Wahrnehmungsobjekte
Wahrnehmungen (tib. shes-pa) haben zahlreiche Wahrnehmungsobjekte (tib. yul) – Objekte, die auf irgendeine kognitive Weise erkannt werden. Die verschiedenen Schulen indischer Lehrsysteme unterscheiden sich in ihren Erklärungen von Objekten verschiedener Arten der Wahrnehmung (tib. blo-rig). Wir wollen einige Punkte aus dem Sautrantika-System betrachten und sie mit Erklärungen anderer Systeme ergänzen, wenn es bedeutende Divergenzen gibt. Außerdem legen einige Traditionen des tibetischen Buddhismus die Aussagen der einzelnen indischen Schulen unterschiedlich aus. Hier werden wir nur die Darstellung der Gelug-Tradition knapp umreißen.
Beteiligte Objekte und konventionelle Objekte, die tatsächlich erfahren werden
Das beteiligte Objekt (tib. ‘jug-yul) einer Wahrnehmung ist die wichtigste Art von Objekt, das mit einer bestimmten Art von Wahrnehmung (tib. shes-pa) verbunden ist. Ein Beispiel dafür ist die visuelle Form (tib. gzugs) eines physischen Phänomens, wie etwa die Form und Farbe eines Tisches, und das physische Phänomen des Tisches selbst in einer visuelle/n Wahrnehmung (mig-shes).
Für alle Wahrnehmungen im Allgemeinen – seien sie begrifflich (tib. rtog-bcas) oder unbegrifflich (tib. rtog-med) – gilt, dass das beteiligte Objekt das konventionelle Objekt ist , das tatsächlich erlebt wird (tib. tha-snyad spyod-yul).
Objekte der Ausrichtung
Das Objekt der Ausrichtung (tib. dmigs-yul) ist das Objekt, auf das sich die Wahrnehmung ausrichtet und das als fokale Bedingung (tib. dmigs-rkyen, objektive Bedingung) der Wahrnehmung dient. Die Objekte der Ausrichtung existieren, bevor Wahrnehmungen von ihnen entstehen; sie haben ihre eigenen Kontinua, die sich von den Kontinua der entsprechenden Wahrnehmungen unterscheiden.
Begriffliche Wahrnehmungen haben keine Objekte der Ausrichtung. Aus der Sicht der Systeme des Chittamatra und des Yogachara-Svatantrika-Madhyamaka haben Sinneswahrnehmungen auch keine Objekte der Ausrichtung. Gemäß diesen Traditionen werden Sinneswahrnehmungen nicht durch die fokale Bedingung äußerer Objekte (tib. phyi-don) hervorgerufen, die unabhängig von geistiger Aktivität (tib. sems, Geist) existieren.
Erscheinende Objekte und kognitiv erfasste Objekte
Das erscheinende Objekt (tib. snang-yul) einer Wahrnehmung entspricht dem kognitiv erfassten Objekt (tib. gzung-yul) der Wahrnehmung. Es ist das direkte Objekt (tib. dngos-yul), dass in einer Wahrnehmung auftaucht, als ob es sich direkt vor dem Bewusstsein befände (tib. blo-ngor). Das erscheinende Objekt braucht nichts Visuelles zu sein. Es kann sich um jedes beliebige Objekt der Wahrnehmung handeln, einschließlich Geräuschen oder anderen Sinnesobjekten, Geisteszuständen und Kategorien.
Geistige Aspekte, kognitive Erscheinungen und geistige Repräsentationen
Eine Wahrnehmung nimmt einen geistigen Aspekt (tib. rnam-pa) ihres beteiligten Objekts an, nämlich in dem Sinne, dass sie während ihrer kognitiven Beschäftigung (tib. ‘jug-pa) mit dem beteiligten Objekt zugleich eine kognitive Erscheinung (tib. snang-ba) davon auftreten lässt (tib. shar-ba). Eine kognitive Erscheinung ist eine geistige Darstellung (tib. snang-ba) eines kognitiven Objekts, sie ist so etwas wie ein geistiges Hologramm. So lässt zum Beispiel die Wahrnehmung eines Tisches nicht das Objekt der Ausrichtung entstehen – den Tisch selbst – , sondern nur den Anblick des Tisches, ganz gleich, ob man den Tisch nun sieht, sich an ihn erinnert oder sich ihn vorstellt.
Klarheit, Gewahrsein und geistige Aktivität (Geist)
Eine (1) kognitive Erscheinung von etwas gleichzeitig damit entstehen zu lassen, dass man sich (2) mit ihm beschäftigt, sind die beiden definierenden Charakteristika dafür, (1) etwas kognitiv klar werden zu lassen (tib. gsal, Klarheit) und (2) ein Gewahrsein von etwas hervorzubringen (tib. rig, Gewahrsein).
