Die tibetischen Erklärungen der Erscheinung und Wahrnehmung nicht-existierender Phänomene fallen weitgehend in zwei Lager: Gelug und Nicht-Gelug (Sakya, Nyingma und Kagyü).
Weder im Gelug, noch im Nicht-Gelug wird jedoch eine einheitliche Erklärung gegeben. Mehrere Meister innerhalb eines jeden Lagers haben bestimmte Punkte in ihren Kommentaren etwas anders erklärt. Hier werden wir, als Grundlage für fortgeschrittenere Studien, einen Überblick über die zwei allgemeinen Positionen bezüglich der wichtigsten Punkte geben. Für jeden Punkt werden wir abwechselnd die Behauptungen präsentieren, die sie gemeinsam haben, und dann die zwei Standpunkte darlegen.
Wir werden die Erklärungen nutzen, die in erster Linie vom verstorbenen Meister des 18. Jahrhunderts Akya Yongdzin (tib. A-kya Yongs-’dzin dByangs-can dga-ba’i blo-gros) gegeben wurden, um die Gelug-Position zu repräsentieren. Diese Erklärung steht im Einklang mit der klösterlichen Lehrbuch-Tradition (tib. yig-cha) des Meisters aus dem 16. Jahrhundert Jetsün Chökyi Gyaltsen (tib. rJe-btsun Chos-kyi rgyal-mtshan), der man in den Sera Je (tib. Se-ra Byes) und Ganden Jangtse (tib. dGa’-ldan Byang-rtse) Klöstern folgt. Um die Nicht-Gelug-Position darzulegen, werden wir uns in erster Linie auf die Erklärungen des Sakya-Meisters aus dem 15. Jahrhundert Gorampa (tib. Go-ram bSod-nams seng-ge) stützen.
Einleitung
Existierende Phänomene (tib. yod-pa) sind jene, die gültig wahrgenommen werden können. Sie umfassen Bestätigungs-Phänomene (tib. sgrub-pa, durch Bestätigung erkannte Phänomene), wie eine Orange, und Negierungs-Phänomene (tib. dgag-pa, durch Negierung erkannte Phänomene), wie keine Orange.
Nicht-existierende Phänomene (tib. med-pa), wie Einhörner und Luftspiegelungen, können Objekte der Wahrnehmung, aber keine Objekte der gültigen Wahrnehmung (tib. tshad-ma) sein. Sie sind lediglich Objekte verzerrter Wahrnehmung (tib. log-shes).
Kognitive Erscheinungen nicht-existierender Objekte können sowohl in nicht-konzeptueller Wahrnehmung als auch in konzeptueller Wahrnehmung entstehen. In verzerrter nicht-konzeptueller Sinneswahrnehmung mögen wir die Halluzination eines Einhorns auf einer leeren Wiese sehen. In verzerrter konzeptueller Wahrnehmung mögen wir uns ein Einhorn auf einer Wiese vorstellen. Wenn die nicht-existierenden Objekte – Einhörner – nicht wirklich existieren, wie können dann kognitive Erscheinungen von ihnen entstehen?
Erscheinungen nicht-existierender Objekte, wie Einhörner, in nicht-konzeptueller Sinneswahrnehmung
Gelug
Betrachten wir die verzerrte nicht-konzeptuelle Sinneswahrnehmung des Sehens eines Einhorns auf einer Wiese:
Die leere Wiese ist das Objekt der Ausrichtung (tib. dmigs-yul). Die Wahrnehmung eines Einhorns nimmt dort einen geistigen Aspekt (tib. rnam-pa, geistiges Erscheinungsbild) an, der einem Einhorn auf der Wiese ähnelt. Der geistige Aspekt ist das erscheinende Objekt (tib. snang-yul) und das kognitiv erfasste Objekt (tib. gzung-yul).
- Gemäß den Prasangika-Lehrsystemen ist der geistige Aspekt, der einem Einhorn ähnelt, ein existierendes Phänomen, obgleich das Einhorn nicht existiert. Darüber hinaus ist die Wahrnehmung eines halluzinierten Einhorns als ein halluziniertes Einhorn korrekt. Die Täuschung liegt darin, das halluzinierte Einhorn für ein äußerlich konventionell existierendes Einhorn zu halten.
- Der Meister des 15. Jahrhunderts Gyaltsab Je (tib. rGyal-tshab Dar-ma rin-chen) und der Erste Dalai Lama Gedundrub (tib. dGe-’dun grub) sind sich darin einig, dass die Halluzination eines Einhorns einen geistigen Aspekt annimmt, der einem Einhorn ähnelt und dass dieses geistige Erscheinungsbild in der Wahrnehmung erscheint (entsteht). Da sie jedoch vertreten, dass verzerrte nicht-konzeptuelle Sinneswahrnehmung weder ein erscheinendes Objekt noch ein kognitiv erfasstes Objekt hat, identifizieren sie den geistigen Aspekt mit keinem von beiden.
