Die Hinterlassenschaft von Karma

Wir haben die ersten beiden Phasen besprochen, d.h. die Phase unmittelbar bevor wir etwas tun, sagen oder denken und die Phase während wir tatsächlich etwas tun, sagen oder denken. Nun werden wir untersuchen was nach Abschluss der karmischen Handlung geschieht.

Nach Aussage der beiden Mahayana-Lehrsysteme – dem Chittamatra und dem Madhyamaka – folgen drei Dinge auf den Abschluss einer karmischen Handlung. Da es keinen übergreifenden Begriff gibt, unter dem diese drei Dinge gemeinsam zusammengefasst werden, habe ich hierfür die Bezeichnung „karmische Hinterlassenschaft“ geprägt. Das ist etwas kompliziert, denn eine der drei Arten der karmischen Hinterlassenschaft beginnt, sobald der karmische Impuls, der uns dazu bringt eine karmische Handlung zu begehen, endet und wir eine Methode in Gang setzen, um die Handlung auszuführen. Um es zu vereinfachen, bezeichnen wir es jedoch einfach als karmische Hinterlassenschaft, also als das was kommt, nachdem eine karmische Handlung beendet ist.

Wir haben bereits kurz über nichtstatische Phänomene gesprochen, die weder Formen physischer Phänomene sind, noch Weisen, sich etwas gewahr zu sein, oder wörtlicher: nicht-kongruente beeinflussende Variablen. Zur Vereinfachung bezeichnen wir sie als „nichtstatische Abstraktionen“. Nichtstatische Abstraktionen sind Zuschreibungsphänomene, also Phänomene, die dem Wort nach an eine Grundlage „gebunden“ sind und nicht erkannt werden können, ohne gleichzeitig auch die Grundlage zu erkennen. Nachdem nun die karmische Handlung beendet wurde, haben wir drei nichtstatische Abstraktionen auf der Grundlage unseres geistigen Kontinuums: Netzwerke karmischer Kräfte, karmischer Tendenzen (tib. sa-bon, Skt. bija, Samen) und karmischer ständige Gewohnheiten (tib. bag-chags, Skt. vasana). Karmische ständige Gewohnheiten werden nur von den Mahayana-Lehrsystemen vertreten.

Arten der karmischen Hinterlassenschaft

Netzwerke karmischer Kraft 

  • Die karmische Kraft, welche die Handlung selbst ist, und
  • die karmische Kraft, die die essentielle Natur einer karmischen Tendenz (tib. sa-bon-gyi ngo-bor gyur-ba) ist.

In der Sanskrit- und der tibetischen Literatur wird eine karmische Handlung stets als „Pfad eines karmischen Impulses“ (tib. las-lam, Skt, karmapatha) bezeichnet, und nie als eine „Handlung“. Der Pfad eines karmischen Impulses ist eine nichtstatische Abstraktion, ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage von vier Komponenten: 

  • ein Objekt, auf das die Handlung ausgerichtet ist,
  • ein motivierendes Netzwerk, 
  • die Anwendung einer Methode zum Ausführen der Handlung, sowie
  • ein Endziel. 

Diese nichtstatische Abstraktion, also der Pfad des karmischen Impulses, wirkte als eine karmische Kraft.

Eine karmische Kraft, welche die essentielle Natur einer karmischen Tendenz angenommen hat, ist nicht dasselbe wie die zweite Art der karmischen Hinterlassenschaft, der eigentlichen karmischen Tendenzen (tib. sa-bon). Diese zweite Phase der karmischen Kraft ist weiterhin entweder positiv oder negativ, weiterhin entweder konstruktiv oder destruktiv und weiterhin eine nichtstatische Abstraktion. Die eigentlichen karmischen Tendenzen, ebenfalls nichtstatische Abstraktionen, sind weder konstruktiv noch destruktiv, also ethisch neutral. Um Verwirrung zu vermeiden, werden wir uns beim Benutzen des Wortes „karmische Tendenz“ auf nur eine karmische Tendenz, die unspezifische, beschränken.

Wenn wir uns fragen, warum es notwendig ist, dass es diese zwei Arten der karmischen Hinterlassenschaft – konstruktiver oder destruktiver karmischer Kraft und unspezifischen karmischen Tendenzen – gibt, ist die Antwort eher komplex. Nur konstruktive oder destruktive karmische Impulse führen zu karmischer Kraft, aber da neutrale karmische Impulse auch eine karmische Hinterlassenschaft haben, ist es notwendig, dass es eine Art der karmischen Hinterlassenschaft gibt, die weder als konstruktiv, destruktiv, noch als neutral spezifiziert wird. Daher können karmische Tendenzen nicht nur die Hinterlassenschaft von konstruktiven und destruktiven karmischen Impulsen sein, sondern auch die Hinterlassenschaft von neutralen karmischen Impulsen.

Was jedoch die buddhistische Darstellung der verschiedenen Arten von Ursache und Wirkung betrifft, können nur konstruktive und destruktive Phänomene zu gereiften Resultaten (tib. rnam-smin-gyi ‘bras-bu) führen und solche Resultate sind stets unspezifisch. Die unspezifischen Aggregat-Faktoren eines Wiedergeburtszustandes sind die gereiften Resultate der karmischen Hinterlassenschaft. Daher muss es auch eine karmische Hinterlassenschaft geben, die konstruktiv oder destruktiv, also ein Netzwerk karmischer Kraft ist, um als reifende Ursache (tib. rnam-simn-gyi rgyu) für diese Aggregat-Faktoren zu wirken.

Um dies leichter verständlich zu machen, wollen wir die erste Phase der karmischen Kraft als positive oder negative „offensichtliche karmische Kraft“ oder „offensichtliches karmisches Potenzial“ und die zweite Phase als positive oder negative „nicht-offensichtliche karmische Kraft“ oder „nicht-offensichtliches karmisches Potenzial“ bezeichnen. Ich benutze hier die Begriffe „offensichtlich“ und „nicht-offensichtlich“ lediglich, um darauf hinzuweisen, dass eine Phase während der Handlung und eine danach erfolgt. „Offensichtlich“ bedeutet jedoch nicht, dass wir die karmische Kraft sehen oder hören können, während wir uns selbst oder einen anderen beim Begehen einer karmischen Handlung mit Körper oder Rede sehen oder hören können. Wir sind in der Lage, die Handlung zu sehen oder zu hören, jedoch nicht die karmische Kraft selbst. Die offensichtlichen karmischen Handlungen wirken als eine karmische Kraft und daher können wir in gewissem Sinne von „offensichtlicher karmischer Kraft“ reden. Wir werden auch den Begriff „karmische Kraft“ als allgemeinen Begriff sowohl für die offensichtlichen als auch für die nicht-offensichtlichen Phasen benutzen.

Die Bezeichnung „Netzwerk positiver Kraft“ (tib. bsod-nams-kyi tshogs, Ansammlung von Verdienst) erscheint als Fachbegriff nur in Bezug auf ein erleuchtungsbildendes Netzwerk positiver Kraft, das mit Bodhichitta aufgebaut wird und die Erleuchtung zum Resultat hat. Um die Darstellung des Karma-Mechanismus leichter verständlich zu machen denke ich, dass wir auch von einem „samsarabildenden Netzwerk positiver Kraft“ sprechen können. Akzeptieren wir diese Konvention, können wir auch von einem „samsarabildenden Netzwerk negativer Kraft“ sprechen, und so für beide Fälle den allgemeinen Begriff eines „Netzwerks karmischer Kraft“ benutzen. Ein Netzwerk karmischer Kraft ist demzufolge eine nichtstatische Abstraktion, die ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage beider Phasen der karmischen Kraft, der offensichtlichen und nicht-offensichtlichen ist.

Des Weiteren ist jeder Augenblick offensichtlicher karmischer Kraft eine nichtstatische Abstraktion auf der Grundlage eines jeden Augenblicks der Komponenten der Handlung, die mit den fünf Aggregaten der Person erfolgen, die die Handlung begangen hat. Die Kontinuität der fünf Aggregate wird, je nach Lehrsystem, entweder durch die Kontinuität des grundlegenden Bewusstseins oder des geistigen Bewusstsein der Person bewahrt. Vereinfacht ausgedrückt kann man sagen, sie werden als Teile des geistigen Kontinuums der Person getragen. Jeder Moment der nicht-offensichtlichen karmischen Kraft ist eine nichtstatische Abstraktion auf der Grundlage eines jeden Augenblicks des geistigen Kontinuums der Person. Kurzum ist also jeder Augenblick des gesamten Netzwerkes karmischer Kraft eine nichtstatische Abstraktion auf der Grundlage eines jeden Augenblicks des geistigen Kontinuums der Person.

Mir scheint, dass der Begriff des „Netzwerks“ ein klareres Verständnis vermittelt als der Begriff der „Sammlung“. Ein Netzwerk verbindet zahlreiche verschiedene Punkte so dass es zu einer Art gemeinsamer Interaktion kommt. All diese Punkte sind miteinander in verschiedenen Weise verbunden.

[Siehe: Die zwei Sammlungen: Technische Darstellung]

Tiefere Analyse der Netzwerke karmischer Kraft

Wir wollen die Netzwerke näher betrachten. Wir könnten von einem Netzwerk sprechen, das gleichzeitig verschiedene physikalische Punkte verbindet, wie etwa all die verschiedenen Teile einer Maschine, die zusammenarbeiten. Das ist die Art, in der wir uns normalerweise ein Netzwerk vorstellen, oder? Hier wollen wir die Dimension wechseln und uns ein Netzwerk vorstellen, das innerhalb der Zeit die verschiedenen Momente verbindet: erst haben wir so gehandelt, dann so. Ich habe damals jemanden angeschrien, dann ein anderes Mal, und dann hab ich nochmals jemanden angeschrien. Zu jeder Handlung gehört eine karmische Kraft, sowohl während der Handlung als auch danach. Die offensichtliche karmische Kraft der Handlung besteht aus einem Kontinuum von Momenten, die nur solange andauern, wie die Handlung selbst andauert. Während der Dauer der Handlung verbinden sich die offensichtlichen karmischen Kräfte jedes Augenblicks netzwerkartig miteinander. Je länger die Handlung anhält, desto stärker wird daher ihr Netzwerk der karmischen Kraft. Behaltet bitte dabei vor Augen, dass es sich hier um eine netzwerkartige Verbindung von Momenten von etwas handelt und dass natürlich jeweils nur ein Moment auf einmal geschieht.

Wenn die Handlung zum Ende kommt, verändert das Kontinuum der karmischen Kraft seine essentielle Natur: die weiteren Momente des Kontinuums haben hat nicht länger die Natur einer offensichtlichen karmischen Kraft; die nachfolgenden Momente des Kontinuums haben nun die Natur einer nicht-offensichtlichen karmischen Kraft. Ihr Kontinuum beginnt in dem Augenblick, in dem das Kontinuum der offensichtlichen karmischen Kraft (die Handlung) aufhört und weitere Momente generiert, bis es entweder aufhört, seine Ergebnisse zu produzieren oder aber gereinigt wird. „Gereinigt“ bedeutet, dass es eliminiert wird ohne einen karmischen Effekt zu produzieren. Beachtet bitte, dass eine karmische Handlung als ein karmischer Effekt oder als eine Reihe karmischer Effekte zur Reifung kommen kann.

Die Momente der Kontinuität dieser karmischen Kraft verbinden sich ebenfalls netzwerkartig, so dass sie eine kumulative Wirkung haben. Es verhält sich allerdings nicht so, dass die Netzwerke räumlich größer werden, da es sich bei ihnen lediglich um nichtstatische Abstraktionen handelt. Netzwerke haben keine physische Form.

