Asangas Chittamatra-Darstellung des Karmas

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Heute Abend beginnen wir mit einem Seminar darüber, was eigentlich die Bedeutung von Karma in Bezug auf Vasubandhus und Nagarjunas Präsentation ist. Das ist ein außerordentlich wichtiges Thema, da es sich beim Karma um eins der Dinge handelt, die es zu überwinden gilt. Es ist notwendig sich vollständig von ihm zu befreien und es nie wieder auftreten zu lassen, denn es ist eine Ursache von Leiden. Daher ist es dringend erforderlich herauszufinden, was Karma genau ist. Wie sollten wir uns sonst davon befreien können, wenn wir nicht einmal wissen, was es ist? Es befindet sich im Innern unseres eigenen geistigen Kontinuums und so müssen wir in der Lage sein, Karma in uns identifizieren zu können.

Karma im Rahmen der vier edlen Wahrheiten

Der Kontext unseres Themas, ist natürlich der, dem alle Lehren Buddhas zugeordnet werden: die vier edlen Wahrheiten. Die erste edle Wahrheit ist, wahre Leiden zu erfahren, und dabei gibt es drei Arten. Das erste ist das so genannte Leid des Leidens, was sich auf das Unglücklichsein bezieht. Dann haben wir das Leid der Veränderung und hier geht es um unsere gewöhnliche Art von Glück, das nie anhält oder zufriedenstellend ist. Wir wollen immer noch mehr, und wenn wir zu viel haben, verwandelt es sich in Unbehagen – wenn wir beispielsweise zu viel von unserer Lieblingsspeise auf einmal essen. Dies nennt man „beflecktes Glück“. Die dritte Art ist das alles umfassende Leiden, was sich auf unsere unkontrolliert sich wiederholende Wiedergeburt bezieht. Das Wort dafür ist „Samsara“: mit einer Art von Körper und Geist wiedergeboren zu werden, die eine Stütze oder Grundlage dafür sind, Unglück oder beflecktes Glück zu erfahren. Hätten wir weder Körper noch Geist, würden wir ganz offensichtlich kein Glücklichsein bzw. Unglücklichsein erfahren. Wir sind auf unkontrollierte Weise mit der Art von Körper und Geist geboren worden, durch die wir diese Art des Glücklichseins bzw. Unglücklichseins erfahren können. Mit dem Körper und Geist eines Buddhas ist nicht möglich. 

Durch die zweite edle Wahrheit – die wahren Ursachen dieser drei Arten von Leid – können wir erkennen, dass Unglücklichsein durch destruktives Karma, beflecktes Glück durch konstruktives Karma und sich unkontrollierbar wiederholende Wiedergeburt durch Karma im Allgemeinen entstehen. Allerdings wird Karma in diesen drei Fällen von störenden Emotionen und Geisteshaltungen begleitet. Beide beruhen auf unserem fehlenden Gewahrsein in Bezug darauf, wie wir und wie alles existiert. In gewisser Weise ist Karma in diesem Netzwerk der Ursachen des Leidens recht prominent, und daher müssen wir es identifizieren. 

Die dritte Wahrheit ist die wahre Beendigung und bezieht sich auf den Zustand, vollständig und für immer von wahrem Leid und dessen wahren Ursachen gelöst zu sein, sodass diese nie wiederkehren. Wir wollen dem fehlenden Gewahrsein, dem Karma, sowie den störenden Emotionen und Geisteshaltungen ein Ende setzen.  

Die vierte edle Wahrheit ist der wahre Pfad des Geistes, die Ebenen der Verwirklichung, durch die wir uns von dem wahren Leid und dessen wahren Ursachen lösen können. Der sogenannte wahre Pfad bezieht sich im Grunde auf die wahre Art des Verstehens.

Die verschiedenen Darstellungen des Karmas

Was ist nun Karma? In den buddhistischen Lehren gibt es diesbezüglich zwei grundlegende Darstellungen, die von den Tibetern akzeptiert werden. In der Theravada-Tradition gibt es noch eine weitere Erklärung, die allerdings nicht von den Tibetern studiert wird, und wir werden diese Darstellungsweise heute Abend auch nicht besprechen. Wir sollten uns jedoch bewusst darüber sein, dass es sich dabei um eine völlig andere Darstellung des Karmas handelt – obwohl die allgemeine Vorstellung in Bezug auf das Karma nicht so viel anders ist. Ungeachtet dessen ist jedoch die Erklärung der Wirkungsweise recht unterschiedlich. 

Bei den zwei Traditionen, die die Tibeter studieren, handelt es sich erstens um die Darstellung von Vasubandhu, der sie in seiner Abhandlung „Abhidharmakosha“ („Schatzhaus spezieller Themen des Wissens“) erklärt hat. Vasubandhu stellt Karma darin unter dem Hintergrund des Standpunktes der Vaibhashika-Schule der indisch-buddhistischen Lehrsysteme, bei der es sich um eines der Hinayana-Lehrsysteme handelt, dar. Die Sautrantika-Tradition, ebenfalls eine Hinayana-Schule, hat viele Einwände gegen das Vaibhashika-System, die Vasubhandhu in seinem eigenen Kommentar zu seinem Abhidharma-Text darlegt. Im Sautrantika-System wird die grundlegende Darstellung akzeptiert, die Asanga im Rahmen des Chittamatra-Systems beschreibt. 

Einige Jahrhunderte vor Vasubandhu hatte Nagurjuna bereits in Kapitel 17 seiner „Wurzelverse des mittleren Weges, das unterscheidende Gewahrsein“ die besondere Eigenschaft von Karma dargelegt, welche Vasubandhu zu einem ganzen System ausarbeitete, nämlich dass das Karma für Handlungen des Körpers und der Rede Formen physischer Phänomene sind. Spätere indische Prasangika-Meister wie Chandrakirti und Buddhapalita akzeptieren diese Behauptung, ebenso wie auch Bhavaviveka, auf den der Sautrantika-Svatantrika-Zweig des Madhyamaka zurückgeht. 

Tsongkhapa folgt der grundlegenden Behauptung dieser Meister in seiner Prasangika-Darstellung und modifiziert dabei Vasubandhus Erklärung gemäß seinem Verständnis der Prasangika-Sichtweise der Leerheit und nimmt Ergänzungen vor, die in Asangas System ausführlicher erklärt werden. 

Bei der anderen handelt es sich um die Mahayana-Darstellung des Karmas, die wir in Asangas Abhidharma-Text „Abhidharmasamuccaya“ („Anthologie spezieller Themen des Wissens“) und in verschiedenen Abschnitten seines „Yogacharabhumi“ („Ebenen des yogischen Verhaltens“) finden.   

