15 Unsere Gefühle von Blockaden befreien

Verschiedene Gefühlsaspekte unterscheiden

Die Einstellung der zehn Geistesfaktoren ist ein wirksames Mittel zur Vermehrung von Aufmerksamkeit Problemen gegenüber und zur Verstärkung der Absicht, vernünftig auf sie zu reagieren. Verschiedene Faktoren können allerdings immer noch im Wege stehen. Einer der schwierigsten Faktoren ist die Unfähigkeit überhaupt etwas zu fühlen. Hier wollen wir den Begriff „ fühlen“ nicht auf seine Definition im Zusammenhang mit den zehn Geistesfaktoren beschränken, sondern auch das Gefühlsleben mit einbeziehen.

Häufig erleben wir eine Art Blockade unserer Gefühle. Wir sprechen davon, „nicht in Kontakt“ mit unseren Gefühlen zu sein – mit anderen Worten: Wir sind ihnen entfremdet. Wir sagen: „ Ich fühle nichts.“ Manchmal sind wir so verwirrt, dass wir nicht einmal wissen, was wir fühlen. Unsere Gefühle können so komplex sein, dass sie uns Angst machen. Doch diese Verwirrung bezüglich unserer Gefühle lässt sich auflösen, indem wir ihre Bestandteile erkennen. Wenn wir versuchen, ausgeglichene Sensibilität zu entwickeln, sind die beiden wichtigsten Komponenten das Fühlen irgendeiner Ebene von Glück oder Trauer und das Fühlen irgendeiner Ebene von Sympathie. Diese beiden wollen wir nun eingehender betrachten und dann die Beziehung zwischen ihnen untersuchen.

Irgendeinen Grad von Glück oder Trauer erfahren

Auch wenn wir keine Sympathie für jemanden empfinden, so fühlen wir doch stets irgendetwas im Rahmen des Spektrums von vollkommenem Glück bis zu tiefster Traurigkeit. Schließlich ist es in jedem Augenblick unseres Lebens ein integraler Bestandteil unserer Erfahrung, irgendeine Ebene von Glück oder Unglück zu empfinden. Wenn wir also sagen, dass wir bei einer Begegnung mit einem Menschen überhaupt nichts empfinden, so ist das schlichtweg falsch. Bei aufmerksamer Selbstanalyse entdecken wir, dass wir einen geringen Grad von Glück oder Unzufriedenheit erfahren. Nur ganz selten befinden sich unsere Gefühle genau in der Mitte, so dass sie weder das eine noch das andere sind. Gefühle, die im niedrigen Intensitätsbereich, nahe der Neutralität liegen, sind durchaus nicht farblos. Auch beweisen sie nicht, dass wir uns nur wenig um die Dinge scheren, weil uns nichts mit Leidenschaft erfüllt. Derartige Ge­fühle sind lediglich Teil der Glück/Unglück-Skala, nicht mehr und nicht weniger.

Wir können diesen Punkt besser verstehen lernen, indem wir be­obachten, welche Gefühle beim Betrachten einer Wand entstehen. Wenn es uns an Interesse mangelt und wir wegschauen wollen, sind wir unzufrieden. Das bedeutet, dass wir ein geringes Maß an Un­glück­lichsein empfinden. Wenn wir unseren Blick auf die Wand ge­richtet halten, und sei es nur aus Faulheit oder Langeweile, sind wir zufrieden mit dem, was wir sehen. Also empfinden wir einen niedrigen Grad von Glücklichsein. Wir finden den Anblick wohltuend oder neutral.

Wir müssen bei alldem die Definitionen von Glück und Unglück im Sinn behalten und dürfen den Geistesfaktor Gefühl nicht mit dem Spüren einer Körperempfindung verwechseln. Glück ist ein angenehmes Gefühl, das wir gerne weiterhin erfahren möchten, Unglück hingegen ist ein unangenehmes Gefühl, das wir gerne abstellen wür­den. Ein körperliches Gefühl wiederum ist ein durch unseren Tastsinn wahrgenommener Eindruck. Unter örtlicher Be­täubung zum Beispiel spüren wir das körperliche Gefühl nicht mehr, das der Zahnarzt beim Bohren verursacht. Trotzdem können wir uns dabei durchaus unglücklich fühlen.

Wenn wir diesen Unterschied verstehen, begreifen wir auch, dass wir auf jeden Fall etwas fühlen, wenn wir den Gesichtsausdruck eines Menschen sehen. Das ist völlig unabhängig davon, ob wir genug Interesse und Aufmerksamkeit aufbringen, um zu bemerken, wie es dem Menschen geht, oder nicht. Wir wissen, dass wir etwas fühlen, weil wir den Menschen entweder weiter anschauen oder unseren Blick abwenden. Mit anderen Worten: Entweder füh­len wir uns wohl bei seinem oder ihrem Anblick, oder wir sind verlegen.

Sich von aufwühlenden, die Sensibilität blockierenden Gefühlen befreien

Jedes Gefühl aus dem Spektrum von Glück und Unglück kann von zweierlei Art sein – aufwühlend oder nicht aufwühlend. Der Un­ter­schied zwischen beiden besteht darin, dass wir das Gefühl einmal mit Verwirrung vermischen, ein andermal nicht. Der Analyse im Gelugpa-Stil zufolge werden unsere Gefühle durch Verwirrung zu scheinbar soliden, aus eigener Kraft existierenden Entitäten aufgeblasen. Es scheint, als wären sie von einer dicken Umrisslinie umgeben, wie die auszumalenden Dinge in einem Malbuch. Dann malen wir diese Umrisslinie mit einer scheinbar konkreten, von unserer Ver­wirrung projizierten Identität aus. Weil wir daran glauben, dass unsere Gefühle diese eingebildete „wahre Identität“ tatsächlich besitzen, betrachten wir sie mit Anhaftung oder Abneigung.

Sind wir glücklich, so kann das zum Beispiel deutlich unsere Kapazität erhöhen, Menschen, die Schmerz empfinden, zu helfen. Wenn uns jedoch unsere Verwirrung unser eigenes Glück als die wundervollste und wichtigste Angelegenheit der Welt erscheinen lässt, haften wir an und werden besitzergreifend, sobald wir Glück erfahren. Wir wollen mit niemandem zusammentreffen oder umgehen müssen, der Probleme hat, weil das unsere gute Laune ruinieren könnte. Glück, das auf diese übertriebene Weise empfunden wird, ist eine im negativen Sinne aufwühlende Erfahrung, obwohl sie sich gut, ja sogar erhebend anfühlt. Weil wir Angst haben, unserer Freuden beraubt zu werden, macht uns diese Art von Glück un­empfänglich für andere und für uns selbst. Häufig erleben wir das Syndrom bei Menschen, die unter dem Einfluss eupho­ri­sie­render Dro­gen stehen.

