Interview mit Dr. Alexander Berzin

20:44
Study Buddhism hat sich mit Dr. Alexander Berzin in Berlin, in Deutschland, getroffen und über seine sechzigjährige Involvierung mit dem tibetischen Buddhismus gesprochen.
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Es ist Sonntagmorgen und ich fahre mit dem Auto durch die ungewöhnlich ruhigen Straßen von Berlin. Neben mir sitzt Dr. Alexander Berzin und wir befinden uns auf dem Weg ins MindSpace-Büro im Zentrum Berlins, um dort ein Interview zu machen. Wir kommen an und wie erwartet ist das Büro leer. Ich stelle alle Gerätschaften auf – leider habe ich das Stativ für die Kamera vergessen, die nun auf einem Stapel Bücher positioniert wird – und beginne, den Geist eines des wohl größten buddhistischen Lehrers der heutigen Zeit im Westen zu erforschen. Wer könnte das sein? Dieses Mal richten wir die Scheinwerfer auf Dr. Berzin selbst.

Dr. Alexander Berzin ist ein erfolgreicher buddhistischer Gelehrter, Lehrer, Dozent, Schriftsteller, Übersetzer und natürlich der Begründer dieser Webseite. In der Hochphase der Hippie-Bewegung 1969 ging Dr. Berzin nach Indien, jedoch nicht selbst als ein Hippie, sondern um bei den Tibetern für sein Harvard PhD Forschungsarbeit zu betreiben und zog 1972, nachdem er seinen Titel erhalten hatte, nach Dharamsala. Dort studierte er mit den herausragendsten tibetisch-buddhistischen Lehrern des 20. Jahrhunderts und wurde ein vertrauter Schüler und Übersetzer von Tsenshap Serkong Rinpoche, einem der Tutors Seiner Heiligkeit des Dalai Lama. In den darauffolgenden 29 Jahren sammelte Dr. Berzin in Indien eine große Menge an Texten an – mehr als 30.000 Seiten unveröffentlichter Manuskripte von Büchern, Artikeln und Transkriptionen. Dann zog er nach Berlin und entschied sich, die „Berzin Archives“ Webseite zu gründen, um sie allen zugänglich zu machen. Die Webseite änderte 2015 ihren Namen und heißt jetzt „Study Buddhism“. Momentan werden Inhalte in 32 Sprachen veröffentlicht und erreichen somit die ganze Welt.

Mit 60 Jahren buddhistischer Weisheit ist Dr. Berzin eine Quelle von Wissen und wahrhaft in der Lage, die buddhistischen Lehren in unserer modernen Zeit verfügbar zu machen. Er lehrte in über 70 Ländern und war ein Wegbereiter bei der Erstellung grundlegender buddhistischer Texte in der mongolischen Umgangssprache, was für die Wiederbelebung des Buddhismus in der Mongolei hilfreich war und die Aufnahme eines buddhistisch-muslimischen Dialogs in Universitäten der islamischen Welt einleitete.

In diesem Interview spreche ich mit Dr. Berzin über den Unterschied zwischen spirituellen Lehrern und Therapeuten, darüber, wie wir unsere Emotionen auf gesunde Weise ausdrücken und welche Rolle die analytischen Meditation beim Verstehen unseres Geistes spielt. Viel Spaß!

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Study Buddhism: In den letzten zehn Jahren gab es eine Explosion an Meditationszentren und Online Meditations-Apps. Im Westen wird die Meditation oft als ein Mittel gesehen, um sich zu entspannen, mit dem Denken aufzuhören oder bestenfalls, um Achtsamkeit zu entwickeln und den Geist zu beruhigen. Damit vernachlässigt man jedoch den analytischen Aspekt der Meditation, der eine wichtige Praxis ist, besonders in den tibetischen Traditionen des Buddhismus. Welches Potenzial steckt für westliche Praktizierende in der Meditation? 

