichen Analyse eine Rolle spielen würden. Hier sprechen wir über etwas, das sich auf einer äußerst feinen Ebene abspielt und das in jedem Moment unserer Erfahrung geschieht. Es ist der zwanghafte Drang, der uns dazu treibt, im nächsten Moment eine Methode anzuwenden, um unsere Handlung gegenüber oder mit einem Objekt auszuführen, auf das wir uns richten. Wir sprechen hier über etwas sehr grundlegendes. Jedes Lebewesen hat dies in jedem Augenblick.
Obwohl wir uns über unsere Absicht etwas zu tun gewahr sein können, ist es sehr schwierig, sich gezielt über den zwanghaften geistigen Drang bewusst zu sein, der den Geist dazu bringt, es zu tun oder in Erwägung zu ziehen. Der Drang ist äußerst subtil und daher schwer zu erkennen.
Entspricht der westliche Begriff bewusst dem buddhistischen Begriff der Achtsamkeit?
In der westlichen Darstellung müssen wir etwas genauer sein in Hinblick darauf, von welchen geistigen Faktoren wir sprechen, wie etwa von der Vergegenwärtigung (engl. „mindfulness“, Achtsamkeit). Was von uns Westlern im Allgemeinen als „Achtsamkeitsmeditation“ bezeichnet wird, betrifft nicht tatsächlich den geistigen Faktor der Vergegenwärtigung (tib. dran-pa), sondern vollkommen andere geistige Faktoren.
Wenn wir die westliche Darstellung gründlich analysieren, stellen wir fest, dass es um verschiedene geistige Faktoren geht. Da ist der geistige Impuls, der uns dazu bringt, ein bestimmtes Objekt, wie etwa unsere Augenbrauen anstatt unsere Hände, anzusehen. Das ist das Karma. Und dann gibt es da auch die Absicht, sich darauf zu konzentrieren, um zu sehen, wie man sie hält, und die Aufmerksamkeit (tib. yid-la byed-pa), die uns damit beschäftigt, sie anzuschauen. All diese Faktoren treten zusammen „in einer Packung“ auf. Vergegenwärtigung ist das, was meine Aufmerksamkeit an Ihren Augenbrauen festhält, statt mich an etwas anderes denken zu lassen. Es ist ein „geistiger Klebstoff“, der sich ebenfalls in derselben Packung befindet. Diese Packung kann auch andere geistige Faktoren umschließen, wie Liebe – der Wunsch, dass Sie glücklich sein können und Unglücklichsein, da Ihre Art, Ihre Augenbrauen zusammenzukneifen, mich unglücklich macht.
Im Einklang mit dem System, das wir hier erklären gibt es eine dritte Art des Erfahrens, die jeden Augenblick begleitet. Es handelt sich um das reflexive Gewahrsein (tib. rang-rig), das Gewahrsein der Erfahrung selbst. Dies ist, was uns erlaubt, uns an etwas zu erinnern. Dies ist, worauf man sich beziehen würde, wenn man von „bewusst sein“ spricht. Mit anderen Worten: das reflexive Gewahrsein besteht darin, dass wir wissen, was geschieht, was unser Impuls ist, was unsere Absicht ist. Dieser Faktor kann sehr schwach sein und fast keine Gewissheit darüber haben, worauf er sich ausrichtet, so dass wir uns später überhaupt nicht mehr daran erinnern, oder er kann auch sehr stark sein.
Das Problem ist, dass unsere westlichen Wörter nicht den tibetischen entsprechen. Das Deutsche, das Englische und das Tibetische haben unterschiedliche Weisen „den Kuchen“ zu schneiden. Der wichtigste Punkt ist, dass man versteht, was die tibetischen Worte bedeuten. Die beste Vorgehensweise ist daher, nicht an den deutschen oder englischen Worten kleben zu bleiben, sondern zu versuchen, die Definitionen der Worte, über die wir sprechen, zu verstehen.
Impuls und Verhaltensmuster
Könnte man sagen, dass das Karma eine subtile Art von Gewohnheitsmuster ist?
Karma ist ein riesiges Thema. Das Wort Karma kann als ein allgemeines Wort benutzt werden. Gewohnheiten, Muster und so weiter sind andere Aspekte des Karma. Wir werden uns dieser Diskussion zuwenden.
