Der Unterschied zwischen der Svatantrika- und Prasangika-Sicht

Warum es unangemessen ist, jenen ohne Leerheitsverständnis eine Initiation zu geben

Es ist falsch, wenn Lamas einer Person eine Initiation geben, die nichts über Bodhichitta und Leerheit weiß. Manche mögen dies vielleicht tun, um Ruhm zu erlangen. Die Meister von Nalanda gaben keine Einweihungen in der Öffentlichkeit, was mittlerweile jedoch gängige Praxis zu sein geworden scheint. Dadurch verkommen die Lehren – und auch ich selbst trage Schuld daran! Wenn ich die Kalachakra-Initiation gebe, lege ich das Hauptaugenmerk immer auf die Erklärung des Inhalts und gehe dann zügig durch den Ritualteil. Manche Lamas kennen das Ritual oder den Text nicht einmal und hasten dann einfach mit der Ausrede durch, sie seien zu schüchtern, alles langsam und in seiner Vollständigkeit zu machen.

Einmal führte ein Ritualmeister ein Ritual im Haus eines Gönners durch. Dieser hatte gerade Innereien gekocht, und als er nicht hinsah, schlich sich der Lama in die Küche und goss einiges davon in seinen Ritualhut. Als der Gönner dann in den Schreinraum kam, in dem der Lama das Ritual durchführen sollte, setzte der Lama den Hut mit den heißen Innereien darin auf. Er beeilte sich dann bei dem Ritual und erklärte, sein Kopf unter dem Hut werde immer heißer und er sei außerdem zu schüchtern, das Ritual langsam durchzuführen.

Wie dem auch sei, tantrische Initiation sollten nur an diejenigen gegeben werden, die bereits mit Bodhichitta und Leerheit vertraut sind – und sie sollten richtig gegeben werden.

Das Erscheinen und Wahrnehmen von in sich selbst begründeter Existenz

Ob etwas gut oder schlecht, nützlich oder schädlich ist, hängt von unserer Einstellung ab. Wenn wir jedoch über unsere bloße Wahrnehmung von etwas hinausgehen, entwickeln wir Anhaftung an das, was wir als „gut“ betrachten, und Abneigung gegen das, was wir als „schlecht“ empfinden. Es ist jedoch wichtig, zu untersuchen, wie solche Dinge von sich aus wahrhaft als etwas „Gutes“ oder „Schlechtes“ zu existieren scheinen. Auf einer Ebene können wir diese Wahrnehmung einfach beobachten; oder aber wir analysieren, ob die Dinge wahrhaft als „gut“ oder „schlecht“ existieren, begründet von ihrer eigenen Seite aus. Dann können wir sie einfach als positiv oder negativ, nützlich oder schädlich betrachten, ohne nach ihnen als etwas wahrhaft Existentes zu greifen.

Eine positive Sache als etwas zu sehen, das wir haben möchten, oder eine negative als etwas, das wir loswerden möchten, ist nicht mit Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz gleichzusetzen, da wir diese Unterscheidung brauchen, um zu wissen, was wir annehmen bzw. vermeiden sollen. Wir können etwas wahrnehmen und es dabei entweder als wahrhaft existent oder leer von wahrhafter Existenz betrachten; oder aber wir nehmen es einfach nur wahr, ohne es auf eine dieser beiden Arten zu betrachten. So können wir unsere alltäglichen Handlungen durchführen, ohne sie als etwas mit in sich selbst begründeter Existenz zu betrachten.

An welchem Punkt geschieht es nun, dass der Geist beginnt, ein Objekt zu erfassen und als etwas wahrhaft Existentes zu betrachten? Es ist tatsächlich schwierig, den genauen Zeitpunkt auf der Grundlage unserer eigenen Wahrnehmung festzulegen; denn es gibt viele Möglichkeiten, das zu widerlegende Objekt zu charakterisieren – ob grob oder subtil. Die bloße Betrachtung einer Person als Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage der Aggregate ist nicht, was wir widerlegen – es ist eine Tatsache. Laut Prasangika ist es jedoch so, dass, wenn wir eine Person als etwas mit in sich selbst begründeter Existenz betrachten, es sich dann dabei um Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz handelt. Wenn wir erst einmal Erfahrung gesammelt haben, können wir unterscheiden, ob wir gerade auf diese Weise nach etwas greifen oder nicht.