Wahrscheinlich sind diese Informationen einfach nur interessant, aber nicht sehr nützlich. Allerdings können sie uns helfen zu verstehen, dass es zahlreiche verschiedene Sichtweisen in Bezug auf das Karma gibt. Nichts existiert in den buddhistischen Lehren nur für sich selbst – eigentlich existiert auch im gesamten Universum nichts nur für sich. Wir können Karma nur im Kontext eines bestimmten Lehrsystems verstehen und mit all den verschiedenen Behauptungen des jeweiligen Systems und der Weise, wie Karma in das jeweilige philosophische System passt, arbeiten. 

Wenn wir den Dharma studieren, ist es von großer Wichtigkeit, ein breites Verständnis und Wissen zu haben, damit jedes einzelne Thema in den Rahmen und das größere Bild all dieser Lehren passt. Daher widmen sich die Tibeter für zwanzig oder dreißig Jahre dem Studium, um jeden einzelnen Punkt der Lehren innerhalb eines größtmöglichen Kontextes verstehen zu können. 

Asangas System

Heute Abend würde ich gerne die grundsätzlichen Lehrsätze aus Asangas System präsentieren, in dem Karma auf eine einfachere Weise erklärt wird. „Einfach“ ist hier ein sehr relativer Begriff und meint eine weniger komplizierte Version als die von Vasubandhu und Nagarjuna, die jedoch trotzdem noch außerordentlich komplex, aber etwas verständlicher ist. Im Wesentlichen möchte ich jedoch an diesem Wochenende auf das Gelug-Prasangika-System, basierend auf Vasubandhus und Nagarjunas Systemen, eingehen, da dieses nicht so oft erklärt wird. Dabei sollten wir uns wieder in Erinnerung rufen, dass Asangas Darstellung die Sichtweise der Chittamatra-Schule, der Nur-Geist-Schule, zugrunde liegt, was für diese ganze Darstellung des Karmas von Bedeutung ist. 

Nach Ansicht von Asanga ist Karma ein Geistesfaktor, und zwar der eines Dranges (tib. sems-pa, Skt. cetanā). Ein Drang ist einer der fünf immer arbeitenden geistigen Faktoren, die jeden Augenblick unserer Wahrnehmung begleiten. Um irgendetwas in den buddhistischen Lehren verstehen zu können, ist es notwendig, die Definitionen der Fachbegriffe zu kennen. Die monastische Schulung des Erlernens dieser Begriffe bezeichnet man für gewöhnlich als Tradition des Debattierens, aber das eigentliche tibetische Wort dafür bedeutet „Definitionen“. Definitionen sind das, womit im Studium hauptsächlich gearbeitet wird. 

Fachbegriffe definieren: Der Geistesfaktor eines Dranges

Ein Drang ist ein Geistesfaktor; das heißt, er ist ein kleiner Teil eines jeden Augenblicks unserer Wahrnehmung. Es ist der Geistesfaktor, welcher, während er auf ein Objekt fokussiert ist, das Bewusstsein und dessen begleitende Geistesfaktoren dazu bringt, im nächsten Moment eine Handlung gegenüber oder mit diesem oder einem anderen Objekt auszuführen. Ein Drang, oder ein Bedürfnis – ich weiß nicht, wie das Wort im Deutschen benutzt wird, aber im Englischen sagen wir beispielsweise: „ich habe das Bedürfnis, mir die Wand anzusehen“; „ich verspüre den Drang, mir den Kopf zu kratzen“; „ich habe das Bedürfnis, dich anzusehen“ oder „ich verspüre den Drang, dir etwas zu sagen“.

Ein Drang ist also ein Geistesfaktor, der uns dazu bringt, im nächsten Moment etwas mit einem gewissen Objekt zu tun. Ein Drang kann konstruktiv, destruktiv oder unspezifisch sein. „Unspezifisch“ heißt, es kann in beide Richtungen gehen: konstruktiv oder destruktiv; oder „unspezifisch“ kann auch einfach etwas Neutrales sein. Beispielsweise ist es weder konstruktiv noch destruktiv, sich den Kopf zu kratzen – es sei denn, man übertreibt es. 

Karmische Dränge haben eine unwiderstehliche, fast zwanghafte Eigenschaft, als hätten wir keine Kontrolle über sie. Ich denke, das ist das Wichtigste, was es in Bezug auf das Karma zu verstehen gilt. Da gibt es diese Zwanghaftigkeit, und sie ist es, die wir im Grunde überwinden müssen – die Zwanghaftigkeit, die uns fast zu kontrollieren scheint. 

Geistiges Karma

Um mit dem Definieren von Begriffen fortzufahren, bezieht sich „geistiges Karma“ – mit anderen Worten, der karmische Drang für eine geistige Handlung – auf das, was eine Abfolge von Gedanken hervorruft, und hier können wir uns dann auch über Abfolgen destruktiver Gedanken unterhalten. Vielleicht denken wir darüber nach, wie wir etwas bekommen können oder was wir begehren; zum Beispiel: „Wie könnte ich dieses Geld an mich bringen?“ Andere destruktiven Gedanken wären, jemanden zu verletzen oder etwas zu widerlegen, was eine Person sagt, obwohl es wahr und korrekt ist. Das geistige Karma ist dieser zwingende oder zwanghafte Drang, zu beginnen so etwas zu planen oder zu denken.

Es gibt auch schwächere Arten von zwanghaften geistigen Drängen, wie der Drang, sich ein Lied im Kopf vorzusingen. Auf Deutsch nennt man das einen Ohrwurm, wenn man ständig irgendein Lied im Kopf hat. Das ist ein Zwang, nicht wahr? Ein karmischer Drang ist das, was uns zu dieser Abfolge von Gedanken bringt. Ein anderes Beispiel wäre, wenn wir versuchen einzuschlafen, und zwanghaft dieser geistige Drang da ist, zu grübeln und sich Sorgen zu machen, und wir nicht verhindern können, dass unsere Gedanken kreisen.

Hier geht es also um den Zwang – diesen zwanghaften Drang, der uns zu einer Abfolge von Gedanken führt. Die Rede ist nicht von den Gedankenketten selbst, sondern von dem Zwang, der dazu führt, dass wir die Kontrolle verlieren. Den eigentlichen Gedankengang bezeichnet man als Pfad des geistigen Karmas; er ist nicht das Karma selbst. 

Physisches und verbales Karma

In diesem System sind physisches und verbales Karma ebenfalls Geistesfaktoren. Darüber hinaus sind sie auch zwanghafte Dränge; hier sind sie jedoch die zwanghaften Dränge, die unser Bewusstsein und andere begleitende Geistesfaktoren dazu bringen, im nächsten Moment eine Handlung des Körpers oder der Rede gegenüber einem bestimmten Objekt auszuführen. Sie können vorher durch den Drang einer geistigen Handlung angeregt worden sein, über das Ausführen der Handlung nachzudenken und sich für sie zu entscheiden, oder auch nicht. Der zwanghafte Drang zu einer Handlung des Körpers oder der Rede führt uns auf einen solchen Pfad, und dieser Pfad ist dann die jeweilige körperliche oder verbale Handlung. 