Dr. Berzin: Ja, viele Menschen betrachten die Meditation in erster Linie als ein Mittel, um zu Ruhe zu kommen, den Geist zu beruhigen und eine bestimmte Ebene des inneren Friedens zu erreichen. Und das ist natürlich am Anfang sehr wichtig, besonders wenn unser Geist ständig mit wilden Gedanken und Gefühlen abschweift, aber es ist wirklich nur ein Anfang. Im Allgemeinen bedeutet Meditation, eine nützliche Gewohnheit des Geistes zu schaffen.

Natürlich benötigen wir auch Konzentration, aber wie Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt, sollte die eigentliche Betonung auf der analytischen Meditation liegen. Es ist notwendig zu verstehen, was in unserem Geist los ist und uns damit vertraut zu machen, damit wir mehr positive Geisteshaltungen entwickeln und uns mit den Unzulänglichkeiten befassen können, die wir eventuell in uns finden.

Daher müssen wir uns selbst in der Meditation untersuchen und die Gewohnheit entwickeln, über Folgendes nachzudenken: „Was mache ich aus meinem Leben, was ist mein eigentliches Ziel und was ist meine wichtigste Motivation? Ist das, was ich herausfinde, hilfreich für mich oder ist es etwas, das mir Probleme im Umgang mit anderen Menschen bereitet?“

Indem wir die verschiedenen buddhistischen Methoden erlernen, versuchen wir uns, mit ihnen in der analytischen Meditation vertraut zu machen. Wir betrachten nicht einfach nur die negativen Dinge, die wir getan haben, sondern werfen auch einen Blick auf die positiven und beschäftigen uns eingehender mit ihnen.

So entwickeln wir beispielsweise Wertschätzung gegenüber dem kostbaren Leben, das wir haben und Güte gegenüber uns selbst in Bezug auf all die Bemühung, die wir aufbringen, um Dinge zu lernen – wir lernen zu lesen, unseren Geist zu benutzen, mit Menschen umzugehen, technische Dinge, wie das Autofahren, die Arbeit am Computer, mit der Tastatur zu schreiben und so weiter. Wenn wir uns an all das erinnern, können wir wertschätzen, wie gütig wir tatsächlich gegenüber uns selbst waren. Es ist nicht so, dass wir einfach nur schlecht sind, nie irgendetwas gelernt haben und keine Werte oder ähnliches besitzen.

Das Wichtigste ist, unsere Kontemplation und Meditation auf unser Leben zu übertragen, indem wir solche Gewohnheiten entwickeln, uns mit dieser Art von Erkenntnissen vertraut zu machen und uns in der stillen Meditation an sie erinnern. Seine Heiligkeit der Dalai Lama hebt ebenfalls hervor, dass der entscheidende Punkt der Meditation darin liegt, tatsächlich diese nützlichen Gewohnheiten zu schaffen, die aktive Gewohnheiten, aktive Weisen des Denkens und Handelns, sind. Es geht nicht nur darum, zur Ruhe zu kommen; das ist nur der Anfang.

Meditieren wir auf diese Weise, wird das, mit dem wir uns vertraut gemacht haben, ganz natürlich in unserem täglichen Leben erscheinen. Fangen wir dann an, uns selbst zu bemitleiden und negative Gefühle zu entwickeln, erinnern wir uns: „Moment einmal, eigentlich habe ich es doch ganz gut gemacht!“ Und das ermutigt uns dann.

Neben der Meditation hat auch eine der zentralen Ideen des Buddhismus – jene der Buddha-Natur – einen enormen Einfluss auf die westliche Selbsthilfebewegung gehabt. Ist es ein Problem, den Buddhismus einfach nur als eine Methode der Selbsthilfe zu betrachten? 

Ja, heutzutage nutzen viele Menschen den Buddhismus als eine Art Selbsthilfe oder Therapie und ich halte dies für fragwürdig.

