Hintergrund
Es gab sechs Schulen der klassischen indischen Philosophie und dies waren Schulen, die in den buddhistischen Debatten als Gegner auftraten. Darunter gab es zwei, welche im Buddhismus beim Debattieren am stärksten und vehementesten auftraten: die des Nyaya und die des Samkhya. Im Grunde wird jede von ihnen in zwei Schulen unterteilt:
- Es gibt die Samkhya- und die Yoga-Schulen, wobei der wichtigste Unterschied zwischen ihnen darin besteht, dass die Yoga-Schule ein höchstes Wesen, einen Ishvara, vertritt, während dies im Samkhya nicht der Fall ist.
- Die Nyaya-Schule, die mit Vaisheshika in Verbindung gebracht wird, wird oft als die Nyaya-Vaisheshika-Schule bezeichnet, weil die beiden eine Menge gemeinsam haben. Es gibt jedoch auch einige Unterschiede. Im Nyaya liegt die Betonung viel mehr auf Logik.
Als Vertreter dieser beiden Standpunkte werden wir über die Samkhya- und Nyaya-Schulen sprechen, wobei sich die Frage stellt, worin denn eigentlich der Sinn besteht, etwas über sie zu lernen, wenn wir den Buddhismus studieren. Der Sinn liegt darin, Gewissheit bezüglich der buddhistischen philosophischen Behauptungen sowie Überzeugung in deren Gültigkeit zu erlangen. Wir gelangen zu dieser Überzeugung, indem wir eine Methode der so genannten „dharmischen Traditionen“ Indiens anwenden, welche all die buddhistischen Schulen umfassen, wie auch die Jain-Schulen und jene, die wir mangels eines besseren Wortes als Hindu-Schulen bezeichnen, also jene, die nicht zum Buddhismus oder Jainismus gehören. Hierbei handelt es sich um eine Methode, die durch das Sanskrit-Wort „purva paksa“ bekannt ist, was „die andere Seite“ bedeutet.
Die „purva-paksa“-Methode besteht darin, mit dem Aufstellen einer Behauptung etwaige Einwände vorzubringen – das ist die andere Seite – und auf sie einzugehen. Diese Methode wurde in vielen von den Nalanda-Meistern Indiens verfassten Texten angewandt und dann später auch in Tibet übernommen. Sie wurde in den verschiedenen tibetischen Traditionen, die sich entwickelten, und sogar von den verschiedenen Meistern innerhalb derselben tibetischen Tradition im Dialog benutzt. Man findet sie in fast all den philosophischen Abhandlungen, die in Tibet und der Mongolei verfasst wurden.
Am besten wird sie als didaktische Methode beim Debattieren benutzt, ob wir nun mit Anhängern einer anderen Schule der indischen Philosophie, einer anderen Tradition des tibetischen Buddhismus oder mit Mitgliedern unserer eigenen Mönchsgemeinschaft debattieren. Man könnte sie sogar beim Debattieren mit nicht-indischen Denksystemen verwenden, wie jene der westlichen oder chinesischen Philosophie. Obgleich diese Methode traditionell in einem klösterlichen Umfeld studiert und genutzt wurde, kann sie auch in einem weltlichen Umfeld zur Anwendung kommen, wie beispielsweise in Schulen. Außerdem ist sie recht nützlich in unseren eigenen analytischen Meditationen, wenn wir uns auf manche Behauptungen der Dharma-Lehren fokussieren, sie kritisieren und versuchen, einen Fehler in ihnen zu finden, indem wir einen anderen Standpunkt einnehmen. Dann finden wir eine Antwort auf die Kritik, widerlegen den anderen Standpunkt und finden eine Erklärung für unsere eigene Behauptung. Das ist die „Purva-paksha“-Methode: die Lehren aus der anderen Sicht zu betrachten.
Wenn wir etwas im Dharma lernen, sollten wir uns immer fragen: „Welche Einwände könnte es hierzu geben?“ Es ist äußerst wichtig, auf all diese Einwände antworten zu können, damit wir nicht nur ein korrektes Verständnis eines jeden Punktes der Lehren haben, sondern uns auch gewiss über dessen Bedeutung sind, und überzeugt, dass er der Realität entspricht. Das ist ausschlaggebend, wenn wir in der Lage sein wollen, korrekt und effektiv über Aspekte der Dharma-Lehren zu meditieren. Streben wir an, eine einsgerichtete und vertiefte Konzentration auf einen Aspekt der Lehren, wie das Nicht-Selbst, oder auf einen Geisteszustand, wie Bodhichitta, zu entwickeln, muss unsere Identifizierung unseres Objektes der Ausrichtung absolut korrekt und entschieden sein. Es sollte diesbezüglich kein unentschlossenes Schwanken geben: „Verhält es sich so? Ich bin mir nicht sicher und habe ein paar Zweifel.“ Es sollte nicht so undeutlich, sondern präzise, korrekt und entschieden sein.
Der Zweck des Studierens dieser verschiedenen Schulen
Der Sinn und Zweck, all diese „Purva-paksha“-Einwände vorzubringen und diese verschiedenen Arten nicht-buddhistischer Schulen und innerhalb des Buddhismus die verschiedenen buddhistischen Lehrsysteme zu studieren, besteht somit darin, ein ganz klares und entschiedenes Objekt der Meditation zu haben, damit wir immer tiefer gehen und die Erkenntnisse und Verwirklichungen bekommen können, die notwendig sind, um Befreiung und Erleuchtung zu erlangen. Das ist der Sinn davon, und nicht, einen Klub zum Debattieren zu gründen, in dem wir uns mit rechtlichen Argumenten oder so etwas befassen.
Natürlich könnten wir auch die ganzen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Elemente miteinbeziehen, die ein Teil der klassischen Debatten waren, die in Indien an Klosteruniversitäten wie Nalanda abgehalten wurden. Laut mancher Gelehrter waren diese Debatten so etwas wie Fußballspiele zwischen verschiedenen Teams, was glaube ich ein guter Vergleich ist. Die Klöster waren ziemlich groß und benötigten königliche Unterstützung, um die Mönche ernähren und all die Ausgaben begleichen zu können. Der Schule, die diese Debatten gewann, wurde die Unterstützung des Königs zuteil und so war es gewissermaßen ein Konkurrenzkampf. Somit gab es also einen weiteren Aspekt dieser Debatten, einen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Aspekt. Ungeachtet dessen ist diese „Purva-paksha“-Methode, sich die andere Seite einer aufgestellten Behauptung anzusehen, auf einer praktischen Ebene der Meditation äußerst wichtig.
Was nun diese zwei Schulen, Samkhya und Nyaya, betrifft, so glaube ich nicht, dass es notwendig ist, all deren Behauptungen durchzugehen, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr eine Vorlesung wie in der vergleichenden Religionswissenschaft an der Universität haben wollt. Stattdessen dachte ich, mich auf ein Thema zu konzentrieren. Dieses Thema ist ein recht wesentlich, das Thema des Atman, des Selbst. Es ist von zentraler Bedeutung für unser korrektes Verständnis, um Befreiung und Erleuchtung zu erlangen.