Beispielsweise gibt es diesen zwingenden Drang darüber nachzudenken, wie ich etwas an mich bringen kann, was ich haben möchte. Es könnte darum gehen, etwas zu stehlen, sich eine Arbeit zu suchen, oder sich etwas aus dem Kühlschrank zu holen. Es könnte alles sein. Man denkt, dass man etwas haben möchte, und der Pfad des Dranges für diese geistige Handlung endet dann mit der Entscheidung, es sich zu holen. Was nun durch diesen Gedankenpfad angeregt wird, ist der Drang, unseren Körper zu bewegen, um die jeweilige Handlung auszuführen. Auch das ist etwas Zwanghaftes, wie in dem Beispiel: „Ich denke, ich werde zum Kühlschrank gehen und mir etwas zu essen holen“ und dann gehen wir los und tun es, wie unter Zwang. Oder ein anderes Beispiel: „Ich werde dorthin gehen und mit ihm reden“ und wie unter Zwang gehe ich los und beginne zu sprechen.  

Karma ist also nicht die Handlung selbst. Es ist der Zwang, der zwanghafte Drang, der zu der Handlung führt. Das Problem ist, dass im Tibetischen das Wort für Karma auch das umgangssprachliche Wort für Handlung ist. Wenn die Menschen daher das tibetische Wort „Lä“ sehen, übersetzen sie es dann in eine europäische Sprache für gewöhnlich mit „Handlung“, denn das ist die die Bedeutung des Wortes in der Umgangssprache. Das führt dann zu einem vollkommen falschen Verständnis. Wenn wir Karma analysieren, sehen wir, dass es sich auf etwas bezieht, von dem wir uns trennen und dem wir ein Ende setzen müssen. Würde Karma nun Handlung bedeuten, könnten wir einfach aufhören, irgendwas zu tun und schon wären wir von allen Leiden befreit. Offensichtlich bedeutet es also nicht Handlung, zumindest nicht in unserem gewöhnlichen Verständnis. 

Karma ist eine wahre Ursache des Leidens und muss daher etwas sein, dass wirkliche Probleme verursacht. Nur etwas zu tun oder zu sagen, ist nicht das Problem, oder? Vielmehr geht es um die Zwanghaftigkeit, und es sind die Handlungen selbst, welche als die „Pfade des Karmas“ bezeichnet werden. Mit anderen Worten ist es das, zu dem der zwanghafte bzw. unwiderstehliche Drang führt oder was daraus folgt. Dann haben wir eine zwanghafte Abfolge von Gedanken, zwanghafte Rede oder zwanghafte Handlungen. 

Sowohl der daraus folgende Drang als auch das Verhalten können destruktiv sein, also mit störenden Emotionen wie Wut, Gier und Ähnlichem einhergehen. Sie könnten auch „befleckt konstruktiv“ sein; das wäre etwas Konstruktives ohne eine störende Emotion, aber trotzdem in Verbindung mit dem Greifen nach einem soliden „Ich“. Zum Beispiel sehen wir uns als ein solides „Ich“, das immer gut ist, das anderen hilft, um ein guter Mensch, ein wirklich guter Dharma-Praktizierender zu sein; oder als ein zwanghafter Weltverbesserer, der nie nein sagen kann. Drang und Verhalten können auch unspezifisch sein. Beispielsweise könnte ich einfach über Politik reden, und das könnte dann in beide Richtungen gehen: ich könnte mich voller Wut hineinsteigern oder versuchen, eine Lösung für ein politisches Problem zu finden. Es könnte in beide Richtungen gehen und ist daher unspezifisch.

Pfad des Karmas

Was ist nun ein Pfad des Karmas oder, genauer gesagt, eines karmischen Dranges? Bevor wir damit beginnen, sollten wir uns einen Moment Zeit nehmen, um diese Dinge auf uns wirken zu lassen. In diesem System des Karmas geht es um den zwanghaften Drang. Es geht nicht um die Handlung, sondern um den zwingenden Drang, etwas zu denken, zu sagen oder zu tun. Es ist der Zwang, der durch störende Emotionen wie Wut oder Anhaftung gesteuert wird, oder auch einfach auf eine egoistische Haltung zurückzuführen ist, mit der wir denken: „ich muss gut sein“, „ich muss perfekt sein“, oder „ich muss alles unter Kontrolle haben und alles muss nach meinem Kopf gehen“.

Wen wir meinen, alles kontrollieren zu müssen, weist das auf ein aufgeblasenes Ego. Alles muss sauber und perfekt sein – wie eine Art von Zwang. Es ist nichts verkehrt daran, wenn Dinge sauber sind – die Zwanghaftigkeit ist das Problem. Wir haben Angst, die Kontrolle zu verlieren, und putzen daher ständig unsere Wohnung oder waschen ständig unsere Hände. Das Leid besteht darin, dadurch einen Augenblick glücklich zu sein, weil alles sauber ist, und dann jedoch plötzlich wieder Unzufriedenheit zu spüren und von Neuem mit dem Saubermachen anzufangen. Ich glaube, das ist wirklich ein gutes Beispiel. 

Lasst das einen Moment auf euch wirken; das erlaubt uns, es in uns selbst zu erkennen. Es geht darum, diese Zwanghaftigkeit, welche die wesentliche Quelle aller Probleme ist und von der wir uns wirklich gerne lösen würden, in uns selbst zu erkennen. Und wir wollen nicht nur deswegen davon frei werden, weil das Probleme verursacht und uns neurotisch macht, sondern auch weil es uns davon abhält, anderen zu helfen. Vielleicht sagen wir zwanghaft das Falsche, wir hängen zwanghaft an etwas oder verlieren unsere Geduld. Diese Probleme treten auf, wenn wir anderen helfen wollen. 

Denken wir etwas tiefgründiger darüber nach, können wir in der Tat erkennen, dass es mehr als nur Selbstbeherrschung erfordert. Es ist ein Anfang, an dem wir Selbstbeherrschung nutzen können, um uns nicht so zwanghaft zu verhalten, aber wir müssen tiefer gehen und untersuchen, was diesen Zwang antreibt und woher er kommt, um uns davon befreien zu können. Darüber werden wir nicht so viel an diesem Wochenende reden, denn wie wir uns von Karma befreien können, ist ein anderes Thema. Jetzt wollen wir zunächst einmal verstehen, wie Karma funktioniert. Zu Beginn gilt es erst einmal zu erkennen, auf welche Weise durch Karma in gewissem Sinne ein Netz entsteht, das uns gefangen nimmt. Dann können wir verstehen, wie wir es dekonstruieren und uns daraus befreien können. 