Etwas kognitiv klar werden zu lassen und ein Gewahrsein von etwas hervorzubringen sind ihrerseits die definierenden Charakteristika von geistiger Aktivität (tib. sems, Geist).
Etwas kognitiv klar werden zu lassen heißt nicht unbedingt, dass es klar im Sinne von scharf fokussiert ist. Das, was kognitiv auftaucht, kann auch etwas Verschwommenes oder eine verworrene Idee sein.
Ein Gewahrsein von etwas hervorzubringen heißt nicht unbedingt, dass das Gewahrsein bewusst ist. Es muss auch nicht notwendigerweise dazu führen, dass man weiß, was es kognitiv erscheinen lässt. Eine Wahrnehmung kann unterbewusst sein (tib. bag-la nyal) und es kann ihr an kognitiver Gewissheit (tib. nges-pa) fehlen.
Objektive Entitäten, metaphysische Entitäten, Bedeutungs-/Objekt-Kategorien und Hör-Kategorien
In der Sinneswahrnehmung (tib. dbang-shes) – die immer unbegrifflich ist – beispielsweise der visuellen Form eines Computers sind die erscheinenden Objekte farbige Formen und der Computer selbst. In der Hörwahrnehmung eines Wortes, wie „Computer“ sind die erscheinenden Objekte die Töne der Konsonanten und Vokale und das Wort „Computer.“ Dies alles sind objektive Entitäten (tib. rang-mtshan, individuell charakterisierte Phänomene).
In der begrifflichen Wahrnehmung (tib. rtog-pa) – bei der es sich immer um geistige Wahrnehmung (tib. yid-shes) handelt – kann das erscheinende Objekt zum Beispiel die Objekt-Kategorie (tib. don-spyi, Bedeutungs-Kategorie, Bedeutungs-Allgemeinheit) eines Computers sein, wenn wir wissen, was ein Computer ist. EineObjekt-Kategorie ist die begriffliche Klasse, in die alle einzelnen Phänomene passen, die eine Gruppe von Phänomenen konstituieren, welche eine gemeinsame Eigenschaft haben. Zum Beispiel: alle individuellen Computer passen in die Objekt-Kategorie Computer. Vom Gesichtspunkt der Sprache ist eine Objekt-Kategorie auch eine Bedeutungs-Kategorie. EineBedeutungs-Kategorie ist die begriffliche Klasse, in die alle einzelnen Phänomene passen, die die Gruppe von Phänomenen konstituieren, auf die sich ein Wort gültig bezieht, wenn wir die Bedeutung des Wortes in gültiger Weise kennen. Zum Beispiel: Alle individuellen Computer passen in die Bedeutungskategorie Computer – sie alle sind Phänomene, auf die sich das Wort „Computer“ bezieht, wenn wir wissen, was das Wort „Computer“ bedeutet.
Wenn wir die Bedeutung eines Wortes nicht kennen, können wir auch nur im Sinne einer Hör-Kategorie (tib. sgra-spyi, Geräusch-Allgemeinheit) daran denken. Eine Hör-Kategorie ist die konzeptuelle Klasse, in die alle einzelnen Phänomene passen, die eine Gruppe von Phänomenen bilden, welche ein gemeinsames akustisches Muster haben. Zum Beispiel: ganz gleich mit welcher Stimme, welchem Akzent und welcher Lautstärke die Töne des Wortes Computer ausgesprochen werden, sie passen in die Hör-Kategorie Computer. Jemand, der die Bedeutung des Wortes „Computer“ nicht kennt, kann nur mittels einer Hör-Kategorie an das Wort denken. Jemand, der die Bedeutung des Wortes kennt, kann mit einer Kombination aus Hör-Kategorie und Bedeutungs-/Objekt-Kategorie daran denken. Obwohl es in den klassischen buddhistischen Texten normalerweise nicht ausdrücklich erwähnt wird, können Hör-Kategorien auch aus einem Geräusch bestehen, etwa die Kategorie des Klopfens an einer Tür oder einer musikalischen Melodie.
Ebenfalls in den klassischen Texten normalerweise nicht ausdrücklich erwähnt ist die Tatsache, dass konzeptuelle Kategorien überdies auch bildlich oder solche von Gerüchen, Geschmack, Tastbarem oder irgendeiner anderen körperlichen Empfindung sein können. Jede dieser Kategorien kann auch eine zugehörige Bedeutungs-/Objekt-Kategorie haben. Zum Beispiel: An eine Orange können wir mittels einer konzeptuellen Kategorie davon denken, wie eine Orange aussieht, wie sie riecht, wie sie schmeckt oder wie sie sich in unserem Mund anfühlt.