Wenn wir dann einmal nicht im Besitz dieses scheinbar wunderbaren, doch flüchtigen Glücks sind, sind wir darauf versessen, es wieder zu erlangen. Auch das lässt uns unsensibel gegenüber anderen handeln, zum Beispiel wenn wir beim Sex nur an unseren eigenen Höhepunkt denken.

Wenn wir Traurigkeit aufblasen, lässt unser Geist sie uns mons­trös und beängstigend erscheinen. Scheinbar kann sie uns verschlingen wie Treibsand. Wir wollen dann unangenehme Situationen unbedingt vermeiden, damit wir nicht in Depression verfallen. Folglich haben wir auch keinerlei Interesse daran, von den Sorgen anderer zu hören oder sie gar zu besuchen, wenn sie krank sind.

Wenn wir neutrale Gefühle oder solche von niedriger Intensität aufblasen, lässt unser Geist sie uns als ein unbefriedigendes „Nichts“ erscheinen. Empfinden wir für eine Sache oder Person keine Leidenschaft, so scheint es uns, als wären wir nicht real. Einem hyperemo­tionalen Menschen erscheinen neutrale Gefühle als etwas Aufwühlendes. Bei dem Versuch, sie zu vermeiden, probiert er alle Extreme aus und reagiert völlig übertrieben auf das, was andere Leute sagen. So kann es geschehen, dass wir zutiefst empört sind über jede Ungerechtigkeit, die andere ertragen müssen oder gar schluchzend zusammenbrechen. Diese maßlose Selbstdarstellung unserer Emotionen schüchtert allerdings den anderen nur ein, macht ihn verlegen oder unfähig, mit uns über seine Probleme zu sprechen. Statt Trost von uns zu erhalten, müssen andere uns beruhigen.

Ausgeglichene Sensibilität geht mit glücklichen, traurigen und neu­tralen Gefühlen einher, aber nur von der Art, die uns nicht auf­wühlt. Um auf diese Weise empfinden zu können, müssen wir un­sere Gefühle von jeder Aufgeblasenheit befreien. Dazu müssen wir nur erkennen, dass unsere Fantasien bezüglich ihrer Existenzweise nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Das Glück, sein Leben mit einem Partner zu teilen kommt niemals dem gleich, was die Leute im Märchen empfinden, die mit einem Prinzen oder einer Prinzessin „glücklich bis an ihr Lebensende“ wurden. Die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen kann viele Jahre dauern, aber sie bedeutet nicht das Ende unseres Lebens. Gleichermaßen existieren neutrale Gefühle oder Gefühle von wenig Intensität nicht als ein leeres Nichts, das uns unfähig macht, das Leben zu spüren. Wir sind lebendig, egal wie viel oder wenig Glück oder Traurigkeit wir empfinden.

Wenn die Ballons der Einbildung bezüglich unserer Gefühle platzen, beraubt uns die daraus resultierende Ernüchterung durchaus nicht all unserer Gefühle. Wir werden nicht völlig unsensibel für andere oder für uns selbst. Wenn wir keine aufwühlenden Gefühle haben, so heißt das nicht, dass uns jedes Gefühl fehlt. Wir fühlen weiterhin Lust beim Sex. Wir genießen alles, so wie es ist, solange es eben dauert, und klagen nicht über Verlust, wenn es vorbei ist. Wenn wir vom Unglück eines anderen hören, fühlen wir uns auch weiterhin traurig. Unsere Traurigkeit wühlt uns jedoch nicht bis ins Mark auf. Wir fühlen uns auch nicht gelangweilt, wenn wir neutrale Erlebnisse haben. Wir fühlen uns mit ihnen genauso wohl wie mit jeder anderen Ebene von Glück oder Unglück, die wir empfinden.

Entfremdung von Gefühlen überwinden

Mit manchen Gefühlen können wir so schwer umgehen, dass wir sie blockieren. Gelegentlich mag das sogar hilfreich sein. Wenn wir zum Beispiel einen schweren Unfall haben oder ein geliebter Mensch plötzlich stirbt, stellt sich sofort ein Schockzustand ein. Das ist ein Überlebensmechanismus. Unsere Gefühle sind zu intensiv und könnten uns überlasten. In anderen Fällen blockieren wir unsere Gefühle aus neurotischen Gründen. Unsere Verwirrung lässt Gefühle gefährlich erscheinen und so betrachten wir sie als inhärent aufwühlend für uns. Das lässt uns steif und innerlich ängstlich werden.

Der Ansatz der Kagyü-Schule zur Überwindung dieses Problems läuft darauf hinaus, dass wir erkennen, wie unser Geist gewöhnlich unsere Erfahrung der verschiedenen Ebenen von Glück oder Unglück in zwei Hälften zerreißt. Die Täuschung besteht darin, dass die Erfahrung scheinbar zwei entgegengesetzte Elemente hat, „Ich“ und „das Andere“. Das heißt: Die Gefühle erscheinen als „ das Andere“. Gefühle auf diese Weise wahrzunehmen, entfremdet uns von ihnen. Es verhindert, dass wir mit sensibler Spontaneität mit anderen und uns selbst umgehen können. Wir könnten zum Beispiel denken, dass wir es uns nicht gestatten werden, glücklich zu sein, weil wir es nicht verdienen. Zusätzlich können wir es uns ebenfalls nicht gestatten, traurig zu sein, weil wir fürchten, die Kontrolle zu verlieren. Auch neutrale Gefühle können wir nicht zulassen, denn das würde ja bedeuten, dass wir nicht wirklich auf jemanden eingehen können. Folglich tun wir uns Zwang an und stellen uns glücklich oder traurig, je nach den Umständen – wo­rauf natürlich niemand hereinfällt.