Gemeinsame Merkmale aller dharmischen Traditionen
Ich denke, es ist auch wirklich notwendig zu erkennen, dass es in diesen indischen Traditionen um die gleichen Themen geht, ob wir nun vom Buddhismus, Jainismus oder Hinduismus reden. Man kann sie als dharmische Traditionen bezeichnen, was in Analogie zu unseren „abrahamitischen Traditionen“ steht, der Begriff, der in den vergleichenden Religionswissenschaften für das Judentum, das Christentum und den Islam steht. In allen abrahamitischen Traditionen ist von den gleichen Themen die Rede – Gott, die Schöpfung, das Gericht, das Leben nach dem Tod und so weiter – und diese Dinge bilden ihre gemeinsame Grundlage. In ähnlicher Weise teilen auch die dharmischen Traditionen, die sich sehr von den abrahamitischen unterscheiden, bestimmte Themen miteinander.
Die dharmischen Traditionen sprechen alle von der Wiedergeburt, außer die der Charvakas, welche die Wiedergeburt nicht anerkennt. Alle anderen gehen davon aus, dass die Wiedergeburt unter dem Einfluss von Karma stattfindet. So eine Wiedergeburt nennen sie „Samsara“. Obgleich in jeder dharmischen Tradition Karma anders erklärt wird, stimmen sie alle darin überein, dass Karma in erster Linie durch Unwissenheit darüber erzeugt wird, wie wir als Personen, als ein Selbst, existieren.
Das Sanskrit-Wort, das all diese Schulen, einschließlich der buddhistischen, für das Selbst benutzen, ist „Atman“. In manchen Schulen spricht man auch von der Unwissenheit darüber, wie alle Phänomene existieren, aber die Unwissenheit, welche die Wiedergeburt antreibt, ist hauptsächlich die Unwissenheit darüber, wie wir existieren. In allen Schulen strebt man nach der Befreiung von Wiedergeburt, doch sie unterscheiden sich darin, was Befreiung eigentlich ist. Des Weiteren verfügen alle über die Praxis der ethischen Disziplin und die dreistufige Methode des Hörens, Nachdenkens und Meditierens. Die Meditationspraktiken zum Erlangen von Shamatha und Vipashyana kann man ebenfalls in all diesen Traditionen finden und daher sind sie gar nicht spezifisch für den Buddhismus. All diese Dinge gibt es bei allen gemeinsam.
Auch streben sie alle Weisheit an. Ich mag den Begriff „Weisheit“ nicht wirklich; genauer gesagt handelt es sich dabei um unterscheidendes Gewahrsein – das Gewahrsein, das zwischen dem unterscheidet, was Wirklichkeit ist und was nicht, zwischen dem, wie Dinge tatsächlich existieren und was nur eine Fantasie-Projektion ist. So eine Unterscheidungsvermögen und Verständnis wird zur Befreiung führen und das gilt für all die dharmischen Traditionen gleichermaßen. Worin sie sich unterscheiden, sind die Einzelheiten darüber, wie das funktioniert, was wir wirklich verstehen müssen und so weiter. Das ist eine Variable, die es im indischen gesellschaftlichen Kontext von Kasten und dergleichen zu verstehen gilt. Hier möchte ich aber in unserer Diskussion nicht weiter darauf eingehen.
Streben wir in den buddhistischen Lehren nach Befreiung von Samsara, so bezieht sich „Samsara“ auf unkontrollierbar sich wiederholende Wiedergeburt – also Wiedergeburt unter dem Einfluss der Unwissenheit darüber, wie wir als Personen, als Selbst, als „Atman“ existieren. Bei dieser Unwissenheit geht es im Grunde darum, wie das Atman existiert. Dharmakirti behauptet jedoch, diese Unwissenheit bedeute, die Existenz des Selbst falsch zu verstehen, das Gegenteil anzunehmen oder sie zu verwechseln. Betrachten wir jedoch die Texte von Vasubandhu und Asanga, heißt es dort einfach, dass wir es nicht wissen. Aus diesem Grund mag ich das englische Wort „ignorance“ (wörtl. Ignoranz) nicht, denn es geht nicht darum, dumm zu sein, sondern es einfach nicht zu wissen. Auch in anderen indischen Schulen vertritt man diesen Standpunkt. In ihnen heißt es ebenfalls, dass Unwissenheit sich darauf bezieht, es einfach nicht zu wissen – es ist also nicht offensichtlich oder nicht klar, wie wir existieren.
Greifen nach dem unmöglichen Selbst einer Person
Um Befreiung zu erlangen, müssen wir unsere Unwissenheit darüber loswerden, wie wir existieren. Um uns davon zu befreien und insbesondere von einem falschen Wissen, ist es notwendig, das, was man als „Greifen nach dem Atman einer Person“ übersetzen kann, loszuwerden. Hierbei geht eigentlich um ein „Greifen nach dem unmöglichen Atman einer Person“, doch die Übersetzung „unmögliches Atman einer Person“ ist irreführend, denn es geht nicht darum, dass es eine Person oder ein Selbst gibt, sondern dass sie kein unmögliches Atman besitzt, das es gar nicht gibt; vielmehr besitzen sie alle ein Atman, das möglich ist und das es gibt. Ansonsten würde es zwei voneinander getrennte Dinge geben – ein Selbst und ein Atman. Davon geht man jedoch im Buddhismus nicht aus. Die Formulierung bedeutet „ein unmögliches Atman, das eine Person ist“. Wenn wir es so übersetzen, können wir auch verstehen, dass der damit verbundene Begriff „Greifen nach einem unmöglichen Atman von Phänomenen“ eigentlich „Greifen nach einem unmöglichen Atman, das ein Phänomen ist“ bedeutet.
Wie übersetzt man aber nun das Wort „Atman“? Die meisten Übersetzer bezeichnen es als „Selbst“ und daraus folgen die Begriffe „Selbstlosigkeit der Person“ und „Selbstlosigkeit der Phänomene“, die den meisten Menschen geläufig sind. Ich habe „Atman“ häufig mit „Identität“ übersetzt, was zu den zugegebenermaßen komischen Formulierungen „Identitätslosigkeit der Person“ und „Identitätslosigkeit der Phänomene“ führt. Manche Menschen, mich miteinbezogen, übersetzen „Atman“ zuweilen mit „Seele“. Doch auch das ist problematisch, denn die „Seele“ hat so viele verschiedene Interpretationen in den abrahamitischen Traditionen, und zu sagen, die Menschen wären seelenlos, kann leicht zu einem falschen Eindruck führen. Zu sagen, Menschen hätten keine unmögliche Seele, deutet auch darauf hin, dass sie keine Seele haben. Daher ist es in vielfacher Hinsicht am besten, das Wort nicht zu übersetzen und es einfach als „Atman“ zu belassen.
Ein weiterer Punkt ist, dass man in den tibetischen Schulen, die nicht zum Gelug gehören, das „Greifen nach einem unmöglichen Atman, der eine Person ist“ als das Greifen nach etwas versteht, das letztendlich nicht existiert, weil alle konventionellen Phänomene konzeptuelle Konstrukte sind. Die Gelugpas verstehen es als das Greifen nach einer Person, die als ein unmögliches Atman existiert. Diese zwei Arten des Verstehens sind ziemlich unterschiedlich. Lasst uns jedoch hier einfach nur über das Gelug-Verständnis sprechen und den Begriff in seiner gewöhnlichen Form als „Greifen nach dem Selbst der Person“ oder „Greifen nach dem unmöglichen Selbst der Person“ belassen.