Auch Hinfallen zum Beispiel können wir uns mittels einer konzeptuellen Kategorie davon vorstellen, wie es sich körperlich anfühlt, hinzufallen. All diese konzeptuellen Kategorien sind metaphysische Entitäten (tib. spyi-mtshan, allgemein charakterisierte Phänomene, Allgemeinheiten).
Konzeptuelle Kategorien sind die erscheinenden Objekte begrifflicher Wahrnehmung. Mit anderen Worten: Sie sind die direkten Objekte, die in der begrifflichen Wahrnehmung auftauchen, als ob sie direkt vor dem geistigen Bewusstsein stünden. Doch die konzeptuellen Kategorien selbst haben keinerlei physische Eigenschaften, wie etwa ein Geräusch oder eine farbige Form sie haben. Was in der begrifflichen Wahrnehmung zum Beispiel eines Computer tatsächlich erscheint, ist also ein geistiger Aspekt – eine geistige Repräsentation oder ein geistiges Hologramm – welcher der farbigen Form eines individuellen Computers und so dem Computer selbst ähnelt. Die farbige Form und der Computer selbst erscheinen im konzeptuellen Denken allerdings nicht lebendig, so als würden wir uns an unseren Computer erinnern oder ihn visualisieren. Das liegt daran, dass sie nur durch das Medium der konzeptuellen Kategorien bzw. vermischt mit diesen erscheinen.
Begrifflich implizierte Objekte und Objekte, die als kognitiv erfasste existieren
In der begrifflichen Wahrnehmung, bei der eine konzeptuelle Kategorie mitspielt, ist das jeweilige Objekt, welches der Kategorie entspricht, das begrifflich implizierte Objekt (tib. zhen-yul, begrifflich erfasstes Objekt, impliziertes Objekt). In der begrifflichen Wahrnehmung ist ein solches Objekt gleichbedeutend mit dem Objekt, das als kognitiv erfasstes existiert (tib. ‘dzin-stangs-kyi yul). Im Falle der begrifflichen Wahrnehmung eines Computers zum Beispiel ist das begrifflich implizierte Objekt der tatsächliche Computer selbst. Unbegriffliche Wahrnehmungen haben keine begrifflich implizierten Objekte.
Die begriffliche Wahrnehmung bringt Erscheinungen von wahrhaft erwiesener Existenz (tib. bden-snang, Erscheinungen von wahrer Existenz) hervor. Der Ausdruck „wahrhaft erwiesene Existenz“ bezieht sich auf die Existenz von Phänomenen, die (angeblich) durch die Kraft von etwas erwiesen sind, was auf Seiten des Objekts auffindbar ist. So bringt die begriffliche Wahrnehmung als ihr erscheinendes Objekt nicht nur – beispielsweise – die Kategorie Computer hervor, sondern auch die Kategorie wahrhaft erwiesene Existenz. Die Kategorie Computer ist die Kategorie dessen, was der Gegenstand ist; die Kategorie wahrhaft erwiesene Existenz ist die Kategorie der Art und Weise, wie der Gegenstand existiert. Die begrifflich erfassten Objekte sind ein tatsächlicher Computer und tatsächliche wahrhaft erwiesene Existenz.
Gemäß der Sicht des Prasangika-Madhyamaka-Systems gibt es keine wahrhaft erwiesene Existenz. Es ist eine Existenzweise, die unmöglich ist. Etwas, das gar nicht existiert, kann nicht kognitiv erscheinen. Doch wir können an etwas denken, das gar nicht existiert – mit einer Kategorie dieses nicht existierenden Phänomens als erscheinendem Objekt in unserem Denken und mit einem geistigen Aspekt bzw. einer geistigen Repräsentation, die dem nicht existenten Phänomen ähnelt, das im Denken erscheint. In der begrifflichen Wahrnehmung eines Computers zum Beispiel gibt es einen Computer als begrifflich impliziertes Objekt der Kategorie Computer. Der Computer, das begrifflich implizierte Objekt der Kategorie Computer in einer begrifflichen Wahrnehmung, existiert. Doch wahrhaft erwiesene Existenz im Sinne des begrifflich implizierten Objektes der Kategoriewahrhaft erwiesene Existenz gibt es nicht. Daher wird gesagt, dass die begriffliche Kategorie wahrhaft erwiesene Existenz kein begrifflich impliziertes Objekt hat. Kurz: ein Computer existiert, doch ein wahrhaft existierender Computer existiert nicht.