Ein Einhorn ist das beteiligte Objekt (tib. ’jug-yul) der verzerrten visuellen Wahrnehmung. Ein äußerlich konventionell existierendes Einhorn, das als Objekt der Ausrichtung und fokalen Bedingung (tib. dmigs-rkyen) der Halluzination wirkt, lässt den geistigen Aspekt, der erscheint (das geistige Erscheinungsbild eines Einhorns) nicht entstehen, weil es so etwas, wie ein äußerlich konventionell existierendes Einhorn nicht gibt. Der geistige Aspekt entsteht aufgrund von inneren körperlichen oder geistigen Ursachen der Halluzination.
Als ein transparentes geistiges Erscheinungsbild eines Einhorn offenbart der geistige Aspekt, der erscheint, kein tatsächliches Einhorn. Er offenbart nichts.
Nicht-Gelug
Betrachten wir die verzerrte nicht-konzeptuelle Sinneswahrnehmung des Sehens halluzinierter Bereiche farbiger Formen, die nachfolgend als ein Einhorn auf einer Wiese konzeptuell erfasst werden:
Es gibt kein Objekt der Ausrichtung, keine fokale Bedingung und kein kognitiv erfasstes Objekt der Halluzination, das durch die verzerrte Wahrnehmung indirekt wahrgenommen wird (tib. shugs-la rig), weil es keine äußeren Bereiche farbiger Formen gibt, die nachfolgend als ein Einhorn konzeptuell erfasst werden. Die verzerrte nicht-konzeptuelle Wahrnehmung erfasst nichts indirekt.
Die verzerrte Wahrnehmung nimmt einen geistigen Aspekt an, der äußeren Bereichen farbiger Formen ähnelt, die nachfolgend als ein Einhorn auf einer Wiese konzeptuell erfasst werden. Obgleich der undurchsichtige geistige Aspekt direkt wahrgenommen wird (tib. dngos-su rig), hat die Halluzination kein erscheinendes Objekt, da nichts seinen Eindruck auf das Bewusstsein geworfen hat. Der geistige Aspekt entsteht aufgrund von inneren körperlichen oder geistigen Ursachen der Halluzination.
Das geistige Erscheinungsbild äußerer Bereiche farbiger Formen ist das beteiligte Objekt der verzerrten visuellen Wahrnehmung.
Erscheinungen nicht-existierender Objekte, wie Einhörner, in konzeptueller Wahrnehmung
Betrachten wir die verzerrte konzeptuelle Wahrnehmung, sich ein Einhorn auf einer Wiese vorzustellen:
Gelug
Eine leere Wiese ist das Objekt der Ausrichtung, wie in der nicht-konzeptuellen Halluzination. Der transparente geistige Aspekt, der erscheint oder entsteht, ist eine geistige Repräsentation (tib. snang-ba) eines Einhorns auf der Wiese und sie ist das beteiligte Objekt.
Das erscheinende Objekt ist die halb-transparente Bedeutungs/Objekt-Kategorie (tib. don-spyi) „Einhorn“, vielleicht beruhend auf einer Kombination der Bedeutungs/Objekt-Kategorien „Pferd“ und „Karikatur-Horn“.
Das konzeptuell implizierte Objekt (tib. zhen-yul) – ein tatsächliches, konventionell existierendes Einhorn, das der Bedeutungs/Objekt-Kategorie „Einhorn“ entspricht – gibt es nicht. Somit erscheint ein tatsächliches Einhorn als das konzeptuell implizierte Objekt nicht, nicht einmal unklar, durch einen transparenten geistigen Aspekt und ein halb-transparentes erscheinendes Objekt.
Nicht-Gelug
Wie in der verzerrten nicht-konzeptuellen Sinneswahrnehmung gibt es kein Objekt der Ausrichtung, keine fokale Bedingung und kein kognitiv erfasstes Objekt. Das erscheinende Objekt ist ein undurchsichtiger geistiger Aspekt, der scheinbar einem Einhorn auf der Wiese ähnelt. Wie in der Chittamatra-Darstellung kommen der geistige Aspekt (fokaler Aspekt, tib. dmigs-rnam) und das Bewusstsein dessen aus einer geteilten Ursprungsquelle (tib. rdzas) – nämlich aus demselben karmischen Vermächtnis (tib. sa-bon, karmischer Same, karmische Tendenz). Das trifft zu, obwohl der geistige Aspekt eine nicht-statische metaphysische Entität (tib. spyi-mtshan) ist.
Das erscheinende Objekt wird mit der Bedeutungs/Objekt-Kategorie von tatsächlich konventionell existierenden Einhörnern verwechselt, die dem undurchsichtigen geistigen Aspekt zugeschrieben werden. Die Bedeutungs/Objekt-Kategorie ist das beteiligte Objekt.
Das konzeptuell implizierte Objekt, welches als ein Einhorn durch die verzerrte konzeptuelle Wahrnehmung – äußere objektive Bereiche farbiger Formen, die die konzeptuelle Wahrnehmung geistig als ein konventionell existierendes Einhorn künstlich bildet und bestimmt – gekennzeichnet (tib. zhen-pa’i brjod-bya) wird, existiert nicht.