Das ist eine sehr schöne Überleitung zur dritten Art der nichtstatischen Phänomene, den nichtstatischen Abstraktionen. Die Beispiele, die ihr gegeben habt, sind hervorragende Beispiele: Verhaltensmuster, Gewohnheiten. Das sind Abstraktionen. Es sind Abstraktionen, die man aufgrund einer Reihe von Handlungen macht, so dass man sagt, dass es eine Gewohnheit oder ein Muster gibt. Offensichtlich können sich diese Gewohnheiten und Muster verändern. Ferner beeinflussen sie, was geschieht. Wenn wir später den gesamten Karma-Mechanismus detaillierter erörtern, werden wir diese Art des nicht-statischen Phänomens einbringen.
Wie Karma funktioniert: unmittelbar vor einer Handlung
Versuchen wir etwas klarer herauszuarbeiten, wie Karma tatsächlich funktioniert. Hierzu muss man den Prozess in mehrere Zeitabschnitte unterteilen. Der erste Zeitabschnitt ist der Augenblick unmittelbar bevor man etwas tut, sagt oder denkt. An diesem Punkt haben wir einen Impuls, einen Geistesfaktor, der unser Bewusstsein und dessen begleitende Geistesfaktoren dazu bringt, eine Handlung mit Körper, Rede oder Geist gegenüber oder mit dem Objekt auszuführen, während wir uns darauf konzentrieren. Je nachdem, zu welcher Art von Handlung wir bewegt werden, wir der Impuls als karmischer Impuls für eine Handlung von Körper, Rede oder Geist bezeichnet.
Dieser Impuls wird notwendigerweise von weiteren geistigen Faktoren begleitet und ist vielleicht schon in den Augenblicken davor aufgetaucht. Diese Faktoren werden zusammen als „motivierender geistiger Rahmen“ (tib. bsam-pa) bezeichnet. Der karmische Impuls gehört nicht zu diesem motivierenden Netzwerk.
Unmittelbar bevor man eine Handlung begeht, aufgrund karmischer Hinterlassenschaft, da man die gleiche Handlung früher schon einmal begangen hat
Ein Impuls, etwas zu tun, zu sagen oder zu denken kann entweder konstruktiv (tib. dge-ba, tugendhaft), destruktiv (tib. mi-dge-ba, untugendhaft) oder unspezifisch (tib. lung-ma-bstan) sein, d.h. er wurde von Buddha weder als konstruktiv noch als destruktiv und daher als neutral betrachtet. Er hat den gleichen ethischen Status – konstruktiv, destruktiv oder unspezifisch – wie die Handlung, zu der wir getrieben werden.
Nehmen wir das Beispiel unseres Nachbarn von der Wohnung nebenan, der extrem laute Musik hört und der destruktiven karmischen Impulse, die sich hieraus ergeben können. Ein destruktives körperliches Karma wäre der Impuls, der uns dazu bringen würde, voller Wut an seine Tür zu klopfen. Ein destruktives verbales Karma wäre der Impuls, der uns dazu bringen würde, die Person anzuschreien, damit sie die Lautstärke runterdreht. Ein destruktives geistige Karma wäre der Impuls, der uns dazu bringt, hässliche Gedanken über sie zu entwickeln, oder daran zu denken, an ihre Tür zu klopfen und sie anzuschreien. In jedem dieser Fälle bringt uns der Impuls auch dazu, uns immer weiter auf unseren lauten Nachbarn zu fokussieren.
Auslösende und antreibende Impulse
Es gibt zwei Arten von karmischen Impulsen in dieser allgemeinen Mahayana-Darstellung:
- Ein „auslösender karmischer Impuls“ (tib. sems-pa’i las) ist ein karmischer Impuls, der Geistesfaktor eines Dranges, der eine geistige Handlung veranlasst und begleitet, wie beispielsweise etwas zu denken, und eine nachfolgende physische oder verbale Handlung auslöst, um den Gedanken, etwas zu denken oder zu sagen, umzusetzen.
- Ein „karmischer Impuls dessen, was einen antreibt“ (tib. bsam-pa’i las) ist ein karmischer Impuls für eine Handlung von Körper, Rede oder Geist. Zur Vereinfachung werden wir ihn in dieser Erörterung als „antreibenden karmischen Impuls“ bezeichnen.
Alle Handlungen von Körper, Rede oder Geist werden durch einen karmischen Impuls hervorgerufen. Manchen geht ein auslösender karmischer Impuls voraus, anderen nicht. Und obwohl alle karmischen Impulse, die zu Handlungen des Geistes führen, antreibende karmische Impulse sind, sind einige von ihnen auch auslösende karmische Impulse und andere nicht.
