Unwissenheit
Buddha lehrte die so genannten vier edlen Wahrheiten. Dies sind vier Tatsachen, die von jedem hoch verwirklichten Wesen bzw. Arya als wahr erachtet werden. Es handels sich, kurz gesagt, um folgende Tatsachen:
- Wir alle sehen uns in unserem Leben vor Probleme gestellt;
- diese Probleme entspringen Ursachen;
- es ist möglich, die Probleme vollkommen zum Aufhören zu bringen, sodass sie nie wieder auftreten;
- die Beendigung der Probleme wird durch das Verständnis erreicht, welches die Ursache der Probleme beseitigt.
Wenn wir über die tiefste Ursache unserer Probleme sprechen, läuft alles auf das hinaus, was im Englischen für gewöhnlich mit „ignorance“ übersetzt wird. Das englische Wort „unawareness“ (mangelndes oder fehlendes Gewahrsein, Unwissenheit) passt jedoch viel besser. Das Wort „ignorance“ (Ignoranz) legt nahe, dass man dumm und töricht ist, und ist daher kein gutes Wort für das, was hier gemeint ist. Es bedeutet nicht, dass wir dumm sind.
Es gibt zwei unterschiedliche Formen von Unwissenheit. Bei der einen sind wir uns der Ursache und Wirkung unseres Verhaltens nicht bewusst, nämlich dass destruktive Verhaltensweisen Probleme verursachen wird. Auf tieferer Ebene geht es um die Unwissenheit in Bezug auf die Wirklichkeit. Wir meinen gewohnheitsmäßig, dass die Dinge eine so genannte „inhärente Existenz“ haben – man könnte das auch als „in sich selbst begründete Existenz“ übersetzen. Es geht hier um die Gewohnheit, nach inhärenter Existenz zu greifen bzw. sich daran zu festzuhalten. Aufgrund dieser Gewohnheit lässt unser Geist in jedem Moment die Dinge so erscheinen, als wären sie inhärent – allein von sich aus - existent. Das heißt, dass sie so erscheinen, als gäbe es etwas auf Seiten der Dinge, das aus eigener Kraft begründet, dass sie als das existieren, als was sie erscheinen. Wir sind uns dessen nicht bewusst, dass diese Art von Existenz nichts Realem entspricht, und meinen, die Dinge würden tatsächlich auf diese Weise existieren.
Das ist nicht so einfach zu verstehen. Lassen Sie mich das, wovon hier die Rede ist, mit folgendem Beispiel veranschaulichen: Wir sitzen in unserem Auto, und auf der Spur neben uns drückt jemand ständig auf die Hupe und versucht, uns zu überholen. Wie erscheint uns diese Person? Sie scheint inhärent - von sich aus – als Idiot zu existieren, d.h., dass er oder sie ein Idiot ist, scheint von seiner eigenen Seite aus, unabhängig von allem anderen, begründet. Mit anderen Worten: Offenbar stimmt etwas nicht mit dieser Person und macht sie wahrhaft zu einem Idioten, der uns zu überholen versucht und auf die Hupe drückt. Wir hören die Hupe, sehen die Person und denken automatisch „Du Idiot!“ Die Person erscheint uns auf diese Weise und wir glauben, dass dieser Anschein der Realität entspricht: dass dies wirklich ein Idiot ist.
Was durch die Leerheit negiert wird
Was ist das begrifflich erfasste Objekt (implizierte Objekt) dieser begrifflichen Wahrnehmung, dass jene Person als Idiot existiert? Das begrifflich erfasste Objekt der Wahrnehmung ist eine Person, die tatsächlich als Idiot existiert. Wir meinen: Da befindet sich tatsächlich ein von sich aus existierender Idiot im Auto. Das ist es, was durch diese Erscheinungsweise und dadurch, dass wir sie so erfassen, impliziert wird. Wenn ich z.B. denke, dass sich jemand im Zimmer nebenan aufhält, ist das begrifflich erfasste Objekt: jemand im Nebenzimmer – etwas, was dem Gedanken in Wirklichkeit entsprechen würde. „Begrifflich erfasstes Objekt“ ist ein Fachausdruck, der beim Studium des Madhyamaka (des „mittleren Weges“) eine wichtige Rolle spielt.
Bei jeder begrifflichen Wahrnehmung sind viele Objekte beteiligt. Das Wort „zhen“ in dem Begriff „zhen-yul”, dem tibetischen Ausdruck für das begrifflich erfasste Objekt, kann als Verb fungieren – „haften“ [an etwas]; und als Substantiv, „zhen-pa“, bedeutet es „Anhaften“, wie z.B. in der Sakya-Lehre vom „Aufgeben der vier Anhaftungen“. Wenn ein Haften an bzw. ein Greifen nach in sich selbst begründeter, inhärenter Existenz vorhanden ist, ist dabei die Annahme impliziert, dass die Art, wie etwas zu existieren scheint, tatsächlich der Realität entspricht. In unserem Beispiel ist unsere begriffliche Auffassungsweise, dass die Person im anderen Auto, die auf die Hupte drückt, inhärent als Idiot existiert. Aufgrund dieser Art, etwas zu erfassen, erscheint es uns so, als wäre dort ein Idiot, also nehmen wir an, dass da tatsächlich ein Idiot ist, wir glauben an das, was wir projizieren. Das begrifflich erfasste Objekt dieser Wahrnehmung und dieser Erscheinung ist ein tatsächlicher Idiot im Auto da drüben.