Die Ergebnisse, die von einem solchen Netzwerk heranreifen können, können über die Zeit hinweg ebenfalls an Kraft zunehmen, wie im Beispiel der negativen Kraft des Streitens mit unserem Partner, die immer stärker wird, solange wir uns nicht entschuldigen. Ihre Kraft kann auch abnehmen, wie in dem Fall, in dem wir unserer negativen karmischen Kraft etwas entgegensetzen, indem wir durch konstruktives Handeln positive karmische Kraft aufbauen.

Das Netzwerk karmischer Kraft, das sich aus einer karmischen Handlung ergibt, umfasst beide Phasen – die offensichtliche Phase und die nicht-offensichtliche Phase. Ferner sind es nicht nur die Kontinuitäten der offensichtlichen und nicht-offensichtlichen karmischen Kraft einer karmischen Handlung, die sich im Laufe der Zeit netzwerkartig miteinander verbinden: zur selben Art der Verbindung kommt es auch zwischen den karmischen Kräften zahlreicher ähnlicher Handlungen. Jedes Mal wenn ich mich zum Beispiel beschwere, geht die karmische Kraft dieser Handlung eine netzwerkartige Verbindung mit den karmischen Kräften der vorangehenden Male ein, in denen ich mich beschwert habe. Je öfter ich mich beschwere, desto stärker wird das Netzwerk der karmischen Kraft des sich Beschwerens und desto stärker können seine Wirkungen werden. Hier wird die nichtstatische Abstraktion zu dem, was wir im Westen als ein „karmisches Muster“ bezeichnen könnten.

Außerdem arbeiten die karmischen Kräfte all unserer konstruktiven Handlungen, wie auch die karmischen Kräfte all unserer destruktiven Handlungen, netzwerkartig zusammen. Obwohl wir den Begriff „Netzwerk“ gewählt haben, um die nichtstatischen Abstraktionen zu beschreiben, die Zuschreibungen der karmischen Kraft einer spezifischen Art von Handlung sind, die auf eine bestimmte Person gerichtet werden, sowie auch der karmischen Kraft einer spezifischen Art der Handlung, die auf viele verschiedene Personen gerichtet ist, wird nur das nichtstatische Netzwerk, das ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage aller konstruktiven oder destruktiven Handlungen ist, die auf alle anderen Wesen gerichtet sind, tatsächlich als „Netzwerk karmischer Kraft“ bezeichnet.

Dies ist es, was wir mit karmischen Netzwerken meinen, und ich glaube, dass diese Erklärungsweise sehr viel mehr Sinn ergibt als das Bild vom Karma, das wir entwerfen, wenn wir Formulierungen wie „Ansammlung von Verdienst“ benutzen. Beim Karma handelt es sich mit Sicherheit nicht um eine Sammlung von Punkten, die wir in einem Buch notieren, und wenn wir genug Punkte oder „Verdienst“ gesammelt haben, gewinnen wir einen Preis. Nehmen wir uns einen Augenblick Zeit, um dies zu verdauen.

Fragen bezüglich der Netzwerke karmischer Kraft 

Bis jetzt habe ich es mir so vorgestellt, dass, wenn ich eine negative Handlung ausführe, diese zum Netzwerk dazukommt und es größer und größer macht.

In einem gewissen Sinne ist es so, aber versucht es euch nicht auf räumliche Weise vorzustellen.

Es ist nicht so, dass eins zum anderen addiert wird, sondern vielmehr so, dass das eine das andere verstärkt oder kräftigt. Wenn ich eine Handlung wiederhole, dann wird sie stärker, weil sie die zweite, dritte und vierte Wiederholung mit einschließt.

Richtig. Die karmische Kraft der ersten Handlung geht mit den karmischen Kräften der zweiten, dritten und vierten Wiederholung eine netzwerkartige Verbindung ein. Und nicht nur das: selbstverständlich ist jede Wiederholung einer Handlung leicht verschieden – es handelt sich nicht um exakten Wiederholungen. Deshalb ist das Wort „Muster“ hier ein nützlicher Begriff – es geht in diese Richtung. Es ist etwas anderes, als wenn man einen Sack mit immer und immer mehr Reis füllt, wie bei einer Ansammlung von Reis.

Genau so habe ich mir bis vor zwei Minuten Verdienst vorgestellt.

Das liegt daran, dass wir uns die Dinge in Begriffen der Raumdimension und als materielle Phänomene vorstellten. Hier allerdings arbeiten wir mit Momenten, in denen man etwas tut und mit dem, was über die Zeit hinweg geschieht. Wir müssen die Dimension wechseln. Wir sprechen hier von Momenten. Die Dauer und die Wiederholungszahl verstärken ein karmisches Muster.

Handelt es sich bei diesen Netzwerken um eine Art Energie?

Nein, die Netzwerke karmischer Kraft sind nicht Formen von Energie. Es handelt sich um nichtstatische Abstraktionen, die weder Formen physischer Phänomene, wie Energie, sind, noch Weisen, sich etwas gewahr zu sein. Netzwerke karmischer Kraft sind Zuschreibungsphänomene offensichtlicher und nicht-offensichtlicher karmischer Kräfte der karmischen Handlungen von Körper, Rede und Geist, und all diese karmischen Kräfte sind wiederum nichtstatische Zuschreibungen auf der Basis des geistigen Kontinuums der Person, die die Handlungen ausgeführt hat.

Die Netzwerke karmischer Kraft sind nichtstatische Abstraktionen, beruhend auf Kontinuitäten von Momenten karmischer Kraft, die zwei Phasen haben, wobei jede Phase eine andere essentielle Natur hat. Jede Phase der karmischen Kraft ist eine andere Form von Substanz, genau wie eine Kontinuität von Wasser aus Phasen von Wasser und Eis bestehen kann, oder aus Phasen von Dampf, Wasser und Eis. Jede Phase ist Wasser als eine andere Art von Substanz: gasförmig, flüssig oder fest.

Die Umwandlung der Phasen des Wassers von einem gasförmigen zu einem flüssigen und schließlich zu einem festen Zustand wird vom Erreichen einer bestimmten Wassertemperatur ausgelöst. Ähnlich ist es bei der karmischen Kraft. Hier wird die Umwandlung der Phasen von offensichtlicher zu nicht-offensichtlicher karmischer Kraft durch das Ende der Handlung ausgelöst.

Ich bräuchte ein Bild oder eine Analogie, um besser verstehen zu können, was Sie meinen, wenn Sie sagen, dass ein Netzwerk eine Abstraktion ist.

Wir wollen als erstes festhalten, das wir hier nicht von Abstraktionen im Sinne von etwas vagem sprechen. Ferner: auch wenn eine nichtstatische Abstraktion von einer statischen Vorstellung oder einer statischen Kategorie repräsentiert werden kann, ist eine nichtstatische Abstraktion doch etwas anderes als eine statische Vorstellung. Eine nichtstatische Abstraktion, wie die positive Kraft einer bestimmten konstruktiven Handlung, ändert sich von einem Augenblick zum nächsten, während ihre Stärke, abhängig von unseren weiteren karmischen Handlungen, größer oder kleiner wird. Die Vorstellung, die wir von positiver Kraft oder der Kategorie „positive Kraft“ haben, mit der wir darüber nachdenken, ändert sich nicht von einem Augenblick zum nächsten, obwohl wir unsere Vorstellung davon durch eine andere ersetzen können, wenn wir mehr darüber erfahren, was eine positive Kraft ist.

Wenn wir an eine nichtstatische Abstraktion, wie eine positive Kraft, denken, repräsentieren wir sie einfach durch eine statische Vorstellung. Die positive Kraft ist eine Tatsache, ob wir nun darüber nachdenken oder nicht, während die Vorstellung von einer positiven Kraft lediglich dann existiert, wenn wir an sie denken. Wenn wir nicht mehr an die positive Kraft denken, hört diese nichtstatische Abstraktion damit nicht auf zu existieren. Es ist nicht so, wie wenn wir ein Wort aus einer Fremdsprache vergessen und dann keine Ahnung mehr haben, was es bedeutet.

Was ist in diesem Zusammenhang dann eine nichtstatische Abstraktion? Betrachten wir es an einem anderen Beispiel, dem Alter. Unser Alter ist weder die Form eines physischen Phänomens, noch eine Weise, sich etwas gewahr zu sein. Es ist ein Zuschreibungsphänomen beruhend auf jeden Augenblick, in dem wir am Leben waren. Es ist nichtstatisch: unser Alter ändert sich von einem Augenblick zum nächsten, während wir immer älter werden. Des Weiteren ist unser Alter eine Tatsache, ob wir nun darüber mit der Vorstellung nachdenken, was unser Alter ist und was das Alter für uns bedeutet, oder nicht.

Für jene von euch, die mit Mathematik vertraut sind, ist unser Alter wie das erste Integral beim Rechnen und wie eine Verbindung von Punkten, die eine Linie ausmachen. Eine Linie kann nicht unabhängig von einer Reihe von Punkten existieren und ist nicht sichtbar, wenn man nicht auch die ihr zugrundeliegenden Punkte sehen kann. Eine Linie ist demzufolge nicht das Gleiche wie die Vorstellung von einer Linie; sie ist sichtbar. Eine Linie ist jedoch die Form eines physischen Phänomens, während diese nichtstatischen Abstraktionen, wie Alter und positive Kraft, weder Formen physischer Phänomene noch Weisen, sich etwas gewahr zu sein, sind.

Jetzt wollen wir die Dimension wechseln und über Zeit sprechen, zum Beispiel über eine Stunde als eine nichtstatische Abstraktion. Eine Stunde ist ein Zuschreibungsphänomen beruhend auf eine Serie von sechzig Minuten. Sie kann nicht unabhängig von diesen Minuten existieren oder erkannt werden. Aber die sechzig Minuten finden nicht alle gleichzeitig statt, nicht wahr? In ähnlicher Weise findet auch nicht jedes Jahr unseres Alters auf einmal statt. Zu einem gegebenen Zeitpunkt läuft eine Minute ab, und dann läuft sie nicht mehr ab – sie ist zu Ende.

Eine Stunde ist eine nichtstatische Abstraktion, die auf einer Abfolge von Minuten basiert, von denen jede nur einen Augenblick andauert und dann nicht mehr da ist. Dies ist wieder wie das erste Integral, doch diesmal bestehend aus zeitlichen Punkten und nicht aus räumlichen. Eine Stunde ist nicht nur eine Vorstellung. Wir können sagen, dass eine Stunde tatsächlich existiert, oder? Dasselbe gilt für andere nichtstatische Abstraktionen, wie positive Kraft und ein Netzwerk positiver Kraft. 

So, wie eine Stunde, beruhend auf einer Serie von sechzig aufeinanderfolgenden Minuten, ein nichtstatisches Zuschreibungsphänomen ist, so ist auch ein Netzwerk positiver Kraft einer bestimmten Art der kontruktiven Handlung, beruhend auf einer Reihe ähnlicher Handlungen, ein nichtstatisches Zuschreibungsphänomen. Aber nur während der offensichtlichen Phasen karmischer Kraft haben wir eine Abfolge von Momenten einer bestimmten Art der Handlung. Ein Netzwerk karmischer Kraft ist jedoch nicht einfach nur beruhend auf der Abfolge von Momenten, in denen wir so gehandelt haben, ein nichtstatisches Zuschreibungsphänomen. Seine Grundlage umfasst auch die Abfolge von Momenten zwischen erkennbaren Handlungen dieser Art und muss daher auch die Abfolge von Momenten des „Nicht-Länger-Stattfindens“ (tib. 'das-pa) unserer Handlung auf diese Weise beinhalten.