Meditieren wir über die Leerheit, liegt das Hauptaugenmerk darauf, das Nichtvorhandensein von in sich selbst begründeter Existenz auf der Grundlage von beeinflussten Phänomenen, wie beispielsweise nichtstatischen Phänomenen, die wir für „gut“ oder „schlecht“ halten, zu beweisen. Die niedrigeren buddhistischen Lehrsysteme behaupten, dass die Dinge nicht als existent oder nichtexistent – oder gut oder schlecht – erwiesen sind, nur weil wir denken, dass sie so sind. Sie müssen auf der Grundlage von Ursache und Wirkung von ihrer eigenen Seite aus objektiv erwiesen sein, um auf diese Weise zu existieren. Daher vertreten diese Systeme die in sich selbst begründete Existenz von Ursache und Wirkung und von „objektiven Objekten“, die von ihrer eigenen Seite aus selbst begründet sind. Darum behaupten sie, dass die Dinge eine in sich selbst begründete Existenz aufweisen.

Im Madhyamaka heißt es nicht, dass es den Dingen an Ursache, Wirkung oder Selbstnatur fehlt. Wenn sie jedoch als von ihrer eigenen Seite aus existierend erwiesen wären, beispielsweise kraft einer selbstbegründenden Natur und nicht kraft des geistigen Bezeichnens mit Konzepten und Begriffen, wären sie durch Analyse auffindbar. Es ist, wie Nagarjuna in seiner „Kostbaren Girlande“ schreibt:

(II.10) Wie ein illusionärer Elefant – nirgends herkommend, nirgends hingehend – nicht im vollkommenen Zustand [der Leerheit] verbleibt, alsbald er als bloße Irrung des Geistes aufgelöst,
(II.11) So verbleibt auch die Welt der Illusion – nirgends herkommend, nirgends hingehend – nicht im vollkommenen Zustand [der Leerheit], alsbald sie als bloße Wirrung des Geistes aufgelöst.

Die Dinge sind wie eine Fata Morgana von Wasser in der Wüste. Entspräche sie der Realität, würden wir auf Wasser stoßen, sobald wir uns nähern. Je genauer wir jedoch hinschauen, desto deutlicher wird, dass es da kein Wasser gibt.

Die Leerheit von Kausalität

Wenn eine Ursache eine Wirkung hervorruft und diese dabei in sich selbst begründete Existenz besäßen, würde die Wirkung entweder ohne Ursache, aus sich selbst heraus, von etwas anderem als sie selbst oder aus beidem entstehen. Da Nagarjuna jedoch all diese vier Möglichkeiten widerlegte, schlussfolgert er in seinen „Wurzelversen für Madhyamaka“:

(XXI.13) Ein wirksames Phänomen entsteht nicht aus sich selbst, nicht aus anderem. Auch entsteht es nicht aus sich selbst und anderem. Wie entsteht es dann?

Untersuchen wir das Wesen einer Bezeichnung, sehen wir, dass etwas, das [mit einem Wort] bezeichnet wird, als eine Grundlage für eine solche Bezeichnung dient. Man unterscheidet zwischen einer Bezeichnung (tib. btags-pa), einer Grundlage für die Bezeichnung (tib. gdags-gzhi) und dem, worauf sich die Bezeichnung bezieht (tib. btags-chos). Das, worauf sich die Bezeichnung bezieht, und die Grundlage für die Bezeichnung sind jedoch nicht dasselbe; sie sind aber auch nicht völlig verschieden oder getrennt – sie sind „weder eins noch viele“. In ähnlicher Weise können wir eine Wirkung analysieren. Entsteht sie ohne Ursache, aus sich selbst, aus etwas anderem, oder aus einer oder vielen Ursachen? Analysieren wir auf diese Weise, wird uns klar, dass die Wirkung nicht auffindbar ist.