Weder die konzeptuelle Wahrnehmung eines Pferdes auf der Wiese, noch eines Einhorns auf der Wiese hat ein äußeres Objekt der Ausrichtung. Dennoch ist letztere eine verzerrte ungültige Wahrnehmung, während erstere eine gültige Wahrnehmung ist. Die konzeptuelle Wahrnehmung des Einhorns ist ungültig, weil sie nicht als Grundlage für eine weitere gültige Wahrnehmung ihres beteiligten Objektes (eines konventionellen Einhorns) dienen kann. Sie kann nämlich nicht als eine Grundlage für die gültige nicht-konzeptuelle Sinneswahrnehmung des (mit äußeren Bereichen farbiger Formen) gekennzeichneten, konzeptuell implizierten Objektes dienen, das die konzeptuelle Wahrnehmung als ihr beteiligtes Objekt (ein Einhorn) künstlich bildet und kennzeichnet.
Erscheinungen dessen, was etwas ist und wie etwas existiert
Gemäß den Madhyamaka-Lehrsystemen erzeugen nicht-konzeptuelle und konzeptuelle Wahrnehmungen nicht nur kognitive Erscheinungen des Ausmaßes dessen, was ihre beteiligten Objekte sind (tib. ji-snyed-pa), sondern auch, wie ihre beteiligten Objekte existieren (tib. ji-lta-ba).
Jedes gültig erkennbare Phänomen ist von eigener Wesensnatur (tib. rang-gi ngo-bo ’dzin-pa). „Das Ausmaß dessen, was etwas ist“ bezieht sich auf die individuelle Wesensnatur, die dieses Etwas hat. Diese Wesensnatur kann einfach die eines individuell gültig erkennbaren Objektes oder die eines spezifischen konventionellen allgemein verständlichen Objektes (tib.’jig-rten-la grags-pa) sein, wie das einer Orange oder eines Tisches.
„Wie etwas existiert“ bezieht sich auf das, was die Existenz von etwas begründet.
Erscheinungen wahrer Existenz gemäß dem Madhyamaka-System
Im Kontext des Madhyamaka dreht sich die Frage, was die Existenz von etwas begründet, darum, ob ein Objekt wahrhaft begründete Existenz (tib. bden-par grub-pa, wahre Existenz) hat oder nicht.
„Wahrhaft begründete Existenz“ ist eine Existenz, die durch etwas auf Seiten eines Objektes, unabhängig vom geistigen Bezeichnen (tib. ming ’dogs-pa, Zuschreibung) begründet wird. „Unabhängig“ bedeutet, im Sinne der oberflächlichen Wahrheit (tib. kun-rdzob bden-pa, relative Wahrheit, konventionelle Wahrheit) unabhängig davon, das Bezugsobjekt (tib. btags-chos, zugeschriebenes Objekt) eines Wortes, Konzeptes oder geistigen Bezeichnung zu sein, wenn es gültig einer Grundlage der Zuschreibung (tib. gdags-gzhi) zugeschrieben wird. Anders ausgedrückt ist wahrhaft begründete Existenz eine Existenz, die unabhängig davon begründet wird, das zu sein, worauf sich ein Wort, Konzept oder eine geistige Bezeichnung konventionell bezieht. Nichts existiert auf derart unmögliche Weise.
Die Zuschreibung kann das Ausmaß dessen sein, was etwas ist oder wie etwas existiert. Die Zuschreibung wahrhaft begründeter Existenz ist eine Zuschreibung dessen, wie etwas existiert. Sie umfasst geistige Fabrikation (tib. spros-pa) durch konzeptuelle Wahrnehmung.
Gelug
„Geistige Fabrikation“ wird als die zusätzliche Erscheinung einer Existenzweise eines Objektes, jenseits dessen, was existiert, definiert. Genau genommen erfinden und projizieren wir mit der geistigen Fabrikation eine Erscheinung wahrhaft begründeter Existenz. Sie tritt sowohl in konzeptueller als auch in nicht-konzeptueller Wahrnehmung auf. Die geistige Fabrikation tritt automatisch auf (tib.lhan-skyes), in jedem Augenblick der Erfahrung, aufgrund der Gewohnheiten des Greifens nach wahrer Existenz (tib.bden-’dzin-gyi bag-chags).
Obgleich sowohl metaphysische (tib. spyi-mtshan) als auch objektive Entitäten (tib. rang-mtshan) keine wahrhaft begründete Existenz haben, scheinen beide somit wahrhaft existent zu sein.
- Metaphysische Entitäten umfassen alle statischen (tib. rtag-pa, beständigen) Phänomene.
- Objektive Entitäten umfassen alle nicht-statischen (tib. mi-rtag-pa, unbeständigen) Phänomene.
Geistiges Bezeichnen (Zuschreiben) und geistige Fabrikation sind keine vergleichbaren Begriffe.
- Geistiges Bezeichnen ist damit verbunden, ein Wort oder Konzept zu nutzen, um das Maß dessen zu kennzeichnen, was etwas ist. Mit anderen Worten weisen wir mit geistigem Bezeichnen dem allgemein verständlichen Objekt den Namen dessen zu, was etwas konventionell ist. Geistiges Bezeichnen ist lediglich eine Zuschreibung auf der Grundlage für die Zuschreibung, wie eine Ansammlung von Teilen, und es erfindet nichts jenseits dessen, was konventionell der Fall ist.
- Geistige Fabrikation ist damit verbunden, zu erfinden und zu projizieren, wie etwas trügerisch zu existieren scheint (tib. ’khrul-snang), was über das, was tatsächlich der Fall ist, hinaus geht.