In der buddhistischen Fachsprache wird das Nicht-mehr-Stattfinden einer karmischen Handlung auch als das „Bereits Vergangensein“ (tib. zhig-pa) einer karmischen Handlung bezeichnet. Das „Bereits Vergangensein“ einer karmischen Handlung kommt zum Zuge, wenn die Handlung „vergeht“ (tib. ‘jig-pa), also aufhört. Gemäß den Mahayana-Lehrsystemen, die wir hier präsentieren, ist das „Bereits Vergangensein“ einer karmischen Handlung eine statische Abstraktion; es handelt sich um einen statischen Zustand, eine Tatsache, die sich nie ändert. Es ist ein statisches Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage eines jeden Augenblicks der nicht-offensichtlichen Phase der karmischen Kraft der Handlung, wenn die karmische Kraft die essentielle Natur einer karmischen Tendenz angenommen hat. Diese Abfolge von karmischen Tendenzen ist wiederum ein nichtstatisches Zuschreibungsphänomen auf der Basis der Abfolge von Augenblicken des geistigen Kontinuums.

Auf diese Weise findet in jedem Augenblick nur ein Augenblick des Netzwerkes karmischer Kraft auf der Grundlage der nicht-offensichtlichen karmischen Kräfte der vielen Arten von karmischen Handlungen gegenwärtig statt. Ein Augenblick der offensichtlichen karmischen Kraft kann auch gegenwärtig stattfinden oder nicht. Eine jede der nicht-offensichtlichen karmischen Kräfte dieses Augenblicks beruht auf die bereits vergangenen Zustände eines jeden Ereignisses einer ähnlichen karmischen Handlung. Auf diese Weise ist das Netzwerk karmischer Kräfte eine nicht-statische Abstraktion auf der Basis eines gesamten karmischen Musters. Schließlich kann jeweils nur ein Augenblick stattfinden.

Jeder Augenblick dieser nicht-offensichtlichen karmischen Kräfte hat ein Potenzial (tib. nus-pa), das heranreift, wenn die geeigneten Bedingungen vorhanden sind. Da es nun eine Reihe ähnlicher Handlungen gab, muss man sagen, dass es Abfolgen von Momenten eines Potenzials für diese gleiche Art des Verhaltens während der Perioden zwischen den sich wiederholenden Episoden gab, in denen wir so gehandelt haben. Das Noch-nicht-Stattfinden (tib. ma-’ong-pa) einer weiteren Wiederholung der gleichen Handlung ist selbst ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage dieses Potenzials. So, wie sich die Stärke der karmischen Kraft von einem Augenblick zum nächsten ändert, ändert sich auch das Potenzial, sowie das Resultat, das noch nicht stattfindet. Aus diesem Grund gibt es im Buddhismus nicht so etwas wie eine Vorbestimmung.

Der Komplex verhaltensbedingter Ursachen und Wirkungen ist eine nichtstatische Abstraktion 

Lasst uns die Diskussion ausweiten. Im Allgemeinen sprechen wir mit dem Wort „Karma“ von verhaltensbedingter Ursache und Wirkung. Wenn wir über verhaltensbedingte Ursachen und Wirkungen sprechen, handelt es sich ebenfalls um eine nichtstatische Abstraktion, die sich über die Zeit erstreckt. Allerdings geht es hierbei nicht nur um ein Zuschreibungsphänomen auf der Basis von Momenten eines ähnlichen Verhaltens und die zwischen diesen Momenten liegenden Perioden, in denen wir uns nicht mehr so verhalten, doch weiterhin das Potenzial haben, uns erneut so zu verhalten. Verhaltensbedingte Ursache und Wirkung ist ebenfalls eine nichtstatische Abstraktion auf der Basis von Momenten der vorangehenden karmischen Impulse, die zu dieser Handlung führten und den Momenten der Ergebnisse dieser Handlungen, die in unserer Erfahrung noch nicht stattgefunden haben.

Das ist der Komplex von verhaltensbedingter Ursache und Wirkung. Es handelt sich bei ihm um eine nichtstatische Abstraktion auf der Basis einer gesamten Sequenz von Ursache und Wirkung. In jedem gegebenen Augenblick geschieht nur ein Moment der karmischen Sequenz von Ursache und Wirkung, und die nichtstatische Abstraktion ist ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage beruhend auf einer jeden von ihnen, während sie ihre vorläufigen Signaturen von noch-nicht-stattfindend über gegenwärtig-stattfindend bis hin zu nicht-länger-stattfindend ändern.

Lasst uns einen bestimmten Komplex verhaltensbedingter Ursache und Wirkung etwas eingehender untersuchen. In unserem geistigen Kontinuum tritt eine intermittierende Serie von karmischen Impulsen auf, die vor jeder Wiederholung einer bestimmten Art der karmischen Handlung und einem Kontinuum der offensichtlichen karmischen Kraft während eines jeden Ereignisses der Handlung in Erscheinung tritt. Zwischen den Wiederholungen gibt es Kontinua nicht-offensichtlicher karmischer Kraft und intermittierende Ereignisse des Reifens von Potenzialen karmischer Kraft. Dieses Reifen umfasst die Wiederholung einer ähnlichen Handlung dessen, was wir gern tun würden. Die karmischen Resultate, die aus dem Netzwerk karmischer Kraft dieser Art der karmischen Handlung folgen, treten entweder nur einmal oder mehrmals in Intervallen verschiedener Länge auf.

Solange sich ein Ergebnis noch nicht ereignet hat oder noch nicht aufgehört hat, auf der Grundlage eines bestimmten Kontinuums wieder aufzutreten, können wir sagen, dass dieses Kontinuum, als eine nichtstatische Abstraktion, ein gegenwärtig stattfindendes und gegenwärtig wirkendes Phänomen in jedem Augenblick des geistigen Kontinuums ist. Wenn sich das Kontinuum einer bestimmten karmischen Kraft erschöpft und somit aufgehört hat, irgendwelche Resultate hervorzubringen, wird das Reifen dieses bestimmten Kontinuums zu einem nicht länger stattfindenden Phänomen.

Eine Stunde ist beispielsweise eine nichtstatische Abstraktion, beruhend auf einer Sequenz von sechzig Minuten. Bis das gesamte Kontinuum von sechzig Minuten abgelaufen ist, erleben wir weiterhin die Stunde – etwa diese Unterrichtsstunde. Die Stunde ist ein Phänomen, das weiterhin stattfindet. Wenn diese sechzig Minuten einmal abgelaufen sind und wir uns jenseits dieser Stunde befinden, gibt es keine gegenwärtig existierenden Minuten mehr, die als Grundlage für diese Stunde auftreten. Das Ereignis dieser Stunde ist nun nur noch ein nicht länger stattfindendes Ereignis.

Das gleiche trifft für ein Netzwerk verhaltensbedingter Ursache und Wirkung zu. Hat es einmal aufgehört, seine Resultate hervorzubringen, kann sein Reifen kein gegenwärtig stattfindendes Ereignis mehr sein. Laut Tsongkhapa ist das Kontinuum der karmischen Kraft jedoch noch immer in unserem geistigen Kontinuum vorhanden, kann jedoch nicht mehr zu Resultaten heranreifen. Die nicht-offensichtliche karmische Kraft mit der essentiellen Natur einer Tendenz wird nun zu einem „verbrannten Samen“ und nimmt die essentielle Natur einer konstanten karmischen Gewohnheit an. Als solche verhindert sie das Erlangen der Erleuchtung.

Es ist möglich, unser geistiges Kontinuum von negativer karmischer Kraft zu reinigen, damit sie, ohne zu reifen, auf direkte Weise die essentielle Natur einer konstanten karmischen Gewohnheit annimmt. Eine Methode, um das zu erreichen, ist die Vajrasattva-Meditation, jedoch nur, wenn die Meditation perfekt ausgeführt wird. Auf einer strikten Sutra-Ebene praktiziert man jedoch für gewöhnlich die Meditation der Leerheit.

Damit ein Ergebnis entstehen kann, müssen bestimmte Umstände oder Bedingungen gegeben sein, die als Ursachen zur Entstehung beitragen. Hinter all dem steckt das mangelnde Gewahrsein (die Unwissenheit), insbesondere in Bezug auf das „Ich“ und wie das „Ich“ existiert. Das ist die Hauptbedingung dafür, dass Netzwerke nicht-offensichtlicher karmischer Kraft ihre karmischen Resultate hervorbringen können. Wenn wir uns für immer von dieser Unwissenheit befreien, wird das Reifen der Netzwerke karmischer Ursachen und Wirkungen, die Zuschreibungsphänomene beruhend auf unserem geistigen Kontinuum sind, zu bloßen, nicht länger stattfindenden Phänomenen. Die Reifungen können keine gegenwärtig stattfindenden Phänomene mehr sein, da sie nicht wiederkehren können.

Dies ist die Weise, in der wir Karma bereinigen. So lange ein Netzwerk der karmischen Kraft einer bestimmten Art der karmischen Handlung tatsächlich ein Ergebnis produzieren kann und seine Ergebnisse noch nicht produziert oder noch nicht aufgehört hat, sie zu produzieren, sind seine Reifungen entweder nicht länger stattfindende, gegenwärtig stattfindende oder noch nicht stattfindende Phänomene, die es auf der Basis eines geistigen Kontinuums gibt. Wenn es damit fertig ist, seine Ergebnisse hervorzubringen oder es keine Möglichkeiten mehr dafür gibt, tatsächlich irgendwelche Ergebnisse zu produzieren, gibt es lediglich nicht länger stattfindende Reifungen in dem Kontinuum und, daraus folgend, konstante Gewohnheiten, in die sich die karmische Kraft verwandelt hat.

Karmische Beziehungen 

Kann ich den Charakter eines Netzwerkes zwischen mir und einer anderen Person verändern, indem ich Mitgefühl für sie habe?

Mir scheint, wir müssen hier eine Unterscheidung treffen. Erstens: wir bauen ein Netzwerk karmischer Kraft nicht bloß durch diejenigen Handlungen auf, die wir einer spezifischen Person gegenüber unternehmen. Möglicherweise schreien wir viele Menschen an. Es ist nicht so, dass wir die Ergebnisse einer bestimmten Art von Handlung nur innerhalb der Beziehung erleben werden, die wir in zukünftigen Leben mit dieser einen Person haben werden. Diese Handlungsweise könnte vielmehr zahlreiche verschiedene Beziehungen zu Menschen, zu denen wir uns vorher ähnlich verhalten haben, beeinflussen.

Andererseits: selbstverständlich haben wir Netzwerke karmischer Kraft oder karmische Verbindungen zu individuellen Wesen. Soviel ist sicher. Doch bezogen auf jede Person, jedes Tier und jedes Wesen, mit dem wir interagieren, unternehmen wir durch unser Tun, Sprechen und Denken zahllose Handlungen. All diese Handlungen gehen eine netzwerkartige Verbindung miteinander ein und bilden so eine Beziehung – und auch bei dieser handelt es sich um eine nichtstatische Abstraktion. Wir können den Charakter dieses Netzwerkes mit Sicherheit verändern, indem wir das verändern, was wir in das Netzwerk hinein geben. Wir tun dies, indem wir unsere Handlungen, unsere Kommunikationsweise und unsere Gedanken verändern. Genau wie wir durch das Wiederholen einer destruktiven Handlung ein Netzwerk negativer karmischer Kraft stärken können, können wir es auch schwächen, indem wir die konstruktiven Gegenkräfte anwenden. Statt eine Person anzuschreien können wir nette Worte zu ihr sagen.

