Interview mit Khandro Rinpoche

18:56
Study Buddhism traf Mindrolling Jetsün Khandro Rinpoche auf ihrer Vortragsreise durch Europa im schönen Dharma Mati Zentrum in Berlin, um von einem der wenigen weiblichen Lamas des tibetischen Buddhismus einen Einblick in den Buddhismus zu bekommen.
Andere Sprache
Image%201

Als ich begann, ein Interesse am tibetischen Buddhismus zu entwickeln, war eines der ersten Bücher, das ich las, „Wertvolles Leben: Der Weg des tibetischen Buddhismus“ von einer tibetischen Lehrerin, von der ich bis dahin nie etwas gehört hatte. Die aufschlussreichen Lehren in diesem Buch, die mit solch einer Klarheit und Schönheit ausgedrückt wurden, trieben mich an, mehr und mehr lernen zu wollen. Und das ist der Grund meiner Aufregung wegen dem heutigen Interview. Wir befinden uns im Dharma Mati Zentrum im äußersten Westen Berlins und werden einen der höchsten weiblichen Lamas unserer Zeit treffen.

Ihre Eminenz Mindrolling Jetsün Khandro Rinpoche ist eine Vertreterin einer einzigartigen Übertragungslinie weiblicher Meister, bekannt als die Jetsünma-Linie, und die Tochter des bekannten Mindrolling Trichen Rinpoche, dem Thronhalter der illustren Mindrolling-Linie der Nyingma-Tradition. Im Alter von zwei Jahren wurde sie von Seiner Heiligkeit dem Sechzehnten Karmapa als Reinkarnation von Khandro Orgyen Tsomo, einer ehrwürdigen weiblichen Meisterin anerkannt, die einen Großteil ihres Lebens im Retreat verbrachte. 

Als Bewahrer der Kagyü- und Nyingma-Linien ist sie aktiv mit dem Mindrolling Kloster und dem Samten Tse Retreat Centre in Mussoorie, Indien, verbunden, das sie als einen Ort zum Studieren und für den Retreat für Nonnen und westliche Laienpraktizierende gegründet hat. Khandro Rinpoche leitet mehrere gemeinnützige Organisationen in Indien als Vermächtnis der Vision ihres Wurzelgurus und Vaters Trichen Rinpoche, der es für buddhistische Praktizierende als maßgebend erachtete, Handlungen auszuführen, die anderen nützen. 

Sie ist bekannt für ihren direkten, sachlichen und humorvollen Unterrichtsstil. Und auch hier, in diesem Interview, enttäuscht sie uns nicht!

Study Buddhism: Rinpoche, durch Ihre umfangreichen Vortragsreisen, die sie in den letzten Jahrzehnten weltweit unternahmen, kennen Sie sich gut aus in Bezug auf die Entwicklung des Buddhismus im Westen. Der Zugang zu Dharmalehren scheint besonders online exponentiell anzuwachsen. Ist dieser ziemlich einfache Zugang zum Dharma wirklich ein positives Phänomen?

Khandro Rinpoche: Ich habe in den späten 80igern mit meinen Reisen begonnen und wenn ich zurückblicke, werde ich etwas nostalgisch, was diese Zeit betrifft, denn als der Buddhismus in den Westen kam, gab es diese von Herzen kommende Inspiration. Es gab weniger Dharma-Zentren und weniger Lehrer, doch ich war beeindruckt von der Karawane der Menschen, die ihre Jobs und Familien hinter sich ließen und den Lehrern folgten, die im Sommer zu Besuch kamen. In den Dharma-Zentren gab es keine angemessene Unterbringung und so waren die Felder ringsherum voller Zelte. In Regen und Schnee waren sie dort und praktizierten ergeben und gewissenhaft.

In den letzten paar Jahren, besonders in den letzten zehn Jahren, haben sich die Dinge verändert. Jetzt sind wir alle sehr organisiert, es gibt riesige Dharma-Zentren, die gut ausgerüstet sind und vollständige und intensive Programme und Materialien anbieten. Obwohl das natürlich wunderbar ist, vermisse ich die Einfachheit der alten Zeiten, wie das Leben in einem Zelt. Ich weiß nicht, wie viel davon Nostalgie ist.