Das Wort „Greifen“ ist hier ein weiteres Wort, was man nicht so einfach übersetzen kann, weil es mit zwei Aspekten verbunden ist. Wörtlich bedeutet es „Erfassen“, im Sinne, etwas als ein Objekt der Wahrnehmung zu erfassen. Ein Aspekt ist unser Geist, der die Erscheinung einer Art der unmöglichen Existenzweise hervorbringt – in diesem Fall eine unmögliche Existenzweise des Selbst – und sie als unser Objekt der Wahrnehmung erfasst. Das ist ein Aspekt des Greifens. Der andere Aspekt besteht darin zu meinen, diese Erscheinung, wenn wir sie als unser Objekt der Wahrnehmung erfassen, würde der Realität entsprechen, was sie nicht tut. Doch mit einer fehlerhaften Betrachtung glauben wir, sie würde der Realität entsprechen.
Das ist das Problem. Können wir uns von dieser Unwissenheit darüber lösen, dass diese Erscheinung unserer Existenzweise trügerisch ist, und den Glauben daran beseitigen, dass dies korrekt ist und der Realität entspricht – und diesen Glauben loswerden, sodass er niemals wiederkehrt – haben wir Befreiung erlangt. Wenn wir nicht an diese trügerische Erscheinung glauben, haben wir nicht die störenden Emotionen, mit denen wir versuchen, solch ein Selbst zu verteidigen und geltend zu machen, indem wir meinen: „es muss so sein, wie ich mir das vorstelle“ und „jeder muss mir Aufmerksamkeit schenken“. Um jedoch Erleuchtung zu erlangen, ist es notwendig, dass der Geist damit aufhört, diese trügerische Erscheinung, den ersten Aspekt des Greifens, zu projizieren. Wie gesagt ist das Wort „Greifen“ nicht so leicht zu übersetzen, weil es zwei Aspekte hat.
Das doktrinär bedingte und das automatisch auftretende unmögliche Selbst
Auf jeden Fall haben wir dieses Greifen nach einem unmöglichen Selbst, was bedeutet, dass unser Geist eine Erscheinung dieses falschen Selbst hervorbringt und wir glauben, das wären wirklich wir und es würde der Realität entsprechen. Es gibt zwei Ebenen dieser fehlerhaften Glaubensvorstellung. Eine ist ein doktrinär bedingter fehlerhafter Glaube, was sich darauf bezieht, dass wir lernen mussten – in diesem Fall von einer dieser nicht-buddhistischen indischen Schulen – was das Selbst ist, also dass es ein Atman ist, was dessen Eigenschaften sind und wie es existiert. Beruhend darauf, was wir gelernt haben – es basiert also auf einer Doktrin, es ist doktrinär bedingt – glauben wir es. Im Westen können wir uns auch etwas Ähnliches vorstellen. Durch die Kirche wurde uns eine Art Dogma beigebracht, was die Seele betrifft, wir glauben es und das ist dann die Weise, wie wir über uns selbst denken.
Dieser doktrinär bedingte Glaube ist etwas, das nicht automatisch entsteht. Tiere werden ihn in ihrem Leben nicht manifestieren, obgleich man im Buddhismus davon ausgeht, dass sie ihn unbewusst aus früheren Leben haben. Das ist eine andere Sache, aber in diesem Leben müsste uns jemand über das Atman belehrt haben und diese Lehren müssten ganz speziell Behauptungen einer dieser nicht-buddhistischen indischen Schulen sein. Das ist hier ganz spezifisch.
Nun kommt „Purva-paksha“ mit ins Spiel. Nehmen wir einmal an, wir wenden ein: „Ich habe diese indischen Schulen nie studiert. Ich habe nicht einmal von ihnen gehört. Warum soll ich also dieses doktrinär bedingte Greifen haben?“ Das ist eine relevante Frage, denn in den Texten wird ganz klar gesagt, dass wir uns von doktrinär bedingtem Greifen nach einem unmöglichen Selbst der Person befreien müssen, um einen Pfadgeist des Sehens (Pfad des Sehens) zu erlangen. Wir erlangen so einen Pfad des Geistes und werden zu einem Arya, wenn wir eine nicht-konzeptuelle Wahrnehmung der vier edlen Wahrheiten haben, was die nicht-konzeptuelle Wahrnehmung umfasst, dass es so etwas, wie dieses doktrinär bedingte Atman, nicht gibt.
Der Einwand ist also berechtigt, wenn wir uns fragen, wie wir frei davon sein können, wenn wir es nie studiert haben. Die Antwort lautet: „Wegen einem anfangslosen Geist hatten wir anfangslose Wiedergeburten. In einem früheren Leben wurden uns diese falschen Doktrinen beigebracht und wir haben sie als wahr akzeptiert. Unbewusst ist dieser falsche Glaube noch immer da.“ Ob das nun eine zufriedenstellende Antwort ist oder nicht, wir könnten weiter debattieren. Wie dem auch sei, das ist die Antwort, die in den Texten zu finden ist.
Zusätzlich zu diesem doktrinär bedingten Greifen gibt es auch ein automatisch auftretendes Greifen nach dem unmöglichen Selbst einer Person. In der Gelug-Tradition wird so ein unmögliches Selbst als etwas definiert, das eigenständig erkennbar ist – ein Selbst, das nur für sich, ohne eine Grundlage für das Selbst, erkannt werden kann, wie die Form des Körpers, die man zuerst und dann gleichzeitig mit dem Selbst erkennt. In den tibetischen Traditionen, die nicht zum Gelug gehören, definiert man so ein unmögliches Selbst als etwas, das dualistisch wahrgenommen wird, als würden das Selbst und der Geist, der es wahrnimmt, unabhängig voneinander existieren. Bleiben wir aber wieder bei der Gelug-Behauptung.
Was bedeutet ein eigenständig erkennbares Selbst? Ein übliches Beispiel ist: „Ich möchte, dass man mich um meiner selbst willen liebt, und nicht wegen meines Reichtums, sondern nur mich wegen mir“. Als könnte jemand ein „Ich“ getrennt von dem Körper, der Persönlichkeit, dem Namen oder sonst etwas lieben. Ich kenne Arnie. Nun, wie kann jemand Arnie lieben? Es gibt eine Grundlage dafür, Arnie zu kennen. Wir kennen seinen Namen, wir wissen, wie er aussieht. Wir können eine Person nicht einfach kennen, ohne auch etwas über sie als deren Grundlage zu wissen. Sich vorzustellen, dass wir als Personen, als Atmans, so existieren, ist das automatisch auftretende Greifen nach einem unmöglichen Selbst. Sogar Tiere haben es; jeder hat es. Solch ein „Ich“ ist das subtile, unmögliche Selbst und es braucht viel länger, um sich davon zu lösen. Nur wenn wir diese Glaubensvorstellung beseitigt haben, erlangen wir Befreiung.
Sprechen wir aber zunächst über dieses doktrinär bedingte unmögliche Selbst, welches uns entweder in diesem oder einem früheren Leben durch eine dieser nicht-buddhistischen indischen Schulen beigebracht wurde.