Kann sich ein karmisches Netzwerk zu einer bestimmten Person verändern, wenn ich überhaupt keinen Input mehr gebe?

Nun, nein. Ich weiß nicht, ob wir dieses Wochenende dazu kommen werden, doch eines der Gesetze vom Karma ist, dass diese Kräfte nicht einfach aus sich selbst heraus alt werden und ihre Stärke verlieren. Allerdings: wenn ihr die Person ignoriert, dann ist dies ein Input. Ihn oder sie zu vermeiden ist eine Art von Handlung. Es ist ein Input.

Ist es etwas anderes, jemanden zu ignorieren oder einfach nichts zu tut?

Wir müssen hier mehrere Möglichkeiten unterscheiden. Wenn man sich absichtlich bemüht, jemanden nicht zu treffen, oder keinerlei Anstrengungen macht, um jemanden zu treffen, dann ist das etwas anderes, als wenn es einfach passiert, dass man jemanden nicht trifft. In all diesen Fällen treffen wir die andere Person nicht. Aber nur in den zwei ersten Fällen geben wir in die Beziehung ein Input ein, das die Form unserer zukünftigen Interaktionen beeinflussen wird. Wenn es einfach geschehen ist, dass wir jemandem lange nicht begegnen und wir ihn oder sie dann wiedersehen, dann wird die Beziehung weitergehen, wenn die karmische Verbindung noch besteht. Natürlich wird diese Beziehung von dem beeinflusst werden, was jeder von uns in der Periode erlebt hat, in der wir uns nicht gesehen haben. Doch was uns geschehen ist, hat die karmische Verbindung selbst nicht verändert, da unser jeweiliges Verhalten in dieser Zeit nicht auf den anderen gerichtet war. Nur ein Verhalten, das auf die Person gerichtet ist, mit der wir eine Beziehung haben, beeinflusst die karmische Verbindung zu dieser Person – auch wenn wir nur an ihn oder sie denken. Alles andere, was geschehen ist, stellt bloß die Umstände dafür bereit, wie die Beziehung sich manifestieren wird.

Wie steht es mit der Shamatha-Meditation, durch die wir uns beruhigen und Handlungen und Gedanken loslassen? Kann sie einen vom Karma befreien?

Die Shamatha-Meditation ist bloß eine Praxis, um Konzentration zu entwickeln. Von sich aus führt diese Meditationsform nicht zur Überwindung des Karmas. Sie ist bloß ein Werkzeug, um eine vollkommen Konzentration zu erlangen, so dass wir dann in einer effektiveren Weise mit dem Verstehen der Realität arbeiten können – und dies ist es dann, was die karmische Hinterlassenschaft beseitigen wird. Wir benutzen die Konzentration, die wir durch Shamatha gewonnen haben, um uns mit Einsicht auf die Realität zu konzentrieren.

Karmische Tendenzen 

Ein Netzwerk karmischer Kraft ist bloß eine der karmischen Hinterlassenschaften, die aus einer karmischen Handlung entstehen. Daneben gibt es zwei weitere Hinterlassenschaften: die karmischen Tendenzen („ karmische Samen“) und die karmischen ständigen Gewohnheiten. Um zu erläutern, was karmische Tendenzen sind, müssen wir wissen, wie sie sich von den anderen beiden Arten karmischer Hinterlassenschaften unterscheiden.

[Siehe: Arten von karmischen Folgen: Gebrauch von technischen Begriffen]

Karmische Tendenzen lassen ihre Ergebnisse nur intermittierend (in Abständen auftretend) entstehen, während karmische ständige Gewohnheiten ihre Ergebnisse in einer kontinuierlichen Weise ständig entstehen lassen. Auch die Netzwerke karmischer Kraft lassen ihre Ergebnisse nur intermittierend entstehen und ähneln in diesem Sinne den karmischen Tendenzen. Die karmischen Tendenzen und die Netzwerke karmischer Kraft lassen gemeinsam eine Gruppe von Ergebnissen entstehen, während die karmischen ständigen Gewohnheiten etwas anderes entstehen lassen.

Die Netzwerke karmischer Kraft stammen allerdings entweder aus konstruktiven oder destruktiven Handlungen und sind selbst entweder konstruktiv oder destruktiv. Karmische Tendenzen und karmische ständige Gewohnheiten sind auf alle karmischen Handlungen, ob konstruktiv, destruktiv oder unspezifisch, zurückzuführen und sind selbst ausschließlich unspezifiziert. Sie sind weder konstruktiv noch destruktiv; sie sind „neutral.“ So sind karmische Tendenzen intermittierend reifende neutrale Phänomene, während karmische ständige Gewohnheiten kontinuierlich reifende „neutrale“ Phänomene sind.

Als intermittierend reifende Phänomene unterscheiden sich die karmischen Tendenzen und die Netzwerke karmischer Kraft nicht nur in Bezug auf ihren ethischen Status, sondern auch im Hinblick auf ein zweites Merkmal. Sie unterscheiden sich in der jeweiligen Weise, in denen sie gemeinsam in intermittierender Weise karmische Ergebnisse entstehen lassen. Dieser Punkt erfordert eine nähere Betrachtung.

Der Buddhismus unterscheidet mindestens sechs Arten von Ursachen und fünf Arten von Wirkungen. Asanga spricht sogar von noch mehr verschiedenen Arten von Ursachen und Wirkungen, sowie von verschiedenen Arten von Bedingungen oder Umständen, die ebenfalls zum Kausalprozess beitragen. Dies macht die Analyse von Ursache und Wirkung äußerst komplex. Da alles, was geschieht, das Ergebnis verschiedener Arten von Ursachen ist, die sich netzwerkartig verbinden, kann jedes Phänomen gleichzeitig viele verschiedene Arten von Ergebnis darstellen. Jede dieser Ergebnisarten, las die es existieren könnte, wäre das Resultat einer anderen Art von Ursache. In einer ähnlichen Weise, da jedes Phänomen als zahlreiche verschiedene Arten von Ursache fungieren kann, würde jede Art von Ursache, die es sein könnte, in Bezug auf die Ergebnisart, die sich aus ihm ergeben, beschrieben werden.

Auf diese Weise sind die karmischen Tendenzen und die Netzwerke karmischer Kraft die gemeinsamen Ursachen für verschiedene Arten von intermittierend entstehenden karmischen Ergebnissen. Obwohl jedes der Ergebnisse als eine bestimmte Art von karmischem Ergebnis bezeichnet wird, reflektiert die Bezeichnung einfach den herausstechendsten Aspekt des Ergebnisses, das jedes von ihnen darstellt. Für jedes Ergebnis wirken die karmische Tendenz und das Netzwerk karmischer Kraft, die hierbei beteiligt sind, als verschiedene Arten von Ursachen. Andere, nichtkarmische, Faktoren spielen ebenso eine kausale Rolle im Entstehen eines karmischen Resultats. Wie Buddha lehrte, entsteht eine Wirkung nicht bloß aus einer einzigen Ursache.

[Siehe: Ursachen, Bedingungen und Resultate]

Zwei Arten des „Reifens“

Der allgemeine Fachbegriff für den Prozess, durch den karmische Tendenzen und Netzwerke karmischer Kraft karmische Ergebnisse entstehen lassen, ist „reifen lassen“ (tib. smin-pa).Wie mehrere andere Begriffe in der Darstellung des Karmas wird der Begriff „Minpa“ hier allerdings als übergreifender Begriff benutzt, der zwei verschiedene Weisen, ein Ergebnis herbeizuführen abdeckt und dann auch noch einmal für eine dieser Weisen benutzt wird. Die eine Weise ist, wenn eine Ursache reift und so ein Ergebnis herbeiführt. Diese erste Weise wird ebenfalls „Minpa“ genannt. „Reifen“ bedeutet, dass eine Ursache sich bis zu dem Punkt entwickelt oder wächst, an dem sie Früchte tragen kann, was bedeutet: ihr Ergebnis hervorbringen kann. Dies ist das Reifen in seinem wörtlichen Sinn. Die andere Weise ist, wenn sich eine Ursache erschöpft und endet (tib. rdzogs-pa) während sie ihre Frucht produziert. Obwohl diese Weise ebenfalls als eine „ Reifung“ bezeichnet wird, handelt es sich hier nicht um eine Reifung per Definitionem. In der Besprechung des Karmas bezieht sich „reifen“ also nicht auf den Prozess, in dem unreifes Obst reif wird.

Beide Arten der intermittierend reifenden karmischen Hinterlassenschaften erschöpfen sich und enden, nachdem sie ihre Ergebnisse vollständig produziert haben. Karmische Tendenzen allerdings reifen nicht, sondern erschöpfen sich einfach. Benutzen wir ein stark vereinfachtes Beispiel um darzustellen, was damit gemeint ist, wenn man sagt, dass sich eine Ursache erschöpft während sie ihre Ergebnisse produziert. Eine karmische Tendenz ist wie eine bestimmte Menge Benzin im Tank eines Autos. Das Benzin fängt an, seine Wirkung zu produzieren, wenn es in den Motor fließt. Während er sich langsam leert, versorgt der Benzintank den Motor kontinuierlich mit einem Zufluss an Treibstoff, bis sich dieser schließlich vollständig erschöpft. An diesem Punkt kann man sagen, dass es nur nicht-länger-stattfindendes Benzin in diesem Tank gegeben hat, und kein gegenwärtig-stattfindendes mehr. In einer ähnlichen Weise produzieren karmische Tendenzen weiterhin Ergebnisse, bis sie sich vollständig erschöpfen und enden.

Wenn Netzwerke karmischer Kraft reifen, produzieren sie ebenfalls in dieser Weise ein Ergebnis: sie leeren und erschöpfen sich. Im Falle einer der verschiedenen Arten von Ergebnissen, die sie produzieren können, reifen diese Netzwerke allerdings auch, um dieses Ergebnis zu ergeben. Diese spezifische Art von Ergebnis wird ein „gereiftes Ergebnis“ (tib. rnam-smin-gyi ‘bras-bu) genannt. Gereifte Ergebnisse sind unspezifizierte Phänomene und können nur von konstruktiven oder destruktiven Phänomenen als ihrer reifenden Ursache (tib. rnam-smin-gyi rgyu) heranreifen. Obwohl die karmischen Tendenzen und die Netzwerke karmischer Kraft beide viele karmische Ergebnissen von der gleichen Art produzieren können, können karmische Tendenzen keine gereiften Ergebnisse entstehen lassen, weil sie unspezifizierte Phänomene sind. Die gereiften Ergebnisse von Netzwerken karmischer Kraft sind die Aggregatsfaktoren, die jeden Augenblick unserer Erfahrung ausmachen – unsere fünf Aggregate – doch nur die unspezifizierten, aber nicht die destruktiven wie die Wut oder die konstruktiven wie die Geduld. Diese Aggregat-Faktoren sind die gereiften Ergebnisse unserer Netzwerke karmischer Kraft im Sinne, dass sie als die nichtstatischen Komponenten entstehen, die aus dem bestehen, was wir in irgendeinem Moment erfahren.