Wie bereits gesagt, sind Denken, Sprechen, Handeln und Tun die Pfade des Karmas und nicht das Karma selbst. Es ist dann ebenso notwendig zu verstehen, was ein solcher Pfad des Karmas ist. Ein Pfad des Karmas ist eine nichtkongruente beeinflussende Variable – ein nichtstatisches Phänomen, das weder ein physisches Phänomen noch eine Art, sich etwas gewahr zu sein, ist – und als solches ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage von vier Faktoren. 

Ein Zuschreibungsphänomen ist etwas, das buchstäblich an eine Basis „gebunden“ ist und nicht unabhängig davon existieren oder erkannt werden kann, zum Beispiel eine Person, der Körper, Geist oder Emotionen. Ein anderes Beispiel wäre das Alter, irgendeine Person oder ein Objekt. 

So sieht also eine Handlung als ein Pfad des Karmas aus – eine nichtkongruente beeinflussende Variable. Die vier Faktoren, die dessen Grundlage bilden, müssen vollständig sein, damit der Pfad, der diesen zugeschrieben wird, vollständig ist und das Resultat der Handlung vollständig eintritt. Fehlen ein oder mehrere dieser Faktoren oder ändern sie sich, dann ändert sich auch der Pfad bzw. die Handlung, die auf deren Grundlage zugeschrieben wird. Sie wird zu etwas anderem und ist nicht mehr derselbe Pfad des Karmas. Was sind nun also diese Faktoren?

Vier Faktoren für einen vollständigen Pfad des Karmas

(1) Zunächst muss es eine Basis geben: jemand, den ich töte oder verletze; etwas, das jemandem gehört, zu stehlen; jemand, den ich belüge usw. Das ist unsere Basis.

(2) Dann muss es einen motivierenden geistigen Rahmen geben, der sich aus drei Geistesfaktoren zusammensetzt.

  • Der erste dieser drei ist das Unterscheiden. Unterscheiden richtet sich auf das definierende Charakteristikum eines Objekts in einem Sinnesfeld und unterscheidet es von dem, was es nicht ist. Für gewöhnlich wird es mit „Erkennen“ übersetzt, was jedoch nicht so passend ist, da dieser Geistesfaktor nicht beinhaltet, zu wissen, was es ist, das er unterscheidet. Wenn wir vor uns ein Feld von farbigen Pixeln sehen, die in Formen zusammengebündelt sind, müssen wir diese Farbformen des Körpers einer Person von jenen der Wand im Hintergrund unterscheiden. Sind wir nicht in der Lage, eine Sache von einer anderen zu unterscheiden, können wir uns unmöglich damit auseinandersetzen. Wir müssen nicht unbedingt erkennen, was es ist, um es vom jeweiligen Hintergrund unterscheiden zu können. Hier geht es darum, die Grundlage, auf die unsere Handlung abzielt, zu bestimmen, also diese Person, zu der man etwas sagen will, von einer anderen zu unterscheiden; oder diese Person, auf die man schießen will, von einer anderen Person bzw. von der Wand zu unterscheiden. Es ist also notwendig, die Grundlage von allem zu unterscheiden. 
  • Dann geht es um das motivierende Ziel und das bezieht sich auf die Absicht. Die Absicht ist der Wunsch, eine bestimmte Handlung gegenüber einem bestimmten Objekt auszuführen. Dies ist immer auch damit verbunden, das Zielobjekt und die beabsichtigte Handlung von anderem zu unterscheiden. Die Absicht ist das, was ich beabsichtige zu tun oder zu sagen. Ich beabsichtige beispielsweise, einen bestimmten Job zu bekommen und denke nun darüber nach, was ich sagen könnte. Es gibt also eine Absicht. 
  • Und dann haben wir noch einen damit einhergehenden emotionalen Zustand, welcher ebenso den Pfad des Karmas bestimmt und entweder destruktiv, konstruktiv oder unspezifisch sein kann. Es ist die Kombination dieser drei Geistesfaktoren, die den Überbegriff „motivierender Rahmen“ trägt, aber meist einfach als Motivation bezeichnet wird. 

Sehen wir uns das nun anhand des Beispiels unserer Motivation, dieses Seminar zu besuchen, an. Wir erkennen und unterscheiden, dass wir etwas über Karma lernen wollen und nicht über Leerheit, Unbeständigkeit oder etwas anderes. Wir unterscheiden es auf korrekte Weise. Die Absicht ist, nicht einfach nur gut zuzuhören, sondern etwas zu lernen, das uns in unserem Leben hilfreich sein kann, um Probleme zu überwinden und anderen von Nutzen zu sein. Das ist die Absicht oder das Ziel. Warum wollen wir dieses Ziel erreichen? Welche Emotion liegt dem zugrunde? Idealerweise ist es das Mitgefühl für andere. 

Wenn im Buddhismus von Motivation die Rede ist, ist diese als Komplex dieser drei Faktoren zu sehen. Wollen wir unsere Motivation prüfen und korrigieren, ist es daher notwendig, diese drei Faktoren zu untersuchen. Warum sind wir also zu diesem Vortrag gekommen? Bestand unser Grund darin, sozialen Austausch zu haben? Was erwarten wir; was ist unser Ziel? Welche Emotion steckt dahinter? Ist es Neugier, Mitgefühl, Einsamkeit oder der Wunsch, Freunde zu treffen? All diese Dinge kommen für die Motivation zusammen. 

Um es noch einmal zu wiederholen: wir haben die Basis, den motivierenden geistigen Rahmen und dann haben wir (3) die Anwendung all dessen. Die Wahl der tibetischen Wörter ist hier recht interessant. Es geht nicht um das Wort „Handlung”, sondern um die „Anwendung“ dieser Motivation, eine Methode zu verwenden, um die Handlung auszuführen. Wir wenden diese Motivation an, um die Methode, zu etwas bestimmtem zu gelangen, tatsächlich auszuführen – zum Beispiel in unser Auto zu steigen, hierher zu fahren, zu parken, in das Gebäude und diesen Raum zu kommen und uns hinzusetzen. 

Nehmen wir an, wir haben die Absicht, hierher zu kommen; wir kennen den Ort und die Adresse, aber sind im Verkehr steckengeblieben und konnten nicht kommen. In diesem Fall wäre der Pfad des Dranges, hierher zu kommen nicht vervollständigt worden. Um vollständig zu sein, müssen wir tatsächlich ankommen. Es kann auch sein, dass wir gar nicht erst losgefahren sind, weil das Telefon geklingelt hat und etwas passiert ist; dann hätten wir nicht einmal unser Haus verlassen, um uns auf den Weg zu machen. Die Absicht muss in die Tat umgesetzt werden, indem sie tatsächlich angewandt wird. 