Leerheit ist eine Abwesenheit: etwas ist nicht vorhanden. Was in diesem Fall in Wirklichkeit völlig abwesend ist, ist das begrifflich erfasste Objekt. Die Erscheinung eines inhärent existierenden, wahrhaften Idioten entspricht nicht der Realität. Zwar gibt es dort drüben jemanden, der Auto fährt, aber er existiert nicht inhärent als Idiot. Niemand kann inhärent als Idiot existieren, weil es so etwas wie inhärente Existenz als Idiot gar nicht gibt. Es gibt also keinen inhärenten Idioten im Auto dort drüben. Das ist die allgemeine Darstellung. Wir werden sie noch genauer erklären müssen, denn sie ist noch nicht sehr präzise.
Um ein einfacheres, wenn auch weniger genaues Beispiel anzuführen: Nehmen wir an, ein Kind denkt, unter dem Bett sei ein Ungeheuer. Das begrifflich erfasste Objekt ist in diesem Fall ein tatsächliches Ungeheuer unter dem Bett. Die Angst, die das Kind hat, beruht nicht auf etwas Realem. Worum es also bei der Leerheit geht, ist die völlige Abwesenheit von etwas ganz Bestimmtem – nämlich von etwas, das es gar nicht gibt, von etwas, das ganz und gar unmöglich ist.
Allerdings geht es bei der Leerheit nicht um die Abwesenheit eines Objekts oder Gegenstandes, das bzw. der unmöglich ist, so wie z.B. ein Monster. Es geht dabei vielmehr um eine Art zu existieren, die unmöglich ist. Es kann z.B. sein, dass unter dem Bett eine Katze sitzt, die das Kind für ein Monster hält, aber die Katze existiert nicht als Monster, weil es so etwas wie „als Monster existieren“ nicht gibt. Mit „Leerheit“ wird also nicht die Exitenz der Katze verneint, sondern dass die Katze als Monster existiert.
Eine Bezeichnung als gültig etablieren
Lassen Sie uns noch einmal auf unser Beispiel mit dem Idioten zurückkommen. Konventionell betrachtet, mag es durchaus sein, dass diese Person wie ein Idiot Auto fährt, aber wie ist es möglich, ihn gültig diesem Begriff zu bezeichnen und so zu nennen? Der indische Meister Chandrakirti nannte drei Kriterien für eine gültige Bezeichnung.
Zuerst einmal muss es eine eingebürgerte und akzeptierte Konvention geben, die mit dieser Bezeichnung in Übereinstimmung steht. In Deutschland gibt es bestimmte Anstandsregeln beim Autofahren, und es gilt nicht als angemessen, beim Fahren unablässig auf die Hupe zu drücken und ständig zu versuchen, alle zu überholen. Jemand, der das tut, kann als Idiot angesehen werden. Das ist relativ. In Indien wäre das ein normales Fahrverhalten. Ich bin einmal mit einem indischen Bekannten nach Europa gekommen – es war sein erster Besuch im Westen -, und was ihn am meisten verblüffte, war, dass die Leute Auto fuhren, ohne zu hupen! Da hier im Westen die Konvention gilt, dass ein Mensch, der so fährt, ein Idiot ist, ist es korrekt, von diesem Gesichtspunkt aus eine solche Person als Idioten zu bezeichnen.
Das zweite Kriterium für eine korrekte Bezeichnung ist, dass sie nicht im Widerspruch zu einem Geisteszustand steht, der die oberflächliche bzw. konventionelle Wahrheit gültig wahrnimmt. Fährt die Person, objektiv gesehen, wie ein Idiot oder nicht? Habe ich meine Brille richtig aufgesetzt? Sitzt mein Hörgerät korrekt? Höre und sehe ich wirklich auf korrekte Weise? Alle anderen in der Gegend sehen auch, dass diese Person versucht, alle zu überholen und dabei laut hupt; es widerspricht also nicht dem, was andere bezüglich dieses konventionellen Aspektes sehen.
Das dritte Kriterium ist, dass diese Bezeichnung nicht einem Geisteszustand widersprichen darf, der gültig die tiefste Wahrheit erkennt. Das bezieht sich auf einen Geist, der gültig erkennt, auf welche Weise diese Person als Idiot existiert. Inwiefern ist sie ein Idiot? Ist sie lediglich konventionell ein Idiot, abhängig davon, wo und wie sie fährt, und ist es so, dass wir bloß projizieren, sie würde inhärent als Idiot existieren? Wenn wir meinen, diese Person wäre wirklich, inhärent, ein Idiot, würde das einem Geisteszustand wiedersprechen, der erkennt, wie die Dinge wirklich existieren. Die Person fährt im konventionellen Sinne wie ein Idiot. Das ist korrekt, es ist eine gültige Konvention, eine gültige Bezeichnung und eine gültige oberflächliche Wahrheit. Was geschieht, ist jedoch, dass wir aufblähen, wie die Person als Idiot existiert. Sie existiert lediglich in Abhängigkeit von vielerlei Zusammenhängen als Idiot – insbesondere in Abhängigkeit von geistiger Bezeichnung. Das werden wir gleich noch näher erläutern.
Wir übersteigern die oberflächliche Erscheinung und projizieren etwas darauf, das nicht vorhanden ist: eine Art zu existieren, die es nicht gibt. Wir tun das nicht bewusst; es geschieht unbewusst. Es geschieht einfach automatisch aufgrund unserer Gewohnheit, Dinge auf diese Weise zu sehen. Die Übertreibung besteht in der Auffassung, dass jemand inhärent als Idiot existieren würde. Eine solche Art von inhärenter Existenz als Idiot entspricht nicht der Realität. Es geht hier wieder um die Abwesenheit einer unmöglichen Art zu existieren, nicht um die Abwesenheit eines Objekts oder Gegenstands, den es nicht geben kann.