Die buddhistische Behauptung des Nicht-Selbst ist nicht nihilistisch
Bevor wir weitermachen, sollten wir eine weitere Sache verstehen, die äußerst wichtig ist. Wenn wir von einem Selbst, einer Person, einem Atman reden, wird im Buddhismus nur ein unmögliches Selbst widerlegt, ein Selbst, das auf eine unmögliche Weise existiert. Im Buddhismus wird nicht gesagt, dass es so etwas, wie Personen, nicht gibt. Das ist das nihilistische Extrem. Konventionell gibt es Personen – darin sind sich alle buddhistischen Lehrsysteme Indiens einig. Sowohl die Interpretationen des Gelug, wie auch jene, die nicht zu diesem System gehören, stimmen dem zu. Es ist nur so, dass das konventionelle Selbst nicht auf diese unmöglichen Weisen existiert, die in den nicht-buddhistischen indischen Schulen vertreten werden und die wir widerlegen.
Im Gelug wird betont, dass es ausgesprochen wichtig ist, das Selbst, das nicht widerlegt wird, zu erkennen und es von dem zu widerlegenden zu unterscheiden. Nicht zu widerlegen ist, dass ich hier sitze und zu euch spreche. Ihr sitzt hier und redet zu mir. Es ist nicht so, dass es hier niemanden gibt, der zu euch spricht oder dass ich hier zu niemandem spreche. So ist das nicht. Offensichtlich existieren wir. Ein Zen-Meister würde uns mit einem Stock schlagen, um zu demonstrieren, dass wir existieren. Im tibetischen Buddhismus tun wir das nicht, aber es ist eine recht effektive Methode, um uns davon zu überzeugen, dass wir tatsächlich existieren.
Wir existieren also, doch das Problem ist, dass wir diese verrückten Vorstellungen bezüglich unserer Existenzweise haben. Sie basieren auf dem Glauben, es gäbe da ein kleines „Ich“ in unserem Kopf, das die Quelle der Stimme ist, welche ständig redet, urteilt, entscheidet, was zu tun ist und sich Sorgen macht: „Werden die Menschen mich mögen? Bin ich gut genug? Ich bin nicht gut genug.“ Solch ein „Ich“ ist ganz offensichtlich eine Illusion. Es ist der eigentliche Unruhestifter, denn wenn wir uns mit ihm identifizieren, werden wir aggressiv, gierig, müssen immer Recht haben und all diese Dinge. Diese Art des „Ichs“ gilt es zu widerlegen.
Damit wir es widerlegen können, benötigen wir eine klare Vorstellung davon, was widerlegt werden muss. Alles im Buddhismus muss sehr präzise sein und wenn es präzise ist, wird auch unser Verständnis präzise sein. Ist unser Verständnis präzise, haben wir, wie bereits erwähnt, ein effektives Objekt für die Meditation. Worauf wir uns fokussieren, kann ziemlich vage sein; wenn es vage ist, wird unser Geist nicht scharf und klar sein, und somit wird jede Meditation, die wir ausführen, nicht wirksam sein.
Genau identifizieren zu können, was widerlegt werden muss, ist der Sinn und Zweck davon, diese nicht-buddhistischen Lehrsysteme zu studieren. Jedes von ihnen bietet eine alternative Erklärung der Eigenschaften des Selbst, mit dem wir uns alle auseinandersetzen. Was ist beispielsweise die Beziehung zwischen dem Selbst und dem Geist, und nimmt das Selbst irgendetwas wahr? Sie fordern die buddhistischen Darstellungen dieser Themen heraus und so sollten wir das buddhistische Verständnis von ihrem unterscheiden und bestimmen, welches korrekt ist.
Wenn wir diese nicht-buddhistischen indischen Systeme studieren, ist es meiner Meinung nach äußerst wichtig, sie nicht mit dieser arroganten Haltung zu betrachten: „diese unwissenden, mittelalterlichen Leute haben es so gesehen“, als würden wir wie Anthropologen irgendwelche primitiven Glaubensvorstellungen studieren. Diese nicht-buddhistischen Systeme sind höchst anspruchsvoll und die Meister, die sie vertreten haben, waren keineswegs dumm. Wir sollten uns selbst untersuchen und uns fragen, ob wir ähnliche Vorstellungen oder Denkweisen haben, und uns nicht nur oberflächlich damit befassen, mit dem Verständnis, dass wir so etwas natürlich nicht glauben, sondern es wirklich analysieren und uns immer tiefer mit dieser Denkweise befassen.
Wir müssen dieses ganze Paket nicht-buddhistischer Philosophien nicht abkaufen, um deren Standpunkte in uns selbst zu überprüfen. Vielmehr sollten wir uns diesem Material aus folgender Sicht nähern: „Welchen praktischen Nutzen hat es? Wie wird es mir in meinem Leben weiterhelfen? Wird es mir in meiner Meditation hilfreich sein?“ Ansonsten könnten wir auch einfach vergleichende Religionswissenschaften an der Universität studieren, aber darum geht es beim Buddhismus nicht.
Ich habe geplant – und ich hoffe, es wird nicht zu verwirrend sein – eine Reihe von Punkten über das Selbst, über das Atman, durchzugehen und einen Blick darauf zu werfen, was die Systeme des Samkhya, des Nyaya und des Buddhismus dazu sagen. Dann werden wir einen Blick nach Innen werfen, um zu sehen, ob wir uns selbst so betrachten, wie in manchen dieser Samkhya- und Nyaya-Behauptungen.
Die drei Eigenschaften des doktrinär bedingten Selbst
Im Allgemeinen hat das doktrinär bedingte Selbst, das widerlegt wird, drei Eigenschaften:
Statisch
In Bezug auf diese erste Eigenschaft hören wir vielleicht das Wort „permanent“, doch diese Übersetzung des Begriffes kann irreführend sein, weil „permanent“ zumindest im Englischen zwei völlig unterschiedliche Bedeutungen hat.
- „Permanent“ kann ewig bedeuten. Im Buddhismus geht man davon aus, dass das Selbst ewig ist; es hat weder Anfang noch Ende. Das ist also nicht das Problem und das, worum es geht.
- Die andere Bedeutung von „permanent“ ist unveränderlich und das ist es, was hier gemeint ist. Es wird durch nichts beeinflusst und daher ändert es sich nicht. Im Grunde tut es nichts; es beeinflusst nichts anderes.
„Statisch“ ist das Wort, das ich für diese Bedeutung benutze: ein statisches „Ich“, dass durch nichts beeinflusst wird.
Teilelos
Die zweite Eigenschaft ist „eins“. Nun, was bedeutet „eins“ in diesem Zusammenhang? Es bedeutet teilelos; das Selbst hat keine Teile, während alles andere Teile hat. In manchen buddhistischen Schulen vertritt man teilelose Atome und diese Dinge, aber hier werden wir nicht näher darauf eingehen. Im Allgemeinen hat alles Teile, doch das „Ich“, von dem diese Schulen ausgehen, hat keine Teile. Es ist ein Monolith.
Manche Schulen sprechen davon, dass es die Größe des Universums hat, wie beispielsweise im Vedanta, das die eigentliche Philosophie ist, die in den meisten modernen Hindu-Schulen genutzt wird. Dort ist die Rede von: „Atman ist Brahma“ und „eins mit dem Universum“, in diesem Sinne also teilelos und alle Teile sind eine Illusion. Oder es heißt, das Selbst sei nur eine winzig kleine Monade, wie in einem Lebensfunke oder so etwas in der Art, und hat als winzige Monade keine Teile. Das ist es, was „eins“ in diesem Kontext bedeutet.