(4) Schließlich muss mit der Anwendung dieser Methode das Endziel erfolgreich erreicht werden; wir müssen wirklich angekommen sein. Ein anderes Beispiel wäre, auf jemanden zu schießen mit der Absicht, ihn zu töten. Der Pfad des Begehens eines Mordes ist nur dann komplett, wenn derjenige auch tatsächlich stirbt; ansonsten haben wir ihn lediglich verwundet und nicht getötet. In diesem Fall ist das, was wir getan haben, zu einer vollkommen anderen Handlung geworden, nämlich jemanden zu verletzen. Oder wir sagen jemandem etwas wirklich Furchtbares und wollen seine Gefühle verletzen, und er hört uns gar nicht. Die Handlung hatte also keine Wirkung und so verfehlte das Sagen gemeiner Worte zu jemanden sein Ziel, die Person zu verletzen. Vielleicht war die Telefonverbindung unterbrochen und der andere hat nie gehört, was wir gesagt haben. Oder wir haben eine furchtbare E-Mail geschickt, aber sie ist im Spam-Filter gelandet und wurde nie gelesen. Solche Dinge passieren. 

Sprechen wir vom Pfad des Karmas, sind diese vier Faktoren immer vorhanden, und auch wenn das eigentlich erst am Ende eintritt, gibt es doch eine ganze Abfolge von Dingen. Zuerst haben wir den Drang, die Handlung in Gang zu setzen. Dann gibt es da den Drang, durch den die Handlung entweder fortgesetzt oder mittendrin beendet wird, wenn wir meinen, der Handlung ein Ende zu setzen. Der Pfad umfasst die gesamte Abfolge, einschließlich des Erreichens des Endziels, das entweder unmittelbar nach der Durchführung der Handlung oder irgendwann später auftreten kann. 

Das ist, wenn man einmal darüber nachdenkt, im Grunde sehr gut so. Vielleicht hat man den Drang, eine Person anzurufen, sich bei ihr zu beschweren und sie anzuschreien. Da gibt es den zwanghaften Drang, darüber nachzudenken, es zu tun. Nachdem wir darüber nachgedacht und uns entschieden haben, anzurufen, kommt der zwingende Drang, mit den Handlungen des Sprechens zu beginnen. Genauso gut könnte uns der zwingende Drang auch einfach dazu bringen, spontan anzurufen, ohne dass wir vorher darüber nachgedacht haben. 

Genau genommen haben wir den Zwang, die Nummer zu wählen und dann den Zwang, mit dem Sprechen anzufangen. Wir fühlen uns gezwungen, die Nummer zu wählen, aber vielleicht haben wir die Nummer nicht richtig erkannt und wählen eine falsche Nummer. Auch das kann passieren. Wir müssen sie korrekt unterscheiden. Das ist interessant, denn unsere Erregung könnte sich etwas legen, wenn wir uns erst einmal verwählen. 

Schließlich beginnen wir dann, zu sprechen. Ihr habt das sicher alle schon erlebt, wenn man einfach nicht mehr aufhören kann und immer weitermacht. Da gibt es diesen Zwang, jeden Moment einfach immer weiter zu machen und nachzudenken immer noch mehr zu sagen. Es geschieht einfach zwanghaft und schließlich hören wir dann irgendwann auf. 

Irgendwann verspüren wir einen zwingenden Drang, das Gespräch zu beenden – es reicht. Natürlich könnte sich während unseres Monologes einiges, wie beispielsweise unser Gefühlszustand, ändern. Vielleicht hören wir die Person am anderen Ende weinen und sind ein bisschen traurig, weil wir sie zum Weinen gebracht haben; oder aber sie schreit zurück, was uns dann noch wütender macht. Jeder der Faktoren in diesem ganzen Prozess, die an dem Pfad beteiligt sind, kann sich ändern. 

Die Natur eines Pfades des Karmas

Ein zwingender Drang bringt also das Bewusstsein und die begleitenden Geistesfaktoren dazu, einen Pfad des Karmas zu veranlassen, was bedeutet, dass dieser Drang bei richtiger Unterscheidung, Absicht und einer motivierenden Emotion das Bewusstsein dazu antreibt, eine beabsichtigte Methode zur Ausführung einer beabsichtigten Handlung gegenüber einem beabsichtigten Objekt einzusetzen, und dass diese Handlung ihr beabsichtigtes Endziel erreicht. Können wir den gesamten Komplex eines solchen Pfades als eine „Handlung“ oder ein „Ereignis“ bezeichnen? Es ist schwer, einen Begriff zu finden, der genau zu dieser nichtkongruenten beeinflussenden Variablen passt, welche ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage all dieser Komponenten darstellt.  

In Asangas System ist der gesamte Pfad des Karmas selbst ein substanziell erwiesenes Phänomen. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass der gesamte Pfad des Karmas, der daran beteiligt ist, wenn jemand etwas Gemeines zu mir sagt, eine auffindbare Entität darstellt, die mich wirklich verärgert hat. Und was hat mich verärgert? Da gibt es all diese kleinen Details usw., aber die Tatsache, dass mein Gegenüber etwas zu mir sagt, ist als Ganzes ein auffindbares Ereignis, das sich aufzeigen lässt und an das man sich erinnert. An was erinnert man sich? Nach diesem System ist das, woran ich mich erinnere, etwas substanziell Erwiesenes, das sich durch Untersuchung als eine scheinbar solide Entität auffinden lässt, deren Existenz durch ihre Selbstnatur als „das Ereignis, dass jemand etwas Gemeines zu mir gesagt hat“ begründet ist. 

Der Fachbegriff dafür ist „substanziell erwiesene Existenz“, was in Asangas Chittamatra-System vertreten und ebenso von den Svatantrikas akzeptiert wird. Die Existenz von etwas ist substanziell erwiesen, wenn dessen Existenz durch dessen Selbstnatur begründet ist und es eine Funktion ausübt. Alle nichtstatischen Phänomene, einschließlich dieses substanziell erwiesenen Pfades des Karmas, sind in sich selbst begründet und üben eine Funktion aus, welche in unserem Beispiel darin bestand, mich zu verärgern. 

Worin bestand nun das Ereignis, das mich verärgert hat? War es nur der Klang der Worte? War es die Tatsache, das mein Gegenüber sie ausgesprochen hat? War es die gemeine Emotion dahinter oder die Absicht, mich zu verletzen? War es die Tatsache, dass man solche Worte zu mir gesagt hat? War es die Tatsache, dass es mich geärgert hat, diese Worte zu hören? Was war es nun, das mich wütend gemacht hat? Es war all das. Das Ereignis ist ein Zuschreibungsphänomen auf der Basis dieses gesamten Komplexes, und dieses „Ereignis“, was ein Pfad des karmischen Dranges unseres Gegenübers war, diese Dinge zu uns zu sagen, ist ein substanziell erwiesenes Phänomen, welches, da es in sich als „dieses Ereignis“ begründet ist, die Funktion ausübte, mich zu verärgern. Das ist Asangas System und es ergibt einen Sinn. 