Existenz im Sinne des geistigen Bezeichnens bedeutet, konventionell als „dies“ und „nicht das“ zu existieren, abhängig davon, das Bezugsobjekt der geistigen Bezeichnungen „dies“ und „nicht das“ zu sein, wenn diese geistigen Bezeichnungen gültig einer Grundlage für die Zuschreibung zugeschrieben werden.
Obwohl der eigentliche Vorgang des geistigen Bezeichnens nur in konzeptueller Wahrnehmung stattfindet, existiert dennoch alles in Form des geistigen Bezeichnens, ob es nun konzeptuell oder nicht-konzeptuell wahrgenommen wird.
Nicht-Gelug
„Geistige Fabrikation“ ist die zusätzliche Erscheinung – eine untrennbare Kombination dessen, was etwas ist und wie es existiert – eines Objektes, jenseits dessen, was der Fall ist. Die geistige Fabrikation besteht aus der geistigen Synthese objektiver Entitäten (tib. rang-mtshan, besonders charakterisierter Phänomene) in metaphysische Entitäten (tib. spyi-mtshan, allgemein charakterisierter Phänomene), mit Erscheinungen wahrhaft begründeter (nicht-zugeschriebener) Existenz. Geistige Fabrikation findet nur in konzeptueller Wahrnehmung statt.
Objektive Entitäten sind individuelle Phänomene (tib. bye-brag) und umfassen Momente von Sinnesdaten und Momente des Klanges. Sie sind die einzigen beteiligten Objekte, die durch gültige nicht-konzeptuelle Wahrnehmung wahrgenommen werden.
Die metaphysischen Entitäten, in die objektive Entitäten geistig fabriziert werden, sind Kombinationen von:
- einer Sammelsynthese (tib. tshogs-spyi) als ein allgemein verständliches Objekt, sowie
- einer Kategorie von Phänomenen, dessen Instanz das allgemein verständliche Objekt ist, wie „eine Orange“.
Obgleich allgemein verständliche Objekte wahrhaft existierende Entitäten (nicht zugeschrieben, nicht geistig fabriziert) zu sein scheinen und „wahrhaft existierend“ in bestimmte Kategorien zu passen scheinen, sind sie frei von dieser fabrizierten Existenzweise, weil die metaphysischen Entitäten selbst geistig fabriziert sind. Anders ausgedrückt: Obgleich metaphysische Entitäten (allgemein verständliche Objekte) korrekt und entschieden als „dies“ und „nicht das“ begriffen (tib. rtogs-pa) werden, gibt es dennoch nichts auf Seiten des allgemein verständlichen Objektes, das es aus eigener Kraft zu „dies“ und „nicht das“ macht.
Objektive Entitäten (Momente von Sinnesdaten oder Momente von Klängen), die nur in nicht-konzeptueller Wahrnehmung erscheinen, scheinen keine wahrhaft existierenden, konventionellen, allgemein verständlichen Objekte zu sein, die „wahrhaft existierend“ in die konzeptuellen Kategorien „dies“ und „nicht das“ passen, weil nicht-konzeptuelle Wahrnehmung ihr Objekt nicht als „dies“ und „nicht das“ entschieden bestimmt (tib. nges-pa, feststellen). Fachlich ausgedrückt ist nicht-konzeptuelle Wahrnehmung die unentschiedene Wahrnehmung dessen, was erscheint (tib. snang-la ma-nges-pa, unaufmerksame Wahrnehmung).
Objektive Entitäten können konzeptuell als allgemein verständliche Objekte künstlich gebildet und bezeichnet werden, sind aber selbst keine allgemein verständlichen Objekte. Somit fehlt objektiven Entitäten in dem Sinne eine wahrhaft begründete Existenz, dass sie nicht nicht-zugeschrieben (wahrhaft) als konventionelle allgemein verständliche Objekte „dies“ und „nicht das“ existieren. Sie können zugeschrieben nur durch konzeptuelle Wahrnehmung als allgemein verständliche Objekte „dies“ und „nicht das“ künstlich gebildet werden.
Allgemein verständliche Objekte, wie Orangen, sind als statische, metaphysische Entitäten nicht in der Lage, Funktionen zu erfüllen (tib. don-byed nus-pa). Das trifft zu, obgleich allgemein verständliche Objekte trügerisch Funktionen zu erfüllen scheinen. So scheint beispielsweise eine allgemein verständliche Orange unsere Hände klebrig zu machen, wenn wir sie halten. Nur objektive Entitäten (Sinnesdaten), wie Momente von Tastempfindungen, erfüllen Funktionen.
- Hier folgt einem Moment einer nicht-klebrigen Tastempfindung – das konzeptuell implizierte Objekt wird durch die konzeptuelle Wahrnehmung des Gefühls einer allgemein verständlichen Orange gekennzeichnet, die wir in unseren Händen halten – ein Moment einer klebrigen Tastempfindung.