Unabhängig
Die dritte Eigenschaft ist, dass das Selbst, das Atman, vollkommen unabhängig von irgendwelchen Aggregaten existieren kann, wenn es befreit ist – also mit anderen Worten unabhängig von einem Körper und einem Geist. Diese Eigenschaft bezieht sich nicht auf das, was von einem Leben zum nächsten wandert. In manchen Schulen, wie der des Naya, sagt man zum Beispiel, das Atman wäre das, was sich inkarniert. Im Samkhya ist man da anderer Meinung und hat eine etwas andere Erklärung. „Unabhängig“ bezieht sich hier also auf den Zustand, wenn das Selbst befreit ist.
Außerdem hat dieses statische, monolithische Atman oder Selbst, das unabhängig von einem Körper und Geist existieren kann, wenn es befreit ist, drei zusätzliche Merkmale, wenn es mit einem Körper und Geist verbunden ist:
- Es ist der Inhaber dieses Körpers und Geistes und besitzt sie gewissermaßen.
- Es lebt in ihnen als ihr Bewohner.
- Es nutzt und kontrolliert sie. Es ist, als gäbe es da ein kleines „Ich“, das im Kopf sitzt und die Information aufnimmt, die durch die Augen auf einen Bildschirm und durch die Ohren durch einen Lautsprecher hineinkommen. Dann betätigt es Knöpfe, um den Körper zu lenken, das zu tun, was es entscheidet.
Dieses Selbst, das im Körper und Geist als dessen Bewohner, Besitzer und Kontrollierender lebt, denkt: „Dies ist mein – mein Körper, mein Geist, meine Persönlichkeit, meine Gedanken.“ Dies ist das Atman, das „Ich“, welches im Buddhismus widerlegt wird.
Was der Buddhismus jedoch mit diesen nicht-buddhistischen indischen Schulen teilt, ist die Behauptung, das Selbst – gemäß dem Buddhismus das konventionelle, nicht das falsche Selbst – sei nicht materiell und ewig. Es ist nicht eine Art materieller Substanz. Es setzt sich von einem Leben zum nächsten fort und hat weder Anfang noch Ende.
Sehen wir uns ein paar andere Merkmale des Atman, des Selbst, an und werfen einen Blick darauf, wie man im Samkhya, im Nyaya und im Buddhismus darüber denkt. Insbesondere wollen wir die Frage der Beziehung zwischen dem Selbst, dem Geist und dem Bewusstsein untersuchen. Erkennt das Selbst irgendetwas?
Die Samkhya-Behauptung, das Selbst sei bloßes passives Bewusstsein
Im Samkhya geht man davon aus, dass das Atman, das Selbst, passives Bewusstsein ist. Es ist insofern von Natur aus passiv und niemals aktiv, da es nicht in der Lage ist, irgendein Objekt wahrzunehmen. Es ist lediglich Bewusstsein.
Hier sollten wir untersuchen, ob wir auch so denken. Nehmen wir einmal an, wir sind Anhänger der Nyingma-Schule und lernen etwas über Rigpa, über „reines Gewahrsein“. Es ist immateriell und hat weder Anfang noch Ende. Ist dies das „Ich“? Ist es das, was wir für das „Ich“ halten? So beginnen wir, mit diesen nicht-buddhistischen „Purva-paksha“-Behauptungen zu arbeiten.
Ist Rigpa nur passives Bewusstsein ohne ein Objekt, wenn es reines Gewahrsein ist? Nun, wir hören, dass Rigpa nichtdual ist. Worauf bezieht sich das? Heißt das, es gibt kein Objekt? Dann hören wir die Worte „Subjekt“ und „Objekt“, die nicht wirklich das sind, was die tibetischen Begriffe bedeuten. „Subjekt“ im Englischen bzw. Deutschen bezieht sich auf eine Person, während es im Tibetischen wörtlich „Besitzer eines Objektes“ bedeutet und sich auf das Bewusstsein, einen Geist, bezieht. Und dann werden diese Begriffe in der Formulierung „nichtduales Subjekt/Objekt“ benutzt. Doch worauf bezieht sich das? Heißt das, es gibt überhaupt kein Objekt und Rigpa ist nur reines Gewahrsein, wie das passive Bewusstsein, das im Samkhya als das Atman betrachtet wird? Nun, das ist es gewiss nicht.
„Nichtdual“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass ein Objekt der Wahrnehmung und ein Geist oder Bewusstsein, das es als das kognitive Objekt erfasst, nicht zwei unabhängig existierende Dinge sind. Sie haben keine wahrhaft begründete, selbst-begründete Existenz, von hohen Mauern umgeben, nicht miteinander verbunden und völlig unabhängig voneinander. Natürlich existieren der Geist und seine Objekte nicht auf diese Weise. Würden sie das tun, könnten sie nicht aufeinander einwirken; wir könnten nichts erkennen. Doch nur weil der Geist und dessen Objekt nicht völlig verschieden und unabhängig voneinander sind, sind sie auch nicht identisch. Es ist nicht so, als gäbe es nur Rigpa, reines Gewahrsein, ohne irgendwelche Objekte, und das sei dann das „Ich“. Im Buddhismus hält man dies nicht für das „Ich“. Die buddhistische Behauptung von Rigpa, reinem Gewahrsein, ist somit nicht der Samkhya-Standpunkt eines Atman oder Selbst, das lediglich passives Bewusstsein ist und von Natur aus kein Objekt hat.
Die Nyaya-Behauptung, das Selbst habe kein innewohnendes Gewahrsein
Der Buddhismus vertritt, dass das Selbst und der Geist nicht identisch sind. Zu diesem Punkt müssen wir die „Purva-paksha“-Behauptung des Nyaya heranziehen. Im Nyaya heißt es, das Atman besitze von Natur aus kein Gewahrsein, also überhaupt kein Bewusstsein. Was ist damit gemeint? Was können wir damit anfangen? Denken wir, es gäbe ein „Ich“ und dann gäbe es einen Geist, der Gewahrsein besitzt, und das „Ich“ würde das Gehirn benutzen, um einen Geist zu haben, damit es Dinge erkennt? Hat das „Ich“ auch Gewahrsein? Was ist die Beziehung zwischen dem „Ich“ und dem Geist? Das sind die Fragen, auf die wir eine Antwort finden müssen, wenn wir den Nyaya-Standpunkt in Betracht ziehen.
Die buddhistische Aussage zum Selbst und zum Gewahrsein
Im Samkhya ist davon die Rede, dass das Selbst nur passives Bewusstsein ohne Objekt ist und im Nyaya sagt man, das Selbst habe überhaupt kein Gewahrsein. Im Buddhismus geht man in keines dieser zwei Extreme, sondern sagt, dass das Selbst – und nun reden wir über das Selbst, das nicht widerlegt wird – Objekte wahrnimmt.