Wir handeln, als würden Gefühle des Glücks oder der Trauer bösartig oder verführerisch irgendwo „ dort draußen“ lauern. Und dann scheint es, als säßen wir sicher zu Hause und hätten die Wahl, ob wir raus gehen und sie fühlen wollen. Das ist absurd. Wir müssen alle Gefühle, die natürlich entstehen, auch zulassen, ohne sie oder uns selbst zu etwas besonders Großartigem aufzublasen.

Gelassenheit und Gleichmut – Behälter für ausgeglichene Gefühle

Nach den Sarvastivada- und Mahayana-Traditionen des Abhi­dhar­ma begleitet ein weiterer Geistesfaktor, nämlich Gelassenheit (upek­sha), alle konstruktiven Geisteszustände. Die Theravada-Tradition spricht in diesem Kontext von Gleichmut (upekka). Ausgeglichene Sensibilität erfordert beide Faktoren. Keiner von beiden steht für einen unsensiblen Mangel an Gefühl oder Reaktion. Gelassenheit ist ein geistiger Zustand, der frei ist von Flatterhaftigkeit oder Dumpfheit. Mit Flatterhaftigkeit des Geistes wendet sich unsere Aufmerksamkeit ständig anziehenden Objekten oder zwanghafter Gedankentätigkeit zu. Vielleicht spricht jemand mit uns, unsere Aufmerksamkeit wandert jedoch zum Fernsehen oder wir geben uns selbstzen­trierten Gedanken hin. Unter dem Einfluss von Dumpfheit ist un­ser Geist unklar. Wir hören zwar zu, nehmen aber nicht wirklich auf, was der andere sagt.

Um angemessen sensibel sein zu können, müssen wir uns von diesen beiden Haupthindernissen befreien – Flatterhaftigkeit und Dumpfheit. Gelassenheit ist kein abgehobener empfindungsloser Zustand. Mit Gelassenheit sind wir konzentriert, wach und verfallen keiner extremen Haltung. Wir sind nicht so verspannt und nervös, dass wir unser Gegenüber unruhig machen. Aber wir sind auch nicht so ruhig und entspannt, dass wir den Eindruck erwecken, uns sei alles gleichgültig.

Darüber hinaus ist ein gelassener Geisteszustand ein glücklicher Geisteszustand. Neutrale Gefühle, die weder glücklich noch unglücklich sind, begleiten nur die Form der Gelassenheit, die wir in tiefer meditativer Versenkung empfinden. Das Glück, das wir in unserer Gelassenheit außerhalb der Meditation empfinden, hat jedoch ebenfalls eine spezielle Qualität. Es kommt einem Gefühl der Frische gleich. Wenn unser Geist unruhig oder schwerfällig ist, nutzen wir sein Potenzial nicht aus. Wir fühlen uns unerfüllt. Wenn wir hingegen von diesen Behinderungen frei sind, ist unser Geist frisch und aufgerichtet wie nach einem Sommerregen. Einen solchen Zustand möchten wir ganz selbstverständlich aufrechterhalten und sind so der Definition nach glücklich.

Gleichmut ist ein Zustand des Geistes, der frei ist von Anziehung, Abneigung und Gleichgültigkeit. Angenommen wir säßen im Flugzeug neben jemandem, und die Person beginnt uns ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Wenn wir sie sexuell anziehend finden, sind wir so voreingenommen, dass wir nicht einmal hören, was die Per­son sagt. Wenn wir unseren Mitpassagier abstoßend finden, unterbrechen wir ihn vielleicht und sagen etwas Unhöfliches. Sind wir hingegen gleichgültig eingestellt, ignorieren wir die Person und blicken nicht von unserer Illustrierten auf. In allen drei Fällen verhalten wir uns unsensibel gegenüber diesem Mann oder dieser Frau als Mensch. Wir fühlen uns in ihrer Nähe unbehaglich und sind unglücklich.

Gleichmütig zu sein bedeutet nicht, nichts zu empfinden. Es ist auch keine Form höflicher Resignation. Wir lassen nicht nur einfach die Worte des anderen über uns ergehen, während wir sie innerlich für Unsinn halten und uns wünschen, das Flugzeug möge endlich landen. Wenn wir Zeit haben, hören wir mit Offenheit und Interesse zu. Unser Mitpassagier ist schließlich ein Mensch wie wir und könn­te leicht ein enger Freund werden. Wenn wir die Fortsetzung der Begegnung wünschen, macht sie uns Freude. Wenn wir wirklich beschäftigt sind, gestattet unser Gleichmut uns, dies dem anderen mitzuteilen, ohne dass wir unsere Ruhe verlieren. Wir würden gerne zuhören, haben aber unglücklicherweise bis zur Landung noch etwas Wichtiges zu erledigen.

Das Glück im Zusammenhang mit Gleichmut ist ein entspanntes, abgeklärtes Gefühl der Erlösung. Wir fühlen uns erlöst, weil wir uns weder nach etwas sehnen noch vor etwas fürchten. Wir drängen uns weder jemandem auf, noch sind wir so gehetzt, dass wir keine Zeit haben. Dieser Geisteszustand sorgt für einen geschützten Raum, aus dem heraus wir warmherzig auf unsere eigenen Bedürfnisse und die anderer reagieren können. Die tantrische Praxis erkennt das Bedürfnis nach einem geschützten Raum an, indem sie die Visualisation eines solchen jedem Versuch der Selbst-Transformation voranstellt. Hier dient ein Gefühl emotionaler Gelassenheit als sicherer Rahmen für unsere Verwandlung in einen Menschen mit ausgeglichenen, nicht aufwühlenden Gefühlen.

Bausteine der Sympathie

Ausgeglichene Sensibilität erfordert nicht nur Gelassenheit, Gleichmut und das nicht aufwühlende Fühlen irgendeiner Ebene von Glück oder Unglück, sie erfordert ebenfalls Sympathie. Sympathie ist ein Komplex verschiedener Emotionen und Einstellungen, von denen jede ein ganzes Spektrum umfasst. Die drei wichtigsten sind Einfühlungsvermögen, Mitgefühl und die Bereitschaft sich einzulassen. Wie bei dem Spektrum von Glück/Unglück begleitet auch hier ein Element eines jeden Faktors unsere Begegnung mit jedermann.