Die Unterscheidung zwischen Svantantrika und Prasangika

Wenn wir logisch analysieren und Syllogismen verwenden, müssen wir viele verschiedene Argumentationslinien durchgehen. Um zu beweisen, dass ein bestimmter Gegenstand nicht existiert, überlegen wir, dass er, wenn er existieren würde, auf diese oder jene Weise existieren müsste. Kommen wir zu dem Schluss, dass er auf keiner der möglichen Weisen existiert, dann existiert er nicht. Um logisch eine konzeptuelle Analyse durchführen zu können, benötigen wir ein geistiges Erscheinungsbild von dem, was widerlegt werden soll.

[Ein geistiges Erscheinungsbild (tib. rnam-pa) ist das konzeptuell implizierte Objekt (tib. zhen-yul, „anhaftendes Objekt“) der konzeptuellen Wahrnehmung in einer solchen Schlussfolgerung. Es ist ein geistiges Hologramm, welches etwas im Geist repräsentiert, das zu einer Objektkategorie (tib. don-spyi) gehört, mit der es konzeptionell verarbeitet wird. Die Meinungsverschiedenheit zwischen Svatantrika und Prasangika betrifft dieses konzeptuell implizierte Objekt. Im Svantantrika-System wird behauptet, das Objekt, welches konzeptionell verarbeitet wird (tib. zhen-gzhi, „Basis, der angehaftet wird“), habe in ihm selbst begründete Existenz und sei das „Bezugsding“ (tib. btags-don), das dem konzeptuell implizierten Objekt entspricht. Im Prasangika hingegen wird vertreten, dass das konzeptuell implizierte Objekt etwas im Geiste repräsentiert, das eigentlich überhaupt nicht existiert, und es daher so etwas wie ein Bezugsding, das als „fokale Stütze“ (tib. dmigs-rten) dient würde, nicht gibt.] 

Sowohl im Svatantrika als auch im Prasangika akzeptiert man das abhängige Entstehen in Bezug auf geistiges Bezeichnen.

  • Prasangika vertritt, dass es keine auffindbare Grundlage gibt, die das definierende Merkmal (tib. mtshan-gzhi) eines Selbst, der Person, als Basis für die Bezeichnung einer Person hat.
  • Bhavaviveka hingegen, [auf den das Svatantrika-System zurückgeht,] behauptet in seinem Werk „Flamme der Beweisführung“ (tib. rTog-ge ’bar-ba, Skt. Tarkajvāla), [seinem Eigenkommentar zu seinem Text „Herz des mittleren Weges“ (tib. dBu-ma snying-po, Skt. Madhyamakahṛdaya)], dass das geistige Bewusstsein als Person bezeichnet wird. Indem er geistiges Bezeichnen im Sinne von in sich selbst begründeter Existenz akzeptierte, erklärte er, dass das definierende Merkmal von etwas Bezeichnetem in der Grundlage der Bezeichnung auffindbar sein sollte. [Auf dieser Grundlage ist das geistige Bezeichnen dann gültig.]

Das Prasangika-Lehrsystem behauptet wiederum, dass ein Geist, der ein Objekt gültig wahrnimmt, in Bezug auf sein Objekt auch gültig ist, aber in Bezug auf seine Wahrnehmung der Existenzweise (tib. gnas-tshul) des Objektes falschliegt. Es ist ein Irrtum, das Objekt als etwas wahrzunehmen, das in sich selbst begründete Existenz besitzt. Daher, selbst wenn die Dinge so erscheinen, als hätten sie in sich selbst begründete Existenz – ist es das, was wir widerlegen müssen. Untersucht man diese Erscheinung, wird man nichts finden, das ihr entspricht. Könnte man etwas finden, würde es keinen Sinn ergeben, zu sagen, dem Objekt fehle es an selbst begründeter Existenz. Eine Sache besitzt in sich selbst begründete Existenz, wenn etwas gefunden werden kann, das ihrer Erscheinung entspricht und diese Erscheinung stützt.

[Mit anderen Worten, das Objekt, das konzeptuell verarbeitet wird und dem das erscheinende konzeptuell implizierte Objekt „anhaftet“, nämlich die in sich selbst begründete Existenz, müsste als „Bezugsding“ und fokale Stütze auffindbar sein.]