Das ist ein interessanter Punkt. Wir sind uns vielleicht nicht bewusst darüber, aber wenn wir darüber reden, was Objekte hat, was Objekte wahrnimmt und was Dinge erkennt, gehen wir nicht davon aus, dass nur unser Sehbewusstsein die sichtbare Form von etwas sieht. Wenn wir sagen, dass nur das Sehbewusstsein sie sieht und wir nicht, ergibt das überhaupt keinen Sinn. Das Selbst, das Atman, wie es im Buddhismus akzeptiert wird, ist dennoch keine Weise, etwas wahrzunehmen. Das Bewusstsein, der Geist, ist eine Weise etwas wahrzunehmen – etwas mit einer Bewusstseinsart wahrzunehmen. Obgleich es keine Weise ist, etwas wahrzunehmen, ist das Selbst sich dennoch Dingen gewahr; wir erkennen Dinge.
Es ist nicht leicht zu verstehen, aber wir können sehen, wie die zwei Extreme vermieden werden. Ein Extrem ist der Samkhya-Standpunkt, das Selbst sei nur passives Gewahrsein, jedoch nicht wirklich eine Weise etwas wahrzunehmen, weil es weder wahrnimmt noch sich irgendetwas bewusst ist. Das andere Extrem ist der Nyaya-Standpunkt, das Selbst sei kein passives Gewahrsein und somit keine Weise irgendetwas wahrzunehmen, und sei sich nichts bewusst. Laut dem Buddhismus ist das Selbst ebenfalls keine Weise etwas wahrzunehmen, doch es ist auch nicht nur passives Gewahrsein; es ist sich Dingen bewusst. Gewissermaßen handelt es sich dabei um einen mittleren Weg, der diese zwei Extreme vermeidet. Darüber sollten wir nachdenken.
Wie sich das Selbst gemäß dem Buddhismus Dingen bewusst ist
Wie ist sich das Selbst gemäß der buddhistischen Sichtweise Dingen bewusst, wie erkennt es Dinge?
Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig erst einmal zu verstehen, welche Art von Phänomen das Selbst ist. Es gibt drei Arten nichtstatischer Phänomene – die Phänomene, die sich von einem Augenblick zum nächsten ändern:
- Eins bezieht sich auf Formen physischer Phänomene: Anblick, Klang, Geruch, Geschmack, körperliche Empfindungen und die körperlichen Sensoren, die mit jeder verbunden sind, wie die lichtempfindlichen Zellen der Augen. Es gibt auch subtile Formen, die nur mit geistigem Bewusstsein erkannt werden können, wie Formen und Klänge, die in Träumen erscheinen.
- Dann gibt es Weisen, sich etwas gewahr zu sein – so übersetze ich den Begriff dafür normalerweise. Es geht jedoch um Weisen, aktiv etwas wahrzunehmen, wenn wir zwischen dem unterscheiden können, etwas aktiv wahrzunehmen und sich nur etwas gewahr zu sein. Sowohl etwas wahrzunehmen als auch sich etwas gewahr zu sein beziehen sich immer auf etwas. Wir können nicht nur dieses Samkhya-Extrem einer Weise haben, sich passiv gewahr zu sein – gewahr über was? „Gewahrsein“ kann nur in Abhängigkeit von etwas entstehen, über das man sich gewahr ist. Zu den Weisen, etwas wahrzunehmen, zählt das Sehbewusstsein, das Hörbewusstsein, das geistige Bewusstsein, die Wut, Anhaftung, Liebe, Konzentration, Vergegenwärtigung, über etwas glücklich zu sein, über etwas unglücklich zu sein und so weiter. All das sind Weisen, etwas wahrzunehmen. Beispielsweise nehmen wir etwas wahr, indem wir wütend darauf sind.
- Die dritte Art von Dingen, die sich von einem Augenblick zum nächsten ändern, sind keines dieser ersten beiden. Ein einfaches Beispiel ist das Alter. Das Alter ist keine Form eines physischen Phänomens und es ist auch keine Weisen, sich etwas gewahr zu sein, aber dennoch ändert es sich von einem Augenblick zum nächsten.
Das Selbst gehört zu dieser dritten Art nichtstatischer Phänomene. Es ändert sich von einem Augenblick zum nächsten, aber es ist keine Weise, etwas wahrzunehmen und auch keine Form eines physischen Phänomens. Als solches ist es ein Zuschreibungsphänomen. Ein Zuschreibungsphänomen ist etwas, das nicht unabhängig von einer Grundlage existieren oder erkannt werden kann. Das Alter kann zum Beispiel nicht unabhängig von seiner Grundlage, dessen Alter es ist, existieren oder erkannt werden. Genauso kann auch eine Person, ein Selbst, nicht unabhängig von seiner Grundlage existieren oder erkannt werden. Die Grundlage der Zuschreibung des Selbst ist ein individuelles Kontinuum von Aggregaten – Körper, Geist usw. Manche der buddhistischen Lehrsysteme Indiens sind sogar noch spezifischer. Im Sautrantika und Svatantrika wird beispielsweise vertreten, dass das Selbst ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage von geistigem Bewusstsein ist, da geistiges Bewusstsein in jedem Moment gegenwärtig ist, und dass es nicht unabhängig von geistigem Bewusstsein existieren oder erkannt werden kann.
Diese zwei Lehrsysteme gehen noch weiter und sagen, die definierende Eigenschaft des Selbst ist auf Seiten des geistigen Bewusstseins zu finden. Mit anderen Worten hat geistiges Bewusstsein die definierenden Eigenschaften des geistigen Bewusstseins und des Selbst. Das ergibt wirklich Sinn. Die meisten von uns identifizieren sich ganz automatisch mit dem Geist, was wahrscheinlich daran liegt, dass die Stimme in unserem Kopf ständig aktiv ist – wir denken, das wären wir.
Weil also die Grundlage der Zuschreibung des Selbst, das geistige Bewusstsein, aktiv Dinge wahrnimmt, ist sich das Selbst gewahr, was das geistige Bewusstsein wahrnimmt. Andernfalls ist es schwer zu erklären, wie das Selbst irgendetwas erkennt. Und wenn das Selbst nichts erkennt, ist dies das Nyaya-Extrem, in dem es heißt, das Selbst habe kein Gewahrsein. Wie könnten wir dann jemals sagen, wir würden etwas erkennen oder wir würden etwas sehen? Das widerspricht dem gesunden Menschenverstand; es widerspricht unserer Erfahrung, unserer gültigen Erfahrung der Welt. Doch weil das Selbst ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage des geistigen Bewusstseins ist, handelt es sich nicht um eine getrennte Entität, die lediglich beobachtet, was das geistige Bewusstsein wahrnimmt.
Obgleich man im Buddhismus, wie er durch diese zwei Lehrsysteme repräsentiert wird, vertritt, dass sich das Selbst Dingen gewahr ist, weil dessen Grundlage der Zuschreibung, das geistige Bewusstsein, Dinge wahrnimmt und die definierende Eigenschaft des Selbst hat, macht dies das Selbst nicht zu einer Weise, etwas wahrzunehmen. Das Selbst ist nicht identisch mit geistigem Bewusstsein. Wäre dem so, befänden wir uns nahe dem Samkhya-Extrem, welches das Selbst als passives Gewahrsein sieht. Allerdings müssten wir zugestehen, dass das Selbst, genau wie das geistige Bewusstsein, immer ein Objekt hat.