Eines der Karmagesetze besagt, dass wenn es nicht bereinigt oder anderweitig geschwächt wird die karmische Kraft einer Handlung ständig wächst. Dies bedeutet, dass das Netzwerk karmischer Kraft, das aus einer Handlung entsteht, ständig wächst, bis es reif genug wird, um Früchte zu tragen. Der Reifungsprozess dauert meist mehrere Leben an, während derer die karmischen Kräfte zahlreicher ähnlicher Handlungen sich netzwerkartig mit dieser Handlung verbinden können. So wächst das Netzwerk karmischer Kraft nicht nur aufgrund seiner natürlichen Entwicklung, sondern auch durch den Einfluss der anderen Dinge, die wir tun. Das Netzwerk der karmischen Kraft einer spezifischen Handlung geht weiter, um reif genug zu werden, um Früchte zu tragen bis es zu seiner Vollendung kommt und sich erschöpft.

Zusammenfassend kann man sagen, dass karmische Tendenzen auf der einen Seite karmischen ständigen Gewohnheiten ähneln, da es sich bei beiden um unspezifizierte Phänomene handelt. Auf der anderen Seite unterscheiden sie sich von karmischen ständigen Gewohnheiten, da sie intermittierend, und nicht kontinuierlich, Ergebnisse hervorbringen. Bestimmte karmische Tendenzen von bestimmten Handlungen gegenüber bestimmten Wesen werden normalerweise enden, wenn sie sich erschöpfen, und nicht ewig weiter andauern, es sei denn, wir erlangen ihre wahre Beendigung.

In einer Hinsicht ähneln die karmischen Tendenzen den Netzwerken karmischer Kräfte, da sie beide intermittierend Ergebnisse produzieren – und tatsächlich tun sie dies gemeinsam. Ferner werden die karmischen Kräfte und Tendenzen von bestimmten Handlungen gegenüber bestimmten Wesen in einer natürlichen Weise enden, wenn sie sich erschöpfen, es sei denn, wir erlangen ihre wahre Beendigung. In einer anderen Hinsicht unterscheiden sich die karmischen Tendenzen von den Netzwerken karmischer Kraft, da es sich bei diesen Netzwerken entweder um konstruktive oder destruktive Phänomene handelt, während die karmischen Tendenzen unspezifisch sind. Ein weiterer Punkt, in dem sie sich von diesen karmischen Netzwerken unterscheiden, ist folgender: Obwohl sie sich genau wie die Netzwerke karmischer Kraft erschöpfen, nachdem sie ihre Ergebnisse produziert haben, reifen karmische Tendenzen nicht um irgendeines ihrer Ergebnisse entstehen zu lassen. Dagegen reifen Netzwerke karmischer Kräfte um gereifte Ergebnisse entstehen zu lassen.

Karmische konstante Gewohnheiten

Zudem gibt es die karmischen konstanten Gewohnheiten, die dritte Art der karmischen Hinterlassenschaft. Wie die Netzwerke karmischer Kräfte und karmischer Tendenzen, sind auch sie nichtstatische Abstraktionen, aber im Gegensatz zu ihnen bringen sie ihre Resultate kontinuierlich und nicht intermittierend hervor. Wegen diesem Unterschied wird die Weise, in der karmische konstante Gewohnheiten ihre Ergebnisse hervorbringen, nicht als „Reifen“ bezeichnet. Darüber hinaus werden karmische konstante Gewohnheiten niemals auf natürliche Weise enden. Die erschöpfen sie nie, sondern bringen ihre Resultate unaufhörlich und kontinuierlich hervor, es sei denn, wir erlangen ihre wahre Beendigung.

Unterschiede bei den Arten der karmischen Hinterlassenschaft 

Unterscheiden, was intermittierend aus den karmischen Hinterlassenschaften entsteht

Um ein weiteres Verständnis der Unterschiede zwischen den karmischen ständigen Gewohnheiten und den intermittierend reifenden karmischen Hinterlassenschaften zu gewinnen, müssen wir unterscheiden, was sie jeweils entstehen lassen.

Eines der wichtigsten Dinge, die die karmischen Tendenzen und die Netzwerke karmischer Kraft gemeinsam in einer intermittierenden Weise entstehen lassen, ist unsere Erfahrung befleckter Empfindungen irgendeines Grades, sich unglücklich, glücklich oder neutral zu fühlen. „Befleckt“ (tib. zag-bcas, kontaminiert) bedeutet, dass sie aus der Unwissenheit (Ignoranz) entstehen und von ihr begleitet werden. Mit „Glücklichsein“ ist hier die problematische Form des Glücks gemeint – die Art von Glück, die nicht befriedigt, da wir nie genug haben und da wir nie wissen, was als nächstes kommen wird. All diese befleckten Empfindungen sind intermittierend. Sie verändern sich ständig, von Augenblick zu Augenblick, entweder in ihrer Intensität oder indem sie sich untereinander abwechseln, und so bleibt keine Empfindung je konstant.

Eine andere Sache, die aus Netzwerken karmischer Kraft und karmischer Tendenzen entsteht, ist das, was wir gern tun würden und uns wünschen oder beabsichtigen zu tun. Wenn wir in unseren westlichen Sprachen sagen: „ich habe Lust etwas zu tun, zu sagen oder an etwas zu denken“, würde man das in der buddhistischen Analyse einfach als die Erfahrung des Entstehens eines konzeptuellen Gedankens bezeichnen. Das erscheinende Objekt dieses konzeptuellen Gedankens ist die Kategorie einer Art von Handlung, die wir vorher schon ausgeführt haben. Die Kategorie kann durch eine geistige Repräsentation eines bestimmten Falls dieser Handlung dargestellt werden, sowie auch durch eine allgemeine Darstellung oder nur durch die geistige Artikulation dessen, was wir gern tun würden. Beispielsweise würden wir vielleicht gern etwas essen, wissen aber nicht, was wir gern essen würden.

Dieses Bedürfnis des Wiederholens einer Handlung, die einer Handlung ähnelt, die wir bereits ausgeführt haben, führt zum Entstehen einer Absicht, mit der wir diese Handlung wiederholen möchten, jedoch nun auf bestimmte Weise und gegenüber einer bestimmten Person oder einem bestimmten Objekt. Auf das Bedürfnis, etwas tun zu wollen, um ein Geräusch zu beseitigen oder schreien zu wollen, würde die Absicht folgen, meinem Nachbarn zurufen zu wollen, er solle still sein. Jemanden anzuschreien ist etwas, das wir vorher bereits getan haben und es entsteht als ein Bedürfnis, als ein Reifen der karmischen Kraft und karmischen Tendenz, andere anzuschreien. Eine bestimmte Art der Handlung, wie jemanden anzuschreien, wie wir es bereits vorher getan haben, reift auch nur gelegentlich, und nicht immer, als etwas, was wir gern gegenüber einem gezielten Objekt tun würden.

Bedenkt, dass die Absicht, mit der wir schreien wollen, entweder gleichzeitig oder nachfolgend, von einem auslösenden karmischen Impuls begleitet werden könnte, darüber nachzudenken, um zu entscheiden, tatsächlich hinzugehen und zu schreien. Außerdem könnte sie auch von einem antreibenden Impuls begleitet werden, ohne darüber nachzudenken, einfach hinüberzugehen und zu schreien. 

Es ist sehr amüsant. Wir wissen, dass karmische Tendenzen und Kräfte zu einem Ende kommen können, da wir erkennen können, wenn ihre Reifung abgeschlossen ist. Ein Beispiel: ich mag die indische Küche und habe oft Lust, indische Speisen zu essen. Wenn diese karmische Hinterlassenschaft reift, esse ich in wiederholter Weise indisches Essen. Dann endet dieses Karma schließlich. Ich habe genug indisches Essen gehabt und die Lust, dieses zu essen, steigt nicht mehr in mir auf. Aufgrund verschiedener Umstände (z.B. wenn ich mich in eine Inderin verliebe und sie heirate), könnte ich wieder eine ähnliche karmische Kraft aufbauen, indisches Essen zu essen. Die spezielle karmische Kraft von vorher ist jedoch bereits aufgebraucht worden. Dasselbe geschieht mit der Lust, mit jemandem zusammen zu sein.

Wenn sich unsere Lust etwas zu tun erschöpft, dann ist dies mit Sicherheit keine wahre Beendigung des Karmas. Es bedeutet einfach, das dieses spezielle Netzwerk karmischer Hinterlassenschaften vollständig gereift ist, sich erschöpft hat und zu einem Ende gekommen ist. Eine wahre Beendigung (wahre Aufhebung) von etwas bedeutet, dass es nie wieder geschehen wird und dass wir es nie wieder aufbauen werden. Die Tatsache, dass ein bestimmtes karmisches Paket seinen Reifungsprozess abgeschlossen hat, bedeutet nicht, dass wir kein ähnliches Paket mehr aufbauen werden. Es bedeutet einfach, dass dieses spezielle Paket zu einem Ende gekommen ist. Wahre Beendigungen entstehen nur aus der Kraft der nicht-konzeptuellen Meditation über die Leerheit. Sie ergeben sich nicht in einer natürlichen Weise.

Ein anderer Punkt ist folgender: So wie das Netzwerk karmischer Kraft und karmischer Tendenz, etwas zu tun, gemeinsam zu der Handlung heranreifen, die wir wiederholen wollen, reift auch das Netzwerk karmischer Kraft und karmischer Tendenz, etwas zu vermeiden, gemeinsam zu der Handlung heran, die wir nicht wiederholen wollen. Hierauf wird durch die Symbolik des Kalachakra-Mandalas hingewiesen

Das Kalachakra-Mandala enthält drei Ebenen, die man als das Mandala des Körpers, das Mandala der Rede und das Mandala des Geistes kennt. Das Mandala des Körpers und das Mandala der Rede enthalten jeweils 36 Opfer-Göttinnen. Im Mandala der Rede repräsentieren sie den Wunsch, 36 Dinge zu tun, die jeder tut, während sie im Mandala des Körpers den Wunsch darstellen, diese 36 Dinge nicht zu tun – zum Beispiel zu singen, zu spucken, zu rennen oder sich hinzulegen, bzw. die nicht zu singen, nicht zu spucken, nicht zu rennen oder sich nicht hinzulegen. So symbolisieren sie bestimmte intermittierende Reifungen von karmischen Hinterlassenschaften – d.h. zwanghafte, unkontrollierbare Empfindungen und Wünsche, etwas zu tun oder nicht zu tun – unter deren Kontrolle wir normalerweise stehen und die wir bereinigen und überwinden müssen. Das Bedürfnis, nicht zu singen – etwa während eines Rituals, wenn alle anderen es tun – ist nicht dasselbe, wie das Nicht-Auftauchen des Bedürfnisses zu singen, das immer dann vorhanden ist, wenn wir gerade nicht singen.

Wie passt hier die Anhaftung hinein? Möglicherweise hört man mit dem Rauchen auf, doch dann isst man Schokolade.

Möglicherweise haben wir eine Anhaftung an indisches Essen – mit anderen Worten, der geistige Faktor der Anhaftung kann unsere Lust und unseren Wunsch nach solcher Nahrung begleiten. Sogar wenn ein bestimmter Satz von karmischen Hinterlassenschaften aufgehört hat zu reifen, kann die Anhaftung als ein allgemeiner geistiger Faktor weiterhin vorhanden sein. Positive und negative Emotionen entstehen ebenfalls aus ihren eigenen Tendenzen (Samen). Diese Tendenzen reifen ebenfalls in einer intermittierenden Weise, gleichzeitig mit dem Reifen verschiedener karmischer Tendenzen und Kräfte, nicht nur mit denen der Lust nach indischem Essen.