Ein Pfad des Karmas ist nicht nur die Ausführung der Handlung. Das ist nur ein kleiner Teil dessen. Wie nennt man das Ganze? Nun, das ist schwer zu sagen, nicht wahr? Wenn wir irgendetwas, was wir selbst tun oder was ein anderer tut oder sagt, analysieren, dann ist das ziemlich komplex. Dieses Wort trifft es ziemlich gut: Es ist ein „Komplex“ all dieser verschiedenen Faktoren, aber für uns übt er eine Funktion als Entität für sich aus. Denkt einmal darüber nach. 

Ein Beispiel für ein anderes substanziell erwiesenes Zuschreibungsphänomen, das noch komplexer ist als nur ein Pfad des Karmas, wäre, wenn wir sagen: „Ich erinnere mich an das Gespräch“, „ich erinnere mich an die Reise nach Indien“ oder „ich erinnere mich, als ich diesen Job hatte“. An was erinnern wir uns genau? Scheint es nicht so, als würde es sich um eine Sache handeln, an die wir uns erinnern? Tatsächlich sind dies alles Komplexe unglaublich vieler verschiedener Dinge, die passiert sind. Wir sagen: „Die Reise nach Indien hat einen großen Eindruck bei mir hinterlassen.“ Aber was genau hat diesen Eindruck bei mir hinterlassen?

Unser Thema ist nicht, Leerheit zu analysieren, aber obwohl es offenbar so scheint, als würde es sich bei diesen Ereignissen um solide Dinge halten, sagt man in der Prasangika-Schule, es gäbe nichts Solides auf Seiten all dieser Dinge, die es von sich aus zu einem substanziellen Ereignis machen würden. Auf konventioneller Ebene bezeichnen wir sie natürlich als Ereignisse, aber da gibt es nichts Solides. In anderen indisch-buddhistischen Schulen würde man jedoch behaupten, dass es etwas Solides gibt und es eine Funktion ausübt. Zum Beispiel sagen wir: „Ich habe viel durch diese Beziehung gelernt.“ Aber woraus haben wir etwas gelernt? Aus diesem oder jedem Wort? Woraus genau?

In Asangas Darstellung ist es also so, dass ein zwanghafter Drang einen Pfad des Karmas verursacht und diesen antreibt. 

Destruktive, befleckt-konstruktive und unspezifische karmische Dränge und Pfade des Karmas 

Da nun Karma und auch die Pfade des Karmas entweder destruktiv, befleckt-konstruktiv oder unspezifisch sein können, sollten wir uns die Definitionen davon ansehen. Laut Asanga bezeichnet man als „befleckt“ in erster Linie etwas, das auf eine störende Emotion oder Geisteshaltung zurückzuführen ist oder in irgendeiner Weise damit zusammenhängt. 

Es ist notwendig zu verstehen, was diese störenden Emotionen und Geisteshaltungen sind. Es ist schwer, ein Wort dafür zu finden, das sie alle abdeckt. Im Sanskrit nennt man es „Klesha”, aber wie kann man das bloß übersetzen? Vielleicht mit Verblendung oder Plage? Es gibt wirklich kein gutes Wort dafür. Diese Kleshas können mit einer Auffassung verbunden sein oder auch nicht. Jene, die es nicht sind, bezeichnen wir als „störende Emotionen“, obwohl das Wort Emotion nicht alle fünf Hauptkleshas umfasst. Die anderen – jene, die mit einer Auffassung verbunden sind – bezeichnen wir als „störende Geisteshaltungen“. 

Um es noch einmal zu wiederholen: Es gibt keine guten Übersetzungen für diese. Uns sollte bewusst sein, dass wir im Westen die Geistesfaktoren nicht so in Kategorien unterteilen, wie das im Buddhismus der Fall ist. Es gibt wirklich keine Worte, die sie alle umfassen, und wir ordnen sie auch nicht in der gleichen Weise an.

Die Definition einer störenden Emotion oder Geisteshaltung ist jedoch sehr hilfreich, wie eigentlich alle Definitionen. Eine störende Emotion oder Geisteshaltung ist ein Geisteszustand, bei dem wir unseren geistigen Frieden und unsere Selbstbeherrschung verlieren, wenn er auftritt. Wenn wir feinfühlig genug sind, können wir ihn für gewöhnlich einfach an dem Gefühl der inneren Nervosität erkennen, an einer Störung der inneren Energie. 

Das Wort „destruktiv” wird als karmischer Drang oder Pfad des Karmas definiert, der durch fehlendes Gewahrsein verhaltensbedingter Ursache und Wirkung ausgelöst oder begleitet wird und auch mit anderen störenden Emotionen einhergeht. Mit anderen Worten ist uns nicht bewusst, was die Konsequenz dessen sein wird, was wir fühlen und was wir sagen oder tun werden. Wir sind verwirrt. Wenn ich jemanden anschreie, mangelt es mir im Grunde an Gewahrsein. Obwohl ich den Drang habe, zu schreien und etwas Hässliches zu sagen, ist mir nicht bewusst, welche Wirkung das auf mich haben wird, dass ich meinen inneren Frieden verlieren und mich nicht wirklich besser fühlen werde. Mir ist auch nicht bewusst, welche Wirkung das auf den anderen haben wird. Ich habe überhaupt keinen Sinn dafür und mir ist es egal, ob es seine Gefühle verletzen wird. Das ist fehlendes Gewahrsein in Bezug auf Ursache und Wirkung. 

Bei einem destruktiven Drang oder Pfad des Karmas gibt es dieses mangelnde Gewahrsein und auch eine begleitende störende Emotion – insbesondere Verlangen, Anhaftung oder Gier. Verlangen heißt, etwas zu begehren, das man nicht hat; mit Anhaftung will man das, was man hat, nicht loslassen; und mit Gier will man von dem, was man hat, noch mehr. Dann gibt es da die störende Emotion der Wut oder einfach ein fehlendes Feingefühl und Naivität in Bezug auf unsere zwanghaften Dränge, unser Verhalten und dessen Auswirkungen. 

Zusätzlich fehlt es an moralischer Selbstachtung, an Selbstwürde, und dann ist es uns egal, was wir tun und welches Licht unsere Taten auf andere werfen. Im Grunde ist das ein ausgesprochen asiatisches Konzept. Wenn ich unangemessen handle, wird das Schande über meine Familie bringen. Genauso wäre es, wenn wir losgehen, um uns zu betrinken: Es würde ein schlechtes Licht auf Buddhisten werfen, falls wir selbst Buddhisten sind. Dann kann es passieren, dass die Menschen vielleicht schlecht über Buddhisten denken. Oder nehmen wir einmal an, ich wäre eine Frau und würde mich auf bestimmte Weise verhalten. Vielleicht würden dann die anderen schlecht über Frauen denken und es könnte ein schlechtes Licht auf alle anderen Frauen werfen. Handelt es sich um einen destruktiven karmischen Drang, ist es uns schlichtweg egal. 