Der Unterschied zwischen innewohnend und inhärent
Betrachten wir noch etwas näher, was mit inhärenter Existenz und geistigem Bezeichnen oder Benennen gemeint ist. Wichtig ist, den Unterschied zwischen „innewohnend“ bzw. (engl. „innate“) und „inhärent“ (engl. „inherent“) verstehen.
Wir haben viele innewohnende Qualitäten. Dazu gehört z.B., dass unser geistiges Kontinuum mit Körper, Sprache und Geist, Verständnisfähigkeit, Emotionen und all dem versehen ist, was damit einhergeht, ein fühlendes Wesen zu sein. Wir haben Buddha-Natur und alle Aspekte der Buddha-Natur. Der Fachbegriff für „innewohnend“ - auf Tibetisch „lhan-skyes“, im Sankrit „sahaja“ - wird manchmal als „gleichzeitig auftretend“ übersetzt. Das bedeutet, dass diese Faktoren Bestandteil dessen sind, was dazugehört, und gemeinsam mit jedem Moment des Geistes auftreten. In jedem Moment unserer Erfahrung haben wir Körper, Sprache und Geist, ganz gleich, ob wir wach sind oder schlafen. Wir reden vielleicht nicht, wenn wir schlafen, doch die Kommunikationsfähigkeit ist vorhanden. Andere können uns ansehen und erkennen, dass wir schlafen. Es mag sein, dass wir nicht schnarchen, aber der Atem hat im Schlaf eine gewisse Regelmäßigkeit und Langsamkeit, die vermittelt, dass wir schlafen. Das ist ein Beispiel dafür, wie wir ständig kommunizieren. Diese Eigenschaft wird zwar oft als „Sprache“ übersetzt, ist aber nicht bloß auf verbalen Ausdruck beschränkt. All das sind innewohnende Faktoren.
„Inhärent“ (tib. rang-bzhin) ist etwas ganz anderes. Etwas Inhärentes – wenn es existieren würde - wäre quasi innewohnend, würde aber aus eigener Kraft bewirken, dass etwas existiert und dass es als das existiert, was es zu sein scheint. Wenn davon die Rede ist, wird es manchmal als ein charakterisierendes oder definierendes Merkmal innerhalb des Objekts bezeichnet, das es zu dem macht, was es ist. In dem Beispiel mit dem Idioten wäre es etwas, das wirklich verkehrt an ihm ist und das sich in ihm auffinden ließe, dauerhaft dort vorhanden wäre und ihn aus sich heraus zum Idioten macht. Oft denken wir etwa: „Diese schreckliche Person nebenan, die die ganze Zeit Musik an hat...“ oder „Diese wunderbare Person, die ich gerade getroffen habe...“ – so, als gäbe es etwas in dieser Person, das ständig da wäre und aufgrund dessen sie auf diese Weise existieren würde. Ich verwende hier Beispiele, die emotional aufgeladen sind, aber es ist eigentlich bei allem so. So scheint es auch an Ihnen etwas Inhärentes zu geben, das Sie inhärent zum Menschen macht.
Dieses Etwas in dem Fahrer bewirkt [scheinbar], dass er inhärent als Idiot existiert, und zwar unabhängig von allem anderem, einfach ganz aus sich selbst heraus. Es scheint so, als könnten wir es bei einer näheren Untersuchung wirklich finden und festnageln. Aber natürlich können wir, wenn wir das Objekt untersuchen und auseinandernehmen, darin nichts finden, das es zu dem macht, was es ist. Wenn Sie anfangen, die Person in dem Auto zu analysieren, finden Sie eine Menge Atome und Energiefelder und nichts Feststehendes, auf das man zeigen und von dem man sagen könnte, dass es sie zu einem Idioten macht. Wenn wir die Handlungen dieser Person in Millisekunden ihrer Bewegungen zerlegen und untersuchen, lässt sich lediglich sagen, dass es die Bewegung eines Fingers um einen Millimeter in diese Richtung, dann in jene und als nächstes in eine andere gibt – und was macht diese Person nun zu einem Idioten? Man kann keine Millisekunde ihres Verhaltens aufzeigen, die sie zum Idioten macht, oder? Somit kann man auf Seiten des Objekts nichts finden, das dort hockt und selbsttätig diese Person zu einem Idioten macht – auch wenn sie als Idiot erscheint.
Im konventionellen Sinne verhält sich dieser Mensch durchaus so wie ein Idiot. Wir müssen hier darauf achten, nicht zu leugnen, dass die oberflächliche Erscheinung durchaus stimmt, und die Art, wie er sich benimmt, im konventionellen Sinne nicht abzustreiten. Er benimmt sich wie ein Idiot; das ist richtig. Das Problem besteht darin, wie er als Idiot zu existieren scheint. Er benimmt sich wie ein Idiot auf der Grundlage von anderen Faktoren; es hängt von anderen Dingen ab als nur von ihm selbst. Es ist nicht so, dass diese Person durch die Kraft von etwas in ihr Vorhandenem wie ein Idiot handelt. Dass sie so handelt, beruht auf Teilen (ihre Hand bewegt sich auf bestimmte Weise usw.) und ist abhängig von Ursachen (sie befindet sich im Verkehr und hat es eilig). Wäre sie inhärent ein Idiot, müsste sie es immer sein, selbst wenn sie schläft. Sie benimmt sich wie ein Idiot in Abhängigkeit von den Umständen, in denen sie sich befindet. Es kann auch alle möglichen kulturellen, psychischen und persönlichen Faktoren geben, die sie veranlassen, wie ein Idiot zu fahren. Von all dem hängt es ab, dass sie so fährt.