Die Menschen studieren und lernen mehr. Der Dharma ist für die gewöhnlichen Leute oder jene, die keine ernsthaften Mönche, Nonnen oder Yogis sind, nie zugänglicher gewesen, wie in der heutigen Zeit, was ich sehr begrüße. Die Lehren Buddhas konnten entstehen und haben sich mit einer Gemeinschaft von Menschen verbunden, die keine stereotypen religiösen Menschen sind, was meiner Meinung nach großartig ist.

Gleichzeitig kann es aber auch seine Kehrseiten haben, wenn der Dharma so zugänglich ist. Ich weiß nicht, wie viele in der Lage sein werden, die Kostbarkeit der Lehren Buddhas zu erkennen, wenn wir so einfach auf sie zugreifen können. Natürlich werden die Lehrer und Schüler wahrscheinlich geschickte Wege finden, die Kostbarkeit des Dharmas verständlich zu machen.

Was ich sehe, ist die Tendenz einer immer schwächer werdenden Wertschätzung und erforderlichen Sorgfalt, wenn die Lehren zu leicht zugänglich sind. Auch habe ich das Gefühl, dass die Kanten noch immer ziemlich stumpf sind. Eine echte Schärfe der Weisheit, die kommen muss und die Kraft des Durchschneidens hat, ist noch nicht zu erkennen. Was ich anstrebe und sehen möchte, ist, dass wir uns nicht in der „Vergesellschaftung“ des Ganzen verlieren.

Auch wenn Meditation und Achtsamkeit weitverbreitet und wohlbekannt sind, merke ich, dass viele Menschen – sogar jene, die den Buddhismus studieren – kaum wissen, was Meditation ist oder was der Sinn von Meditation ist. Welchen Arten von Missverständnissen begegnen Sie als Lehrer für gewöhnlich im Hinblick auf die Meditation?

Einmal wollte jemand mehr über die Meditation erfahren und so fragte ich ihn, ob er denn meditiere, worauf er antwortete: „Nein, nein! Ich meditiere nicht. So viele Stunden kann ich doch nicht still sitzen.“ Das gab mir zu denken, wie die Menschen in der heutigen Welt die Meditation interpretieren.

Sie meinen, die Meditation wäre beschränkt darauf, für viele Stunden in einer umständlichen Körperhaltung zu sitzen. Nun, das ist eine Möglichkeit! Das ist die Meditation, wie sie auf dem Poster gezeigt wird. Bei der Meditation geht es jedoch auch um sanftes Beobachten und um Wachsamkeit. Das betone ich immer. Bevor man überhaupt darüber nachdenkt, eine Meditierender zu sein, muss man die natürliche menschliche Fähigkeit der Wachsamkeit und des Beobachtens einfacher Dinge üben: wie man spricht, wie man isst, wie man denkt. Beispielsweise wurde es uns so eingetrichtert, einer Person, die wir treffen, zu sagen: „Wie schön dich zu sehen!“, obwohl wir in unserem Geist vielleicht genau das Gegenteil denken!

Khandro Rinpoche als junge Praktizierende.

Meditation wäre, so etwas zu beobachten und sich zu fragen: „Warum habe ich das eigentlich getan?“ Nicht das man einfach hingehen und sagen sollte: „dich wollte ich eigentlich vermeiden“, aber man sollte sich bewusst darüber sein, warum man es nicht auf ehrliche Weise ausdrücken konnte. Ein anderer Aspekt der Meditation wäre, dass man als ein Mensch daran arbeiten könnte, an einem bestimmten Zeitpunkt gegenüber sich selbst ehrlicher zu sein.

Weil man der Schöpfer seiner eigenen Erfahrungen ist, erschafft man selbst eine Erfahrung, die man ständig hat, eine Erfahrung des Glücklichseins oder eine Erfahrung des Wohlergehens, der Freundschaft oder was auch immer. Das ist ein wichtiger Aspekt der Meditation, den man verstehen sollte. Natürlich mögen traditionelle Formen der Schulung von Körper, Rede und Geist ebenfalls hilfreich bei dieser Art des Erkennens sein und sie ergiebiger, produktiver und konstruktiver machen.

Wie Sie sagen, sind wir die Schöpfer unserer eigenen Erfahrungen: durch die Kraft oder vielmehr die Verwirrung unseres Geistes, können wir Leiden für uns selbst hervorrufen. Ich habe einen Freund, der jeden Freitag stöhnt, eine höllische Woche gehabt zu haben. Was ist das buddhistische Verständnis der Hölle?