Natürlich können wir große Vorteile daraus ziehen, die buddhistischen Lehren auf diese Weise zu nutzen, denn durch sie können wir tiefgreifende Erkenntnisse über unser Verhalten und unsere Denkweise erlangen. Den Buddhismus lediglich als Selbsthilfe zu betrachten führt jedoch dazu, die Rolle des spirituellen Meisters zu übergehen, und der spirituelle Lehrer ist auf dem buddhistischen Pfad von wirklich großer Bedeutung. Selbstverständlich ist es notwendig, einen qualifizierten buddhistischen Lehrer zu haben und es ist ziemlich selten, jemanden zu finden, der tatsächlich befähigt ist. Es ist erforderlich, die Person einer tiefgründigen Prüfung zu unterziehen, bevor man einen spirituellen Lehrer annimmt. Ein spiritueller Lehrer ist jemand, der nicht nur umfangreiches Wissen in Bezug auf die buddhistischen Lehren, sondern herausragende Qualitäten hat. Es sollte jemand sein, der sich selbst entwickelt und an sich gearbeitet hat und der über emotionale Ausgeglichenheit, Gelassenheit, Verständnis und Güte verfügt.

Gegenüber qualifizierten spirituellen Lehrern sollten wir, indem wir diese Qualitäten respektieren, Überzeugung und Vertrauen entwickeln, dass sie diese Qualitäten tatsächlich besitzen, sowie Wertschätzung und Dankbarkeit für ihre Güte, uns zu lehren, anzuleiten und zu helfen.

Entwickeln wir Respekt für ihre guten Eigenschaften und Wertschätzung für ihre Güte, erlaubt uns das, diesen Respekt und diese Wertschätzung dann auf uns selbst zu übertragen. Haben wir keinen Respekt gegenüber uns selbst und unseren guten Eigenschaften – also keine Wertschätzung dafür, in der Vergangenheit Lesen gelernt zu haben, um Bücher lesen und verstehen zu können, sowie Kommunikation und Umgang mit Menschen – ist es wirklich schwer, weitere gute Eigenschaften, wie jene unseres Lehrers, zu entwickeln. An guten Eigenschaften des Geistes und dem Gefühl des Respektes, der Wertschätzung, Dankbarkeit usw. in Bezug auf unseren Lehrer zu arbeiten und sie zu entwickeln, erlaubt uns, sie auch in uns selbst hervorzubringen. Dann können wir diesen Respekt und diese Wertschätzung von dem Lehrer und uns selbst auf alle anderen um uns herum ausdehnen. 

Eine wirklich positive Einstellung zu haben und die guten Eigenschaften von anderen zu erkennen, ist auch die Grundlage für ethisches Verhalten. Somit ist es wichtig, dass wir sowohl uns selbst als auch andere respektieren und die Güte von uns selbst und anderen anerkennen. Das verleiht uns das Gefühl, nicht allein zu sein, was ein weiterer großer Nutzen ist.

Eine andere Gefahr, den Buddhismus lediglich als eine Methode der Selbsthilfe zu betrachten, besteht darin, unsere Praxis nicht auf den Prüfstand stellen zu können. Wir bekommen keine Rückmeldung darüber, wie wir diese Lehren tatsächlich anwenden. Die Menschen neigen auch dazu, sich die Punkte der Lehren herauszusuchen, die ihnen passen und andere, die sie nicht mögen, einfach zu ignorieren. Sie haben also schon vorher einen Plan, was sie erreichen wollen, während man im Buddhismus mit den Lehren arbeitet, die der Lehrer vermitteln möchte. Der Lehrer führt den Schüler aus der Komfortzone hinaus, damit er an den schwierigen Punkten arbeitet, die er hat.

In den Texten den Geistestrainings gibt es einen Rat, sich die schwierigsten störenden Emotionen als Erstes vorzunehmen und sich wirklich mit ihnen auseinanderzusetzen. Geht es einem nur um Selbsthilfe, geht man das Ganze vielleicht nur auf sehr sanfte Weise an und behandelt sich selbst wie ein Baby. Man geht nicht wirklich tief in die Bereiche, an denen man eigentlich am meisten arbeiten sollte.