Wir sollten eingehend untersuchen: Ist es das, womit wir uns identifizieren, dass wir unser Geist sind? Wie gesagt, ist es für die meisten von uns so, dass wir uns tatsächlich damit identifizieren und so denken. Wir denken und glauben, es gäbe ein Bewusstsein mit einer Selbstwahrnehmung des „Ichs“, das sich gedanklich auf das „Ich“ bezieht, was sich von Leben zu Leben fortsetzt. Davon geht man allerdings im Buddhismus nicht aus. Es ähnelt allerdings dem, was die Samkhyas sagen. Wir beginnen also, die Relevanz zu erkennen, dieses „Purva-paksha“-Material zu studieren und damit zu arbeiten. Es handelt sich dabei nicht um Anthropologie oder vergleichende Religionswissenschaften, sondern um das, was wir im realen Leben glauben.
Dann gilt es zu analysieren, was die Konsequenzen sind, auf diese „Purva-paksha“-Weise zu denken. Was passiert, wenn wir uns mit unserem Geist identifizieren? Welche Art der Verwirrung und welche Probleme treten dadurch zutage? Wie ist es, wenn wir Alzheimer bekommen oder senil werden? Ich erinnere mich sehr gut daran: Meine Mutter hatte Alzheimer. Sie konnte niemanden mehr erkennen. Sie wusste nicht einmal mehr, wie man sich hinlegt, wenn man sie ist Bett brachte. Sie wusste nicht, wie man sich die Brille aufsetzt; sie wusste nichts mehr. Da es so leidvoll war, sich das mitanzusehen, sagte meine Schwester: „Das ist nicht mehr unsere Mutter“. Aber ist das wirklich nicht mehr unsere Mutter? Hat sie nicht mehr ihren Geist und ist nun ein Niemand? Das ergibt keinen Sinn. Nun, wer ist unsere Mutter? Wer ist diese Person? Es hat Konsequenzen, sich nur mit dem Geist zu identifizieren.
Manchmal sagen wir im Englischen: „I’m losing my mind“, (wörtlich: ich verliere meinen Geist), “I was out of my mind. I was not myself.” (Ich war nicht ich selbst.) Wir sagen und denken solche Dinge, aber was bedeuten sie? “I was not in my right mind.” Es gibt so viele merkwürdige Ausdrücke, die wir haben. Das sind allerdings nicht nur Ausdrücke, wir denken und empfinden tatsächlich so. Darüber sollten wir einmal nachdenken. Wir könnten den ganzen Abend mit nur einem dieser komischen Ausdrücke verbringen und es gibt eine ganze Liste davon.
Sollen wir weitermachen, oder braucht ihr einen Moment, um darüber nachzudenken?
Ist das „Ich“ passives Bewusstsein und handelt es sich dabei um dasselbe wie den Geist? Oder ist das „Ich“ etwas, das sich über nichts gewahr ist, nichts weiß und somit völlig getrennt vom Geist ist? Wäre letzteres der Fall, würden wir nichts wahrnehmen. Nur unser Geist nimmt wahr und es ist nicht einmal unser Geist. Wer sind wir dann also?
Hat ein verwirklichtes Wesen Bewusstsein?
Doch ein verwirklichtes Wesen hat kein Bewusstsein.
Betrachtet man es im Sinne eines Buddha, der nur Rigpa, reines Gewahrsein, und kein gewöhnliches Bewusstsein hat, stimmt das. Ein Buddha hat kein gewöhnliches Bewusstsein. Dennoch weiß Buddha Dinge. Ein Buddha verfügt über Allwissenheit. Das ist eine der wichtigsten Qualitäten eines Buddha. Ein Buddha weiß alles.
Hat Buddha einen Geist?
Buddha hat natürlich einen Geist. Es gibt Ebenen der Weisen, sich Dinge gewahr zu sein, und so verfügt ein Buddha nur über die subtilste, reinste Weise, sich Dinge gewahr zu sein. Im Nyingma nennen wir sie „Rigpa“, „reines Gewahrsein“. In anderen tibetischen tantrischen Traditionen bezeichnen wir sie als „Geist des klaren Lichts“. Es bedeutet nicht, dass ein Buddha nichts weiß. Natürlich weiß ein Buddha Dinge. Ein Buddha ist allwissend und hat Mitgefühl für alle fühlenden Wesen. Mitgefühl ist eine Weise, Dinge wahrzunehmen. Ein Buddha hat jedoch nicht diese gröberen Ebenen des Geistes, die wir haben, wie die konzeptuelle Ebene. Das allwissende Rigpa oder der allwissende Geist des klaren Lichts eines Buddhas erkennt Dinge nicht auf diese Weise.
Was verbessert sich, wenn wir den Dharma praktizieren?
Wenn wir wir den Dharma praktizieren, was verbessert sich dann?
Man müsste sagen, dass sich sowohl das Geisteskontinuum als auch, im weiteren Sinne, das Selbst, die Person, das „Ich“, verbessert, das eine Zuschreibung auf der Grundlage dieses Geisteskontinuums ist.
Das Geisteskontinuum, das nicht nur aus dem geistigen Bewusstsein, sondern aus den fünf Aggregaten besteht, setzt sich von einem Augenblick zum nächsten ohne Anfang und Ende fort. Es setzt sich sogar in der Buddhaschaft fort – sozusagen dem Endpunkt seiner Verbesserung. Auf der Grundlage dieses Geisteskontinuums gibt es als Grundlage der Zuschreibung ein Selbst, das „Ich“. Betrachten wir das „Ich“ in jedem Augenblick, so ändern sich in jedem Augenblick die Aggregate, die dessen Grundlage der Zuschreibung sind, und somit ändert sich quasi auch das Selbst.
Das Selbst ist ein nicht-statisches Phänomen. Wenn wir über all diese Momente des „Ichs“ nachdenken, tun wir es konzeptuell durch die Kategorie „Ich“, der auf der Grundlage all dieser „Ichs“ als dessen Grundlage der Bezeichnung geistig eine Bezeichnung zugewiesen wurde. Und diese Kategorie „Ich“, und durch sie jeder Moment des „Ichs“, kann als eine Grundlage der Benennung des Wortes „Ich“ dienen. Doch das Selbst, das „Ich“, ist nicht das Wort „Ich“. Es ist das, worauf sich das Wort „Ich“ bezieht.
Hier sollte ich, glaube ich, mein klassisches Beispiel anführen. Das klassische Beispiel ist ein Film. Wir haben einen Film, sagen wir „Krieg der Sterne“. In diesem Film gibt es jeden Moment des Filmes, einen Moment nach dem anderen. Der Film „Krieg der Sterne“ ist nicht nur der Titel des Films. Das ist nur ein Name und nicht der Film. Das ist der Name des Films und der Film „Krieg der Sterne“ ist nicht nur ein Moment des Films. Der Titel, den wir ihm gegeben haben, bezieht sich, auf der Grundlage all der Momente des Films, auf den Film „Krieg der Sterne“.
Findet der ganze Film „Krieg der Sterne“ in einem Moment des Filmes statt? Nein. Gibt es einen Film „Krieg der Sterne“? Ja. Haben wir den Film „Krieg der Sterne“ gesehen? Ja. Was haben wir gesehen? Wir haben immer nur einem Moment auf einmal gesehen. Als wir den zweiten Moment sahen, fand der erste schon nicht mehr statt. Was haben wir gesehen?