Der motivierende geistige Rahmen
Der karmische Impuls wird stets von einem Verbund aus drei weiteren geistigen Faktoren begleitet, die zusammen als der „motivierende geistige Rahmen“ bekannt sind. Dies sind:
- das Unterscheiden eines Objektes, auf das man die Handlung konzentriert,
- das motivierende Ziel, das darin besteht, was wir mit dem Objekt tun wollen und
- eine motivierende Emotion oder Geisteshaltung.
Das Unterscheiden (tib. ‘du-shes) ist der geistige Faktor, der normalerweise mit „Erkennen“ übersetzt wird. Dabei geht es darum, sich auf die definierenden Eigenschaften eines Objektes, wie beispielsweise einer Person, auszurichten und dieses Objekt der Ausrichtung von allem anderen zu unterscheiden. Zu unterscheiden bedeutet nicht zu wissen, wer die Person ist oder sie zu erkennen, wenn wir sie im Foyer treffen würden. Möglicherweise haben wir die Person nie zuvor getroffen. Möglicherweise wissen wir noch nicht einmal, ob es ein Mann oder eine Frau ist, der nebenan die Musik so laut spielen hat. Als Teil unseres motivierenden Rahmens müssen wir ein Objekt ausmachen, auf das wir unsere Aufmerksamkeit ausrichten. Wir müssen die bestimmte Person, bei der wir den Drang verspüren, an die Tür zu klopfen, sie anzuschreien, oder hässliche Dinge zu denken, von allen anderen unterscheiden, und es gilt auch, die bestimmten Dinge, die wir gegenüber der Person tun wollen, von allem anderen, was wir tun könnten, zu unterscheiden.
Der zweite Geistesfaktor, der den Impuls begleitet, ist das motivierende Ziel (tib. kun-slong, Skt. samutthana), das normalerweise einfach mit „Motivation“ übersetzt wird. Er bezieht sich auf den geistigen Faktor der Absicht (tib. ‘dun-pa) – den Wunsch gegenüber einer gewissen Person etwas bestimmtes zu tun, gegenüber der wir es tun wollen. Vielleicht wollen wir gegenüber ihr eine bestimmte körperliche Handlung ausführen, ihr etwas bestimmtes sagen, oder denken daran, ihr gegenüber etwas bestimmtes zu tun oder zu sagen. Die Absicht ist also immer mit einer begleitenden Unterscheidung verbunden.
Das westliche Konzept der Motivation unterscheidet sich von dem, was mit dem buddhistischen Begriff gemeint ist, der normalerweise als „Motivation“ übersetzt wird. Im Sanskrit wie im Tibetischen bedeutet das Wort für Motivation wörtlich: „das, was etwas anderes herbeiführt“. Wenn wir im Buddhismus von unserer Motivation sprechen, meinen wir tatsächlich das Ziel, das uns motiviert, unsere Absicht. D.h. das, worauf wir zielen wenn wir irgendetwas tun. In einem gewissen Sinne impliziert es auch, was wir erreichen wollen, indem wir etwas tun. Die Absicht könnte hier sein, unseren Nachbarn tatsächlich anzuschreien, damit er seine laute Musik leiser dreht. Wie wenn wir zu Beginn einer Unterrichtsstunde sagen, dass unsere Motivation oder unser Ziel darin besteht, die Belehrungen zu hören, um Erleuchtung zu erlangen damit wir allen helfen können.
„Motivation“ ist hier nicht der beste Übersetzungsbegriff, da dieses Wort in unseren westlichen Sprachen den Akzent auf die motivierende Emotion legt, die mit dem Zweck oder dem Ziel einhergeht. Der Buddhismus sieht die motivierende Emotion ebenfalls als wichtig an und behandelt sie separat von der Motivation (dem „motivierenden Ziel“) als den dritten geistigen Faktor innerhalb des allgemeineren „motivierenden geistigen Netzwerks“. Das Wort kunlong (Motivation) wird also anders als in den westlichen Sprachen nicht für die motivierende Emotion gebraucht.
Der Impuls, eine destruktive Handlung auszuführen, wird stets von einer störenden motivierenden Emotion begleitet – im Beispiel mit unserem lauten Nachbarn waren dies Wut oder Mangel an Geduld. Der Impuls, eine konstruktive oder ethisch neutrale, unspezifizierte Handlung auszuführen, wird von Unwissenheit (Ignoranz) über die Art, wie alle Phänomene existieren, begleitet. So können wir beispielsweise jemandem helfen wobei unser Geist nach der Vorstellung greift, dass diese Person in einer soliden Weise als „unser wahrer Freund“ existiert, den ich, als ein solide existierendes „Ich“, „wirklich liebe“. Diese Unwissenheit begleitet auch unsere destruktiven Impulse.