Nur ein Name

Personen existieren dennoch, ansonsten könnten wir Samsara und Befreiung, Glück und Leid nicht postulieren, und es würde außerdem unserer direkten Erfahrung widersprechen. Darum existiert die Person, auch wenn keine Spur von ihr [als „Bezugsding“] auffindbar ist, erwiesen in den Aggregaten, welche als Grundlage für das Zuschreibungsphänomen der Person dienen. Keine Spur oder definierendes Merkmal der Person, welche deren Existenz begründen würde, ist in den Aggregaten, ihrer Grundlage für die Bezeichnung, auffindbar. Die Existenz der Person ist allein in Abhängigkeit von einer Bezeichnung begründet. Das ist es, wenn man von der Person als „nur ein Name“ (tib. ming-tsam) spricht. Ihre Existenz ist allein in Abhängigkeit davon begründet, dass es ein Wort für sie gibt.

„Nur ein Name” heißt nicht, dass es nur Namen ohne Bedeutung (tib. don) gibt. Bezeichnung ist die konzeptuelle Anwendung eines Namens oder Wortes auf eine Bedeutung oder ein Objekt. Es ist dabei jedoch kein solches Objekt auffindbar, das mit einem Namen in sich selbst begründet ist, das dem geistigen Hologramm entspricht, welches so erscheint, als wäre das Objekt mit diesem Namen in ihm selbst begründet. Nur auf diese Weise stützt sich ein Name auf eine Bedeutung oder ein Objekt auf seine Bezeichnung. Das ist die Bedeutung von abhängigem Entstehen: konventionelle Objekte entstehen in Abhängigkeit als etwas, auf das sich Namen bzw. Worte, die einer Grundlage zugeschrieben werden, beziehen.

Der Begriff „abhängiges Entstehen”

Abhängigkeit und Unabhängigkeit sind nicht nur widersprüchliche Gegensätze; sie schließen sich auch gegenseitig aus. Sie bilden eine Dichotomie – eine dritte Alternative gibt es nicht. Die Dinge erscheinen, als besäßen sie eine in sich selbst begründete Existenz, da der irrige Geist sie so erscheinen lässt; und das nicht aufgrund irgendeiner tatsächlichen, auffindbaren Eigenschaft, welche diese Erscheinung auf Seiten des Objekts begründet. Diese Analyse ist der Grund, warum Prasangika das Argument des abhängigen Entstehens verwendet, um das Nichtvorhandensein einer in sich selbst begründeten Existenz für alle Phänomene zu beweisen.

In dem Begriff „abhängiges Entstehen“ wird durch das Wort „abhängig“ (tib. rten) negiert, dass es sich um etwas Unabhängiges handelt. Die Existenz von etwas kann nicht kraft seiner selbst begründet werden; sie muss von etwas anderem abhängen. „Entstehen“ (tib. ’byung ba) bedeutet, dass etwas existiert – es ist also nicht völlig nichtexistent, sondern ist stattdessen in der Lage, eine Wirkung hervorzubringen. Deswegen ist das abhängige Entstehen der König aller Argumente, um die Leerheit von in sich selbst begründeter Existenz zu postulieren. 

Somit gibt es unter dem Hintergrund von Ursache, Natur und Wirkung so etwas wie in sich selbst begründete Existenz nicht. Das richtige Verständnis von Leerheit aus der Perspektive dieser drei wird als die drei Tore zur Befreiung (tib. rnam-grol gsum, „drei Befreiungen“) bezeichnet. Diese drei sind dadurch charakterisiert, dass sie dieselbe essenzielle Natur (tib. ngo-bo), bzw. nichtgeteilte essenzielle Naturen, aufweisen. Sie im Sinne eines Objektes zu formulieren, welches weder als Ursache, Wirkung, noch durch seine Selbstnatur eine in sich selbst begründete Existenz hat, ist die Erklärung dafür, dass die drei eine einzige essenzielle Natur gemeinsam haben. [Wenn diese drei in Bezug auf drei getrennte Objekte formuliert werden – die Selbstnatur eines Objektes, seine Ursache und seine Wirkung –, ist das die Erklärung dafür, dass die drei individuelle, nichtgeteilte Wesensnaturen haben.]