Auch die sinnliche, unbegriffliche Wahrnehmung bringt Erscheinungen wahrhaft existierender Existenz hervor. Die visuelle Wahrnehmung eines Computers zum Beispiel bringt sowohl die kognitive Erscheinung (geistige Repräsentation) eines Computers als auch von wahrhaft erwiesener Existenz hervor. Gemäß dem Prasangika-System ist die zweite dieser kognitiven Erscheinungen allerdings nur die von scheinbar wahrhafter Existenz, die die Wahrnehmung fabriziert hat. Die visuelle Wahrnehmung hat keine begrifflich erfassten Objekte. Doch sie hat Objekte, die als kognitiv erfasste wird – nämlich den Computer und die wahrhaft erwiesene Existenz. Wahrhaft erwiesene Existenz gibt es allerdings nicht; tatsächlich hat die Wahrnehmung also nur ein Objekt als ein kognitiv Erfasste, das existiert – nämlich den Computer.
Bezugsobjekte der Bezeichnung und bezeichnete „Dinge“
Gemäß dem Madhyamaka-System beinhaltet geistiges Bezeichnen (tib. ming ‘dogs-pa), das immer begrifflich ist, stets eine Bezeichnung – ein Wort oder einen Begriff (tib. rtags) -, eine Basis für das Bezeichnen (tib. gdags-gzhi) und ein Bezugsobjekt der Bezeichnung (tib. btags-chos, zugeschriebenes Objekt). Das Bezugsobjekt ist das, worauf sich eine Bezeichnung, ein Wort oder Begriff beziehen.
In der begrifflichen Wahrnehmung beispielsweise eines Computers lautet die geistige Benennung „ Computer“. Die Basis für die Benennung können farbige Formen sein. Das Bezugsobjekt der Bezeichnung ist ein Computer. Das Bezugsobjekt der Bezeichnung ist nicht dasselbe wie die Basis für die Bezeichnung: die farbigen Formen, die erscheinen, wenn man einen Computer sieht, sind nicht der Computer. Ferner ist das bezeichnete Objekt auch nicht das geistige Etikett: ein Computer ist nicht das Wort „Computer“. Ein Computer ist das, worauf sich das Wort „Computer“ bezieht, wenn es auf der Grundlage passender farbiger Formen zugeschrieben wird.
Wenn man an einen Computer denkt, tauchen geistige Repräsentationen (kognitive Erscheinungen) von farbigen Formen und von scheinbar wahrhaft erwiesener Existenz auf. Diesen werden die Bezeichnungen „Computer“ und „wahrhaft erwiesene Existenz“ gegeben. Die Bezugsobjekte dieser Bezeichnung sind ein Computer und wahrhaft erwiesene Existenz. Die begrifflich implizierten Objekte sind ein tatsächlicher Computer und tatsächliche wahrhaft erwiesene Existenz – die es eigentlich gar nicht gibt.
Gemäß dem Prasangika-System ist wahrhaft erwiesene Existenz gleichbedeutend mit Existenz, die aufgrund der Eigennatur von etwas besteht (tib. rang-bzhin-gyis grub-pa, auffindbare erwiesene Existenz, inhärente Existenz). Diese unmögliche Existenzweise wird als eine Existenz definiert, die (vermeintlich) dadurch erwiesen ist, dass wenn man nach dem bezeichneten „Ding“ (tib. btags-don) sucht – dem tatsächlichen „Ding“, auf das man sich mit dem Namen oder Begriff bezieht bzw. das dem Namen oder Begriff für etwas entspricht – , dieses bezeichnete „Ding“ auffindbar ist. Das bezeichnete „Ding“ ist (vermeintlich) auf Seiten des Objekts, das benannt wird, zu finden.
In der begrifflichen Wahrnehmung eines Computers existieren das Bezugsobjekt der Bezeichnung Computer (nämlich ein Computer) und das begrifflich implizierte Objekt (ein tatsächlicher Computer). Aber das bezeichnete „Ding“ (ein auffindbarer Computer), der auf der Seite des Bezugsobjekts der Bezeichnung oder des begrifflich implizierten Objekts besteht und aus eigener Kraft die Existenz des Computers erweist, existiert nicht. Ferner gibt es in dieser begrifflichen Wahrnehmung das Bezugsobjekt der Bezeichnung „wahrhaft erwiesene Existenz“ (nämlich wahrhaft erwiesene Existenz). Doch weder das begrifflich implizierte Objekt (tatsächliche wahrhaft erwiesene Existenz) noch das bezeichnete „Ding“ (die auffindbare wahrhaft erwiesene Existenz, die auf der Seite des Bezugsobjekts Objekts besteht und seine Existenz erweist) existieren.