Manchmal kann eine störende Emotion auch eine konstruktive Handlung begleiten, wie das sehnsuchtsvolle Verlangen danach, dass die andere Person die eigene Liebe erwidert. Andererseits können wir an einem Fußballspiel teilnehmen, wobei unser Geist nach der Existenz eines solide existierenden „Ich“, das gewinnen muss, um „sich selbst zu beweisen“, greift. Eine störende Emotion kann auch eine unspezifizierte Handlung begleiten, wie wenn man am Spiel teilnimmt und voller Hass gegenüber der anderen Mannschaft ist.
Im System, das wir untersuchen, wird Unwissenheit bezüglich der Weise, in der alle Phänomene existieren, nicht als eine tatsächliche störende Emotion klassifiziert. Die Sakya-Schule nennt es eine „nominelle störende Emotion“. Im Karma Kagyü stimmt man allerdings mit dem Gelug-Prasangika-System in diesem Punkt überein und betrachtet diese Art von Unwissenheit als eine tatsächliche störende Emotion.
Bevor man eine konstruktive Handlung unternimmt, können positive Emotionen das motivierenden Ziel und den Impuls, der uns zur Handlung hinzieht, begleiten. Die motivierenden Emotionen bevor man beispielsweise eine Dharma-Belehrung hört, wären optimaler Weise die positiven Emotionen von Liebe und Mitgefühl. Das motivierende Ziel ist, die Erleuchtung zu erlangen um allen zu helfen. Warum? Wegen der Liebe, die wünscht, dass alle Wesen glücklich sind und dem Mitgefühl ihnen gegenüber, dass wünscht, dass sie nicht leiden. Bevor wir unserer Freundin tatsächlich helfen, müssen wir allerdings auch unterscheiden, ob sie unsere Hilfe wünscht oder nicht, und ob wir dazu in der Lage sind, ihr zu helfen oder nicht. Wir können bezüglich dieser Punkte korrekte oder inkorrekte Unterscheidungen (tib. shes-rab), einen weiterer geistigen Faktor, haben.
Eine positive Emotion kann auch das motivierende Ziel und den Impuls, etwas ethisch unspezifiziertes zu tun, begleiten. Wir können aus Liebe Kekse für unsere Kinder backen.
Dies ist die Analyse von dem, was passiert, wenn der Impuls, der uns dazu bringt, jemanden anzuschreien oder irgend etwas zu tun, zu sagen oder zu denken, in unserem Geist aufkommt. Es sind vier geistige Faktoren beteiligt, die alle zusammen in einer Art „Packung“ auftreten: ein Impuls zu schreien, ein Unterscheiden des Objektes, das angeschrien werden soll, ein motivierendes Ziel dessen, was wir tun wollen und eine motivierende störende Emotion. Jeder dieser Faktoren ist klar unterschieden und von zentraler Wichtigkeit in einer jeden tiefgehenden Analyse des Karma. Daher ist es wichtig, dass wir den Impuls nicht mit diesen anderen Faktoren verwechseln, die das motivierende geistige Netzwerk bilden, das den Impuls begleitet.
In jedem der beiden ersten Faktoren können Fehler auftreten. Wir können die falsche Person ausmachen und den falschen Nachbarn anschreien. Wir können keine Absicht zu schreien haben, und doch passiert es einfach, wie aus Zufall, dass wir zu schreien beginnen, sobald wir anfangen, mit dem Nachbarn zu sprechen. Im ersten Fall handelte es sich um einen Fehler. Beim zweiten handelt es sich um einen unkontrollierbaren Unfall, da wir es nicht beabsichtigten. Die motivierende störende Emotion könnte sehr stark oder sehr schwach sein, oder es könnte sich bloß um eine nominelle störende Geisteshandlung handeln. All dies wir die Ergebnisse des Impulse beeinflussen.