Sie haben gerade über die Wichtigkeit der Arbeit mit einem qualifizierten und zuverlässigen spirituellen Lehrer gesprochen und Ihr Buch „Zwischen Freiheit und Unterwerfung: Chancen und Gefahren spiritueller Lehrer-Schüler-Beziehungen“ war für viele Menschen ausgesprochen hilfreich. Im Westen teilen wir gern all unsere persönlichen Probleme mit unseren spirituellen Lehrern und häufig passiert es dann, dass wir sie als eine Art Therapeut betrachten. Kann man diese Rollen vergleichen?

Abgesehen davon, dass der spirituelle Lehrer als ein Vorbild dient, denke ich, dass der ganze Umgang mit einem spirituellen Lehrer etwas völlig anderes ist, als der mit einem Therapeuten.

Wenn wir mit einem Therapeuten arbeiten, sprechen wir über uns selbst und über unsere Probleme, die sehr persönlich sind. Wir teilen viele persönliche Dinge mit dem Therapeuten. Betrachten wir die Beziehung zu einem spirituellen Lehrer, wie sie auf traditionelle Weise gehandhabt wird, so tut man dies keineswegs.

Der Lehrer gibt Anweisungen, erklärt die Lehren und dann liegt es an einem selbst, sie im eigenen Leben umzusetzen. Obwohl viele Westler dem Lehrer gern all ihre persönlichen Erfahrungen mitteilen und persönliche Fragen stellen, ist das eine ziemlich westliche Sache. Traditionell tut man das normalerweise nicht. Die Lehrer fragen die Schüler vielleicht ab, was sie ziemlich häufig tun, und sie testen sie und bringen sie in Situationen, die recht herausfordernd sind. Der Therapeut würde das nicht tun und daher ist es eine ganz andere Dynamik.

Dr. Berzin beim Übersetzen für Serkong Rinpoche in den Niederlanden im Jahr 1980.
Sie waren ein sehr vertrauter Schüler von Tsenshap Serkong Rinpoche in den letzten zehn Jahren seines Lebens. War Ihre Beziehung zu ihm so eine traditionelle Lehrer-Schüler-Beziehung, wie Sie sie gerade beschrieben haben? Und wenn es so war, haben Sie es nicht vermisst, ihre persönlichen Dinge mitteilen zu können?   

Ich hatte mit meinem wichtigsten Lehrer Serkong Rinpoche eine wirklich enge Beziehung, aber er stellte mir nicht ein einziges Mal eine Frage über mein persönliches Leben und so sprach ich nie mit ihm darüber. Es schien vollkommen irrelevant zu sein. 

Als ich nach Indien ging, tat ich es als ein Student, um Forschungsarbeit für meine Doktorarbeit zu machen. In dieser Zeit, in den späten Sechzigern, wurde der Buddhismus, insbesondere der tibetische Buddhismus, als ein totes Studiengebiet präsentiert, wie die Studien zum Alten Ägypten. In Indien sah ich jedoch, dass alles echt war. Ich traf Seine Heiligkeit den Dalai Lama; ich traf seine Lehrer – zu der Zeit war es ganz leicht, den größten Lamas zu begegnen, die all ihr Training in Tibet bekommen hatten – und erkannte, dass der Buddhismus sehr lebendig war. Diese hohen tibetischen Lamas wussten, was die Lehren tatsächlich bedeuteten, und dass sie einfach zu großartig waren, um sie nicht mit der Welt zu teilen. 

Ich wollte mich bis zu einem Punkt entwickeln, an dem ich in der Lage sein würde zu helfen, diese Lehren für alle zugänglich zu machen, und dafür musste ich zunächst besser Tibetisch lernen. Ich hatte bereits eine Grundlage von meinem Studium in Harvard, um die Sprache lesen zu können, jedoch nicht für die gesprochene Sprache. Daran arbeitete ich also in meinen ersten Jahren in Indien, bevor ich begann, bei Serkong Rinpoche zu lernen und schließlich für ihn zu übersetzen. 