Ich scherze immer mit meinen Freunden, die mit einem christlichen Hintergrund zum Buddhismus kommen, dass sie damals im Christentum mit nur einer Hölle klarkommen mussten, was schon zu viel war, und jetzt zum Buddhismus kommen, wo es achtzehn Höllenbereiche gibt. Es ist, als würde man vom Regen in die Traufe fallen!

Hat man ein äußerst engstirniges und begrenztes Verständnis über die Kapazität des geistigen Potenzials für begriffliches Erfassen, erschafft man sich eine ganz kleine Welt um sich herum, in der bestimmte Dinge möglich und andere unmöglich sind. In diesem Fall sollte man sich nicht damit herumärgern, das buddhistische Konzept von höllischen Bereichen zu verstehen. Wenn man es nicht glaubt, dann ist das einfach so, und das ist eine Weise, sich damit zu befassen.

Stattdessen versuchen wir, das kreative Potenzial des Geistes zu verstehen. Dann vergrößern wir es und kommen aus unserer kleinen Welt heraus, um erst einmal das grenzenlose Potenzial des Erschaffens zu erkennen, über das unser Geist verfügt.

Lächelt man beispielsweise einer Person zu, an der man vorbeigeht und die Person lächelt nicht zurück, kann der Geist daraus eine ganze Geschichte produzieren. Man kann eine ganze Doktorarbeit darüber schreiben, wie gut oder schlecht man selbst oder die andere Person ist und welche Probleme es mit kulturellen Unterschieden oder der Zuwanderung gibt.

Unser Geist ist so kreativ und wirft man einen Blick auf das kreative Potenzial des eigenen Geistes, beginnt man zu verstehen, dass er selbst eigene Welten von Erfahrungen erschaffen kann.

Die Hölle und das ganze Konzept der Hölle ist nur so ein winziges Beispiel der Qualen und gewaltigen Leiden, die unser Geist tatsächlich erschaffen kann. Interpretiert man es auf diese Weise, ist es nicht schwer zu verstehen. Die achtzehn höllischen Bereiche sind nur ein Bruchteil der grenzenlosen Schöpfung verschiedener Höllen hier und anderswo.

Ist die Schulung unseres Geistes somit der Schlüssel dafür, wie wir das Leben erfahren?

Ja. Hoffnungslosigkeit entsteht, wenn man sich völlig von allem und jedem abhängig macht, um bestimmte Erfahrungen zu bekommen, die man gern machen würde. Die Schulung des Geistes erlaubt einem Individuum, nicht in diesem Zustand der Hoffnungslosigkeit steckenzubleiben.

Man ist nicht abhängig von einer anderen Person, sondern nutzt wirklich die eigene Fähigkeit und Freiheit. Geht man von der völligen Abhängigkeit zur Freiheit, seine eigene Existenz zu kreieren und zu formen, verwirklicht man seine eigenen Erwartungen und Bestrebungen.

Wahre Freiheit kommt, wenn man die eigenen inneren Fähigkeiten erkennt, sie perfektioniert und sie wirklich die Grundlage der eigenen Existenz werden lässt.

Manchmal ist es vermutlich schwierig zu verstehen, wie man die eigenen Fähigkeiten und Freiheiten nutzen und verstehen kann, wie kostbar es wirklich ist, als ein Mensch geboren worden zu sein. Die meisten von uns gehen wahrscheinlich mit einem Gefühl der Gleichgültigkeit gegenüber allem durch den Tag. Was kann man gegen dieses Gefühl tun?

Das Leben ist kostbar, denn in dieser menschlichen Form sind unsere Sinne, unsere Erfahrung, Emotionen und Gefühle alle in unserem eigenen geistigen Gewahrsein verwurzelt. Das ist ein außergewöhnliches Geschenk. Die Fähigkeit, Dinge geschehen zu lassen, diesen Augenblick wirklich zu einem glücklichen, freudvollen und konstruktivem zu machen, ist ein Potenzial, das wir alle als Menschen haben. Und wir verfügen nicht nur über dieses Potenzial, sondern auch über den zusätzlichen Vorteil, die Intelligenz zu haben, mit der wir es erkennen.