Während man die Handlung tatsächlich ausführt
Als erstes haben wir den karmischen Impuls, der uns dazu bringt, etwas gegenüber einem Objekt zu tun, zu sagen oder zu denken, während wir uns darauf richten. Dies geschieht in dem Augenblick, der unserem Einleiten einer Handlung durch das Anwenden einer Methode des Ausführens unmittelbar vorausgeht. Der nächste Schritt findet statt, wenn wir tatsächlich etwas tun, sagen oder denken. Während dem anfänglichen Moment des Ausführens der Handlung bis zu dem Augenblick, bevor wir mit der Handlung aufhören, haben wir aufeinander folgende Impulse, Methoden anzuwenden, um die Handlung weiter auszuführen. Unmittelbar vor dem letzten Augenblick der Handlung haben wir den Impuls, der uns dazu bringt, sie zu beenden. Jeder Augenblick dieser Impulse im Verlauf einer Handlung wird von den selben drei Geistesfaktoren des geistigen Netzwerks begleitet, wie unmittelbar bevor man damit beginnt.
Während man die Handlung begeht (etwas tut, sagt oder denkt)
Die Faktoren, die das motivierende Netzwerk ausmachen, bleiben vor und während der Ausführung einer karmischen Handlung vielleicht nicht konstant, da es sich um nicht-statische Phänomene handelt. Das motivierende Ziel, also die Absicht, vor der Handlung, besteht darin, den Nachbarn davon abzuhalten, laute Musik laufen zu lassen. Während eines jeden Augenblicks des Ausführens der Handlung – den einzelnen Schritten zur Tür des Nachbarn, all die Handbewegungen des Klopfens an die Tür usw. – gibt es die Absicht, jede dieser Handlungen auszuführen. Während wir sprechen, haben wir in jedem Augenblick eine Absicht, ein jedes Wort auszusprechen, das wir sagen.
Im Falle von Handlungen mit Körper und Rede ist es möglich, dass motivierende Ziele vor und während dem Ausführen von Handlungen nicht miteinander im Einklang stehen. Dies geschieht normalerweise, weil die motivierende Emotion sich verändert hat. Wir beabsichtigten beispielsweise, unseren Nachbarn anzuschreien und haben möglicherweise sogar die Sache durchdacht, bevor wir zu seiner Wohnungstür gegangen sind. Doch dann hat uns eine hübsche junge Frau oder ein schöner junger Mann die Tür geöffnet und uns derart verzaubert, dass wir nicht mehr in der Lage waren, zu schreien.
Oder vielleicht war die vorangehende motivierende Emotion, als wir unseren Nachbarn anschreien wollten, Liebe und Mitgefühl. Gegenüber unserem Baby, das versuchte zu schlafen, wie auch gegenüber unseren anderen Nachbarn, waren wir voller Liebe und Mitgefühl. Ursprünglich handelte es sich also bei der Emotion nicht um Wut. Doch als wir dann anfingen, zu schreien, stieg die Wut zusammen mit der Erfahrung des Schreiens auf. Es ist schwierig zu schreien und die Emotion des Mitgefühls beizubehalten. Viel leichter ist es, in die Handlung hineingezogen und wütend zu werden. Aus diesem Grund müssen wir all diese verschiedenen Faktoren analysieren, wenn wir von den Ergebnissen einer Handlung sprechen: welche ursächlich motivierende Emotion hatten wir vor und während dem Vorgang des Entscheidens und welche während der eigentlichen Ausführung der Handlung? Handelte es sich um dieselbe Emotion oder waren sie verschieden? Hat die motivierende Emotion im Laufe der Handlung ihre Intensität verändert?
Karmische Kraft
Nun müssen wir zwei weitere Begriffe einführen. Sie werden normalerweise mit „Verdienst“ (tib. bsod-nams, Skt. punya) und „Sünde“ (tib. sdig-pa, Skt. papa) übersetzt. Wie ihr wisst, schätze ich diese Übersetzungsbegriffe nicht, da sie Konnotationen aus nicht-buddhistischen Religionen in sich tragen, die hier nicht angebracht sind. Auf Tibetisch machen wir den Unterschied zwischen etwas Positivem und etwas Negativem. Wir brauchen ein Wort, das beides abdeckt, daher werden wir von einer „karmischen Kraft“ sprechen. „Verdienst“ wäre dann eine „positive karmische Kraft“ und „Sünde“ eine „negative karmische Kraft“. Im System, das wir hier betrachten, beziehen sich beide auf die Handlung selbst, auf die karmische Kraft der Handlung von Körper, Rede oder Geist. Das Karma an sich (der zwanghafte Impuls, der uns dazu bringt, es zu tun, zu sagen oder zu denken) ist keine karmische Kraft.