Als ich begann bei Serkong Rinpoche zu lernen, erklärte ich ihm: „Ich bin wie ein Esel! Ich gehe mit Leuten nicht auf sehr diplomatische Weise um und bin nicht gerade umgänglich.“ Im Grunde war ich ein akademischer Sonderling und sagte: „Bitte schulen Sie mich, damit ich anderen nützlich sein und helfen kann, Ihre Lehren zu weiterzugeben.“ Für mich bestand der eigentliche Zweck dieser Beziehung zu ihm hauptsächlich darin, mich soweit zu entwickeln, um seine Lehren der Welt zur Verfügung stellen zu können. Die gleiche Geisteshaltung oder die gleiche Herangehensweise hatte ich mit Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama.

Darauf habe ich mich ausgerichtet und so hatte meine Beziehung zu Serkong Rinpoche nicht wirklich etwas mit meiner persönlichen Vergangenheit zu tun. Es war nicht wie mit einem Therapeuten, bei dem es darum geht, wie man sich fühlt, weil die Eltern dies oder die Klassenkameraden jenes getan haben. Das war wirklich vollkommen bedeutungslos. Die Aufgabe bestand darin, anderen zu nutzen, und das war ganz klar. Ich denke, das war einer der Gründe, warum er so viel Zeit und Bemühung aufgebracht hat, um mich zu schulen.

Sie arbeiten viel daran, die buddhistischen Lehren den Westlern zugänglich zu machen und haben in Bezug auf die „emotionale Hygiene“ einen Kurs entwickelt: „Ausgewogene Sensibilität entwickeln“, der sehr hilfreiche Techniken bietet, um emotionale Ausgeglichenheit zu erlangen. Wie können wir unsere Emotionen auf gesunde Weise ausdrücken und mit negativen Emotionen, wie Wut, umgehen, wenn sie hochkommen?  

Haben wir große Aggressionen oder Wut in uns, können wir eine Art von Sport oder etwas anderes machen, um diese aggressive Energie zu verwenden. Haben wir diese Energie dadurch zur Ruhe gebracht, können wir, wenn es etwas gibt, das uns stört oder wenn uns jemand etwas sagt, das uns verletzt, mit einem ruhigeren und friedlicheren Geist klarer darüber nachdenken, wie wir damit umgehen. Befinden wir uns unter dem Einfluss von Wut und sind wir so richtig verletzt, benutzen wir nicht unser Unterscheidungsvermögen und sagen oder tun Dinge, die wir oft später bereuen. Es ist also wirklich wichtig, zuerst zur Ruhe zu kommen.

Und wenn wir diese aggressive Energie rauslassen müssen, um uns beruhigen zu können, sollten wir dies, wie gesagt, auf gesunde Weise tun, wie durch Sport oder Laufen, und uns dann dem Problem zuwenden. Ärgern wir uns wegen jemanden, sollten wir unsere Intelligenz und Feinfühligkeit nutzen und herausfinden, was wir der anderen Person am besten sagen können und natürlich den richtigen Moment dafür abpassen. Tun wir die richtige Sache zur falschen Zeit, funktioniert es nicht. Man muss also auch einen Zeitpunkt wählen, an dem die andere Person empfänglich und nicht verärgert und zornig auf uns ist.

Was die Zuneigung betrifft, so gilt es ebenfalls sensibel dafür zu sein, auf welche Weise die andere Person diese Zuneigung annehmen kann. Es gibt Menschen, die gern umarmt werden, und andere, die es nicht mögen, wenn man sie berührt. Zuneigung kann man auf vielfältige Weise zeigen, indem man etwas für andere tut oder ihnen hilft. Es ist wichtig, dass wir unser Unterscheidungsvermögen zu benutzen. Es geht nicht darum, ob wir uns dabei besser fühlen, sondern was der anderen Person ein besseres Gefühl gibt.