Leerheit – eine nichtimplizierende und keine implizierende Negierung

In den „Wurzelversen für Madhyamaka“ legt Nagarjuna fünf Argumentationslinien dar, um Leerheit zu beweisen. Den Buddha mit all seinen guten Eigenschaften und frei von Makel analysiert Nagarjuna auf folgende Weise:

(XXII.1) Er ist nicht die Aggregate, nichts anderes als die Aggregate; die Aggregate sind nicht in ihm und in den Aggregaten ist er nicht; noch ist der So-Gegangene Besitzer der Aggregate – was dann ist der So-Gegangene?

Dasselbe gilt für die Leerheit der Leerheit und die Leerheit der Befreiung als Natur des Geistes usw. In der Liste der sechzehn Leerheiten beziehen sich vier direkt auf die Leerheit der Leerheit. Die Bedeutung der Leerheit wird also durch Analyse ermittelt, während wir auf die Weise meditieren, die Nagarjuna vorgibt:

(XXI.13) Ein wirksames Phänomen entsteht nicht aus sich selbst, nicht aus anderem. Auch entsteht es nicht aus sich selbst und anderem. Wie entsteht es dann?

Leerheit ist eine nichtimplizierende Negierung; sie negiert lediglich das Negierungsobjekt und hinterlässt in der Folge der Negierung (tib. bkag-shul) – als Fußabdruck, den die Negierung hinterlässt – keine Form eines Bestätigungsphänomen, sondern nur ein Negierungsphänomen. Daher interpretiert Buddhapalita den obigen Vers als Anhaltspunkt dafür, dass Leerheit eine nichtimplizierende Negierung ist:

Was die Frage „wie entsteht es dann?“ betrifft, so bezieht sich dies darauf, dass man durch Analyse des Entstehens zu dem Ergebnis kommt, dass „es keinen Gegenstand gibt“ (tib. don med-pa nyid).

[Da bei dieser Untersuchung kein Entstehen aus sich selbst, anderem oder beidem auffindbar ist, ist die einzig übrige Schlussfolgerung, dass es den Gegenstand des Verses, in sich selbst begründete Existenz, nicht gibt.]

Bhavaviveka kritisierte Buddhapalitas Interpretation als fehlerhaft. In seinem Werk „Lampe für das unterscheidende Gewahrsein“ schreibt er: 

Nun, in Bezug auf „wie entsteht es dann?“ schrieb ein Autor (Buddhapālita), dass der Gegenstand der Zeile das „Nichtentstehen“ (tib. skye-bar mi-’gyur-ba-nyid) sei. Da dann jedoch Entstehen und Vergehen nicht existieren würden, ist der Hauptgegenstand (tib. rtsa-ba’i don) der Argumentation nicht bestätigt.

[Der Hauptgegenstand der Argumentation – das „Thema“, über das die zu beweisende Aussage gemacht wird – ist das Entstehen. Das, was in Bezug auf diesen Gegenstand festgestellt bzw. bewiesen werden muss, ist die Eigenschaft, „nicht aus sich selbst, anderem oder beidem zu entstehen“. Dadurch, dass sich diese Eigenschaft auf das Entstehen bezieht, bestätigt die Argumentationslinie ihren Hauptgegenstand, indem sie eine Eigenschaft desselben feststellt. Bhavaviveka kritisiert Buddhapalitas Interpretation dahingehend, dass durch sie nur die Eigenschaft, „nicht aus sich selbst, anderem oder beidem zu entstehen“, festgestellt wird, und nicht der Hauptgegenstand, auf den sie sich bezieht – nämlich das Entstehen. Dies führt zu der nihilistischen Schlussfolgerung, dass Entstehen und ebenso Vergehen überhaupt nicht existieren.]