Der erste Baustein der Sympathie ist irgendein Grad an Einfühlungsvermögen. Das rangiert vom vollständigen Einfühlen in die Situation einer anderen Person bis zum völligen Mangel an Einfühlungsvermögen. Die diesen Baustein beeinflussenden Variablen sind die Bereitschaft und die Fähigkeit, die Situation des anderen zu verstehen, indem wir uns vorstellen, selbst in der gleichen Lage zu sein. Angenommen ein Freund leidet an Krebs. Wir sind vielleicht bereit seinen Schmerz anzuerkennen und entweder fähig oder unfähig, ihn uns auch vorzustellen. Andererseits können wir, aus den verschiedensten Gründen, etwa mangelndem Interesse oder Angst, nicht bereit sein, uns den Schmerz wirklich vorzustellen, unabhängig davon, ob wir dazu fähig wären oder nicht.

Der zweite Baustein der Sympathie ist irgendeine Einstellung auf der ‘Skala zwischen Mitgefühl, Gleichgültigkeit und Böswilligkeit. Wir mögen den Wunsch haben, dass jemand frei sein möge von Qual, wir können seinem Leiden gegenüber aber auch gleichgültig sein oder sogar wünschen, dass er noch mehr leiden möge. Selbst wenn wir uns zum Beispiel die körperliche und geistige Qual von Krebs im Endstadium nicht wirklich vorstellen können, können wir doch wünschen, dass unser Freund geheilt werden möge. Andererseits könnten wir sehr wohl wissen, wie viel Schmerz Krebs verursacht, aber trotzdem dem Krebsleiden eines böswilligen Diktators gegenüber entweder gleichgültig bleiben oder das Gefühl haben, dass ein solcher Mensch die Schmerzen sogar verdient.

Der dritte Baustein ist irgendein Element aus dem Spektrum, das vom Wunsch sich einzulassen bis zum Gefühl der Antipathie gegenüber jeder Verwicklung reicht. Die Variable, die diesen Faktor bestimmt, ist die Bereitschaft, etwas an der Zwangslage eines anderen zu ändern. Wir mögen uns in unseren Freund einfühlen, uns um sein Wohlergehen sorgen und ihm wünschen, dass er keine Schmerzen hat. Dennoch sind wir vielleicht nicht bereit, ihn zu besuchen, weil wir uns vor den Gefühlen fürchten, die dabei entstehen kön­n­ten. Anders verhält es sich, wenn wir ihn nicht besuchen können, weil wir geschäftlich woanders zu tun haben.

Fehlende Sympathie

Wenn wir sagen, dass wir nichts fühlen, was bedeutet, dass wir keine Sympathie für jemanden empfinden, müssen wir sorgfältig analysieren, welche Bausteine der Sympathie uns fehlen. Daraus können wir erkennen, welche Schritte wir zur Behebung der Situation unternehmen müssen. Wenn zum Beispiel unser Mangel an Sympathie für unseren krebskranken Freund aus der fehlenden Bereitschaft entsteht, uns einzufühlen, müssen wir den Faktor des Interesses ver­stärken, der unsere Begegnung begleitet. Das kann uns gelingen, in­dem wir darüber nachdenken, wie wir in unserer komplexen Welt alle wechselseitig voneinander abhängig sind. Wie Shantideva sagte: Wie erginge es wohl unserer Hand, wenn sie sich weigern würde, Interesse am Wohlergehen unseres Fußes zu zeigen? Folglich: Wie erginge es wohl uns, wenn wir uns weigerten, Interesse an anderen zu zeigen, die ja Teil unseres Freundeskreises oder unserer Gemeinschaft sind?

Wenn wir andererseits deshalb nichts fühlen, weil unser Interesse am Dilemma unseres Freundes rein intellektueller Natur ist, müssen wir darüber reflektieren, dass er ein Mensch ist wie wir selbst. Uns tut es weh, wenn wir Schmerzen haben, und genauso geht es auch unserem Freund. Wie Shantideva einmal sagte: „Schmerz muss beseitigt werden, nicht weil es mein Schmerz oder dein Schmerz ist, sondern einfach weil er weh tut.“ So zu denken, hilft uns, die Situation unseres Freundes ernst zu nehmen.

Angenommen wir haben aufrichtiges Interesse am Dilemma unseres Freundes, können uns aber nicht einfühlen, weil wir zu dem, was er empfindet, keinen Zugang finden. Dann können wir uns an etwas Ähnliches erinnern, das wir einmal selbst erfahren haben, etwa starke Magenschmerzen. Obwohl Bauchweh den Schmerzen, die ein Tumor verursacht, keineswegs gleichkommt, kann uns unsere Erinnerung doch als Beispiel dienen und uns helfen, die Situation unseres Freundes nachzuvollziehen.

Vielleicht haben wir Interesse und können die Qual unseres Freundes nachvollziehen, das heißt, wir können uns vollständig einfühlen. Doch weil wir momentan sauer auf ihn sind, empfinden wir kein Mitgefühl. Es ist uns egal, dass unser Freund an Krebs leidet, oder wir denken vielleicht sogar, dass er die Schmerzen verdient. Um diese Unsensibilität zu überwinden, können wir uns vorstellen, selbst im gleichen Dilemma zu stecken. Gleichgültig wie viele grausame Dinge wir vielleicht in unserem Leben gesagt oder getan hätten, wir würden uns doch sehnlichst wünschen, dass unsere Qual ein Ende haben möge. Unser Freund empfindet ebenso. Wir würden doch unser eigenes Leiden nicht ignorieren oder entsprechende Schmerzmittel ablehnen, weil wir glauben die Schmerzen zu verdienen – es sei denn, wir wären masochistisch veranlagt. Warum also sollten wir dem Leiden unseres Freundes gegenüber gleichgültig blei­ben oder denken, dass er Schmerzen erleiden müsse? Wir alle sind Menschen mit dem gleichen Wunsch nach Glück und der gleichen Abneigung gegenüber Leid.

Vielleicht verstehen wir das intensive Leiden unseres Freundes und wünschen ihm voller Mitgefühl, dass es schnell enden möge. Dennoch empfinden wir möglicherweise immer noch nicht genügend Sympathie, um ihn im Krankenhaus zu besuchen. Wenn der Grund unseres Wegbleibens unsere Überbeschäftigung ist, können wir daran denken, wie wenig wir selbst es schätzen würden, wenn jemand die gleiche Entschuldigung uns gegenüber vorbrächte. Wir müssen bei unserer Zeiteinteilung die Prioritäten vom finanziellen auf den menschlichen Bereich verschieben. Wenn wir dann tatsächlich einen Besuch machen, müssen wir uns ebenfalls an diese Prioritäten erinnern, um nicht dauernd auf die Uhr zu schauen.