Ein karmischer Drang oder Pfad des Karmas ist konstruktiv, wenn er durch Loslösung herbeigeführt wird oder damit einhergeht. Man ist losgelöst, wenn man nichts von dem anderen haben möchte. Wenn man nicht an dem festhalten will, was man hat, und bereit ist zu teilen, anstatt einfach immer mehr haben zu wollen, dann ist das Loslösung. Loslösung heißt nicht, dass wir völlig frei sind von Anhaftung, aber es ist ein guter Schritt in die richtige Richtung. In diesem Moment will ich einfach nur helfen und nichts dafür haben. Vielleicht habe ich einen Hang dazu, Schokolade zu essen, aber das wäre etwas anderes. In diesem Moment halte ich nichts zurück und möchte auch nicht immer noch mehr von eurer Zeit und Aufmerksamkeit. Die begleitende Emotion könnte das Gegenteil von Ärger sein; ich will euch also nicht zurückweisen und ich will auch niemandem wehtun oder schaden. Es könnte auch sein, dass ich nicht naiv in Bezug auf die Wirkung meines Verhaltens auch mich und andere bin. Außerdem ist da moralische Selbstachtung und die Sorge, welches Licht meine Handlungen auf andere werfen. In all diesen Fällen könnten wir jedoch immer noch verwirrt darüber sein, wie wir und andere existieren, und so ist unser Verhalten „befleckt-konstruktiv“ – befleckt mit diesem fehlenden Gewahrsein aber dennoch konstruktiv. 

Es ist interessant, diese Dinge in uns selbst zu identifizieren. Es gibt jede Menge Worte, aber um wirklich zu wissen, worum es hier geht, ist es notwendig, all diese verschiedenen Dinge, über die wir im Buddhismus reden, in uns selbst zu erkennen, ansonsten macht es nicht viel Sinn. Da könnte man genauso gut die Namen von Insekten lernen. Einmal habe ich meine Schüler in Berlin gefragt, warum sich nicht betrügen oder lügen. Warum eigentlich? Habt ihr wirklich Angst davor, in die Hölle zu kommen? Nun, niemand hatte Angst, deswegen in die Hölle zu kommen. Warum lügen und betrügen wir also nicht? Denkt einfach einmal darüber nach. Es wäre interessant, dieses Thema einmal miteinander zu sprechen, wenn wir die Zeit dafür hätten. Leider haben wir sie aber nicht, tut mir leid. 

Die Schlussfolgerung der meisten in meinem Kurs war, dass es sich einfach nicht richtig anfühlt. Der Grund war für uns nicht, weil es gesetzlich verboten wäre oder wir auf tiefe, philosophische Weise darüber nachdachten. Es fühlt sich einfach nicht gut an. Das ist der Sinn der moralischen Selbstachtung. Wir denken: „Das würde ich nicht tun. Ich halte mehr von mir selbst, als dass ich so handeln würde.“ 

Ist es nicht so? Warum mache ich beispielsweise keine große Szene und schreie vor allen anderen herum, wenn ich wütend bin? Weil ich mehr von mir halte, als so etwas zu tun, andere dazu zu bringen, schlecht über mich zu denken. Es fühlt sich einfach nicht richtig an und daher beherrsche ich mich. Wenn jemand in der U-Bahn die Person, die neben ihm sitzt, anschreit und eine große Szene macht, verursacht er damit eine Störung für alle anderen. Ihm ist es egal, was alle anderen denken, wenn er sich so aufführt. Er ist außer Kontrolle. Außer Kontrolle zu sein ist die Definition einer störenden Emotion. Es ist wichtig, diese Dinge in sich zu erkennen und zu wissen, worum es dabei wirklich geht. 

Was macht konstruktives und destruktives Verhalten befleckt?

Sowohl befleckt-konstruktive als auch destruktive karmische Dränge und Pfade des Karmas werden durch die zweite Art von Unwissenheit hervorgebracht und begleitet. Hierbei handelt es sich um die Unwissenheit darüber, wie wir und wie andere als Personen existieren und des betrifft konstruktive und destruktive Phänomene. Worum geht es hier? Sehen wir uns befleckt-konstruktive karmische Dränge an. 

Auch wenn sie von Mitgefühl getragen werden, sind sie zwanghaft in dem Sinne, dass sie auf eine vergebliche Weise ausgeführt werden, die uns selbst Sicherheit geben und unsere Existenz bestätigen sollen. Ein Beispiel dafür wäre es, zwanghaft die Grammatik anderer Leute korrigieren zu müssen. Hier gibt es auch eine störende Geisteshaltung, die als verblendete Auffassung in Bezug auf ein vergängliches Netzwerk bezeichnet wird. Im Grunde handelt es sich um eine verblendete Auffassung in Bezug auf unsere Aggregate.

Mit dieser Geisteshaltung suchen wir nach etwas in unseren Aggregaten, in dem was wir erfahren, um uns daran als Basis für unser Greifen nach einem wahren „Ich“ einzuklinken – in diesem Beispiel unser Wissen über Grammatik. Mit dieser Geisteshaltung setzt dann die Projektion bzw. das Greifen nach dieser Basis als „ich“ oder „mein“ ein und wird von dieser Auffassung begleitet. Wir streben danach, es zu einer Basis zu machen, auf die wir durch das Greifen nach einer unmöglichen Art des „Ichs“, ein „Ich“ oder „Mein“, also ein wahrhaft solides „Ich“ projizieren. Das Projizieren geht nicht von der störenden Geisteshaltung selbst sondern von dem Greifen aus. Die störende Geisteshaltung ist einfach etwas, das sich an Dinge wie meine Intelligenz und meins einklinkt, und durch das Greifen findet dann das Projizieren statt. Daher wird diese störende Geisteshaltung von einer Auffassung begleitet und dem einhergehend natürlich auch von der Unwissenheit darüber, wie wir existieren. 

Es handelt sich um eine Kombination dieser drei Unruhestifter: die verblendete Auffassung in Bezug auf ein vergängliches Netzwerk, das Greifen nach einem „Ich“ und das fehlende Gewahrsein, nicht zu wissen, wie wir existieren – sie alle kommen zusammen. Jeder hat eine etwas andere Funktion und sie arbeiten zusammen. Im Falle einer physischen Handlung gibt es den zwanghaften konstruktiven Drang, etwas Konstruktives zu tun, beispielsweise das Haus sauberzumachen und alles in Ordnung zu halten. Warum tun wir das? Um uns sicher und geborgen zu fühlen und das Gefühl zu haben, wir hätten alles unter Kontrolle. Wir klammern uns an das saubere Haus. Das bin ich; ich bin ein guter Haushälter.