Das macht sie zu einer der kostbarsten Existenz von allen. Traditionell könnte ich die achtzehn Qualitäten aufzählen, aber sie alle kommen in dieser einen Sache zusammen, nämlich, dass alle Ursachen und Bedingungen uns damit ausrüsten, der Schöpfer, der Direktor, der Maler, der Bildhauer eines Momentes zu sein. Wer sonst genießt solche eine Freiheit und Fähigkeit außer ein menschliches Wesen? Das ist es, was die menschliche Existenz so kostbar macht.

Khandro Rinpoche auf einer Vortragsreise durch Taiwan, 2019.
Heutzutage sind die sozialen Medien ein fester Bestandteil des Lebens, besonders für die jüngeren Generationen. Auf den verschiedenen Internetplattformen werden wir ständig mit verschiedenen Informationen, Sichtweisen und neueren „Wahrheiten“ überflutet. Wie können junge Menschen lernen, diese oft tückischen Erfahrungen zu steuern?

Ich würde junge Menschen gern dazu ermutigen, miteinander zu sprechen, Ideen auszutauschen und ihre Erfahrungen im Leben zu hinterfragen. Dieser Austausch kann nie konstruktiv sein, wenn wir den eigenen Geist begrenzen und denken, jemand müsste eine Umgebung erschaffen, in der diese Fragen angesprochen werden können. Wir denken, wir könnten alles in Google eintippen und auf diese Weise eine Lösung finden, aber das wird nicht passieren. Wir selbst müssen aufstehen und uns bemühen.

Junge Menschen von heute sollten wirklich verstehen, wie wichtig es ist, sich in Bezug auf die Fragen und Antworten nicht auf Anführer zu verlassen, sondern den Mut haben, den Dialog und die Untersuchung in die Hand zu nehmen. Wir müssen die Anführer unseres eigenen Selbst sein, um den Mut für Fragen und die Suche nach Antworten haben zu können.

Eine andere Sache, die uns heutzutage beschäftigt, ist, dass wir mit so leichtem Zugang zu Informationen ganz klar die soziale Ungleichheit, die kriegstreiberischen Ängste und die Umweltzerstörung erkennen können, die dem Planeten scheinbar durch eine Handvoll Individuen zugefügt werden. Wie können wir Mitgefühl für jene entwickeln, die der Welt solche Schmerzen und Leiden zufügen?

Es ist nicht leicht, unvoreingenommenes Mitgefühl zu haben, wenn es im Geistesstrom nicht schon etwas früher da ist. Wir müssen mit den ursächlichen Faktoren arbeiten und das wird in den Mahayana-Lehren wunderschön erklärt.

Es ist wirklich notwendig zu verstehen, dass wir durch unseren Austausch mit anderen viel Güte empfangen, und dass das Konzept von „mütterlichen fühlenden Wesen“ in den buddhistischen Lehren nicht nur poetisch ist. Die Entstehung jeder Geisteshaltung der Güte und des Mitgefühls ist auf ein Erkennen zurückzuführen, wie sehr wir uns auf der Empfängerseite der Güte und des Mitgefühls anderer befinden, ob durch unsere tatsächliche Mutter oder irgendjemand anderem.

Sogar beim Trinken einer Tasse Tee ist es notwendig, das Gesamtbild zu sehen und zu verstehen, wie viele Individuen ihren Beitrag geleistet haben, um diesen Moment zu ermöglichen. Ignorieren wir diese Tatsache, beginnen wir einen Geist zu entwickeln, der eine ziemlich individualistische, verhärtete Art von Insel ist, was Mitgefühl und die Praxis des Mitgefühls schwierig macht. Das liegt daran, dass wir denken, wir wären ein Individuum, was ungebunden ist und absolut keinen Bezug zu anderen hat.

Verstehen wir jedoch die Verbundenheit und gegenseitige Wechselbeziehung zwischen uns und allen andern, kommen wir in unserem Geist zu einem Punkt, an dem wir erkennen, wie viel wir eigentlich bekommen. Wir können Danke sagen und darüber nachdenken, wie wir all das, was wir empfangen haben, bestmöglich erwidern können. Ohne diese Art des Verständnisses kann leicht die herablassende Geisteshaltung entstehen, mit der wir meinen, die Guten zu sein, die stets Mitgefühl geben und nichts dafür bekommen.