Zuvor habe ich den Begriff „karmisches Potenzial“ benutzt, aber „karmische Kraft“ ist besser als Allgemeinbegriff zur Bezeichnung aller Phasen des Karma in der Darstellung aller Erklärungssysteme. Das werde ich in unserer nächsten Sitzung näher erläutern.
Die Geistesfaktoren beobachten, die einen Impuls begleiten
Kann man lernen, all die Faktoren, die einen karmischen Impuls begleiten, zu beobachten, ohne dass man in einem Kloster lebt?
Dies geschieht ständig. Man braucht kein Mönch sein, der auf Retreats ist. Wir sind diese Analyse nicht gewohnt, doch dies bedeutet nicht, dass es unmöglich ist. Als erstes müssen wir wissen, was wir beobachten müssen. Wonach suchen wir? Der Impuls, der uns dazu bringt, zum Kühlschrank zu gehen, tritt in Erscheinung. Das motivierende Ziel oder die Absicht ist es, tatsächlich dorthin zu gehen und etwas zu essen zu finden. Was ist die motivierende Emotion? Es könnte sein, dass wir uns danach sehnen, den Hunger, den wir verspüren, loszuwerden und dass wir, was auch immer wir im Kühlschrank finden, essen werden. Oder es könnte Begierde sein: wir wollen etwas Schokolade, auch wenn wir nicht wirklich hungrig sind. Das motivierende Ziel könnte gewesen sein, den Kühlschrank zu putzen, doch als wir ihn öffneten, sahen wir diese köstlich aussehende Schokolade und eine andere Absicht stellte sich ein: sie zu essen! Die motivierende Emotion hat sich nun geändert: von der Emotion der Anhaftung daran, dass alles makellos sauber sein soll, zum Begehren von Schokolade. Es könnte sich nun sogar um eine naive Form des Mitgefühls handeln: „Das Verfallsdatum ist morgen und ich möchte nichts verschwenden, daher werde ich diese Schokolade essen. In Indien gibt es Menschen, die verhungern“. Die begleitenden motivierenden Emotionen können recht unterschiedlich sein.
Dies sind die Dinge, die wir beobachten. Natürlich erfordert dies, dass wir unser Tempo verlangsamen. Wenn wir unterscheiden können, dass diese beiden Faktoren vorliegen – das motivierende Ziel und die dahinterstehende motivierende Emotion – dann kann dies an sich alleine sehr hilfreich sein. Wenn unsere Absicht darin besteht, dass wir unterbinden wollen, dass unser Nachbar derart laut Musik hört, können wir an der motivierenden Emotion arbeiten, die dieses Ziel begleitet. Es ist nichts Falsches dabei, wenn unsere vorangegangene Absicht lediglich darauf abzielt, dass er seine Musik leiser dreht. Wir müssen aber darauf achten, dass beim Sprechen mit der Person unser gleichzeitig motivierendes Ziel das bleibt, höflich mit ihm zu sprechen, und dass es sich nicht zum Schreien abändert. Außerdem müssen wir sorgfältig unterscheiden, aus welcher Wohnung der Lärm stammt. Diese Beispiele geben uns eine Vorstellung von dem, was man prüfen muss. Ich denke nicht, dass man in mönchischer Zurückgezogenheit leben muss, um dies zu tun.
Der wirklich wichtige Punkt hier ist die Vergegenwärtigung (engl. „mindfulness“, Achtsamkeit), die darin besteht, dass man sich daran erinnert, dies zu tun und wenn wir es tun, nicht zu vergessen, was und warum wir es tun wollen. Dies ist es, was wir meinen, wenn wir im Buddhismus von „Vergegenwärtigung“ sprechen. Wir erinnern uns daran, etwas zu tun, halten daran fest und lassen es nicht los. Unser großes Problem ist, dass wir nicht daran festhalten und es schlicht und ergreifend vergessen, nicht davon abzulassen.
Ist also „Karma“ selbst nur ein Fachausdruck und das, worauf wir achten müssen, die Absicht?
Die wichtigsten Dinge, auf die wir achten müssen, wenn sie entstehen, sind nicht nur unsere Absicht oder unser motivierendes Ziel – was wir gegenüber jemandem oder einer Sache tun wollen – sondern auch unsere motivierende Emotion. Sie entsteht für gewöhnlich zuerst und setzt sich dann fort, wenn der karmische Impuls in Erscheinung tritt, der unser Bewusstsein und andere Geistesfaktoren dazu bringt, die beabsichtigte Handlung ihm gegenüber auszuführen. Der karmische Impuls ist recht zwanghaft und schwer zu erkennen. Dieser unkontrollierbare Aspekt unseres Verhaltens – unsere karmischen Impulse – ist das, was wir als „Samsara“ bezeichnen. Wir haben den unkontrollierbaren, zwanghaften Impuls, der uns dazu bringt, dieses und jenes zu tun, und es geht auf und ab.