Geistiges Bezeichnen
Auf noch grundlegenderer Ebene können wir sagen, dass die Wahrnehmung, dass die Person wie ein Idiot fährt, von dem Begriff „Idiot“ abhängig ist. Gäbe es diesen Begriff nicht, könnten wir nicht sagen, dass diese Person wie ein Idiot fährt, oder? Das bringt uns zum Gebiet des geistigen Bezeichnens.
Das Thema geistiges Bezeichnen kann ziemlich verwirrend sein. Wenn wir diese Person einen Idioten nennen, macht es sie nicht zum Idioten, oder? Wir reden hier nicht von kleinen Kindern, die sich gegenseitig zurufen „Du bist ein Idiot!“ Bezeichnungen und Namen haben nicht die Kraft, etwas zu dem zu machen, als was wir es bezeichnen. Viele Menschen denken, geistiges Bezeichnen würde bedeuten, dass wir Dinge mit Worten erschaffen. Das bedeutet der Ausdruck „geistiges Bezeichnen“ im Buddhismus aber keineswegs.
Denken Sie einmal darüber nach. Fährt die Person auf jeden Fall wie ein Idiot – ganz gleich, ob wir sie als Idioten bezeichnen oder nicht, ob wir „Idiot“ denken oder nicht und ob überhaupt noch jemand anderes auf der Straße befindet, der diese Person fahren sieht, oder nicht? Was meinen Sie?
Nun, man müsste wohl sagen, dass es für eine Gruppe von Menschen, die den Begriff „Idiot“ kennen, anders ist als für eine, die diesen Begriff nicht kennt. Es hängt also von der Gruppe und deren begrifflichem Rahmen ab. Man kann lediglich sagen, dass diese Person gemäß einer bestimmten Konvention wie ein Idiot fährt, aber sie fährt nicht in einem absoluten Sinne, inhärent, wie ein Idiot. Es hängt von den Gesetzen und Gepflogenheiten ab, ungeachtet dessen, ob sie dabei von jemandem gesehen wird oder nicht. Zu sagen, dass es völlig unabhängig von etwas anderem wäre und nur von Seiten der Person, die fährt, bedingt wäre, lässt sich aufrechterhalten – das ist unmöglich. Das sind die Punkte, bezüglich derer die Leute beim Thema geistiges Bezeichnen am meisten durcheinander geraten.
Jetzt fragen Sie sich vielleicht: „Können wir überhaupt objektiv sagen, wie diese Person fährt?“ Diese Frage lohnt es sich zu untersuchen. Genau das ist das Problem, dieses Greifen nach dem, was denn wirklich geschieht. Fährt sie wirklich wie ein Idiot oder nicht? Wenn wir uns in diesen Bereich begeben, was sie wirklich ist, geraten wir in den Bereich der inhärenten Existenz. In Abhängigkeit von dem Begriff „ Idiot“, von westlichen Gepflogenheiten usw. fährt diese Person wie ein Idiot. Dass sie wirklich ein Idiot ist, ist eine Aufblähung davon. Das wäre in sich selbst begründete, inhärente Existenz - das, was unmöglich ist.
Ich glaube, nun wird allmählich erkennbar, wie tief verwurzelt diese Verwirrung ist, denn die meisten von uns wollen tatsächlich wissen, wie die Dinge wirklich sind und meinen, dass es eine bestimmte Art und Weise gibt, auf die wirklich existieren, nicht wahr? Wir sagen „Das ist wirklich ein wunderbares Haus“ oder „Das war wirklich ein wunderbarer Abend“, so, als gäbe es da etwas Inhärentes und alle müssten es auf diese Weise sehen. Weil wir daran so gewöhnt sind, erscheint uns automatisch alles auf diese Weise und wir denken auch so darüber. Das nennt man „trügerische Erscheinungen hervorbringen“, manchmal auch „Erscheinungen der Dualität“ genannt. „Dualität“ bedeutet hier, dass sie nicht damit übereinstimmen, nicht das sind, was tatsächlich der Fall ist. Die Art, wie etwas erscheint, steht nicht im Übereinstimmung mit der Art, wie es tatsächlich existiert. Das ist es, was duale Erscheinung im Sprachgebrauch der Prasangika-Philosophie gemäß Gelug-Tradition bedeutet.
Trotzdem kann man sagen, dass es stimmt, dass die Person wie ein Idiot fährt. Diese Aussage ist konventionell korrekt. Wir können eine verrückte Meinung haben, der niemand zustimmt, oder eine, der andere beipflichten. Hier in Deutschland würden andere zustimmen, dass diese Person wie ein Idiot fährt, aber das macht sie nicht zu einem wirklichen Idioten. Wir könnten auch der Meinung sein, dass ein Hund am Steuer säße, aber dem würde niemand beipflichten. Es gibt verrückte Meinungen und gültige Meinungen.
Der springende Punkt ist, dass es gültige Wahrnehmungen gibt, sodass man konventionell weiß, was etwas ist. Das ist sehr wichtig. Die verschiedenen philosophischen Schulen des tibetischen Buddhismus haben jeweils eigene Erklärungen für diese Unterscheidung. Im System der Gelug-Tradition spricht man in diesem Zusammenhang von korrekter und inkorrekter oberflächlicher Wahrheit. Eine inkorrekte oberflächliche Wahrheit in Bezug auf etwas entspricht nicht dem, was es konventionell ist. Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem, was etwas konventionell ist, und wie etwas als das existiert, was es ist.