Eine weitere Sache, die intermittierend, jedoch nur aus unserem Netzwerk karmischer Kräfte, heranreift, sind, wie bereits erwähnt, unsere befleckten Aggregate: unser Körper, die Arten des Primärbewusstseins und Geistesfaktoren – jedoch nur die unspezifischen – usw. Das bezieht sich in erster Linie auf die Aggregate, mit denen wir geboren wurden. Was unseren Körper betrifft, bezieht es sich auf die Lebensform, in der wir geboren wurden – als Mensch, Huhn, Kakerlake, Geist und so weiter –, sowie auf die Größe, das Gewicht, die Hautfarbe, Missbildungen und ähnliches. Was die Objekte der Sinneswahrnehmung betrifft, bezieht es sich auf auf das Phänomen, dass Menschen das, was sie trinken, als Wasser erfahren, Geister als Eiter und Götter als Nektar. Was das Bewusstsein betrifft, könnten wir blind oder taub, und in Bezug auf die unspezifischen Geistesfaktoren, könnten wir mit starker oder schwacher Aufmerksamkeit, Konzentration, Intelligenz usw. geboren werden. Im Westen würden man diese Faktoren als genetisch betrachten und das Reifen unserer karmischen Kraft würde sich auf die genetische Veranlagung des befruchteten Eies beziehen, mit dem sich unser geistiges Kontinuum verbindet.

Obwohl die unspezifischen Aggregate, mit denen wir geboren werden, die primären gereiften Ergebnisse unserer karmischen Kraft sind, können die unspezifischen Aggregate in unserer Erfahrung, von einem Augenblick zum nächsten, ebenfalls als gereiftes Resultat unseres Netzwerks karmischer Kraft betrachtet werden.

Formen physischer Phänomene als karmische Reifungen

Beachtet hier bitte Folgendes: wenn wir von unserem Körper und von anderen Formen physischer Phänomene, die Teil unseres Form-Aggregats sind, wie etwa ein Tisch oder der Anblick unseres Freundes, sagen, dass sie aus unseren Netzwerken karmischer Kraft reifen, sprechen wir von ihnen nur im Sinne der konventionellen Objekte, die wir tatsächlich erleben, wenn wir sie wahrnehmen (tib. tha-snyad spyod-yul). In einem gewissen Sinne ist das, was aus unseren Netzwerk karmischer Kraft reift, die Tatsache, dass sie zu Objekten unserer Erfahrung werden. Bevor wir sie sehen, sind der Tisch und der Anblick unseres Freundes im Nebenzimmer, nicht Teile unseres Formaggregats. Sie sind nicht aus dem Netzwerk der karmischen Kraft herangereift. Nur der Tisch und unser Freund sind als Objekte unserer visuellen Wahrnehmung, wenn wir sie sehen, das, was zu unserem Formaggregat gehört.

Da dies so leicht missverstanden werden kann, möchte ich es etwas näher erklären, obwohl es eher komplex ist. In diesen Fällen ist die herbeiführende Ursache (tib. nyer-len-gyi rgyu) unseres Tisches, den wir sehen, das Holz der Bäume, aus denen er hergestellt wurde, und die herbeiführenden Ursachen für den Körper unseres Freundes, den wir sehen, sind Samen- und Eizelle seiner Eltern. Die herbeiführende Ursache von etwas ist das, was dessen Umwandlung bewirkt und bei diesem Vorgang aufhört zu existieren. Wir müssen also sehr vorsichtig sein, wenn davon die Rede ist, dass unsere Körper die gereiften Resultate unseres Netzwerkes karmischer Kräfte sind, da man dies leicht missverstehen kann, denn diese Körper entstammen auch von den Samen- und Eizellen unserer Eltern.

Die letzte Sache, die intermittierend von den Netzwerken karmischer Kräfte und von den karmischen Tendenzen heranreift, ist die befleckte Umgebung oder die allgemeine Situation des Ortes, an dem wir geboren werden oder leben. Auch hier bezieht es sich wieder darauf, dass das befleckte Umfeld das ist, was wir erfahren, wenn wir es tatsächlich erleben. Dies ist ein vorrangiges Ergebnis (tib. bdag-‘bras, umfassendes Ergebnis), nicht nur unserer eigenen intermittierend-reifenden karmischen Hinterlassenschaft, sondern der intermittierend-reifenden kollektiven karmischen Hinterlassenschaft, die viele Wesen miteinander teilen. Als Individuen erleben wir solche Umgebungen als Objekte unserer Wahrnehmung allerdings nur manchmal, und nicht in all unseren Wiedergeburten, und auch nicht notwendigerweise innerhalb eines Lebens, unser ganzes Leben lang.

Unterscheiden, was kontinuierlich aus der karmischen Hinterlassenschaft entsteht

Im Bezug darauf, was kontinuierlich aus unseren karmischen ständigen Gewohnheiten heranreift, kann man es vereinfacht so ausdrücken: wir erleben das Leben wie durch ein Periskop. Wir sind beschränkt und können nur sehen oder wahrnehmen, was sich vor unsere Nase befindet. Wir können uns nicht über die Ursachen und Beziehungen von allem, was stattfindet und daraus resultiert, bewusst sein. Wir sind nicht dazu in der Lage, die Beziehungen zu sehen, die jeder mit allen anderen Wesen hat, sowie all die Einflüsse, die ausgeübt werden. Nur mit der Allwissenheit eines Buddhas ist man sich über all das gleichzeitig bewusst. Als begrenzte Wesen, oder als so genannte „fühlende Wesen“, nehmen wir nur einen kleinen Teil wahr und dies gilt für jeden einzelnen Augenblick unserer Existenz bevor wir Erleuchtung erlangen. Dieser Zustand setzt nie aus und wird nie verschwinden, bis wir erleuchtet sind.

Die Darstellung der Gelug-Schule fügt dem bloß hinzu, dass die Dinge, die wir durch das Periskop wahrnehmen, in einer unmöglichen Weise zu existieren scheinen – im Chittamatra-System haben sie die Erscheinung der Dualität (tib. gnyis-snang) und innerhalb des Svatantrika-Systems die Erscheinung wahrer nicht-zugeschriebener Existenz (tib. bden-snang). Die Nicht-Gelug-Systeme vertreten den Standpunkt, dass die Dinge während der nicht-konzeptuellen Wahrnehmung nicht in einer unmöglichen Weise zu existieren scheinen., sondern nur während der konzeptuellen Wahrnehmung. Beachtet bitte, dass die konzeptuelle Wahrnehmung normalerweise fast unmittelbar auf einen Augenblick der nicht-konzeptuellen Sinneswahrnehmung folgt. Allerdings lautet die allgemeine, von allen akzeptierte Darstellung, dass es sich bei unserer Wahrnehmung in jedem Augenblick um eine beschränkte Periskopwahrnehmung handelt.

Dies sind all die Hinterlassenschaften des karmischen Verhaltens. Sie alle sind nichtstatische Abstraktionen und ihre Kontinua als gegenwärtig stattfindende Phänomene, die Zuschreibungsphänomene auf der Grundlage unseres geistigen Kontinuums sind, solange sie weiterhin ihre verschiedenen Ergebnisse hervorbringen können. Die intermittierend reifenden karmischen Hinterlassenschaften werden auf natürliche Weise als gegenwärtig stattfindende Phänomene auf der Basis unseres Kontinuums zu einem Ende kommen, wenn sie aufgehört haben, ihre Resultate hervorzubringen und sich erschöpfen. Wir können jedoch eine wahre Beendigung der negativen karmischen Kraft erlangen, bevor sie ausgereift ist, indem wir uns durch die nicht-konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit von den emotionalen Schleiern lösen, welche die Befreiung verhindern. Eine wahre Beendigung konstanter karmischer Gewohnheiten tritt jedoch nur auf, wenn wir uns von den kognitiven Schleiern lösen, welche die Allwissenheit verhindern.

Kann man zurückfallen, nachdem man die Erleuchtung erlangt hat? 

Nein, „wahre Beendigung“ bedeutet, dass es nie wieder geschehen kann, denn sonst wäre es eine zeitweilige Beendigung.

Warum wir die Konsequenzen unseres karmischen Verhaltens beachten sollten 

Gehen wir die karmischen Ergebnisse noch einmal durch, die in der Zukunft von den karmischen Hinterlassenschaften der ausgeführten Handlungen, welche durch karmische Impulse herbeigeführt wurden, reifen werden. Obwohl wir oft vom „Reifen des Karmas“ sprechen, ist es tatsächlich die karmische Hinterlassenschaft, die reift, und nicht das Karma selbst. Und im Falle der karmischen ständigen Gewohnheiten lassen sie ihre karmischen Ergebnisse entstehen, doch nicht durch einen Prozess des Reifens.

Ich dachte, dass wir nicht über die Zukunft nachdenken. Wir leben jetzt und vergessen die Zukunft. Warum sollten wir uns dann so viele Sorgen darüber machen, was dann passieren wird?

Wir leben im gegenwärtigen Augenblick. Das stimmt. Doch es ist äußerst wichtig, sich dessen bewusst zu sein, dass unser Verhalten für die Zukunft Konsequenzen hat. Wenn wir dieses Verständnis nicht haben, dann denken wir, dass es keine Rolle spielt, was wir tun. Wenn ich jetzt Lust hätte, jemandem auf die Nase zu boxen, dann wäre das also in Ordnung. Der nächste Augenblick ist einfach der nächste Augenblick. Doch das ist nicht was wir mit „im gegenwärtigen Augenblick leben“ meinen.

„Im gegenwärtigen Augenblick leben” bedeutet, dass wir keine Erwartungen für die Zukunft haben, nicht in der Vergangenheit verweilen und all diese Dinge. Die Naivität ist eine der störenden Emotionen. Eine der wichtigsten Formen der Naivität ist die Art von Naivität, die die Ursachen und Wirkungen des Verhaltens betrifft. Sie besteht in der Annahme, dass unser Verhalten keine Wirkung auf die anderen oder auf uns selbst haben wird. Das bezieht sich besonders auf eine destruktive Handlungsweise.

„Im gegenwärtigen Augenblick zu verweilen“ bedeutet, hier und jetzt achtsam zu sein. Indem wir unsere Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt konzentriert halten, verstehen wir auch, dass das, was wir tun, sagen oder denken, Konsequenzen haben wird, obwohl wir nicht geistig wandern, indem wir an die Konsequenzen denken. Das Verständnis dafür, dass unsere gegenwärtigen Handlungen zu Konsequenzen in der Zukunft führen, führt uns nicht weg vom gegenwärtigen Augenblick.

Naivität vermeiden

Was ist das tibetische Wort für Naivität?

Das tibetische Wort ist „Timug” (tib. gti-mug) und auf Sanskrit lautet es „Moha“. Es ist ein sehr schwierig zu übersetzendes Wort; im Laufe meiner Tätigkeit als Übersetzer habe ich versucht, es mit verschiedenen Begriffen wiederzugeben. Eine lange Zeit lang habe ich „Engstirnigkeit“ benutzt. Viele übersetzen es einfach mit dem englischen Begriff „ignorance“ (Unwissenheit, Ignoranz), aber damit wird es nicht vom geistigen Faktor der Unwissenheit (engl. unawareness) unterschieden, der auf Tibetisch „Marigpa“ (tib. ma-rigs-pa) und auf Sanskrit „Avidya“ heißt. Das Wort „Naivität” ist ebenfalls nicht sehr präzise.