Dr. Berzin zusammen mit Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama im Jahr 1991 in Sofia, Bulgarien, in der Vorbereitung auf ein Treffen mit dem bulgarischen Präsidenten Zhelyu Zhelev.
Wir müssen also zwischen dem unterscheiden, was wir im Moment gerade gern tun würden und was momentan das Beste wäre, und das kann unseren Drang abschwächen, uns destruktiv zu verhalten. Das führt uns zu Ihrer Sichtweise des Karmas, in der Sie es als eine Art Zwanghaftigkeit und nicht als „Handlung“ beschreiben, wie das Wort so oft übersetzt wird. Wie manifestiert sich diese Zwanghaftigkeit und was können wir dagegen tun? 

Im Westen wird „Karma“ für gewöhnlich mit „Handlungen“ übersetzt. Der eigentliche Grund, warum dieses Wort so beschrieben wird, liegt darin, dass das klassische tibetische Wort für Karma das umgangssprachliche tibetische Wort für Handlungen ist. Würde sich Karma jedoch nur auf Handlungen beziehen, wäre die Schlussfolgerung daraus, dass man frei von allen Problemen wäre, wenn man einfach aufhören würde, irgendetwas zu tun. Das ist jedoch keineswegs die Bedeutung von Karma.

Denkt man etwas tiefer darüber nach, bezieht sich Karma auf die Zwanghaftigkeit unseres Verhaltens. Wegen unserem früheren Verhalten und unserer Konditionierung handeln, sprechen und denken wir zwanghaft auf bestimmte Weise. Benutzen wir kein Unterscheidungsvermögen, um zu erkennen, ob das, was wir sagen oder tun werden, nützlich oder schädlich ist, bekommen wir jede Menge Probleme.

Daraus entstehen die Probleme, ob es nun zwanghaftes destruktives Verhalten oder sogar zwanghaftes konstruktives Verhalten ist, wie perfektionistisch zu sein oder jeden korrigieren zu wollen. Damit können wir auch weit über das Ziel hinausschießen und Probleme verursachen. Darum geht es also beim Karma: um die Zwanghaftigkeit unserer Handlungen, die Zwanghaftigkeit unseres Verhaltens. Es ist etwas, das wir überwinden müssen, um zu vermeiden, uns selbst und anderen Probleme zu schaffen.

Zu versuchen, Karma zu verstehen, ist deshalb so wichtig, weil wir oft dazu neigen, etwas zu tun, ohne darüber nachzudenken, und daher sollten wir unser Verhalten untersuchen. Handeln wir zwanghaft auf bestimmte Weise – ob konstruktiv oder destruktiv, ob als Perfektionist oder jemand, der nur sehr negativ ist und andere ständig kritisiert – gilt es, die Auswirkungen unseres Verhaltens zu untersuchen und einzuschätzen. Wie wirkt es sich auf andere und wie wirkt es sich auf uns selbst aus?

Wir müssen unterscheiden, ob das, was wir gern sagen oder tun würden, schädlich oder hilfreich sein wird. Betrachtet man die Lehren zum Karma, so beschreiben sie, dass zunächst der Gedanke erscheint, etwas zu sagen oder zu tun. Oftmals folgt darauf willkürlich das Gefühl oder der Wunsch, es zu sagen oder zu tun. Wenn so ein Gefühl hochkommt, denken wir mitunter zuerst darüber nach und entscheiden dann, es zu sagen oder zu tun, und manchmal sprechen oder handeln wir, ohne zuvor darüber nachzudenken. Aber erst, nachdem dieser Wunsch aufkommt, erscheint der geistige Impuls oder Drang, der uns zwanghaft zum Handeln treibt. Dieser geistige Impuls oder Drang wird als „Karma“ bezeichnet. Ich nenne ihn einen „karmischen Impuls; er ist zwingend und führt zu zwanghaftem Verhalten. Zwischen diesen zwei gibt es jedoch einen Raum – zwischen dem Gedanken und dem Wunsch, etwas zu sagen oder zu tun, sowie zwischen dem Wunsch und dem Entstehen des karmischen Impulses, der uns antreibt, es in die Tat umzusetzen. Durch Meditation schulen wir uns, Dinge zu verlangsamen und durch Selbstprüfung lernen wir, bewusster wahrzunehmen, was in unserem Geist stattfindet. Auf diese Weise sind wir dann in der Lage, diese Räume zu erkennen und als Möglichkeiten zu nutzen, eine Entscheidung zu treffen, dem Gedanken oder Gefühl nachzugehen oder nicht. Können wir uns in dieser kontrollierten Umgebung der Meditation immer vertrauter damit machen, werden wir in der Lage sein, es in unserem täglichen Leben anzuwenden. 