Gültiges Bezeichnen in der Erläuterung der Svatantrika- und der Prasangika-Philosophie gemäß Gelug-Tradition
Woher wissen wir, ob eine Meinung Gültigkeit besitzt? Wir verwenden dafür Chandrakirtis drei Kriterien für gültiges Bezeichnen. Hier besteht ein Unterschied zwischen der Svatantrika-Madhyamaka- und der Prasangika-Madhyamaka-Philosophie, wie sie in der Gelug-Tradition erklärt sind. (Die Kagyü-Tradition erklärt die beiden philosophischen Schulen etwas anders.) Der wesentliche Punkt im Madhyamaka ist, dass alles in Abhängigkeit vom geistigen Bezeichnen existiert. Das bedeutet nicht, dass das Bezeichnen es erschafft. Die Madhyamaka-Darstellung des geistigen Bezeichnens ist eine Verfeinerung dessen, was die weniger differenzierten Schulen der indisch-buddhistischen Lehrsysteme wie z.B. das Chittamatra-System über Beziehung zwischen Geist und Objekten sagen. Einer der wichtigsten Gründe, warum man die Schulen dieser Lehrsysteme in der richtigen Reihenfolge studieren muss, ist, dass man dadurch lernt, die Beziehung zwischen Geist und Objekten auf zunehmend differenziertere Weise zu verstehen.
Das Beispiel, das in den Texten verwendet wird, ist die Bezeichnung von jemandem als „König“. Dass jemand „König“ ist, steht in Abhängigkeit von der Bezeichnung und dem Begriff „König“; nur so existiert er als „König“. Gäbe es keine gesellschaftliche Konvention, einen König zu haben, könnte ganz offensichtlich niemand ein König sein. Die Frage ist: Was ist es, das eine Bezeichnung gültig macht? In der Svatantrika-Philosophie heißt es, dass die Dinge von sich aus ein auffindbares, inhärentes Merkmal besitzen, das sie definiert und das es uns möglich macht, sie korrekt als das zu bezeichnen, was sie sind. Es muss etwas in einem König geben, was ihn königlich macht, sodass er korrekt als „König“ bezeichnet werden kann. Gäbe es das nicht, könnten wir auch einen Hund oder einen Straßenkehrer als „König“ bezeichnen und das würde ihn zu einem König machen. Wir können sehen, dass ein politischer Gedanke dahintersteht. Nein, das ist kein Witz. Diese Philosophie entwickelte sich in Indien, wo das Kastendenken eine wichtige Rolle spielte; also muss es etwas Inhärentes geben, das jemanden zum Mitglied der königlichen Kaste macht. Das ist Svantantrika-Philosophie.
Die Prasangika-Philosophie sagt: Nein, es gibt nichts Auffindbares auf Seiten der Person, das sie zum König macht. Natürlich gibt es konventionell definierende Merkmale. Jemand, der ein Land in einer monarchistischen Staatsform regiert, ist ein König. Es gibt ein definierendes Merkmal dafür, was ein König ist. Wenn nichts definiert wäre, wäre es unmöglich, dass Dinge ihre Funktion erfüllen – doch die definierenden Merkmale beruhen lediglich auf Konventionen. Sie existieren nicht als etwas Auffindbares im Objekt, das z.B. einen Menschen aus sich heraus königlich macht.
Woher wissen wir, ob eine Bezeichnung gültig ist? Wieder kommen wir zurück auf Chandrakirtis drei Kriterien. Da es so wichtig ist, diese zu verstehen, möchte ich sie noch mit einem anderen Beispiel veranschaulichen. Zuerst einmal gibt es eine etablierte, übereinstimmend verwendete Konvention. Wir kommen nach Hause und schauen unseren Partner bzw. unsere Partnerin an – sagen wir der Einfachheit halber die Partnerin. Sie hat einen bestimmen Gesichtsausdruck: Ihre Stirn liegt in Falten, ihre Mundwinkel sind herabgezogen, und wir haben den Eindruck, dass sie verärgert oder wütend ist. Diesbezüglich muss es eine etablierte Konvention geben. Das ist das erste Kriterium. Es ist eine Konvention, besonders in westlichen Kulturen, dass Menschen die Stirn runzeln und die Mundwinkel nach unten ziehen, wenn sie verärgert sind. Hunde knurren, aber Menschen drücken ihre Verärgerung auf diese Weise aus. Das Aussehen unserer Partnerin entspricht der Konvention des Gesichtsausdrucks, den Menschen zeigen, wenn sie ärgerlich sind. Das ist eine Möglichkeit, die Gültigkeit der Erscheinung zu validieren. Wir können die Erscheinung auch mit früheren Vorfällen vergleichen, in denen unsere Partnerin verärgert war, um zu überprüfen, ob ihr Ausdruck ihrem konventionellen Muster entspricht.
Das zweite Kriterium ist, dass die Bezeichnung nicht im Widerspruch zu einem Geisteszustand steht, der eine oberflächliche Wahrheit gültig wahrnimmt. Wir setzen unsere Brille auf, schalten das Licht an und stellen sicher, dass wir den Gesichtsausdruck korrekt sehen. Es lag nicht daran, dass es zu dunkel war, dass wir es nicht richtig sehen könnten oder dass wir unsere Brille nicht aufhatten. Dieses Kriterium bezieht sich auf ganz praktische und bodenständige Angelegenheiten.