Die wunderschöne Buddha-Statue, von der man bei der Ankunft im Dharma Mati Zentrum in Berlin begrüßt wird.
Würden wir das, worüber Sie gerade gesprochen haben, als gewöhnliches Mitgefühl bezeichnen? Im Buddhismus wird auch über unermessliches Mitgefühl gesprochen. Was ist der Unterschied?

Unermessliches Mitgefühl kann man von dem Standpunkt aus, dass es sich um eine unermessliche Qualität handelt, nicht in einem Wort zusammenfassen. Aus diesem Grund verfügen wir im Rahmen der unermesslichen Lehren über unermessliche Liebe, unermessliche Güte, unermessliche Freude und unermesslichen Gleichmut. Damit wir wahrhaft von unermesslichem Mitgefühl sprechen können, muss es die Essenz all dieser vier und noch weiterer Qualitäten erfüllen. Die Basis von allem, was wir tun, sagen und denken müsste mit großer Aufmerksamkeit gegenüber anderen durchtränkt sein. Wenn wir etwas sagen, sollte der zugrunde liegende Duft dieses Augenblicks die Frage sein: „Wäre es gut für den anderen?“ 

Ich möchte gern auf das Missverständnis buddhistischer Themen zurückkommen. Ich denke, viele Menschen, die nicht viel über den Buddhismus wissen, glauben, es wäre alles so schön, leicht und unbeschwert, eine Philosophie, bei der man machen kann, was man gern möchte. Und dann sind Anfänger, wenn sie die Lehren Buddhas näher betrachten, erstaunt und vielleicht sogar entmutigt, weil es nur um Leiden, Unbeständigkeit und Tod geht! Was würden Sie zu solchen Menschen sagen?

Es ist fast so, als hätte jemand ein Gerücht verbreitet, dass Unbeständigkeit etwas Schlechtes sei und wir seitdem zur Überzeugung gelangt sind, dass es im Buddhismus nur um Unbeständigkeit, Leiden und düstere Themen geht. Dennoch sagen uns alle buddhistischen Lehrer immer, Unbeständigkeit wäre etwas Gutes.

Meiner Meinung nach sollten wir es anders sehen. Wir sollten die Unbeständigkeit folgendermaßen betrachten: „Aus diesem Grund wird es vorbeigehen, aus diesem Grund werden auch Leiden enden, und aus diesem Grund gibt es Tod, Wiedergeburt und Geburt.“ Weil es sich ändert, wird etwas Neues kommen.

Daher feiern wir ja auch das Neue Jahr. Es geht um einen neuen Anfang, die Frische eines Tages. Aber wir nehmen das als Vorwand, das Potenzial zu zelebrieren, eine weitere Chance zu haben und das ist etwas Gutes.

Ich glaube, die ganze Idee des Nachdenkens über den Tod und die Unbeständigkeit besteht darin, den gegenwärtigen Augenblick zu schätzen. Über Unbeständigkeit und Tod nachzudenken, ist ein wichtiger Aspekt der buddhistischen Kontemplation. Ich liebe die Geschichte von Milarepa, in der er sagt: „Der Tod und die Unbeständigkeit, sowie das, was zum Zeitpunkt des Todes und nach dem Tod geschieht, haben mich inspiriert, in die Berge zu gehen und zu meditieren, bis ich keine Angst mehr vor dem Tod habe.“

Das ist wunderschön. Es muss richtig verstanden werden. Die ganze buddhistische Sichtweise in Bezug auf die Kontemplation der Unbeständigkeit erlaubt uns, Veränderung wahrzunehmen und zu sehen, dass alles von Natur aus vergänglich, austauschbar und endlich ist.

Menschen könnten sich entspannen und hätten mehr Humor in ihrem Leben, wenn sie diese Perspektive der Veränderung und der vergänglichen Natur des Selbst und allem anderen verstehen würden.

In der Kontemplation der Unbeständigkeit und des Todes gibt es also auch Licht, was man ebenfalls verstehen sollte. Denn wenn man es nur vom Standpunkt betrachtet, ein schlechtes Gefühl zu bekommen und trübselig zu sein, verliert man den ganzen Sinn der Kontemplation von Unbeständigkeit und Tod. Sie bringt keinen Nutzen, wenn sie uns schwächer werden lässt.