Merken wir, dass etwas, was wir sagen oder tun wollen oder gern sagen oder tun würden, nachteilig oder schädlich sein wird, folgen wir dem großen indischen Meister Shantideva, der sagte: „Verharre einfach wie ein Stück Holz.“ Wir tun es einfach nicht. Dabei geht es nicht darum, etwas zu unterdrücken oder zu verdrängen. Wir benehmen uns gegenüber uns selbst nicht wie ein Polizist, sondern nutzen vielmehr unsere Intelligenz. Sie ist unser größtes Geschenk: als menschliche Wesen besitzen wir die Intelligenz, zwischen dem unterscheiden zu können, was hilfreich und was schädlich ist. Das müssen wir kultivieren und der Buddhismus lehrt uns ziemlich gut, wie man das tun kann.

Nach einer umfangreichen Vortragsreise durch Zentralasien im Jahr 1994 haben Sie begonnen, sich mit dem islamisch-buddhistischen Dialog zu befassen. Sie haben verstanden, welches Potenzial der Dialog für ein größeres Verständnis zwischen religiösen Praktizierenden hat und auch, um zunehmende politische Stabilität in Gebieten zu fördern, in denen zwei oder mehr unterschiedliche Gruppen in enger Nachbarschaft leben. Was hat Sie dazu inspiriert, diese bahnbrechende Arbeit aufzunehmen?  

Ursprünglich, in den 90igern, habe ich mir die Situation in Zentralasien angesehen und bemerkt, dass es dort islamische, buddhistische und orthodox-christliche Kulturen gab. Es gab bereits viele Bemühungen im Bereich der christlich-buddhistischen Beziehungen, jedoch kaum etwas in Bezug auf den Buddhismus und den Islam. Ich dachte, dass die Buddhisten und Muslime hinsichtlich der geopolitischen Situation irgendwie zusammenarbeiten müssten, um in diesem Gebiet harmonisch leben zu können.

Das war meine ursprüngliche Überlegung und als ich einen Blick darauf warf, wie die Geschichte zwischen dem Buddhismus und dem Islam traditionell dargestellt wird, bemerkte ich, dass der Schwerpunkt darauf lag, wie die muslimischen Eroberer in Indien die buddhistischen Klöster zerstört hatten, was meiner Meinung nach doch eine ziemlich einseitige Betrachtungsweise der Interaktion zwischen diesen zwei Kulturen war.

Ich habe also große Nachforschungen betrieben und während meiner Vortragsreisen im Mittleren Osten und Zentralasien mit Professoren und religiösen Oberhäuptern gesprochen, um zu verstehen, was die wirtschaftlichen und politischen Überlegungen in dieser Interaktion waren. Es stellte sich heraus, dass man in jeder Art der historischen Analyse erkennen kann, wie die eigentliche Motivation hinter jeder Eroberung politisch und ökonomisch ist. Das hat mein Interesse weiter geweckt und im Laufe der Zeit gab es dann verschiedene terroristische Handlungen, die dazu führten, dass Muslime immer mehr dämonisiert wurden. Das hielt ich für äußerst bedauerlich und setzte meine Nachforschungen und Diskussionen mit Gelehrten und Oberhäuptern der islamischen Welt fort und begann dort über den Buddhismus zu lehren.

So gab ich zum Beispiel an der Universität von Kairo einen Einführungskurs über den Buddhismus und es kamen 300 Studenten. Sie sagten mir: „Wir sind so isoliert“, in Bezug auf den Mangel an Informationen „und wollen wissen, was los ist.“ Das führte zu der Idee, in der islamischen Welt Informationen über den Buddhismus zur Verfügung zu stellen und auch in buddhistischen Kreisen Informationen über den Islam zu verbreiten, denn die Quelle von Konflikten sind für gewöhnlich Missverständnisse und ein Mangel an Informationen.