Wir können im Zusammenhang mit diesem zweiten Punkt auch andere Kriterien überprüfen, auch wenn das nicht explizit in den Texten erwähnt wird – z.B. die Tatsache, dass etwas bestimmte Wirkungen hervorruft. Als wir „Hallo“ gesagt haben, hat sie uns z,B. nicht geantwortet. Das ist ein weiterer Hinweis darauf, dass der Anschein, dass sie verärgert ist, seine Richtigkeit hat. Ihr übriges Verhalten bestätigt, dass sie verärgert ist, denn wenn sie ärgerlich oder wütend ist, begrüßt sie uns normalerweise nicht. Mit anderen Worten, Ärger hat seine übliche Wirkung erzeugt. Wenn wir es genau wissen wollen, können wir auch fragen, ob sie verärgert ist,
Wenn wir es dabei belassen und einfach nur feststellen: „Nun gut, sie ist verärgert und wütend, weil heute wahrscheinlich etwas Unerfreuliches vorgefallen ist, es hängt von vielen Faktoren ab“, dann hat unsere Wahrnehmung völlige Gültigkeit. Ein Geist, der gültig die tiefste Ebene wahrnimmt, wie etwas existiert - auf welche Weise unsere Partnerin als wütend existiert -, stünde nicht im Widerpruch dazu.
Wenn es uns jedoch so erscheint, dass unsere Partnerin nicht nur aus diesem oder jenem Grund verärgert ist, sondern stattdessen denken „Ach du meine Güte, sie ist schon wieder ärgerlich. Sie ist eben ein ärgerlicher Mensch, immer über dies oder jenes aufgebracht. Ich kann damit nicht umgehen!“, so steht das im Widerspruch zu einem Geisteszustand, der die tiefste Wahrheit gültig wahrnimmt. Denn niemand existiert inhärent auf solche Weise.
Wir können also die Bezeichnung der Person als verärgert und wütend als gültig bestätigen, ohne dass es von Seiten der Person etwas geben muss, das sie zu etwas macht, das inhärent ärgerlich ist. Wenn es hier um Leerheit geht, so steht das im Zusammenhang mit dem Moment, in dem wir denken, sie sei eine schreckliche Person: Leerheit ist die völlige Abwesenheit dieser Existenzweise – die völlige Abwesenheit von etwas, das an dieser Person wirklich verkehrt wäre und sie unweigerlich zu einer unzumutbaren Gefährtin macht. Wenn wir glauben, dass sie wirklich auf diese Weise existiert, reagieren wir auf eine Weise, die sie noch mehr aufregt. Wir sind dann aufgebracht und ungeduldig mit ihr.
Man fragt sich vielleicht: „Hängt ein weiser und ruhiger Umgang mit der Situation nicht auch davon ab, dass wir wissen, warum unsere Partnerin ärgerlich ist?“ Nun, auch wenn wir nicht verstehen, warum sie verärgert ist, können wir versuchen, uns klarzumachen, dass es von Gründen und Ursachen abhängen muss; es ist nicht so, dass sie inhärent immer ärgerlich ist. Das gibt uns die Möglichkeit, zu erkennen, dass sich die Situation vielleicht irgendwie ändern lässt. Doch es ist korrekt zu sagen „Meine Partnerin ist verärgert und aufgebracht.“ Das ist ein wichtiger Punkt. Wenn wir nicht anerkennen, dass unsere Partnerin konventionell gesehen verärgert ist, was für eine Grundlage hätten wir dann, Mitgefühl zu empfinden und ihr zu helfen? Jegliche Basis dafür, hilfreich mit ihr umzugehen, zerfiele und wir würden in das Extrem des Nihilismus geraten.
Die Betonung des Erkennens, was eine korrekte oberflächliche Wahrheit ist, ermöglicht die enge Verbindung von Verständnis der Leerheit und Mitgefühl. Ohne dies nehmen wir andere nicht sonderlich ernst, und das hält uns davon ab, uns auf die Probleme anderer einzulassen und ihnen zu helfen. Das ist ein ziemlich subtiler Zusammenhang, aber meines Erachtens sehr bedeutsam.
Abhängiges Entstehen und Karma
Wenn man abhängiges Entstehen versteht, darf man die Tatsache nicht vernachlässigen, dass positive und negative Handlungen tatsächlich förderlich bzw. destruktiv sind. Das ist durchaus wahr. Wenn von Relativität die Rede ist, heißt das nicht, die Dinge so weit zu herabzumindern, dass jedes alles sein kann. Töten ist destruktiv, ganz gleich, was die Motivation dafür ist. Selbst wenn man aus großem Mitgefühl tötet, wie Buddha, als er den Seefahrer tötete, der vorhatte, die 499 Kaufleute an Bord zu töten, handelt es sich dennoch um die destruktive Handlung des Tötens. Sie reift auch in diesem Fall zu einer Erfahrung von Leid heran: Buddha trat sich einen Dorn in den Fuß. Die negativen Folgen, das Leid, waren aufgrund seiner starken mitfühlenden Motivation gering, aber es war doch eine destruktive Handlung, und die Gesetze des Karma behielten ihre Gültigkeit: Eine destruktive Handlung führt zu Leid. Die Stärke der negativen Handlung ist relativ, aber sie ist nicht ganz und gar relativ – eine destruktive Handlung kann keine konstruktive sein. Der Buddhismus stimmt zu, dass es eine Ordnung im Universum gibt.
Töten ist konventionell eine destruktive Handlung. Aber was macht die Handlung destruktiv? Wir können sagen, dass es im Akt des Tötens nichts Auffindbares gibt, das ihn aus sich heraus zu einer destruktiven Handlung macht. Die ist davon abhängig, dass es jemanden gibt, der das Töten durchführt, jemanden, der getötet wird, und ein geistiges Kontinuum, das dadurch beeinflusst und als Resultat Leid erleben wird. Die negative karmische Kraft, die aus dieser Handlung entsteht, setzt sich als Teil des geistigen Kontinuums desjenigen fort, der die Handlung begangen hat, sodass er als deren Resultat Leid erleben wird. Es kann jedoch nicht bloß davon die Rede sein, dass etwas, unabhängig von Ursache und Wirkung, „destruktiv“ ist. Es ist nicht einfach destruktiv irgendwo im luftleeren Raum. Destruktiv bedeutet, dass eine bestimmte Handlung für den Ausübenden als Erfahrung von Leid heranreift.