Man braucht sich also um den Impuls keine Sorgen zu machen?
Es ist nicht so, dass man sich um den Impuls nicht zu kümmern bräuchte. Ich werde darüber später sprechen. Der Impuls ist ein tieferliegendes Problem. Bleiben wir daher bei Dingen, an denen wir auf unserem jetzigen Niveau bereits arbeiten können. Wir müssen zunächst den karmischen Impuls von dem Unterscheiden, der Absicht und der begleitenden Emotion abgrenzen, denn all diese Dinge hängen miteinander zusammen.
Wie kann man dem Leiden ein Ende setzten?
Wir versuchen, den Geistesfaktor der ethischen Disziplin (tib. tshul-khrims) zu entwickeln. Dies ist der Geistesfaktor, der uns davon zurückhält, destruktiv zu handeln. Dieser muss stets vorhanden sein, wenn wir unsere Absichten beobachten. Was ist die Absicht bzw. das motivierende Ziel, das wir verfolgen, wenn wir unsere Absichten beobachten? Aus einer buddhistischen Sichtweise heraus muss es der Wunsch sein, Leiden zu vermeiden. Es muss Entsagung sein – der Wunsch sich vom Leiden und seinen Ursachen zu befreien, der Wunsch, sie aufzugeben. Eine zusätzliche Absicht könnte sein, dazu fähig zu werden, den anderen besser helfen zu können, wenn wir weniger an unseren eigenen Problemen leiden.
Was sind die motivierenden Emotionen, die dies begleiten? Es könnte sich um Langeweile und Überdruss von unserem unkontrollierbar wiederkehrenden Leiden handeln, oder auch um Mitgefühl für die anderen. Andererseits könnte es sich um Angst vor Bestrafung in einer Hölle handeln, weil man schlecht ist.
Die Verbindung aus motivierender Absicht und motivierender Emotion begleitet also den Impuls, der uns dazu bringt zu beobachten, worin unsere motivierenden Absichten und Emotionen etwas zu tun, zu sagen oder zu denken, bestehen. Diese Verbindung begleitet ebenfalls die tatsächliche Handlung, durch die wir sie beobachten. Die Handlung des Beobachtens ist somit ebenfalls eine karmische Kraft. Und auch diese karmische Kraft hat Wirkungen.
Wir sprechen davon, was wir tun können, um uns selbst zurückzuhalten. Was das Beispiel mit der Schokolade im Kühlschrank angeht: Ich glaube nicht, dass es normalerweise ausreicht, wenn man sich des Impulses, die Schokolade zu holen und zu essen bewusst ist, um dann nicht aus diesem Impuls heraus zu handeln.
Richtig. Wenn dies geschieht liegt es normalerweise daran, dass die begleitende motivierende Emotion für das Sich-Zurückhalten nicht stark genug war.
Daher verstehe ich dieses ganze Thema so, dass man eine Chance hat, wenn man sowohl die motivierende Absicht als auch die motivierende Emotion beobachtet. Ich kann sehen, was ich tue, was die Motivation ist. Möglicherweise ist immer Begehren vorhanden. Es steigt langsam auf. Möglicherweise möchte ich etwas Freude oder so etwas. Es ist wie im Vipassana. Wenn man es aufmerksam betrachtet, verschwindet es wieder.
Ich bin mir nicht sicher, ob es notwendigerweise verschwindet, wenn man es sorgfältig betrachtet. Es gibt andere Vorgehensweisen, die die Gedanken zum Verschwinden bringen, wie die Mahamudra-Methode, Gedanken als Wolken zu betrachten, die durch den Himmel ziehen. Es kann aber auch vorkommen, dass die Vipassana- oder Mahamudrapraktiken aus dem egozentrischen Denken kommen: „Ich bin unglücklich. Ich Armer. Ich möchte glücklich sein.“ Dies leitet über zu dem, was wir später bei der Analyse besprechen werden, nämlich welches die Faktoren sind, die das Reifen der karmischen Hinterlassenschaft (engl. „aftermath“) und die darauffolgende Sequenz, durch die ein Impuls überhaupt aufkommt.