Wenn wir das Krankenhaus aus Angst vor überwältigenden Emotionen meiden, können wir Abbautechniken verwenden, um die Selbstbezogenheit zu überwinden, die unsere Angst verursacht. Wir könnten versuchen, die von unserem Geist geschaffene dualistische Erscheinung eines ängstlichen, überempfindlichen „Ich“, das einem emotional unerträglichen „Du“ begegnet, zu durchschauen. Wenn wir merken, dass wir den Krankenbesuch zu einer unerträglichen Tortur aufblasen, die uns überfordert, können wir uns auch klarmachen, dass sich unsere Fantasie auf nichts Reales bezieht. Nichts existiert auf derart unmögliche Weise.

Die Furcht überwinden, Sympathie könnte zu Kummer führen

Wenn jemand leidet, ist sowohl Sympathie vonnöten als auch ein gewisser Grad an Traurigkeit, die jedoch nicht aufwühlend ist. Furcht vor Kummer hingegen kann eine oder mehrere der Komponenten von Sympathie blockieren: Einfühlungsvermögen, Mitgefühl oder die Bereitschaft sich einzulassen. Wollen wir ausgeglichen und sensibel reagieren lernen, müssen wir diese Furcht überwinden.

Die grundlegende Bedeutung des Wortes Karuna, des Sanskritbegriffs für Mitgefühl, ist, den Erklärungen tibetischer Meister zufolge, „das, was das Glück zerstört“. Wenn wir jemanden leiden sehen und Mitgefühl empfinden, fühlen wir uns unwillkürlich auch traurig. Ist unser Mitgefühl aber mit Verwirrung bezüglich der Wirklichkeit vermischt, empfinden wir eine Traurigkeit, die uns vollkommen aufwühlt. Denken wir beispielsweise, unser Leben sei nach dem Krebstod eines geliebten Menschen sinnlos geworden, so kann sich jedes Mal, wenn wir an den Menschen denken, Depression einstellen. Da mag es uns sicherer erscheinen, überhaupt nichts zu empfinden. Angst vor einem aufwühlenden Gefühl des Kummers ist verständlich. Andererseits ist ein nicht aufgeblasenes Gefühl von Trauer, das auf einem stabilen Fundament gelassenen Gleichmuts ruht, nicht aufwühlend. Man braucht es keineswegs zu fürchten.

Wenn wir uns von Flatterhaftigkeit, Dumpfheit, Anziehung, Ab­neigung, Gleichgültigkeit und Verwirrung in Bezug auf die Wirklichkeit befreien, erlangen wir einen stabilen geistigen Frieden, der sich durch ein tiefes, gereiftes und ruhiges Glücksgefühl auszeichnet. Hatten wir früher emotionale Blockaden aufgebaut, die uns hinderten zu weinen, so merken wir jetzt, dass wir viel leichter weinen können. Dennoch, selbst wenn wir Trauer über unser eigenes Leiden oder das anderer empfinden und spontan zu Tränen gerührt sind, so bleiben wir innerlich auf der emotionalen Ebene doch stets im Gleichgewicht. Wir weinen nicht, weil wir uns hoffnungslos, verloren oder von der Ungerechtigkeit der Welt überwältigt fühlen. Wir empfinden keinerlei Selbstmitleid oder Empörung. Unser grundlegendes Glücklichsein wird nicht in Frage gestellt und kehrt stets schnell zurück. Die Traurigkeit, die aus mitfühlender Sympathie entspringt, überlagert unser Glück zwar kurzzeitig, wir haben vor der Erfahrung jedoch keine Angst. Traurigkeit ist lediglich eine Welle, die sich natürlich auf dem Ozean des Geistes erhebt.

Die Beziehung zwischen Liebe und Glück

Liebe ist der Wunsch, dass jemand glücklich sein möge. Solch ein Wunsch ergibt sich ganz natürlich aus mitfühlender Sympathie. Obwohl uns der Schmerz und die Sorgen eines Menschen traurig machen, kommt es doch kaum zu einem Gefühl der Verdrießlichkeit, solange wir dem Menschen aktiv Glück wünschen. Wenn wir aufhören, an uns selbst zu denken und uns stattdessen auf das Glück eines anderen konzentrieren, erwärmt sich automatisch unser Herz. Das wiederum bringt uns ganz von selbst ein stilles Gefühl der Freude. Selbstlose und aufrichtige Liebe wird also stets von einem sanften Glück begleitet, das niemals aufwühlend ist. So wie eine Mutter oder ein Vater beim Trösten eines kranken Kindes die eigenen Kopfschmerzen vergisst, so verfliegt auch die Traurigkeit, die wir wegen des Missgeschicks eines anderen empfinden, wenn wir liebevolle Gedanken aussenden.

Auf Probleme mit ausgeglichenen Gefühlen reagieren lernen

Wenn wir den Problemen eines anderen mit ausgeglichener Sensibilität begegnen wollen, sollten wir voller Sympathie zuhören, uns anrühren lassen und dann warmherzig reagieren, indem wir ihn oder sie zu trösten und aufzuheitern versuchen. Im Mahayana übt man, ohne aufwühlende Gefühle zu reagieren, durch das Training von tonglen (Nehmen und Geben). Als fortgeschrittene Praxis erfordert Tonglen ein hohes Maß an emotionaler Stabilität, Kraft und Mut, wie wir sie zum Beispiel durch das Training der vorhergehenden sechzehn Übungen entwickeln können. Wir nehmen das Leiden der anderen auf uns und geben ihnen unser Glück. Mit tief empfundenem Mitgefühl stellen wir uns vor, wie der Schmerz, die Sorgen, Krankheiten oder Verletzungen der anderen zu schwarzem Licht werden, welches sie verlässt, woraufhin sie von aller Qual befreit sind. Dieses schwarze Licht tritt dann beim Einatmen in uns ein und wir fühlen das Leiden, das es repräsentiert. Dann löst sich das schwarze Licht an unserem Herzen auf. Darauf erzeugen wir den liebevollen Wunsch, dass die anderen glücklich sein mögen. Und wenn wir dann ausatmen, stellen wir uns vor, wie dieses Glück mit unserem Atem aus unserem Herzen ausstrahlt und die anderen vollständig mit Gesundheit, Wohlergehen und einer wohltuenden Freude erfüllt.