Was macht die Tat dann destruktiv? Sie ist destruktiv in Abhängigkeit von anderen Faktoren als sie selbst – in diesem Fall der karmischen Wirkung der Handlung. Es ist nicht so, dass die Tat inhärent, von sich aus, destruktiv ist, aufgrund von etwas, dass sich in ihr auffinden ließe und sie dazu macht.
Nehmen wir ein weiteres Beispiel, das die Angelegenheit mehr mit unserer Alltagssituation in Verbindung bringt. Sagen wir, unserem Hund ist in der Küche ein kleines Malheur passiert und wir werden wütend und schreien ihn an „Böser Hund! Du hast den Fußboden schmutzig gemacht! Das ist ganz schlecht!“, als ob die Tat in sich selbst, unabhängig von irgendetwas anderem, als etwas Böses oder Schlechtes existieren würde. In diesem Beispiel ist es einfacher, sich die selbst erzeugte Wirkung der Handlung klarzumachen als an die karmische Wirkung zu denken, die der Hund erleben wird. Wohlgemerkt, es gibt einen Unterschied zwischen karmischer und erzeugter Wirkung. Die erzeugte Wirkung – in diesem Fall die vom Hundebedürfnis erzeugte Wirkung - der Handlung ist, dass der Boden schmutzig ist und wir ihn saubermachen müssen. Unter diesem Gesichtspunkt war das, was der Hund gemacht hat, nicht schön.
Abhängiges Entstehen und Wahlmöglichkeiten
Was kann man in Anbetracht dieser Erläuterung gültiger Bezeichnungen und Meinungen nun empfehlen, um korrekte Entscheidungen zu treffen? Bei jeder Entscheidung spielen überaus viele verschiedene Faktoren eine Rolle. Es geht nicht einfach nur darum, die ein oder andere Alternative als angemessene Reaktion oder Lösung eines Dilemmas korrekt zu bezeichnen. Um zu bestimmen, was konventionell die angemessenste Entscheidung ist, müssen wir so viele Faktoren wie möglich berücksichtigen, die Einfluss auf das Ergebnis haben. Alles, was geschieht, ist nicht nur von einem Faktor verursacht. Es ist wichtig, dass wir unseren Handlungen und Entscheidungen nicht übermäßig große Bedeutung beimessen. Wenn wir etwas sagen und jemand ärgert sich darüber, gibt es viele Faktoren, die dazu geführt haben, dass der andere sich ärgert - nicht nur das, was wir gerade gesagt haben.
Es ist leicht zu sagen „Solange wir gute Absichten haben, ist jede Entscheidung in Ordnung“, doch eine englische Redensart sagt: „Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.“ Außerdem stecken hinter jeder Handlung, zu der wir uns entscheiden könnten, mehrere Absichten und Motivationen, nicht nur eine; der Vorgang ist also ziemlich komplex.
Manche sagen: „Handle spontan“, aber spontan ist oft gleichbedeutend mit neurotisch. Wenn unser Baby weint und der erste Impuls ist, es zu schlagen, lässt sich kaum sagen, dass das die beste Wahl ist, nur weil es uns spontan eingefallen ist. Es ist nötig, möglichst viele verschiedene Dinge in Erwägung zu ziehen, um eine Entscheidung zu treffen, insbesondere wenn es um Entscheidungen geht wie z.B. eine Beziehung zu beenden oder die Arbeitsstelle zu wechseln. Es ist wichtig zu klären, wonach mir ist, was ich tun will, was ich tun muss bzw. was zu tun erforderlich ist, und was mir meine Intuition sagt. Diese vier Aspekte können voneinander abweichen.
Zum Beispiel: Ich muss eine Diät einhalten; ich will meine Diät einhalten, aber ich möchte gern ein Stück Kuchen essen. Mein Gespür sagt mir, dass ich hinterher ein schlechtes Gewissen haben werde. Diese vier Aspekte der Entscheidung gilt es zu untersuchen, und auch die jeweiligen Gründe dafür. Vielleicht haben wir Lust, Kuchen zu essen, weil wir gierig danach sind. Warum wollen wir unser Gewicht reduzieren? Ist es aus gesundheitlichen Gründen, aus Eitelkeit oder um attraktiver zu sein, damit wir einen Partner finden? Es ist nötig, auch die Konsequenzen unseres Tuns in Betracht zu ziehen und dann quasi all die verschiedenen Faktoren gegeneinander abzuwägen und herauszufinden, welche gültig sind und welche nicht. Ein weiteres Beispiel: „Ich mag im Moment nichts essen, mir ist nicht danach, aber wenn ich jetzt nichts esse, ist das ungünstig, denn später werde ich den ganzen Tag nicht mehr dazu kommen. Also esse ich besser jetzt etwas.“
Auf solche Weise versuchen wir, Entscheidungen zu treffen, indem wir den verschiedenen Faktoren gegenüber so feinfühlig wie möglich sind. Das ist besonders wichtig, wenn schwierige Entscheidungen anstehen. Im Falle von Entscheidung wie: „Soll ich heute ein schwarzes oder ein blaues Hemd anziehen“ oder „Was soll ich im Restaurant bestellen“ – wählen Sie einfach irgendetwas; es spielt keine große Rolle. Wir sollten so etwas nicht übermäßig analysieren. Entscheidungen zu treffen ist nicht leicht.