Nun, das Selbst, das „Ich“, ist genauso. Es ist das, worauf sich das Wort „Ich“ auf der Grundlage jedes Moments unserer Erfahrung bezieht. Jeder Moment der Erfahrung, ohne Anfang und Ende, auch wenn wir ein Buddha sind, besteht aus fünf Aggregaten, fünf Aggregat-Faktoren der Erfahrung, was nur ein Klassifizierungsschema ist. Es existiert nicht im Himmel in der Form von fünf Unterteilungen. In jedem Moment gibt es ein oder zwei Elemente jeder dieser fünf Aggregate und jedes Element eines jeden dieser Aggregate ändert sich unterschiedlich schnell. Es gibt also nichts Statisches und Konstantes, genau wie es in dem Film nichts Konstantes gibt – wir sprechen hier nicht von der Spule des Films. Obgleich nichts konstant ist, gibt es doch einen Film und der Film kann mit dem Namen „Krieg der Sterne“ benannt werden. Was uns betrifft, so ist der Name „Ich“. In jedem Leben haben wir einen anderen persönlichen Namen, aber das ist irrelevant. Im gesamten anfangs- und endlosen Kontinuum geht es um das „Ich“; es ist individuell. Der Film „Krieg der Sterne“ wird nicht mittendrin zu dem Film „Rosemaries Baby“. Er bleibt ein Film und er bleibt individuell.
Eines der Aggregate, das immer da ist, ist eine Ebene des Bewusstseins, des Erkennens, ob wir nun von einer groben Ebene von einfachem Sinnesbewusstsein reden, einer subtilen Ebene konzeptueller Gedanken oder des Träumens, oder der subtilsten Ebene des Rigpa oder klarens Lichts. Das ist immer da. Weil dieser subtilste Geist immer ein Objekt hat, können wir sagen, das Selbst erkennt, „ich“ erkenne, weil das Selbst eine Zuschreibung des Geisteskontinuums als dessen Grundlage ist.
Was ist der Unterschied zwischen dem Selbst und dem Geist?
Wie unterscheidet sich das Selbst vom Geist?
Wie schon erklärt, ist der Geist eine Weise des Wahrnehmens von Dingen, und das Selbst ist etwas, das weder eine Weise des Wahrnehmens von etwas noch die Form eines physischen Phänomens ist. Der Geist ist kein Ding. Wir halten den Geist für ein Gehirn oder etwas in der Art, aber das ist er nicht. Der Geist bezieht sich auf geistige Aktivität, wie sie aus einer subjektiven, erfahrungsgemäßen Sicht beschrieben wird, und diese Aktivität findet von einem Moment zum nächsten statt. Dieses Aktivität hat drei Aspekte:
- Das Entstehens eines geistigen Hologramms – das Wort dafür ist „Klarheit“. Klarheit bedeutet nicht, etwas klar im Fokus zu haben. Vielmehr bezieht es sich darauf, dass etwas entsteht und klar wird, was sich wiederum nicht auf scharfes Fokussieren bezieht. Es entsteht immer ein geistiges Hologramm. Die westliche Sicht ist, dass Photonen auf die Retina des Auges treffen, neuroelektrische Impulse und chemische Vorgänge auslösen, und dann irgendwie in etwas umgewandelt werden, was wir nur als ein geistiges Hologramm beschreiben können, und das erkennen wir, wenn wir sehen. Das ist ein Aspekt der Aktivität.
- Eine andere Weise, diese gleiche Aktivität zu beschreiben, ist als kognitive Beschäftigung. Das Entstehen eines geistigen Hologramms ist das, was das Wahrnehmen von etwas ist. Handelt es sich um das visuelle Hologramm eines Bildes, ist es Sehen und wenn es das hörbare Hologramm eines Klanges ist, ist es Hören. „Geistiges Hologramm“ bedeutet nicht unbedingt visuell oder gar sensorisch. Das Hologramm könnte ein Gedanke sein – das ist Denken. Es könnte sogar eine Emotion sein. Das ist das Wahrnehmen von etwas: es ist die geistige Aktivität des Entstehens eines geistigen Hologramms von etwas, was dasselbe ist, wie die kognitive Beschäftigung mit etwas. Diese ersten zwei Aspekte sind nur zwei verschiedene Weisen, die gleiche geistige Aktivität aus einer subjektiven Sichtweise zu beschreiben. Dies widerspricht nicht der objektiven Beschreibung der gleichen Aktivität in Bezug auf das Gehirn, die Neuronen, Gehirnwellen, Hormone und so weiter.
- Das dritte Wort ist „nur das“ oder „bloß das“, was bedeutet, dass es kein getrenntes „Ich“ gibt, das diese geistige Aktivität beobachtet oder kontrolliert. Außerdem gibt es keinen getrennten Geist, den das „Ich“ wie eine Maschine bedient und diese Aktivität stattfinden lässt. Es gibt nur diese geistige Aktivität, die sich von einem Augenblick zum nächsten ändert, während sich das Objekt von einem Augenblick zum nächsten ändert. Das „Ich“ ist ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage dieser geistigen Aktivität; es ist das definierende charakteristische Merkmal, welches sich auf Seiten dieser geistigen Aktivität befindet, doch das „Ich“ ist nicht dasselbe wie diese geistige Aktivität. Das „Ich“ ist auch nicht etwas, dessen definierende Eigenschaft sich in ihm befindet und das somit völlig getrennt von dieser geistigen Aktivität oder einer Grundlage existieren und sich nichts gewahr sein könnte. Der erste Standpunkt ist Samkhya und der andere Nyaya.
Es gibt jedoch bedeutende Unterschiede zwischen dem, wie der Geist Dinge wahrnimmt und wie sich das Selbst Dingen gewahr ist. Geistige Aktivität – was wir als „Geist“ bezeichnen – nimmt Dinge wahr, indem sie das geistige Hologramm eines Objektes entstehen lässt, was man auch als kognitive Beschäftigung mit diesem Objekt beschreiben kann. Das Selbst, das „Ich“, erkennt hingegen Dinge nur, indem es sich Dingen lediglich durch die kognitive Beschäftigung mit ihnen gewahr ist. Das Selbst lässt keine geistigen Hologramme entstehen; nur Arten der Wahrnehmung bringen sie hervor. Das ist ein großer Unterschied.
Ein weiterer Unterschied taucht mit dem so genannten „unterbewussten Gewahrsein“ auf. Wenn wir beispielsweise schlafen, hört nur das Hörbewusstsein das Ticken des Weckers, während wir uns nicht darüber bewusst sind. Das Selbst hört im Grunde den Klang des Tickens nicht. Es hat nur ein unterbewusstes Gewahrsein dessen, was wir im Westen vielleicht als „unbewusstes Gewahrsein“ bezeichnen würden. Doch wenn der Weckruf ertönt, hören ihn sowohl wir als auch das Hörbewusstsein. Die geistige Aktivität, der Geist, ist also immer manifest, während das Gewahrsein des Selbst von Objekten manchmal nur unterbewusst ist. Das ist gemäß den buddhistischen Erklärungen ein weiterer Unterschied zwischen dem Geist und dem Selbst.