- Die Schlussfolgerung (tib. rjes-dpag), dass der Moment der nicht-klebrigen Empfindung die Funktion erfüllt hat, den Moment der klebrigen Empfindung als Auswirkung zu erzeugen, ist eine gültige schlussfolgernde Wahrnehmung. Das trifft zu, obwohl die Schlussfolgerung eine konzeptuelle Wahrnehmung ist. Die Schlussfolgerung ist gültig, weil sie zu gültigen Wahrnehmungen von Momenten klebriger Empfindungen führt, die Momenten nicht-klebriger Empfindungen folgen, wann immer wir gültig und konzeptuell das Gefühl einer allgemein verständlichen Orange in unserer Hand wahrnehmen.
Sinnesdaten haben Teile, da sie Ansammlungen von Molekülen (tib. ’dus-pa’i rdul-phran) sind. Darüber hinaus sind ihre Moleküle Ansammlungen von Teilchen (tib. rdzas-kyi rdul-phran), und sogar Teilchen haben richtungsweisende Teilchen. Des Weiteren haben auch Momente von Sinnesdaten oder des Klanges zeitliche Bestandteile. Weder Sinnesdaten noch Momente von ihnen oder von Klängen existieren unabhängig von ihren Teilen.
Dennoch haben Sinnesdaten und deren Momente keine wahrhaft begründete Existenz, nicht einmal als „Sinnesdaten dies und nicht das“ oder als „Moment dies und nicht das“, es sei denn solch eine konventionelle Identität wird konzeptuell geistig fabriziert. Die konventionelle Identität wird geistig fabriziert, indem sie künstlich von der Ansammlung von Teilen gebildet wird, der die konventionelle Identität zugeschrieben werden kann.
Somit sind sowohl metaphysische als auch objektive Entitäten frei von wahrhaft begründeter Existenz.
Konzeptuelle Wahrnehmung wahrhaft begründeter Existenz als ein nicht-existierendes Phänomen
Betrachten wir den Fall der konzeptuellen Wahrnehmung einer konventionellen, allgemein verständlichen Orange gemäß dem Madhyamaka-System.
Gelug
Das konzeptuell implizierte Objekt ist eine wahrhaft existierende, allgemein verständliche Orange. Was das konzeptuell implizierte Objekt zu sein scheint – eine allgemein verständliche Orange – existiert konventionell als die oberflächliche Wahrheit über das Objekt. Sie kann passenden Sinnesdaten gültig zugeschrieben werden. Die Erscheinung einer allgemein verständlichen Orange entsteht in der konzeptuellen Wahrnehmung durch einen vollkommen transparenten geistigen Aspekt, der einer allgemein verständlichen Orange ähnelt.
Die Weise, wie das konzeptuell implizierte Objekt zu existieren scheint – mit wahrhaft begründeter Existenz – gibt es nicht. Die allgemein verständliche Orange ist frei von wahrer Existenz.
Obgleich der transparente geistige Aspekt, der durch die konzeptuelle Wahrnehmung angenommen wird, ein geistiges Erscheinungsbild wahrer Existenz ist, offenbart der Aspekt durch sie keine wahrhaft begründete Existenz. Die trügerische Erscheinung dieser Existenzweise ist verzerrt, weil sie eine Erscheinung von etwas Nichtexistierendem ist, wie die Vorstellung eines Einhorns.
Stellen wir uns ein Einhorn auf einer Wiese vor:
- Das Objekte der Ausrichtung ist eine Wiese (die existiert) und das beteiligte Objekt ist ein Einhorn dort (welches nicht existiert). Es gibt jedoch kein wirkliches Einhorn als fokale Bedingung, die ihr Licht auf das Bewusstsein wirft.
- Der geistige Aspekt (der existiert), der einem Einhorn ähnelt, erscheint (entsteht) einfach durch die äußeren und inneren Ursachen der Verwirrung.
- Das erscheinende Objekt ist eine Bedeutungs/Objekt-Kategorie (die existiert) eines Einhorns, die dem geistigen Aspekt zugeschrieben ist.
Stellen wir uns in ähnlicher Weise eine allgemein verständliche Orange als wahrhaft existierend vor,
- ist das Objekt der Ausrichtung die allgemein verständliche Orange (die existiert) und das beteiligte Objekt ist wahrhaft begründete Existenz (die nicht existiert). Es gibt keine tatsächliche wahre Existenz als fokale Bedingung, die ihr Licht auf das Bewusstsein wirft.
- Der geistige Aspekt (der existiert), welcher wahrhaft begründeter Existenz ähnelt, erscheint (entsteht) einfach durch eine innere Ursache der Verwirrung – nämlich der Gewohnheit des Greifens nach wahrer Existenz.
- Das erscheinende Objekt ist eine Bedeutungs/Objekt-Kategorie (die existiert) der wahrhaft begründeten Existenz, die dem geistigen Aspekt zugeschrieben ist.
Somit ist das konzeptuell implizierte Objekt als ein konventionell existierendes, allgemein verständliches Objekt frei davon, auf eine Art der konzeptuell implizierten Existenzweise zu existieren. Diese Abwesenheit einer unmöglichen Existenzweise ist die Leerheit (tib. stong-nyid, Leere) des konzeptuell implizierten, allgemein verständlichen Objektes.