Wie ich gerade erklärt habe, bezieht sich der Begriff „Unwissenheit“ auf zwei spezifische Dinge. Es geht hier nicht darum, dass man beispielsweise den Namen einer Person nicht kennt. Erstens bezeichnet der Begriff die Unwissenheit bezüglich der verhaltensbedingten Ursachen und Wirkungen – die etwas anderes sind, als die physikalischen Ursachen und Wirkungen (diese bestehen beispielsweise darin, dass dieser Ball, wenn ich ihn trete, dort hinüber rollen wird). Zweitens bezeichnet der Begriff die Unwissenheit darüber, wie die Dinge existieren. Man kann auf zwei verschiedene Weisen unwissend sein: entweder man weiß etwas überhaupt nicht, oder man versteht es falsch. Diese Unwissenheit kann jede Art von Handlung oder Erfahrung begleiten, ob man sich destruktiv, konstruktiv oder einfach in einer neutralen Weise verhält (etwa wenn man sich am Kopf kratzt). Die Unwissenheit kann eine störende Emotion ebenso gut begleiten wie eine konstruktive (z.B. die Liebe). Ich kann zum Beispiel aus Liebe etwas Nettes für den anderen tun, dabei aber weder die Wirkung meiner Handlung kennen, noch wissen, wie ich existiere, wie der andere existiert, und so weiter.

Eine Unterkategorie der Unwissenheit ist „Timug“, eine der drei giftigen Geisteshaltungen. Sie tritt auf, wenn Unwissenheit über verhaltensbedingte Ursache und Wirkung einen destruktiven karmischen Impuls und eine destruktive karmische Handlung begleitet, was notwendigerweise bedeutet, dass sie auch eine störende Emotion begleitet. In unseren Sprachen haben wir nicht wirklich ein eigenes Wort für diese spezifische Kategorie der Unwissenheit. Auf Englisch und Deutsch kann die Naivität sowohl eine konstruktive als auch eine destruktive Handlung begleiten. Hier dagegen geht es nur um diejenige Form der Naivität, die eine destruktive Handlung begleitet.

Ich habe bei der Suche nach einem präzisen Wort für timug große Schwierigkeiten gehabt. Wie ich es oft sage, schneidet man in verschiedenen kulturellen Umfeldern den Kuchen der Erfahrung nicht in der selben Weise in konzeptuelle Kategorien und Wörter. Wir müssen versuchen, die Definition des Wortes timug zu verstehen, anstatt uns große Gedanken um das Wort timug zu machen. Wenn wir die Definition verstehen, dann verstehen wir, was das Wort bedeutet und worüber der Buddhismus spricht, wenn er es benutzt. Der Grund dafür, dass es so viele Missverständnisse über den Buddhismus gibt, ist, dass es nicht nur im Falle von einem oder zwei Wörtern zu Schwierigkeiten kommt: fast alle buddhistischen Fachbegriffe haben keine exakte Entsprechung in unserem westlichen Wortschatz.

Wir sind nicht die einzigen, die dieses Problem haben. Die Chinesen sahen sich derselben Schwierigkeit gegenüber. Die Tibeter hatten den Vorteil, zuvor keine sehr ausgefeilte Fachsprache zuhaben, und so prägten sie zahlreiche Wörter neu. Das ist die Art und Weise, wie die tibetische Sprache funktioniert. Sie konnten zwei verschiedene Silben zusammenfügen, von denen jede ihre eigene Bedeutung hatte, und so einen neuen Ausdruck prägen. Die Tibeter benutzten auch ein anderes System, bei dem sie die Einzelteile der Sanskritwörter vollkommen wörtlich übersetzten, als würde man das Wort „unternehmen“ in Einzelteilen von „unter“ und „nehmen“ übersetzen. Auf Tibetisch ergaben diese neu geschaffenen Wörter überhaupt keinen Sinn. Dies ist die Art, in der die Tibeter dieses Problem weitgehend vermieden. In den meisten zentralasiatischen Sprachen einschließlich dem Mongolischen übernahm man schließlich einfach Sanskritwörter.

Das Reifen der karmischen Hinterlassenschaft 

Kehren wir zurück zur Besprechung des Reifens der karmischen Hinterlassenschaft in der Zukunft. Erinnert euch bitte, „Reifen“ ist hier ein übergreifender Begriff, der verschiedene Weisen abdeckt, in denen eine Wirkung hervorgerufen werden kann. In unserem System hier müssen wir drei zeitliche Abschnitte betrachten: erstens die Periode bis wir die Befreiung vom Samsara erlangen wenn wir Arhats werden, dann die Periode nach der Befreiung bis zum Tod und schließlich die Periode bis zur Erleuchtung, wenn wir Buddhas werden.

Als Hinayana-Systeme lassen das Vaibhashika und das Sautrantika die dritte Phase aus, da aus der Sicht der Lehrsysteme des Hinayana das geistige Kontinuum mit dem Tod des Lebens endet, in dem man die Befreiung erlangt hat. Das Gelug-Prasangika lässt die zweite Phase aus. Nach seinen Lehren entledigen wir uns, wenn wir die Befreiung erlangen, gleichzeitig von den zwei Sätzen, von denen in unserem System hier gesagt wird, dass sie in zwei Etappen überwunden werden.

Die karmische Hinterlassenschaft 

Die zwei intermittierend reifenden Hinterlassenschaften – die Netzwerke karmischer Kraft und die karmischen Tendenzen – lassen gemeinsam folgende Dinge entstehen: 

  • die Erfahrung befleckter Empfindungen eines Grades an Glück,
  • die Erfahrung des Entstehens von karmischen Handlungen, die jenen ähneln, die wir bereits vorher ausgeführt haben und die wir gern wiederholen wollen,
  • die Erfahrung des Auftretens von Dingen, die jenen unserer vergangenen karmischen Handlungen ähneln,
  • die Erfahrung befleckter Aggregate und eines befleckten Umfelds. 

Die karmischen ständigen Gewohnheiten führen zu einer anhaltenden, beschränkten Wahrnehmung.

Befleckte Gefühle sind die Geistesfaktoren des Unglücklichseins, des verwirrten Glücklichseins und der verwirrten neutralen Empfindungen. „Befleckt” (tib. zag-bcas), wird normalerweise als „verunreinigt“ übersetzt und bedeutet, dass sie von der Verwirrung befleckt sind, also aus Verwirrung entstehen. Das Gefühl, etwas erneut tun zu wollen, ist eine konzeptuelle geistige Wahrnehmung und den Wunsch zu haben, es erneut zu tun, ist ein weiterer Geistesfaktor, der Geistesfaktor der Absicht. Wie in unserem Beispiel, indische Speisen essen zu wollen: das Gefühl, indische Speisen essen zu wollen, während wir die körperliche Erfahrung des Hungers verspüren, ist das Resultat davon, bereits früher indische Speisen mit Freude zu uns genommen zu haben. Allerdings mag das Gefühl, etwas zu tun, die Absicht oder den Impuls, es zu tun, hervorbringen oder auch nicht – was ein weiteres Karma wäre. Die karmische Hinterlassenschaft selbst reift nicht als Karma heran; die Hinterlassenschaft des Karmas reift immer in Form irgendeines nichtstatischen Phänomens heran, bei dem es sich nicht um Karma handelt.

Mit anderen Worten: die karmische Kraft und die Tendenz, indische Gerichte zu essen, reift nicht unmittelbar als ein Impuls diese Art von Gerichten erneut zu essen. Sie reift als die gelegentliche Erfahrung, gern indische Gerichte zu essen, wenn wir hungrig sind. Das Erleben dieses geistigen Faktors, etwas gern zu tun, das dem ähnelt, was wir zuvor getan haben, etwa indische Gerichte zu essen und es dann tun zu wollen oder es zu beabsichtigen, kann zu einem neuen Impuls, indische Gerichte zu essen, führen – einem neuen Karma.

Dies ist eigentlich ziemlich raffiniert: Während wir in Samsara umherwandern – was bedeutet, dass wir zwanghaft von einer unkontrollierbar wiederkehrenden Wiedergeburt zur andern wandern – erleben wir all diese Reifungen des Karmas. Unsere befleckten Empfindungen gehen auf und ab. Dies bedeutet, dass unsere Empfindungen von Unglücklichsein, Glücklichsein und unsere neutralen Empfindungen auf und ab gehen. Gleichzeitig erleben wir Momente, in denen wir Lust haben, ähnliche Handlungen zu wiederholen, wie zuvor, und sie auch wiederholen wollen, und dass uns Situationen passieren, die denen ähneln, die wir andere haben erleben lassen. Wir haben andere angeschrien und nun schreien sie uns an. Wir sind nett zu anderen gewesen und nun sind sie nett zu uns. Es funktioniert in beide Richtungen. Doch diese Dinge geschehen nicht ständig – nur manchmal.

Wir machen auch die Erfahrung, befleckte Aggregate zu haben (wie unseren Körper und unseren Geist) und uns in einer befleckten Umwelt zu befinden. Erinnert euch bitte, dass „befleckt“ bedeutet, dass diese Dinge aus der Verwirrung entstehen. Dies bezieht sich normalerweise auf die Situation unserer samsarischen Wiedergeburt. Wir können ebenso gut die Erfahrung machen, einen menschlichen Körper und einen menschlichen Geist zu haben, wie auch den Körper und Geist eines Hundes oder eines Insektes, einen behinderten Körper oder einen behinderten Geist, und so weiter. Wir können die Erfahrung machen, in einem sehr reichen Land wiedergeboren zu werden, oder in einem sehr armen Land, oder in einem Land, in dem wiederholt Kriege wüten, oder in einem Land in dem anhaltend Frieden herrscht.

Bis zur Befreiung sind unsere Erfahrungen der Aggregate auch mit Verwirrung vermischt und führen zu noch mehr Verwirrung – weitere unkontrollierbar wiederkehrende Wiedergeburten. Nach der Befreiung aus dem Samsara und bis wir am Ende des Lebens sind, indem wir die Befreiung erlangt haben, erleben wir weiterhin die Körper und Umgebungen, in die wir geboren wurden. Obwohl sie weiterhin in dem Sinne befleckt sind, dass sie aus der Verwirrung gereift sind, sind sie nicht mehr mit Verwirrung vermischt und führen nicht zu weiterer Verwirrung. Es handelt sich bei ihnen nicht länger um sogenannte „herbeiführende Aggregate“ (tib. nyer-len-gyi phung-po). Bitte entschuldigt das Wort „herbeiführend“: ich weiß, es ist unhandlich, doch ich kann an kein anderes Wort denken, dass die Bedeutung präziser wiedergibt.

Bei den „herbeiführenden Aggregaten” handelt es sich um diejenigen, die mit Verwirrung vermischt sind und die daher zu mehr Verwirrung führen. Folglich “führen sie“ für uns zu mehr Leiden und weiteren karmische Wiedergeburten. Bevor wir die Befreiung aus Samsara erlangen, sind unsere Aggregaten sowohl befleckt als herbeiführend. Nachdem wir die Befreiung erlangt haben und bevor wir am Ende des Lebens, in dem wir die Befreiung erlangt haben, sterben, sind unsere Aggregate nur noch befleckt und nicht mehr herbeiführend.

Im Laufe dieses ganzen Prozesses, machen wir in jedem Augenblick ununterbrochen die Erfahrung beschränkter Wahrnehmung. Daher erleben wir, während wir in Samsara sind, Empfindungen von Glücklichsein und Unglücklichsein, die Lust, uns in einer ähnlich Weise zu verhalten, wie wir es zuvor getan haben und den Wunsch oder die Absicht, so zu handeln, unterschiedliche Arten von Körpern, unterschiedliche Arten von Umgebung und dass uns Dinge geschehen, die denen ähneln, die wir anderen angetan haben – und all dies geht auf und ab und wird alles wie durch ein Periskop wahrgenommen. Das ist das karmische „Paket“. Das ist die erste edle Wahrheit, wahres Leidens. Es ist widerlich. Dies ist es, aus dem wir heraus wollen. Es ist wirklich langweilig! So ist es seit anfangsloser Zeit gegangen und so wird es endlos weitergehen, außer wenn wir etwas tun.