Meine Erfahrung ist, dass es nicht ausreichend ist, die Dinge bloß zu beobachten. Wir müssen etwas tun. Wir können zwar die Dinge beobachten, doch wir werden wenig vollbringen, wenn wir keine ausreichend starke Motivation haben, auch etwas zu tun in Bezug auf die Dinge, die wir beobachten. Sogar wenn dieser spezielle Moment der Gier nach Schokolade in einer natürlichen Weise aufhören wird – wir brauchen nichts zu tun, damit er aufhört – dann wird dies trotzdem nicht verhindern, dass die Gier nach Schokolade im nächsten Augenblick wieder aufsteigen kann. Wir müssen unsere Vergegenwärtigung steigern, d.h. unseren geistigen Klebstoff, damit wir die Zurückhaltung bewahren können, die Disziplin, die Schokolade nicht zu essen. Eine Diät funktioniert, wenn wir die Entschlossenheit besitzen, keine Schokolade zu essen und wenn unser motivierendes Ziel ist, Gewicht zu verlieren. Es muss ein motivierendes Ziel geben. Was wollen wir erreichen?
Die motivierende Emotion könnte eine andere sein.
Ja, wir sollten prüfen, was die motivierende Emotion ist, die unser Ziel, Gewicht zu verlieren, begleitet. Ist es Eitelkeit? Ist es, dass wir gesünder werden und länger leben wollen, um den anderen zu helfen?
Bitte beachtet, dass wir hier, für den Fall, dass wir unsere Diät beiseite werfen und uns mit der ganzen Tafel Schokolade voll stopfen, weder das Wort Sünde noch das Wort Verbrechen benutzen. Eine negative karmische Kraft ist eine destruktive Handlung, die von einer störenden Emotion motiviert wird und die als eine Erfahrung des Unglücks reifen wird. Mit „negativer karmischer Kraft“ meinen wir nicht, dass wir ein göttliches Gebot oder einen zivilrechtliche Regelung brechen. Aus diesem Grund ist es sehr wichtig zu erkennen, dass es in der buddhistischen Diskussion von Karma nicht darum geht, ob man „gut“ oder „schlecht“ ist.
Zusammenfassung
Im Buddhismus dreht sich die ganze Ethikdiskussion um das motivierende Ziel und die motivierende Emotion, die eine Handlung begleiten. Dieses Ziel und diese Emotion sind die wichtigsten Einflussfaktoren für die karmischen Ergebnisse der Handlung. Das ist der entscheidende Punkt. Die ganze buddhistische Ethikdiskussion ist tatsächlich eine Diskussion des motivierenden geistigen Rahmens, mit der wir eine Handlung ausführen. Es gibt diese komplette Packung: das Unterscheiden eines Objekts, das motivierende Ziel oder die Absicht, diesem Objekt gegenüber etwas zu tun und die motivierende Emotion die hinter dem Ziel steht. Im Westen nennen wir diese letzten beiden Faktoren die „Motivation“. Im Buddhismus versuchen wir ständig „unsere Motivation zu prüfen.“
Die Ursachen des Leidens sind Karma (als zwanghafte Impulse) und die hiermit einhergehenden störenden Emotionen, welche alle miteinander interagieren. Beide sind im vierten Aggregat eingeschlossen, im Aggregat der anderen beeinflussenden Variablen (tib. ‘du-byed-kyi phung-po, Skt. samskara skandha). Genauer gesagt ist es die Kombination aus einem zwanghaften Impuls, der uns dazu bringt etwas zu tun, zu sagen oder zu denken, unter Begleitung einer motivierenden Absicht und einer störenden Emotion, die das karmische Verhalten verursacht, welches das Leiden zum Ergebnis hat.
Ich denke, es ist gut, wenn wir langsam vorgehen. Besser ist es meiner Meinung nach, diese grundlegenden Prinzipien zu verstehen, statt zu versuchen, möglichst viel Stoff durchzunehmen. Selbst wenn es uns dieses Wochenende bloß gelingt, ein kleines Verständnis dieses ganzen Systems zu entwickeln, ist dies gut.
Versuchen wir über das Gehörte nachzudenken und es in uns einsinken zu lassen. Dies ist nicht einfach ein nettes intellektuelles Schema. Es ist eine sehr praktische Art zu verstehen, was uns geschieht – was wir erfahren und was wir auf zwanghafte Weise tun. Es ist sehr hilfreich und praktisch, da es uns einen Hinweis dafür gibt, wie wir verändern können, was uns passiert, damit wir nicht nur für uns selbst mehr Glück herbeiführen können, sondern auch für alle anderen.