Will man diese Praxis beginnen, so sollte man einige Grundvoraussetzungen mitbringen. Erstens brauchen wir nicht nur Mitgefühl, sondern ebenso die beiden anderen Komponenten der Sympathie: Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft, sich einzulassen. Zweitens müssen wir entsprechende Ebenen von Trauer und Glück empfinden können. Dazu ist es nötig, keine Angst vor diesen Gefühlen zu haben. Wir verlieren jede etwaige Angst vor Gefühlen, wenn wir Trauer und Glück nicht-dualistisch erfahren, das heißt auf der Basis von Gelassenheit und Gleichmut. Gefühle, die auf diese Weise erfahren werden, sind niemals aufwühlend.

Darüber hinaus müssen wir aufpassen, unsere Praxis nicht mit dem dualistischen Gefühl zu vermischen, wir seien Heilige oder Märtyrer, die das Elend bedauernswerter Kreaturen auf uns nehmen. Außerdem müssen wir vorsichtig sein, das Leiden der anderen nicht zu einem monströsen Etwas aufzublasen, das wir in uns aufnehmen und das uns völlig überwältigt. Obwohl es wichtig ist, das Leiden der anderen wirklich zu spüren, denn sonst würden wir es wohl nicht ernst nehmen, müssen wir es doch auch wieder loslassen. Dazu können wir uns zum Beispiel vorstellen, dass das Leiden durch uns hindurchgeht und damit endet. Eine andere Mög­lichkeit wäre es, das Leiden als eine Welle zu sehen, die die Tiefen des Geistes unberührt lässt. Die Praxis liebevollen Mitgefühls muss immer mit Verständnis und Weisheit einhergehen.

Selbst in Momenten größter Trauer, etwa auf einer Beerdigung, hilft diese Praxis uns, mit einfühlsamen und verstehenden Augen warmherzig lächeln zu können und anderen Trauernden liebevoll Trost zu spenden. Wir empfinden Trauer über den Verlust und müs­sen vielleicht sogar weinen. Dennoch ist es unser Hauptanliegen, sowohl dem Verstorbenen als auch den Hinterbliebenen Glück und Wohlergehen zu wünschen. Unser Lächeln ist nicht leichtfertig, ge­schmack- oder respektlos. Es hat auch nichts Falsches. Wir erzwingen es nicht, bevor wir genug getrauert haben. Und wir schelten uns nicht, weil wir so töricht sind, weinen zu müssen. Nichtsdestoweniger gehen unsere Tränen schnell vorbei. Wir verstehen den Tod, die Vergänglichkeit und das Gesetz von Ursache und Wirkung. Jeder, der geboren wurde, muss eines Tages scheiden. Mit dem Wunsch, dass die übrigen Trauernden dies ebenfalls verstehen mögen, nehmen wir ihr Leiden an und stellen uns vor, dass wir sie davon befreien und ihnen Trost bringen können.

Übung 17: Leiden annehmen und Glück weitergeben

Während der ersten Übungsphase betrachten wir wieder ein Foto eines geliebten Menschen oder stellen ihn uns einfach vor. Zuerst versuchen wir, uns in einen Zustand von Gelassenheit zu versetzen, frei von Flatterhaftigkeit und Dumpfheit. Um unseren Geist von Ver­spanntheit, Sorgen und Gehetztsein zu befreien, können wir uns der dreifachen Methode des Loslassens, des Schreibens auf Wasser und der Welle im Ozean bedienen. Um unserer Energie Auftrieb zu geben, wenn wir uns bedrückt oder dumpf fühlen, können wir uns vor­stellen, dass wir eben eine erfrischende Dusche genossen haben. Dann wenden wir uns der Person zu, wobei wir jedoch weder bohren oder mit aufdringlicher Intensität in sie dringen, noch uns innerlich von ihr zurückziehen oder entfernen. Je entspannter und frischer wir selbst sind, desto lockerer ist auch unsere Intensität und umso ernsthafter unsere Fürsorge.

Dann versuchen wir Gleichmut zu entwickeln, um uns noch mehr ins Gleichgewicht zu bringen. Wir denken, dass die geliebte Person ein Mensch ist und es, gleich uns, nicht schätzt, zurückgewiesen, ignoriert oder in klammerndem Griff gehalten zu werden. Je entspannter und wacher wir selbst sind, desto leichter fällt es uns, nichts von dem anderen zu erwarten und uns nicht zurückgestoßen oder gleichgültig zu fühlen. Darüber hinaus wird der andere, wenn er Hilfe braucht, niemanden schätzen, der übertrieben beschützend, verängstigt oder zu beschäftigt ist, um überhaupt Zeit zu finden. Wir lassen also auch diese Gefühle mit dem Atem oder dem Bild des Schrei­bens auf Wasser los und versuchen einfach offen und aufmerksam zu sein.

Jetzt vergegenwärtigen wir uns ein Lebensproblem, mit dem der geliebte Mensch konfrontiert sein mag, und machen uns den damit verbundenen Schmerz bewusst. Um volle Sympathie zu entwickeln, müssen wir Einfühlsamkeit, Mitgefühl und die Bereitschaft uns auf die Sache einzulassen erzeugen. Zuerst denken wir daran, dass wir und dieser Mensch genauso miteinander verbunden sind wie unsere Hand und unser Fuß. Seinen Schmerz zu ignorieren wäre äußerst kurzsichtig. Dann bedenken wir, dass dieser Schmerz beseitigt werden muss, nicht weil es der Schmerz unseres geliebten Menschen ist, sondern einfach weil er wehtut. Mit diesen beiden Gedanken entwickeln wir Interesse daran uns einzufühlen. Wenn wir uns dann seinen Schmerz nicht vorstellen können, erinnern wir uns an etwas Ähn­liches, das wir selbst einmal erlebt haben. Das Leiden des Menschen ist uns nicht so fremd.