Nicht-Gelug
Das konzeptuell implizierte Objekt, das mit dem Geist künstlich gebildet und als „eine allgemein verständliche Orange“ durch die konzeptuelle Wahrnehmung einer allgemein verständlichen Orange gekennzeichnet wird, ist ein nicht-wahrhaft existierender Moment nicht-wahrhaft existierender Sinnesdaten – zum Beispiel ein Moment eines kugelförmigen Bereiches von orangener Farbe. Das konzeptuell implizierte Objekt, das als eine Orange gekennzeichnet wird, erscheint nicht in der konzeptuellen Wahrnehmung.
Das erscheinende Objekt ist ein undurchsichtiger geistiger Aspekt, der einer wahrhaft existierenden, allgemein verständlichen Orange ähnelt. Das beteiligte Objekt, das in der geistigen Synthese (Bedeutungs/Objekt-Kategorie) entsteht (erscheint), ist eine „allgemein verständliche Orange“. Diese mit dem Geist künstlich gebildete „allgemein verständliche Orange“, die lediglich die konzeptuelle Darstellung (tib. snang-ba) einer allgemein verständlichen Orange ist, wird dem geistigen Aspekt zugeschrieben, der eine geistige Ableitung (tib. gzugs-brnyan) der geistigen Synthese ist und der der Synthese ähnelt.
- Was das erscheinende Objekt zu sein scheint, ist ein konventionelles allgemein verständliches Objekt.
- Die Existenzweise, mit der das erscheinende Objekt zu existieren scheint, ist wahrhaft begründete Existenz. Mit anderen Worten scheint das geistige Erscheinungsbild einer allgemein verständlichen Orange von sich aus wahrhaft existierend eine allgemein verständliche Orange zu sein, unabhängig davon, als solche mit der Bedeutungs/Objekt-Kategorie (geistigen Synthese) „allgemein verständliche Orange“ bezeichnet zu werden.
Was das erscheinende Objekt zu sein scheint und wie es zu existieren scheint, ist beides verzerrt. Tatsächliche allgemein verständliche Objekte, die ihr Licht auf das Bewusstsein werfen, gibt es nicht. In nicht-konzeptueller Sinneswahrnehmung werfen nur Momente von Sinnesdaten und Klang ihr Licht auf das Bewusstsein, keine konventionellen, allgemein verständlichen Objekte. In der konzeptuellen Wahrnehmung einer allgemein verständlichen Orange ist nur eine Bedeutungs/Objekt-Kategorie, die geistige Synthese „allgemein verständliche Orange“ das Objekt, das tatsächlich durch den geistigen Aspekt (das erscheinende Objekt) in Bezug darauf gekennzeichnet (tib. dngos-kyi brjod-bya) wird, was dieser geistige Aspekt zu sein scheint.
In ähnlicher Weise gibt es keine tatsächliche wahre Existenz, die ihr Licht auf das Bewusstsein wirft. In nicht-konzeptueller Sinneswahrnehmung wirft nur nicht-wahre Existenz ihr Licht auf das Bewusstsein, keine wahrhaft begründete Existenz. In der konzeptuellen Wahrnehmung wahrhaft begründeter Existenz ist nur eine Bedeutungs/Objekt-Kategorie (die geistige Synthese) „wahrhaft begründete Existenz“ das Objekt, welches tatsächlich durch den geistigen Aspekt (das erscheinende Objekt) in Bezug darauf gekennzeichnet wird, wie dieser geistige Aspekt zu existieren scheint.
Eine allgemein verständliche Orange – als was eine Orange geistig auf der Grundlage des konzeptuell implizierten Objektes gekennzeichnet werden kann (äußere objektive Sinnesdaten) – existiert konventionell als ein oberflächlich wahres Objekt. Eine allgemein verständliche Orange kann gültig Sinnesdaten zugeschrieben werden. Die Existenzweise (wahre Existenz), die automatisch als ein integraler Aspekt des Fabrizierens einer konventionellen, allgemein verständlichen Orange auf der Grundlage des Kennzeichnens eines konzeptuell implizierten Objektes fabriziert wird, existiert nicht in der tiefsten Wahrheit (tib. don-dam bden-pa). Es handelt sich dabei nur um eine oberflächliche Erscheinung. Somit sind konventionelle, allgemein verständliche Objekte vollkommen konzeptuelle Phänomene (tib. kun-brtags).
Kurzum besteht die oberflächliche wahre Existenzweise allgemein verständlicher Objekte darin, dass sie wahrhaft zu existieren scheinen, tatsächlich aber nicht wahrhaft existierend sind. Sie existieren, indem sie Momenten von Sinnesdaten und Klängen zugeschrieben werden.
Die oberflächliche wahre Existenzweise von Momenten von Sinnesdaten und Klang ist, dass sie nicht-wahrhaft zu existieren scheinen, doch ihre tiefste Existenzweise ist jenseits dieser konzeptuell erfassten Existenzweise.
Vergleichen wir die konzeptuelle Wahrnehmung nicht-wahrer Existenz mit jener wahrer Existenz. Im Fall des Unterschieds zwischen der konzeptuellen Wahrnehmung eines Pferdes und eines Einhorns, sind die konzeptuellen Wahrnehmungen von wahrer und nicht-wahrer Existenz verzerrt. Letztere kann jedoch als eine Grundlage der weiteren gültigen Wahrnehmung ihres beteiligten Objektes dienen; erstere nicht.