Die Stadien der Befreiung von den karmischen Hinterlassenschaften 

Wir werden die karmischen Hinterlassenschaften in mehreren Stadien los. Wenn wir die Befreiung erreichen, werden wir unsere befleckten Gefühle, die auf und ab gehen, los. An diesem Punkt empfinden wir kein Leiden mehr und auch keine zwanghaften Wünsche, dieses oder jenes in einer ähnlichen Weise wie zuvor zu tun.

In dem Leben, indem wir die Befreiung erreichen und bis zum Zeitpunkt, an dem wir am Ende jenes Lebens sterben, haben wir allerdings weiterhin die anderen vier Aggregate, außer den Empfindungen – d.h. einen befleckten Körper, einen befleckten Geist und so weiter – die aus der Verwirrung entstanden sind. Die Empfindungen, die wir nun erleben, sind unbefleckt (tib. zag-med). Sie entstehen nicht aus der Verwirrung. Während der Zeiten vollkommener Vertiefung (tib. mnyam-bzhag, meditatives Gleichgewicht) auf die Leerheit machen wir die Erfahrung unbefleckten Glücklichseins (bzw. unbefleckter Glückseligkeit); ansonsten können wir auch die Erfahrung unbefleckter neutraler Empfindungen machen.

Als Arhats erleben wir auch weiterhin die befleckte Umwelt, in der wir uns befinden. Ebenso geschehen uns auch weiterhin die Dinge in einer Weise, die unseren vorangehenden Handlungen ähnelt. Arhats können erleben, dass andere Menschen sie mit Dingen bewerfen, sie schlagen und so weiter, obwohl ihnen das kein Leiden verursacht und keine zwanghaften Gedanken in ihnen aufkommen, etwas zurückzuwerfen. Außerdem, obwohl sie weder leiden noch die Lust verspüren, zurückzuschlagen, erleben Arhats doch, dass ihre Körper verletzt werden ebenso wie, dass sie in einer Umwelt leben, in denen verletzenden Dinge geschehen können. Beides entsteht aus der Verwirrung.

Doch wenn wir am Ende des Lebens, in dem wir die Befreiung erlangt haben, sterben, dann werden wir für immer unsere Netzwerken karmischer Kraft und unsere karmischen Tendenzen los. Wir erleben nicht mehr, dass uns Dinge in einer ähnlichen Weise geschehen, wie die karmischen Handlungen, die wir früher getan haben – nicht einmal gelegentlich – und wir machen nicht einmal mehr die Erfahrung befleckter Aggregate oder einer befleckten Umgebung. Nach Aussage der Hinayana-Lehren endet das geistige Kontinuum eines Arhats an diesem Punkt, indem es „wie eine Kerze erlischt“. Nach Aussage des Mahayanas dagegen geht das geistige Kontinuum weiter.

Beachtet bitte: Wenn wir sagen, dass die Arhats für immer von den Netzwerken ihrer karmischen Kräfte befreit werden, dann bezieht sich das für den Fall der Netzwerke positiver Kraft (welche auch als „Ansammlung von Verdienst“ bezeichnet werden), auf Netzwerken samsarabildender positiver Kraft, nicht auf Netzwerke erleuchtungsbildender positiver Kraft. Letztere Art von Netzwerk entsteht aus der positiven Kraft konstruktiver Handlungen die wir mit Bodhichitta dem Erlangen der Erleuchtung widmen, um allen Wesen so sehr wie möglich helfen zu können. Eine positive Kraft, die nicht in dieser Weise gewidmet wird oder nicht unserer Befreiung gewidmet wird ist lediglich eine samsarabildende Kraft – und nur diese Art positiver Kraft ist eine karmische Kraft. Außerdem gibt es Stadien von Bodhichitta: ein Teil davon ist mit Verwirrung vermischt, ein Teil nicht. Sogar die positive Kraft, die mit Verwirrung vermischt ist, ist erleuchtungsbildend, wenn es mit Bodhichitta gewidmet wird. Dies ist eine sehr komplizierte Diskussion.

[See: Die zwei Sammlungen: Technische Darstellung]

Das ist so kompliziert!

Das Leben ist kompliziert. Was habt ihr erwartet? Wenn man sich ansieht, wie der menschliche Körper funktioniert, dann ist dies ebenfalls kompliziert.

Nach Aussage der Mahayana-Lehren werden Arhats nachdem sie am Ende des Lebens, in dem sie die Befreiung erlangt haben, sterben, in reinen Ländern mit Körpern, die aus Licht bestehen, wiedergeboren. Sie haben keine befleckten Aggregate mehr, wie einen Körper, und leben ebenso wenig in einer befleckten Umgebung, die aus der Verwirrung entsteht. Selbstverständlich haben sie keine befleckten Empfindungen mehr. Ihnen geschieht nichts, das ihren vorangehenden karmischen Verhalten ähnelt, und sie wollen natürlich keines ihrer vergangenen karmischen Muster wiederholen und haben nicht die Absicht, dies zu tun. Ihre Netzwerke karmischer Kraft und ihre karmischen Tendenzen sind vollkommen beendet, da sie die essentielle Natur konstanter karmischer Gewohnheiten angenommen haben. Durch diese neugewonnenen konstanten karmischen Gewohnheiten und die konstanten karmischen Gewohnheiten, die sie seit anfangsloser Zeit haben, erfahren sie noch immer alles in diesen reinen Ländern wie durch ein Periskop. Sie sind sich nicht des Karmas aller oder der Ursachen und Konsequenzen jeder Handlung bewusst. Sie sind sich nicht über die unzähligen vergangenen Leben und all die anderen Dinge bewusst, die nur Buddhas kennen. Warum ist das so? Weil sie weiterhin die ständigen karmischen Gewohnheiten haben. Erst wenn wir die ständigen karmischen Gewohnheiten loswerden, befreien wir uns von der Periskopsicht. Und dies geschieht erst mit der vollständigen Beseitigung (dem Aufgeben) der kognitiven Schleier, welche die Allwissenheit der Erleuchtung verhindern.

Handelt es sich bei den reinen Ländern der Arhats um die Götterreiche?

Nein, es sind keine Götterreiche. Es handelt sich um reine Länder wie Tushita oder das Land der Dakinis. Ein Götterreich ist eine befleckte Wiedergeburt mit einer befleckten Umwelt. Es entsteht aus der Verwirrung. Es wird durch eine Art von Glückserfahrungen charakterisiert, die nicht befriedigend sind und bei denen man nie weiß, was als nächstes kommen wird – es gibt keine Garantie.

Werden wir die Periskopsicht los, wenn wir die Leerheit direkt wahrnehmen?

Diese Frage ist eigentlich sehr schwierig zu beantworten, da die verschiedenen Mahayana-Lehrsysteme in recht unterschiedlichen Weisen beschreiben, wie der Prozess und die Schritte ablaufen, durch die uns die nicht-konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit von den emotionalen Schleiern befreit, die Befreiung verhindern, sowie von den kognitiven Schleiern, die Erleuchtung verhindern. Lassen wir jedoch all diese Unterschiede beiseite und vereinfachen wir die Besprechung, um Ihre Frage jetzt zu beantworten. Unsere Diskussion war ohnehin schon kompliziert genug.

Kurz gesagt braucht man mehr als den ersten Augenblick der nicht-konzeptuellen Wahrnehmung der Leerheit, um sich von dieser Periskop-Wahrnehmung zu befreien. Man muss sich sehr, sehr lange mit der nicht-konzeptuellen Wahrnehmung der Leerheit vertraut machen. Sie muss durch eine viel stärkere Kraft gestützt werden. Diese Kraft kann in derselben Weise aufgebaut werden, in der auch die Netzwerke karmischer Kraft wachsen. Wir erleben Augenblicke, in denen wir Leerheit nicht-konzeptuell wahrnehmen, und wenn ein solcher Augenblick vorbei ist, dann ist er vorbei. Doch mit jedem zusätzlichen Augenblick der Wahrnehmung von Leerheit wird das Netzwerk dieser Augenblicke gestärkt. Das Ergebnis dieses Prozess wird normalerweise mit der Übersetzung „Ansammlung der Weisheit“ (tib. ye-shes-kyi tshogs) bezeichnet. Ich nenne es ein „Netzwerk des tiefen Gewahrseins“. 

Wir müssen eine enorme positive Kraft, nämlich die positive Kraft des mühelosen Bodhichitta, haben, um unsere nicht-konzeptuelle Wahrnehmung von Leerheit zu stützen, damit wir uns von diesem Periskop lösen können. Sehen wir sie erstmals in einer nicht-konzeptuellen Weise mit einem zugrundeliegenden mühelosen Bodhichitta, ist das nicht stark genug. Wenn wir drei Zillionen Zeitalter positver Kraft brauchen, um Erleuchtung zu erlangen, sind zwei Zillionen davon notwendig, um von unserem ersten Moment der nicht-konzeptuellen Wahrnehmung der Leerheit bis zum Erlangen der Erleuchtung zu kommen. Das ist also eine sehr lange Zeit.

Wir werden morgen weitermachen. Im nächsten Schritt werden wir sehen, wie das Samsara aus dem bisher gesagten weitergeht. Wie entsteht aus dem bisher gesagten neues Karma? Wir müssen verstehen, wie dies von statten geht, da der Prozess ansonsten unkontrolliert weiterlaufen wird. Das angestrebte Endergebnis dieser ganzen Darstellung ist, dass uns klar ist, wie dumm und langweilig dies eigentlich alles ist. Wenn uns klar wird, wie dumm und langweilig es ist, erlangen wir Entsagung.

Widmung 

Lasst uns mit einer Widmung enden. Mögen wir hierdurch das Karma und die Funktionsweise von Samsara immer besser und besser verstehen und dadurch eine Vorstellung davon gewinnen, wie wir daraus heraus kommen können und wie wir dem Pfad, den Buddha gezeigt hat, tatsächlich folgen können, um die Erleuchtung zu erlangen und allen die bestmögliche Hilfe bieten können.

Wie können wir den anderen bestmöglich helfen, wenn unsere Empfindungen von Glücklichsein und Unglücklichsein täglich von Minute zu Minute auf und ab gehen? Wir können nicht voraussagen, in welcher Stimmung wir in einigen Minuten sein werden. Wie können wir den anderen helfen, wenn uns ständig lauter Dinge geschehen, die denen ähneln, die wir selbst getan haben – andere Menschen greifen uns an und kritisieren uns, wir verlieren unsere Arbeit und so weiter? Wie können wir den anderen helfen, wenn unser Körper eine solche Last darstellt – wir müssen ihn ernähren, säubern, schlafen legen, und so weiter? Wie können wir den anderen helfen, wenn wir mit einem derart beschränkten Körper und einem derart beschränkten Geist geboren wurden? Wir verstehen weder alle Sprachen noch all das, was geschieht. Wir können die Probleme der anderen nicht verstehen. Wir können unseren Körper nicht millionenfach vermehren um allen gleichzeitig zu helfen. Es gibt so viele Dinge, die wir gerne tun würden, um den anderen zu helfen, doch wir sind nicht dazu in der Lage, da wir derart beschränkt sind. Wir wollen uns wirklich von diesem ganzen karmischen Paket, von dieser ganzen karmischen Hinterlassenschaft befreien. Möge dieses Verständnis wachsen, damit wir diesen ganzen Prozess wenigstens kennen und ehrlich empfinden, dass wir daraus ausbrechen müssen, um den anderen die bestmögliche Hilfe geben zu können.

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