Können wir uns erst einmal in den körperlichen oder emotionalen Schmerz einfühlen, denken wir darüber nach, dass wir in einer ähnlichen Lage den starken Wunsch hätten, dass es endlich aufhört. So empfindet es auch unser geliebter Mensch. Mit diesem Gedankengang entwickeln wir Mitgefühl: den Wunsch, dass er oder sie frei sein möge von Leid und seinen Ursachen. Damit sich die Bereitschaft einstellt, uns einzulassen, denken wir darüber nach, wie wenig es uns gefallen würde, wenn uns jemand mit Entschuldigungen abspeist. Genauso wäre unserem geliebten Menschen unsere Zögerlichkeit wohl nicht gerade willkommen.

Wenn wir uns davor fürchten, den Kummer des anderen zu fühlen, versuchen wir unsere dualistischen Projektionen abzubauen. Wir können das üben, indem wir abwechselnd unsere Handfläche kitzeln, kneifen und eine Hand in der anderen halten. Wir versuchen, jede der Empfindungen als Welle des Geistes zu erfahren, ohne den dualistischen Eindruck eines scheinbar konkreten „Ich“ und eines scheinbar konkreten körperlichen Gefühls aufkommen zu lassen. Gelingt uns das, verlieren wir ganz von selbst die Angst vor diesen Gefühlen. Empfindungen körperlichen Vergnügens oder Schmerzes sind also nicht aufwühlend oder beängstigend, wenn wir sie auf nicht-duale Weise erleben; das Gleiche gilt auch für Gefühle geistigen Glücks oder Leids.

Jetzt versuchen wir uns ohne Verspannung oder Angst vorzustellen, wie das Leiden unseren geliebten Menschen in der Form schwarzen Lichts verlässt und er auf diese Weise von seinem Schmerz frei wird. Wenn wir einatmen, stellen wir uns vor, dass dieses schwarze Licht in unser Herz gelangt. Wir akzeptieren es und versuchen, uns seine Qualen vorzustellen. Dann versuchen wir, den Schmerz aus der Perspektive des Ozeans unseres Klaren-Licht – Geistes zu sehen, das heißt, ihn nicht-dualistisch als Welle auf diesem Ozean zu erleben. Was unser geliebter Mensch und nun auch wir empfinden, ist unangenehm und ruft ganz unwillkürlich ein Gefühl der Traurigkeit hervor. Wir trivialisieren diese Empfindung in keiner Weise. Das Gefühl kann jedoch die in sich ruhende Tiefe des Ozeans nicht aufwühlen. Wir versuchen, es ganz natürlich einsinken und vorüberziehen zu lassen.

Aus unserem Klaren-Licht-Herzen entsteht nun ganz von selbst eine warmherzige, liebevolle Fürsorglichkeit für das Wohlergehen des Menschen. Mit dem Wunsch, dass er oder sie glücklich sein möge, versuchen wir uns unsere Fürsorglichkeit als eben dieses Glück und seine Ursachen in der Form weißen Lichts vorzustellen. Bestärkt von der natürlichen Freude des Geistes, versuchen wir, bei der Vorstellung, wie dieses Licht in den Menschen eindringt und ihn mit Freude erfüllt, selbst tiefes Glück zu empfinden.

Als Nächstes stellen wir uns vor, dass das Glück, das wir dem geliebten Menschen schenken, noch ergänzt wird durch Verständnis und mögliche Lösungen für sein Problem. Zu diesem Zweck versuchen wir, uns an die Fähigkeiten der fünf Arten Tiefen Gewahrseins anzuschließen, die ja Teil unseres Klaren-Licht-Geistes sind. Wir stellen uns bildlich vor, wie unser Verständnis und die Lösungen uns ebenfalls in der Form weißen Lichts beim Ausatmen verlassen und den Menschen erfüllen. Manchmal kann es für das innere Wachstum unseres geliebten Menschen förderlich sein, Frustration und Unzufriedenheit zu erfahren, wie bei einem Kind, das lernen muss, sich sozial zu verhalten. In diesen Fällen können wir uns vorstellen, dass wir nur die scharfen Kanten der Erfahrung wegnehmen und im Austausch dafür wertvolle Einsichten geben.

Im Zusammenhang mit dem Klaren-Licht-Geist können wir auch andere Faktoren geben. Wenn der Mensch zum Beispiel Selbstvertrauen braucht, können wir uns die Buddha-Natur vergegenwärtigen und das Vertrauen auf unsere eigenen natürlichen Fähigkeiten in den Glauben an die innewohnenden Talente des anderen verwandeln. Wir schicken der Person Vertrauen und versuchen uns vorzustellen, wie der geliebte Mensch vom weißen Licht des Selbstvertrauens und unseres Glaubens an ihn oder sie erfüllt wird. Wenn wir diesen Prozess in tatsächlichen Begegnungen mit dem Menschen üben, verstärkt unser Vertrauen sein Selbstwertgefühl.

Da die natürlichen Qualitäten des Geistes automatisch körperlich und geistig zum Ausdruck kommen, versuchen wir, uns vorzustellen, dass der geliebte Mensch voller Selbstvertrauen handelt und spricht. Darüber hinaus stellen wir uns auch vor, dass sich unser Vertrauen in den Menschen in unserem Umgang mit ihm zeigt. In echten Alltagsbegegnungen können vergleichbare Worte und Handlungen den geliebten Menschen anregen, voller Selbstvertrauen zu handeln und zu sprechen.

Ähnlich können wir vorgehen, wenn der von uns geliebte Mensch sich in seiner Selbstachtung bedroht sieht, beispielsweise weil ihn Alter oder Krankheit heimsuchen. Wir spüren die Selbstachtung, die wir angesichts unserer ursprünglichen guten Qualitäten empfinden, und stellen uns vor, dass der Mensch ganz von einem Gefühl für seine eigene Würde erfüllt wird, das in Form von weißem Licht zu ihm fließt. Das verstärken wir noch, indem wir dem Menschen unseren Respekt schicken. Dann versuchen wir, uns bildlich vorzustellen, dass der Mensch, den wir lieben, mit verstärkter Selbstachtung handelt, und dass wir mit einem Gefühl aufrichtigen, tiefen Respekts mit ihm umgehen.

Wenn wir mit dieser Praxis erst beginnen, wird empfohlen, die Übung des Gebens und Nehmens nicht mit einem Fremden oder jemandem, den wir nicht mögen, auszuführen. Unsere Gefühle könnten nicht aufrichtig sein. Daher sollten wir uns an diese herausfordernden Aspekte der Übung erst dann wagen, wenn wir mit der Methode gut vertraut und in unserem Sensibilitätstraining weit fortgeschritten sind.