- Das beteiligte Objekt der konzeptuellen Wahrnehmung nicht-wahrer Existenz ist die Bedeutungs/Objekt-Kategorie „nicht-wahre Existenz“. Diese konzeptuelle Wahrnehmung kann als eine Grundlage für gültige nicht-konzeptuelle Wahrnehmung des gekennzeichneten, konzeptuell implizierten Objektes dienen (die nicht-wahre Existenz von Momenten äußerer Sinnesdaten), welches die konzeptuelle Wahrnehmung als ihr beteiligtes Objekt künstlich bildet.
- Das beteiligte Objekt der konzeptuellen Wahrnehmung wahrer Existenz ist die Bedeutungs/Objekt-Kategorie „wahre Existenz“. Diese konzeptuelle Wahrnehmung kann nicht als eine Grundlage für gültige, nicht-konzeptuelle Sinneswahrnehmung des konzeptuell implizierten Objektes dienen (die wahre Existenz von Momenten äußerer Sinnesdaten), welches die konzeptuelle Wahrnehmung als ihr beteiligtes Objekt künstlich bildet. Momente äußerer Sinnesdaten sind frei von wahrer Existenz.
Bezugsobjekte
Laut dem Madhyamaka umfasst geistiges Bezeichnen, welches stets konzeptuell ist:
- eine geistige Bezeichnung;
- eine Grundlage für die Bezeichnung; sowie
- ein Bezugsobjekt (zugeschriebenes Objekt, bezeichnetes Objekt). Das Bezugsobjekt ist das, worauf sich eine Bezeichnung, ein Wort oder ein Begriff bezieht.
Betrachten wir den Fall der verbalen konzeptuellen Wahrnehmung einer konventionellen allgemein verständlichen Orange mit der Hörkategorie und der Bedeutungs/Objekt-Kategorie „Orange“.
Gelug
In Bezug auf geistiges Bezeichnen:
- Die geistige Bezeichnung ist die Hörkategorie „Orange“ und für gewöhnlich auch eine Bedeutungs/Objekt-Kategorie „Orange“ – beides sind metaphysische Entitäten.
- Die Grundlage für die Bezeichnung kann eine orangefarbene Kugelform sein – eine objektive Entität.
- Dieses Bezugsobjekt ist eine allgemein verständliche Orange – eine nicht-statische Sammelsynthese (tib. tshogs-spyi) als eine objektive Entität.
Es ist wichtig, das Bezugsobjekt nicht mit der Grundlage für die Bezeichnung oder der geistigen Bezeichnung selbst zu identifizieren.
- Das Bezugsobjekt ist nicht dasselbe wie die Grundlage für die Bezeichnung. Die farbige Form, die erscheint, wenn wir an eine allgemein verständliche Orange denken, ist nicht die eigentliche Orange. Wir essen keine farbige Form, wenn wir eine Orange essen.
- Das Bezugsobjekt ist nicht dasselbe wie die geistige Bezeichnung. Die eigentliche Orange ist nicht das Wort oder Konzept „Orange“, noch eine konzeptuelle Kategorie.
- Eine tatsächliche Orange ist das, worauf sich die Hörkategorie „Orange“ und die Bedeutungs/Objekt-Kategorie „Orange“ beziehen, wenn sie auf der Grundlage passender farbiger Formen bezeichnet werden.
In Bezug auf die konzeptuelle Wahrnehmung:
- Die erscheinenden Objekte sind nicht einfach die Hörkategorie und Bedeutungs/Objekt-Kategorie „Orange“, sondern vielmehr die Hörkategorie und Bedeutungs/Objekt-Kategorie „wahrhaft existierende Orange“.
- Das konzeptuell implizierte Objekt (das ein kognitiv erfasstes, existierendes Objekt ist) ist eine wahrhaft existierende Orange. Es ist das, was die konzeptuelle Kategorie (das Konzept) „eine Orange“ impliziert (tib. zhen, sich klammern) und der sie entspricht.
Somit
- ist das, worauf sich die konzeptuelle Kategorie „eine Orange“ bezieht (nicht-wahrhaft existierende, allgemein verständliche Orangen als objektive Entitäten), nicht dasselbe, wie das, was der konzeptuellen Kategorie einer Orange entspricht (wahrhaft existierende Orangen, die es überhaupt nicht gibt).
- Mit anderen Worten ist das Bezugsobjekt einer konzeptuellen Wahrnehmung nicht dasselbe, wie dessen konzeptuell impliziertes Objekt.
Kurzum:
- Wir sehen eine nicht-wahrhaft existierende, allgemein verständliche Orange, die dennoch wahrhaft zu existieren scheint.
- Dann erfassen wir sie konzeptuell als eine wahrhaft existierende, allgemein verständliche Orange.
- In der konzeptuellen Wahrnehmung fabrizieren wir geistig das konzeptuell implizierte Objekt (eine wahrhaft existierende Orange) und projizieren sie auf das Bezugsobjekt (eine nicht-wahrhaft existierende Orange als eine objektive Entität, die wir sehen können).
Nicht-Gelug
In Bezug auf geistiges Bezeichnen:
- Die geistige Bezeichnung ist das Objekt, das der eigentliche Bedeutungsträger (tib. dngos-kyi brjod-byed) ist. Das ist die Hörkategorie „Orange“ – eine metaphysische Entität.