Im Gegensatz zu Buddhapalitas Behauptung, der Vers weise auf die nichtimplizierende Negierung des Entstehens aus sich selbst, anderem und beidem hin, vertritt Bhavaviveka, dass es sich um eine implizierende Negierung des Entstehens handle. Seiner Meinung nach weist der Vers auf eine Argumentationslinie hin, die den Gegenstand des Verses bestätigt.

[Wie die nichtimplizierende Negierung „es gibt kein Entstehen aus sich selbst, anderem oder beidem“ hinterlassen die Worte der Negierung, nachdem das Negierungsobjekt negiert wurde, kein Bestätigungsphänomen in ihrer Folge, sondern lediglich das Negierungsphänomen „Abwesenheit eines Entstehens aus sich selbst, anderem oder beidem“.

Bei der implizierenden Negierung „Entstehen geschieht nicht aus dem Phänomen selbst, etwas anderem oder beiden“ hinterlassen die Worte der Negierung sowohl das Bestätigungsphänomen „Entstehen“ als auch das Negierungsphänomen „nicht aus sich selbst, aus etwas anderem oder beidem entstehen“.

Buddhapalita behauptete, dass die Argumentation in Nagarjunas Vers ein Prasanga ist: eine Argumentation, die ihre Annahme lediglich durch absurde Schlussfolgerungen negiert. Bhavaviveka hingegen vertrat, dass die im Vers enthaltene Argumentation ein Syllogismus sei, bei dem der Gegenstand der Annahme ein in sich selbst begründetes Phänomen sein muss, über das etwas Weiteres festgestellt oder bewiesen werden soll. Er argumentierte, dass die Prasanga-Argumentationsmethode mittels einer nichtimplizierenden Negierung nichts bestätigt und zur nihilistischen Position führt, dass es kein Entstehen und kein Vergehen eines wirksamen Phänomens gibt, auch nicht auf konventioneller Ebene. Dies ist einer der Hauptunterschiede zwischen Svatantrika und Prasangika.]

Meditation über Leerheit

Wenn wir während unser Leerheitsmeditation denken: „Jetzt meditiere ich über Leerheit“, als ob Leerheit ein Bestätigungsphänomen wäre, handelt es sich dabei um Leerheit als eine implizierende Negierung, [welche „Leerheit“ in der Form eines Bestätigungsphänomens nach sich zieht]. Stattdessen sollten wir uns während der Phase der völligen Vertiefung (tib. mnyam-bzhag, „meditative Ausgewogenheit“) in unserer Meditation auf Leerheit als nichtimplizierendes Negierungsphänomen konzentrieren, das wie der Raum ist – [die Abwesenheit von etwas Greifbarem oder Hinderndem, das die räumliche Existenz von etwas verhindert]. Diese Phase hält lediglich für eine kurze Dauer an.

Während der nachfolgenden Phase des Erlangens (tib. rjes-thob, „Nachmeditation“) konzentrieren wir uns darauf, dass alle Erscheinungen wie eine Illusion sind. Da das Greifen nach in sich selbst begründeter Existenz entsteht, wenn es in dieser Phase Erscheinungen in sich selbst begründeter Existenz gibt, versuchen wir, die Kraft der meditativen Vertiefung aufrechtzuerhalten, während wir alle Erscheinungen als eine Illusion betrachten. „Als eine Illusion“ bedeutet, dass die Dinge, obwohl sie so erscheinen, als hätten sie in ihnen sich selbst begründete Existenz, von dieser unmöglichen Existenzweise frei sind.

Die Tatsache, dass wir die Dinge als in sich selbst begründet wahrnehmen, müssen wir nicht beweisen, da es uns automatisch so erscheint. Da wir jedoch während der völligen Vertiefung bestätigt haben, dass es so etwas wie in sich selbst begründete Existenz nicht gibt, müssen wir uns, wenn eine solche Erscheinung während der nachfolgenden Phase des Erlangens erneut auftaucht, nur daran erinnern, dass es in sich selbst begründete Existenz nicht gibt, und diese Erscheinungen als eine Illusion zu erkennen. Es ist sehr schwierig, all dies schnell und direkt auf einmal zu erkennen. Es braucht viel Zeit und förderliche Umstände.