Khandro Rinpoche nach unserem Interview auf dem Dachgarten im Dharma Mati Zentrum in Berlin
Als eine tibetische Frau, die als Lehrer tätig ist, sind sie ziemlich einzigartig – in den letzten paar Jahrzehnten können wir die Anzahl weiblicher tibetischer Lamas, die im Westen unterrichtet haben, fast an einer Hand abzählen. Wie in den meisten Religionen und Kulturen der Welt, waren auch die Frauen in den buddhistischen Kulturkreisen mit Vorurteilen konfrontiert. Wie haben Sie solche Vorurteile überwunden?

Bis vor etwa 20 Jahren gab es sehr wenig herausragende weibliche Lehrer, was meiner Meinung nach an fehlender Ausbildung lag. Kulturkreise im Osten, in Indien, in Tibet und wo immer sich der Buddhismus entwickelte, waren ziemlich patriarchalisch. In einer patriarchalischen Gesellschaft werden die Möglichkeiten für Frauen eingeschränkt, zu studieren und unabhängig zu sein.

Um jedoch irgendeine Art der Verwirklichung oder des Verständnisses zu manifestieren, muss man studieren und unabhängig sein. Es ist falsch, wenn man sich vorstellt, Bodhisattvas würden einfach aus dem Himmel fallen und automatisch als Frauen, Männer oder was auch immer erscheinen. Es ist viel harte Arbeit damit verbunden: man muss lernen, praktizieren, ins Retreat gehen. Man muss unabhängig sein, um Erfahrungen und Verwirklichungen zu machen. Frauen haben diese Möglichkeiten oft nicht gehabt und daher gab es nur sehr wenige.

Zum Glück scheint sich das aber zu ändern. Ich denke, die Ausbildungsmöglichkeiten für Frauen haben sich nun deutlich gesteigert und sie werden ziemlich ehrgeizig und gelehrt.

Während es in vielen schriftlichen Quellen keine abwertenden Bemerkungen oder voreingenommenen Auffassungen gegenüber Frauen gibt, ist es in den Traditionen des Mahamudra und Dzogchen das genaue Gegenteil. Man muss sie jedoch als literarische Werke von Gelehrten und Meistern sehen, die ihre eigenen Meinungen hatten, weil sie in solch einer Art von Gesellschaft aufgewachsen sind.

Oft heißte es dort: „Möge ich nicht als eine Frau wiedergeboren werden.“ In manchen buddhistischen Gebeten ist das eine ziemlich häufige Aussage, die Menschen wirklich schockiert, die zum Buddhismus kommen, und eigentlich denken, dort ginge es ausschließlich um eine Wahrheit, unvoreingenommenes Mitgefühl und Selbstlosigkeit. Und dann finden sie solch eine Diskriminierung. Frauen finden das ausgesprochen irritierend, äußerst respektlos und entmutigend. Man muss jedoch verstehen, dass es sich dabei um literarische Werke und Interpretationen der Anschauung von Einzelnen handelt.

Ich habe nie zugelassen, dass mich das irgendwie blockiert. Ich bin zu meinen Lehrern gegangen, besonders zu meinem Vater, und habe mich darüber beschwert und gesagt: „Schau, das habt ihr alle über die Frauen geschrieben. Wie kann das nicht im Widerspruch zu den Belehrungen stehen, die gerade neulich gegeben wurden?“

Und Rinpoche antwortete, dass der Dharma letztendlich die Sicht ist und man ihn untersuchen, überdenken und erfahren muss. Und beruhend auf dem eigenen Verständnis und nicht dem, was jemand versucht zu sagen, trifft man dann eine Entscheidung. Dieser Ratschlag war für mich überaus hilfreich. Heutzutage sehe ich es mit einer entspannten Geisteshaltung oder mit Humor. Ich betrachte es als die Interpretation von Einzelnen und nicht unbedingt als die Worte Buddhas.

Khandro Rinpoche mit ihrem Vater, dem bekannten Meister Mindrolling Trichen Rinpoche.

Wenn Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt, er könnte als eine Frau wiedergeboren werden, ist das für Frauen und Männer, die sich das vielleicht fragen, eine großartige Botschaft. Es ist die unermessliche Güte Seiner Heiligkeit und seiner Verwirklichung, durch die er in der Lage ist, dies zu verkünden.