Anderen und uns selbst helfen, Unsicherheit zu überwinden

Während der zweiten Praxisphase üben wir das Geben und Nehmen, während wir mit unserer Gruppe im Kreis sitzen. Wir wiederholen den Prozess zwei- oder dreimal, wobei wir uns jeweils auf eine andere Person konzentrieren. Mit einem direkten Gegenüber ist die Übung zu intensiv und kann, vor allem in Alltagsbegegnungen, großspurig wirken. Die klassischen Texte raten, die Praxis des Gebens und Nehmens auf jeden Fall für sich zu behalten. Niemand soll wissen, dass wir sie üben, nicht einmal der Mensch, der das Objekt unserer Praxis ist.

Bei der Praxis im Kreis sind uns die momentanen spezifischen Sorgen und Nöte der einzelnen Teilnehmer wahrscheinlich nicht bekannt. Wir können aber trotzdem mit den allgemeinen Problemen der meisten Menschen arbeiten. Nehmen wir als Beispiel einmal die Unsicherheit.

Während wir uns auf jemanden konzentrieren, müssen wir unseren Geist wie zuvor zuerst in einen Zustand des gelassenen Gleichmuts und der Sympathie bringen. Um den Prozess zu unterstützen, können wir folgende Schlüsselformeln zu Hilfe nehmen:

  • „keine Verspannungen, Sorgen, Hektik oder Dumpfheit“ ,
  • „entspannt und frisch“,
  • „kein Anhaften, keine Abneigung oder Gleichgültigkeit“,
  • „nicht überfürsorglich, ängstlich oder zu beschäftigt“,
  • „offen und zu­ge­neigt“,
  • „interessiert“,
  • „einfühlsam“,
  • „mitfühlend“,
  • „bereit sich ein­zulassen“
  • „keine Angst vor Kummer.“

Dann stellen wir uns vor, dass wir den Menschen von dem Leiden der Unsicherheit befreien. In unserer Vorstellung dringt dieses Leiden in Form schwarzen Lichts in uns ein. Wir verspüren keine Angst davor, das Leiden des anderen selbst zu empfinden, und versuchen, es aus der Perspektive des Ozeans des Geistes zu betrachten und es einsinken zu lassen. Wir ruhen im ozeanischen Zustand Klaren Lichts, frei von den Sorgen und Spannungen, die zu Unsicherheit führen, und versuchen, die natürliche Freude unseres Geistes zu empfinden. Voller Liebe strahlen wir dann diese Freude als weißes Licht aus und stellen uns vor, dass es die Person erfüllt.

Weiter versuchen wir zu verstehen, dass die Unsicherheit der Person deshalb entsteht, weil sie ihre Erfahrungen nicht unter dem Aspekt der Veränderlichkeit des Lebens, im Sinne von Teilen und Ursachen oder wie Wellen auf dem Ozean sehen kann. Unser diesbezügliches Verständnis und das resultierende Gefühl von Sicherheit und Wohlbefinden strahlen wir ebenfalls in Form weißen Lichts aus. Wir fühlen uns selbst sicher und versuchen, das Sicher­heits­gefühl des anderen Menschen zu stärken. Wenn wir den Menschen kennen, können wir das Geben und Nehmen auch mit seinen oder ihren ganz spezifischen Problemen üben.

In der dritten Phase konzentrieren wir uns auf uns selbst, zuerst unter Zuhilfenahme eines Spiegels, danach ohne Hilfsmittel. Wir beginnen damit, alle unsere momentanen persönlichen Probleme zu identifizieren. Wir können uns derselben Schlüsselformeln bedienen wie zuvor, um uns in einen Zustand von gelassenem Gleichmut und Sympathie zu versetzen. Dann stellen wir uns, voller Mitgefühl für uns selbst, vor, dass wir die Schwierigkeiten als schwarzes Licht aufnehmen, das entweder aus dem Spiegelbild oder aus unserem ganzen Körper kommt und in unser Herz gelangt. Mit anderen Wor­ten: Wir stellen uns der Arbeit an unseren Problemen und versuchen, dabei unbekümmert zu bleiben. Frei von Spannungen, Ängsten oder Gefühlen des Dualismus, versuchen wir, den Schmerz, den unsere Probleme verursachen, aus der Perspektive des Ozeans zu betrachten und die Erfahrung vorüberziehen zu lassen. Mit dem Verständnis unseres Tiefen Gewahrseins versuchen wir, mögliche Lösungen zu finden, die wir dann liebevoll und freudig als weißes Licht ausstrahlen. Das Licht erfüllt unser Spiegelbild oder, wenn wir ohne Hilfsmittel üben, unseren Körper von innen heraus.

Mit Hilfe des gleichen Prozesses, den wir bei der Arbeit im Kreis angewandt haben, können wir versuchen, alle offensichtlichen oder übrig gebliebenen Unsicherheitsgefühle anzunehmen. Dann geben wir uns selbst ein Gefühl der Sicherheit.

Schließlich üben wir das Geben und Nehmen, während wir eine Reihe von Fotos von uns selbst aus besonders schwierigen Zeiten unseres Lebens betrachten. Wenn noch irgendwelche ungelösten Probleme, blockierten Gefühle oder emotionale Konfusion im Zusammenhang mit diesen Zeiten bestehen sollten, versuchen wir, sie jetzt an die Oberfläche zu bringen. Voller Mitgefühl nehmen wir sie an, versuchen den von ihnen verursachten Schmerz zu empfinden und uns endlich angemessen mit ihnen zu beschäftigen. Wir versuchen, liebevolle Wünsche und Freude an uns selbst zur damaligen Zeit zu senden; ferner versuchen wir mögliche Lösungen zu finden, die wir jetzt anwenden können, um diese alten Probleme endgültig aus der Welt zu schaffen. Wenn wir keine Bilder von uns aus diesen Tagen besitzen, denken wir einfach an jene Zeiten und üben so, wie wir es von der Übung mit uns selbst ohne Spiegel her kennen. Wir versuchen, den Schmerz als schwarzes Licht aus unserem ganzen Körper zu extrahieren. Dann versuchen wir, das weiße Licht der Freude aus dem Zentrum unseres Herzens auszusenden und unseren ganzen Körper durchdringen zu lassen. Schließlich fühlen wir, wie das Licht aus jeder Pore unserer Haut ausstrahlt.

Top