Nachdem wir über die Leerheit meditiert haben, gilt es, in unserem alltäglichen Leben die vier falschen Überlegungen (tib. tshul-min yid-byed) in Bezug auf die konventionelle Wahrheit zu vermeiden: konzeptuell Nichtstatisches als statisch wahrzunehmen, sowie Unreines als rein, Leiden als Glücklichsein und die Abwesenheit eines Selbst als Selbst. Stattdessen sollten wir erkennen, wie die Dinge in Bezug auf die konventionelle Wahrheit tatsächlich sind, und dies zusätzlich mit Bodhichitta und dem Gebet kombinieren, dass alle Wesen den Zustand eines Buddhas erlangen mögen. 

Im Anuttarayoga-Tantra die beiden Buddhakörper erlangen

Dies führt uns nun zur Praxis des tantrischen Pfades als Ergänzung zur oben genannten Praxis und Methode, um die beiden erleuchtenden Buddhakörper zu erlangen. Die einzigartigen Punkte der Tantra-Praxis finden sich in der höchsten Klasse des Tantra: dem Anuttarayoga-Tantra. Die ersten drei Klassen dienen lediglich als Vorbereitung dafür.

Die Hauptpraxis des Anuttarayoga zielt darauf ab, die beiden Buddhakörper zu verwirklichen. Ein Dharmakaya ist zu unserem eigenen Nutzen, da er für andere unsichtbar ist und ihnen nicht nutzen kann. Ein Formkörper (Skt. rūpakāya) ist der Körper der erleuchtenden Formen, und er ist für andere sichtbar und kann ihnen Nutzen zukommen lassen. Ein Dharmakaya umfasst sowohl den Körper der essenziellen Natur (Skt. svabhāvakāya) als auch den Dharmakaya des tiefen Gewahrseins (Skt. jñānadharmakāya). Formkörper umfassen die erleuchtenden Körper vollen Gebrauchs (Skt. saṃbhogakāya) und die Ausstrahlungskörper (Skt. nirmāṇakāya). Während man im Dharmakaya verweilt, manifestiert man diese Arten der Formkörper.

Die Pali-Tradition nimmt weder auf diese beiden noch auf die vier Buddhakörper Bezug. Im Mahayana hingegen werden die beiden erleuchtenden Buddhakörper als untrennbar (tib. dbyer-med), von einer essenziellen Natur (tib. ngo-bo gcig) und einem „Geschmack“ (tib. ro gcig) dargestellt. Im System des Guhyasamaja-Tantra wird dieser Punkt als „Untrennbarkeit der drei verborgenen Faktoren“ (tib. gsang-ba gsum dbyer-med) bezeichnet: verborgener Körper, verborgene Rede und verborgener Geist.

Im „Guhyasamaja-Wurzeltantra” heißt es, der Körper sei wie der Geist und der Geist wie der Körper; mit anderen Worten, Körper, Rede und Geist beziehen sich auf die gleiche Sache. Auf unserer Ebene ist es jedoch offensichtlich, dass unser Körper nicht unsere Rede oder unser Geist ist. Untrennbar sind die drei aus der Perspektive des subtilsten Geistes und des subtilsten Körpers. Dies hat Auswirkungen auf Körper, Rede und Geist auf der groben Ebene, wenn wir wach sind, träumen oder uns im Tiefschlaf befinden.

Wenn wir von Körper, Rede und Geist des ursprünglichen Zustandes (tib. gnyug-ma) sprechen, ist dabei der Geist klaren Lichts unser Geist, und die subtilste Energie, auf dem er „reitet“, ist unser Körper. Sie sind von derselben essenziellen Natur, haben aber unterschiedliche Funktionen. Der subtilste Geist ist Quelle der subtilsten Rede, und daher sind aus der Perspektive dieser Ebene des subtilsten klaren Lichts Körper, Rede und Geist von derselben essenziellen Natur und haben denselben Geschmack. Wenn wir dann die Buddhaschaft verwirklichen, sind die drei untrennbar miteinander verbunden.