Dieses vermeintlich solide „Ich“ hofft nun, sich sicher und gut zu fühlen, weil dieses schöne und saubere Haus meins ist. Alles ist gut. Tatsächlich fühlen wir uns jedoch unsicher und auf diese Weise drückt sich die Unwissenheit darüber, wie wir existieren, aus. Wenn ein Blatt Papier vom Tisch fällt, ist das eine kleine Katastrophe, denn wir denken zwanghaft, dass wir sauber und gut sein müssen. Wir müssen von Neuem alles saubermachen und das auf zwanghafte Weise. Es ist nichts Falsches daran, das Haus sauber zu halten, aber in diesem Fall tun wir es mit der irrigen Vorstellung, nur so zu existieren und ein guter und sauberer Mensch zu sein, wenn unser Haus sauber ist. Könnt ihr diese Faktoren hier erkennen?

Ein anderes Beispiel wäre der zwanghafte Drang, anderen zu helfen. Vielleicht wollen wir unserer Tochter, die bereits verheiratet ist, helfen, ihre Kinder großzuziehen. Sie will es eigentlich gar nicht, aber auf zwanghafte Weise haben wir das Gefühl, unsere Ratschläge geben zu müssen. Warum tun wir das? Wir tun es, um uns nützlich und gebraucht zu fühlen und einfach ein gutes Gefühl zu haben, da wir hilfreich sind. Wir meinen: „Das ist mein guter Ratschlag; diese nützliche Hilfe kommt von mir.” 

Was gewissermaßen dahinter steckt, ist eine aus Unsicherheit hervorgehende Bestätigung unserer Existenz. Wir sind unsicher, weil wir denken, da gäbe es dieses solide „ich“, das Sicherheit braucht, indem es gut und hilfreich ist. Das verstehen wir unter einem befleckt-konstruktiven zwanghaften Verhalten. Warum ist es zwanghaft? Es ist zwanghaft, weil es mit diesem Missverständnis „befleckt“ ist. Wir tun es, um uns selbst gut zu fühlen, zu merken, dass es uns gibt und wir uns nützlich fühlen können.  

Es gibt zwanghaft konstruktive verbale Handlungen, wie beispielsweise das Rezitieren von Mantras und solcher Dinge, um ein guter Praktizierender zu sein. Wir denken: „Die Rezitation und Ansammlung von 100.000 Mantras habe ich vollbracht. Ich bin gut und habe bewiesen, dass ich ein guter Praktizierender bin, weil ich 100.000 Stück davon ausgeführt habe.“ Das gibt mir, diesem soliden „Ich“, ein Gefühl der Sicherheit, als ob man Sicherheit dadurch bekäme, etwas 100.000 Mal zu rezitieren. Das Gleiche würde auf eine geistige Aktivität zutreffen, bei der wir beispielsweise die Mantras im Geist rezitieren. Die Handlung selbst ist nicht das Problem, sondern die Zwanghaftigkeit, die ihr zugrunde liegt und dieser ganze Mechanismus von „ich“ und „mein“ – zu denken, es würde „mich“ sicher machen und „mir“ ein gutes Gefühl geben; das ist das Problem. Das macht es zu etwas Zwanghaftem oder Neurotischem, wie man es im Westen ausdrücken würde. 

Zusammenfassung

Das ist die grundlegende Betrachtungsweise des Karmas und seiner Bedeutung im System von Asanga. Bei all diesen Dingen gilt es, sich an das Wichtigste zu erinnern: der größte Unruhestifter in uns ist die Zwanghaftigkeit, die uns dazu bringt, auf zwanghafte und neurotische Weise entweder destruktiv oder konstruktiv zu handeln. Dieser Zwang, der von störenden Emotionen begleitet wird, führt im Grunde dazu, unglücklich zu sein, wenn man auf destruktive Weise handelt. Er führt dazu, dass wir unglücklich sind, weil wir zwanghaft den Drang verspüren, zu schreien; wir verspüren den zwanghaften Drang, selbstsüchtig oder fordernd zu sein. Es geschieht unkontrolliert und führt dazu, dass wir unglücklich sind. 

Es gibt auch zwanghaftes konstruktives Verhalten, wie beispielsweise ständig das Haus aufräumen zu müssen, immer zu versuchen, perfekt zu sein usw. Das gibt uns das Gefühl, glücklich zu sein. Dieses Glück ist jedoch nicht von Dauer, da wir niemals zufrieden sind. Deswegen müssen wir dann etwas anderes tun, um zu beweisen, wie perfekt wir sind. Wir sind jedoch nie perfekt genug und daher ist es vollkommen neurotisch. Jedes Mal, wenn die Dinge ein wenig perfekt zu sein scheinen, fühlt es sich gut an – aber es ist nicht gut genug. Ich denke, der Perfektionismus ist das perfekte Beispiel dafür, worum es bei zwanghaftem konstruktivem Verhalten geht. Ein Perfektionist zu sein, kann einen verrückt machen; besonders wenn wir es in unserer Dharma-Praxis anwenden. Wir meinen, wir müssen perfekt sein, eine richtige Sitzhaltung haben und all diese Dinge, aber auf diese Weise sind wir einfach nie wirklich entspannt. 

Durch all diese Dinge erfahren wir das alles umfassende Leiden. Aus dieser Zwanghaftigkeit heraus werden wir zwanghaft wiedergeboren und haben einen Körper und einen Geist, mit denen wir nur noch mehr zwanghafte Dränge erleben. Das folgende Beispiel ist vielleicht nicht wirklich passend, aber es ist eine schöne Analogie. 

Wir befinden uns mit jemandem in einer ungesunden Beziehung, in der es jede Menge zwanghafte Verhaltensmuster gibt. Wenn die Beziehung endet und wir uns von ihr lösen, lässt sich das mit dem Ende eines Lebens vergleichen. Dann sehen wir uns auf zwanghafte Weise nach einer anderen Beziehung um und gehen sie ein. Aus dem Zwang heraus müssen wir wieder eine Beziehung haben und dann gehen wir sie ein und haben abermals die gleichen zwanghaften Gewohnheiten. Es wiederholt sich einfach und wir lernen nie etwas daraus. Wir gehen einfach nur zwanghaft von einer Beziehung in die nächste und all diese Beziehungen sind ungesund. 

Das ist das alles umfassende Leiden. Solange wir nichts daraus lernen, wird diese Gewohnheit immer zwanghafter und stärker, je mehr wir ungesunde und unglückliche Beziehungen eingehen. Das ist bedauerlich, aber das ist Samsara. Wir sollten uns daraus befreien, denn es macht uns einfach nur verrückt und betrübt, besonders weil es uns wirklich davon abhält, anderen konstruktiv helfen zu können.

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