Auf der anderen Seite, sollten wir es sehr pragmatisch sehen. Die Institution des Dalai Lama, wer er ist und als was er sich manifestiert, sollte niemals auf die Antwort nur einer Frage begrenzt werden. Der Dalai Lama hat unbegrenzte Pflichten und Aktivitäten, die mit dem Wohl der Allgemeinheit verbunden sind, und wenn dieses Wohl der Allgemeinheit erreicht werden kann, indem er als Frau wiederkehrt, ist das wunderbar. Passt es jedoch nicht in die Zeit, können wir warten.

Es ist schön zu hören, dass sich die Zeiten ändern und eine Entwicklung stattfindet. In einem anderen Interview mit Jetsünma Tenzin Palmo haben wir darüber gesprochen, wie Nonnen, seitdem sie Zugang zu voller Ausbildung bekommen haben, in den Prüfungen oft viel besser abschneiden als die Mönche. Wie Sie sagen, ist es also alles eine Frage der Ausbildung. Unter Jetsünma Tenzin Palmo haben die Nonnen in Nordindien tatsächlich den Dakini-Tanz wiedererweckt, eine rituelle Tanzübung, die zu den Anfängen des Vajrayana zurückgeht und damals von weiblichen und männlichen Ordinierten ausgeführt wurde. Es wird viel mit dem Wort „Dakini“ herumgeworfen – was bedeutet es?

Ich glaube, viele Menschen verstehen nicht, was eine Dakini ist. Ständig höre ich: „du bist eine Dakini“, „ein hübsches Mädchen ist eine Dakini“, „eine schöne und starke Frau ist eine Dakini“ oder „jemand, den man respektiert oder als eine Inspiration sieht, ist eine Dakini“. Im Gegensatz zu dem, was Menschen denken, ist das Konzept „Dakini“ nicht auf Frauen oder die Weiblichkeit reduziert. Dakas und Dakinis sind dasselbe. Jeder, der die illusorische Täuschung durchtrennt hat, ist eine Dakini. Das beschränkt sich nicht auf Frauen und sollte nie als ein Kompliment benutzt werden, dass man Frauen gibt.

Auch denken Menschen vielleicht, eine Dakini wäre immer wunderschön, liebenswürdig, gütig, mütterlich, nährend, eine starke Frau usw., aber diese Menschen habe bestimmt noch nie eine getroffen! 

Können Sie uns zum Abschluss noch sagen, was Ihrer Meinung nach die Essenz des Buddhismus ist?

Die Essenz der buddhistischen Lehren besteht darin, ein Individuum zu ermutigen, einsichtiger und introspektiver zu sein. Es geht darum, den eigenen Geist für ein Verständnis zu weiten, das ein Eintauchen in das eigene Selbst, in den eigenen Geist und die eigenen Denkmuster erfordert.

Leider sind unsere gewohnheitsmäßige Sturheit und Gewohnheitsmuster ein Widerstand demgegenüber. Gemäß den buddhistischen Lehren ist das Gegenteil von Weisheit Unwissenheit. Es gibt also einen ständigen Kampf zwischen unserer uns innewohnenden Weisheit, die ihr eigenes natürliches Potenzial hat, introspektiv und einsichtig zu sein, und dem Widerstand der gewohnheitsmäßigen Unwissenheit.

Daher geht es bei allem Lernen, das in den buddhistischen Lehren hervorgehoben wird, darum, die Rechtfertigungen und Ausreden zu überwinden. Das Ziel ist nicht, sich Weisheit anzueignen, sondern ein kraftvolles Gegenmittel gegen die Ausreden und die starke Gewohnheit der Sturheit zu entwickeln, mit denen wir Dinge nicht einfach sehen können, wie sie sind.

Daher ist es notwendig, zu studieren. Es hängt davon ab, wie stur man ist und wie listig man damit fortfährt, sich selbst gegen das zu verteidigen, was die Wahrheit ist. Solange dies in uns weitergeht, müssen wir studieren, und daher gibt es kein Ende im Studium!

Rinpoche, vielen Dank für ihre einzigartigen Einsichten in Bezug auf die Welt und die buddhistischen Lehren!
Top