Dann gibt es noch die Untrennbarkeit dieser drei ursprünglichen Aspekte, sowohl auf der Ebene der Schulung als auch auf der Ebene, die keiner weiteren Schulung bedarf, der Buddhaschaft. Auf der Ebene der Schulung bezieht sich der Körper entweder auf den Regenbogenkörper (tib. ’ja’-lus) [im Muttertantra], den reinen Illusionskörper (tib. sgyu-lus) [im Vatertantra] oder auf leere Form (tib. stong-gzugs) [im Kalachakra]. Diese können nur dann mit dem subtilsten Wind manifestiert werden, wenn wir in der Lage sind, den Geist klaren Lichts in eine nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit zu transformieren. Dies zu tun, erfordert die Beherrschung des Yogas der Untrennbarkeit von Tiefgründigkeit (Leerheit) und Klarheit (Hervorbringen von Erscheinungen) (tib. zab-gsal dbyer-med).

Wir sollten solche Meditationen immer mit Leerheitsmeditation beginnen. Mit „oṃ svabhāva śuddhāḥ“ meditieren wir über die Abwesenheit eines Selbst der Person und mit „sarva dharmāḥ svabhāva śuddho“ über die Abwesenheit eines Selbst der Phänomene, und mit „haṃ“ meditieren wir einsgerichtet darüber, den Stolz dieser beiden Abwesenheiten zu bewahren.

Die Erzeugungsstufe (tib. bskyed-rim) enthält die Essenz der Vollständigkeitsstufe (tib. rdzogs-rim) in dem Sinne, dass sie sich hauptsächlich auf die konventionelle Wahrheit fokussiert, aber in ihrer Phase der völligen Vertiefung hat sie einen Aspekt der tiefsten Wahrheit. Bei der Vollständigkeitsstufe liegt der Schwerpunkt auf einer Betonung des Aspektes der tiefsten Wahrheit.

Die Praxis der Erzeugungsstufe wird durchgeführt, indem man sich beim Visualisieren der Gottheiten auf die Aspekte der konventionellen Wahrheit konzentriert. Wenn wir die Aggregate, die Bestandteile unseres Körpers usw., in das Visualisieren von Gottheiten mit einbeziehen, handelt es sich dabei um eine andere Ebene der Visualisierungspraxis. Während der Geist auf Leerheit fokussiert ist, führt die Vorstellung, dass der Energiewind des Geistes in der Form einer Gottheit entsteht, dazu, dass wir tatsächlich in der Lage sind, auf der Vollständigkeitsstufe in der Form eines Regenbogenkörpers und auf der Ebene der Erleuchtung in der Form eines erleuchtenden Formkörpers (Skt. rūpakāya) zu entstehen.

Nachdem man in der Vorstellung als eine Gottheit erschienen ist und sich auf deren Leerheit konzentriert hat, folgt die Meditation über den Kreis der Gottheiten des Mandalas. Dies baut positive Kraft („Verdienst“) auf, während die Meditation über deren Leerheit zu tiefem Gewahrsein führt. Wir stellen uns vor, dass diese beiden dieselbe essenzielle Natur haben. Wenn wir direkt das ursprüngliche klare Licht auf der Vollständigkeitsstufe kultivieren können, sind wir in der Lage, Methode und tiefes Gewahrsein („Weisheit“) mit derselben essenziellen Natur auf dem Pfad zu entwickeln.

Das ist der Punkt, auf den sich Mahamudra und Dzogchen konzentrieren; es ist das Objekt, auf das man sich in diesen beiden Systemen konzentriert. Heutzutage denken die Leute, Mahamudra- und Dzogchen-Praxis sei leicht. Ich frage mich jedoch, ob diese Behauptung einiger Lehrer einfach nur auf mangelndes Wissen oder mangelnde Reife zurückzuführen ist.

Wie dem auch sei, der Buddha lehrte, dass wir unsere eigenen Meister sind. Wir sind diejenigen, die uns helfen müssen, gute Wiedergeburten und Befreiung zu erlangen. Der beste Weg in diese Richtung ist Bodhichitta, ein korrektes Leerheitsverständnis und die Praxis der sechs weitreichenden Geisteshaltungen, der sechs Paramitas.

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