Es ist recht interessant, dass als eine der grundlegenden sechs störenden Emotionen und Geisteshaltungen unentschlossenes Schwanken aufgeführt wird, also die Unfähigkeit, sich zu entscheiden. Um diesen schwächenden Geisteszustand zu überwinden, können wir uns mithilfe des Dharma einer detaillierten Untersuchung der Faktoren zuwenden, die uns dazu veranlassen, dass uns nach etwas zumute ist oder wir etwas Bestimmtes tun wollen. Die Lehren über Karma und die Funktionsweisen des Geistes können das Entstehen dieser Faktoren auf komplexe und wohldurchdachte Weise erklären. Dabei können wir untersuchen, welche Faktoren gemäß den verschiedenen philosophischen Schulen des tibetischen Buddhismus gültig oder ungültig sind.
Wie können wir erkennen, ob wir die richtige Entscheidung getroffen haben? Solange wir kein Buddha sind, können wir nie genau wissen, ob wir die richtige Entscheidung getroffen haben. Wir wissen nicht, welche Folgen unsere Handlungen im Einzelnen nach sich ziehen werden. Wir müssen auch offen sein für die möglichen Veränderungen, die auftreten können, besonders bei Entscheidungen hinsichtlich der Beendigung einer Beziehung. So etwas ist eine schwierige Entscheidung. Nachdem wir so viele Faktoren wie möglich abgewägt haben, müssen wir mit der anderen Person darüber sprechen und sehen, wie sich die Dinge entwickeln.
Entsprechend der obigen Erörterung ist Leerheit in diesem Zusammenhang die Abwesenheit von etwas Inhärentem in der Situation, das eine Entscheidung von sich aus zur richtigen machen würde. Sie existiert nicht auf diese Weise; sie hängt von vielerlei Faktoren ab. Es ist nicht so, dass eine einzige Aussage oder Entscheidung unsererseits von sich aus die Wirkung hervorbringt, die sich ereignet. Was geschieht, entsteht aus einer Million unterschiedlicher Ursachen, nicht nur aus dem, was wir tun.
Es mag so scheinen, als ob etwas, das wir getan haben, bewirkt hat, dass alles schiefgelaufen ist, und wir schuld daran sind, so, als würde unsere Tat inhärent existieren und aus sich selbst heraus Dinge zum Scheitern bringen. So erscheint es uns und daran glauben wir, und deshalb haben wir Schuldgefühle. Im konventionellen Sinne haben wir vielleicht zum Scheitern beigetragen, aber mit Sicherheit hat das, was wir getan haben, nicht aus sich heraus, unabhängig von allem anderen, dazu geführt. Es gab viele Ursachen. Wie Buddha sagte: Ein Eimer wird weder vom ersten noch vom letzten Wassertropfen gefüllt, sondern dadurch, dass sich alle Tropfen ansammeln. Es gibt Tausende und Abertausende von Faktoren, die eine Wirkung herbeiführen und für das verantwortlich sind, was passiert.
Verantwortung und Schuld
Ich habe zum Beispiel das Glas Wasser umgestoßen und nun ist der Fußboden nass. Er ist nicht nur nass, weil ich das Glas umgestoßen habe, sondern auch, weil jemand es ganz an den Rand des Tisches gestellt hat, weil jemand den Tisch so gebaut hat, weil der Tisch so hoch ist und die Lichtverhältnisse so waren, dass ich es nicht gesehen habe – eine Million von Faktoren hat dazu beigetragen, dass es so kam.
Nun können wir natürlich nicht sagen, dass die Person, die den Tisch gebaut oder das Glas an den Rand gestellt hat, für den nassen Fußboden verantwortlich ist. Wir sind verantwortlich, aber nicht schuldig. Ich habe das Glas umgeworfen, aber das macht mich nicht zu einem inhärenten tollpatschigen Idioten, sodass man mit mir nirgends hingehen kann, weil ich immer Sachen umwerfe. Menschen identifizieren sich mit solchen Dingen: „Ich bin unbeholfen“ oder „Ich kann keine Glühbirne wechseln, ohne sie kaputt zu machen, also hilf mir bitte.“ Das sind weit verbreitete Gedanken. Wir alle haben sie. Wir sprechen hier nicht über irgendetwas abgehobenes Philosophisches; wir sprechen über unser Alltagsleben.
„Schuld“ würde bedeuten, dass wir inhärent etwas in uns haben, das uns zu einem schlechten Menschen macht, und dass das, was wir getan haben, inhärent schlecht war. Wir haben etwas getan, wir identifizieren das, was wir getan haben, als inhärent schlecht und uns selbst als inhärent schlechten Menschen, und dann halten wir daran fest und lassen nicht mehr davon ab. Durch das Verständnis der Leerheit hingegen erkennen wir, dass nichts und niemand als inhärent „schlecht“ – unabhängig von sich aus als solches begründet – existiert. Wenn wir das zutiefst erkennen, verstehen wir auch, dass wir für unsere Handlungen verantwortlich sind.
Zusammenfassung
Durch das Verständnis der Leerheit erkennen wir, dass der Typ auf der Straßenspur neben uns, der auf die Hupe drückt und versucht, uns zu überholen, uns zwar wie ein echter Idiot erscheint, aber wir glauben eigentlich nicht, dass das der Realität entspricht. Wir verstehen, auf welche Weise etwas als „dies“ oder „jenes“ erscheint, nämlich abhängig von dem Begriff oder Wort, z.B. „Idiot“, und von vielerlei Faktoren. Aufgrund dieses Verständnisses verlieren wir nicht die Geduld und werden nicht wütend auf die betreffende Person. Es kann sein, dass sie aus dem Blickwinkel deutscher Gepflogenheiten konventionell wie ein Idiot fährt, aber das macht sie nicht dessen schuldig, ein inhärent schlechter Mensch zu sein.