Das habe ich Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama berichtet und es interessierte ihn sehr. Als ich dann nach Berlin gezogen bin und mit meiner Webseite begonnen hatte, die damals noch „Berzin Archives“ hieß, ermutigte mich Seine Heiligkeit, dort die grundlegenden buddhistischen Lehren in den wichtigsten islamischen Sprachen verfügbar zu machen. Es ist nicht so, dass wir irgendjemanden zum Buddhismus konvertieren wollen, denn das ist etwas, was man besonders in der muslimischen Gemeinschaft nicht tun sollte. Aber mir war dieser Punkt recht klar, dass die Ursache für die meisten Missverständnisse ein Mangel an Informationen war. Auf meinen Reisen durch die verschiedenen islamischen Länder war dies mein entscheidendes Gefühl.

Mit dieser Arbeit habe ich mich seitdem viel befasst und fand, dass sie wirklich positiv und bereichernd war. Diese zwei Glaubensvorstellungen haben viel gemeinsam, da sie ihre Betonung auf die Entwicklung von Liebe und den Dienst an anderen legen. Die philosophischen Sichtweisen dahinter sind recht unterschiedlich, aber die Auswirkung ist so ziemlich dieselbe.

Dr. Berzin bei einem Treffen zwischen Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama und Dr. Tirmiziou Diallo, dem angestammten Sufi-Oberhaupt Guineas in Dharamsala, Indien.
Sie haben weltweit Buddhismus unterrichtet und ich frage mich, ob Sie das Gefühl hatten, dass man in den verschiedenen Ländern einen Fokus auf unterschiedliche Aspekte des Buddhismus legt. Welche wesentlichen Unterschiede haben sie in den verschiedenen Kulturen bezüglich der Herangehensweise an die buddhistische Praxis bemerkt?

Kulturelle Unterschiede zeigen sich, wenn manche Menschen hingebungsvollen Praktiken größere Bedeutung beimessen, während für andere analytische und rationale Arten der Praxis wichtiger sind. An manchen Orten wollen die Menschen alles gern wie in einem Kurs präsentiert haben, fast wie an einer Universität, da sie dadurch eine bestimmte Art der Struktur und Disziplin bekommen. An anderen Orten sind den Menschen hauptsächlich emotionale Erfahrungen wichtig. Es ist schwer, wirklich etwas Allgemeines darüber zu sagen, wenn man als Lehrer unterwegs ist, aber ich habe immer versucht, an den verschiedenen Orten die Menschen selbst zu fragen, woran sie interessiert sind.

So finden es manche Leute spannend, sich mit ihren eigenen individuellen und persönlichen Problemen auseinanderzusetzen, während andere den Buddhismus als eine Art der Ablenkung davon sehen, sich tatsächlich den Dingen ihres Lebens zuzuwenden. Für sie ist der Buddhismus fast so etwas wie ein Hobby. Das kann man natürlich ganz gut nachvollziehen, denn die Menschen sind sehr beschäftigt mir ihrer Arbeit und der Familie und nicht wirklich viel Zeit für das buddhistische Studium oder die Praxis. Für sie ist es eine Art der Auszeit, wenn sie zu einer Belehrung gehen oder versuchen zu meditieren.

Aber ich denke, dass es wirklich wichtig ist zu versuchen, die buddhistischen Lehren auf eine Weise zu präsentieren, mit der man den Menschen zeigt, wie sie im täglichen Leben anzuwenden ist und die Betonung darauf zu legen, dass im Grunde das tägliche Leben die Praxis ist. Ich versuche stets hervorzuheben, dass Lehren über Geduld, über Vergebung, Friedfertigkeit und dem Beruhigen im täglichen Leben angewendet werden müssen.

Vielen Dank, Dr. Berzin, dass Sie Ihre Gedanken und Erfahrungen mit uns geteilt haben! 
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