- Die Grundlage für die Bezeichnung ist ein geistiger Aspekt (geistiges Erscheinungsbild), der einer wahrhaft existierenden, konventionellen Orange ähnelt. Das ist ebenfalls eine metaphysische Entität.
- Das Bezugsobjekt (das tatsächliche, gekennzeichnete Objekt) ist die geistige Synthese (Bedeutungs/Objekt-Kategorie) „allgemein verständliche Orange“ (eine Sammelsynthese) – gleichbedeutend mit einer wahrhaft existierenden, allgemein verständlichen Orange als einer metaphysischen Entität. Eine allgemein verständliche Orange, die wahrhaft existiert, ist jedoch lediglich dessen oberflächliche Wahrheit – nämlich dessen Erscheinung in einem konzeptuellen Geist.
Es ist wichtig, das Bezugsobjekt nicht mit der Grundlage für die Bezeichnung oder der geistigen Bezeichnung selbst zu identifizieren.
- Das Bezugsobjekt ist nicht dasselbe, wie die Grundlage für die Bezeichnung. Das geistige Erscheinungsbild einer wahrhaft existierenden Orange, welches das erscheinende Objekt ist, wenn wir an eine Orange denken, ist nicht eine Orange. Wir essen kein geistiges Erscheinungsbild, wenn wir eine Orange essen.
- Das Bezugsobjekt ist nicht dasselbe, wie die Bezeichnung. Eine konventionelle, allgemein verständliche Orange ist nicht das Wort oder die Hörkategorie „Orange“.
- Eine allgemein verständliche Orange ist das, worauf sich die Hörkategorie oder das Wort „Orange“ bezieht, wenn es mit der Grundlage eines passenden geistigen Aspektes bezeichnet wird. Eine allgemein verständliche Orange ist nämlich die geistige Synthese (Bedeutungs/Objekt-Kategorie) „allgemein verständliche Orange“ und sie ist lediglich eine geistige Repräsentation von allgemein verständlichen Orangen.
So etwas, wie objektive, allgemein verständliche Orangen, gibt es nicht. Dennoch handelt es sich um eine gültige schlussfolgernde Wahrnehmung beruhend auf bekannten Tatsachen (tib. grags-pa’i rjes-dpag) – mit anderen Worten: beruhend auf Konventionen – dass wir das, was wir als „eine Orange essen“ erfahren haben, bezeichnen, wenn wir einen bestimmten Geschmack und eine Struktur in unserem Mund beim Kauen und Schlucken spüren.
In Bezug auf die konzeptuelle Wahrnehmung:
- Das erscheinende Objekt (ein kognitiv erfasstes, existierendes Objekt) ist das geistige Erscheinungsbild, das einer wahrhaft existierenden, allgemein verständlichen Orange ähnelt.
- Das konzeptuell implizierte Objekt, das als eine allgemein verständliche Orange gekennzeichnet wird, ist ein Moment eines äußeren kugelförmigen Bereiches von orangener Farbe – eine objektive Entität.
Somit gilt:
- Das, worauf sich die konzeptuelle Kategorie einer allgemein verständlichen Orange bezieht (eine geistige Repräsentation einer wahrhaft existierenden, allgemein verständlichen Orange als objektive Entität), ist nicht dasselbe, wie das, was der konzeptuellen Kategorie einer Orange entspricht (ein Moment eines kugelförmigen Bereiches von orangener Farbe, als eine nicht-wahrhaft existierende objektive Entität).
- Mit anderen Worten ist das Bezugsobjekt einer konzeptuellen Wahrnehmung nicht dasselbe, wie dessen konzeptuell impliziertes Objekt, das gekennzeichnet wird.
Kurzum:
- Wir sehen einen Moment eines nicht-wahrhaft existierenden, kugelförmigen Bereiches von orangener Farbe, eine objektive Entität, die nicht-wahrhaft als „dies“ und „nicht das“ zu existieren scheint. Mit anderen Worten: Es scheint weder eine wahrhaft existierende, noch eine nicht-wahrhaft existierende, allgemein verständliche Orange zu sein.
- Wir fabrizieren geistig das Bezugsobjekt (eine wahrhaft existierende, allgemein verständliche Orange als eine metaphysische Entität) von dem konzeptuell implizierten Objekt, das gekennzeichnet wird (ein Moment eines nicht-wahrhaft existierenden, orangefarbenen Bereiches).
- Wir nehmen konzeptuell ein geistiges Erscheinungsbild einer wahrhaft existierenden, allgemein verständlichen Orange wahr, die wir als die Grundlage für die Bezeichnung „eine allgemein verständliche Orange“ annehmen.
Erscheinungen konventioneller Objekte und ihrer Existenzweise in nicht-konzeptueller Sinneswahrnehmung
Gelug
Nicht nur konzeptuelle Wahrnehmung, sondern auch nicht-konzeptuelle Sinneswahrnehmung bringt kognitive Erscheinungen (geistige Aspekte) hervor, die wie wahrhaft begründete Existenzen aussehen. Somit bringt die visuelle Wahrnehmung einer allgemein verständlichen Orange Erscheinungen einer allgemein verständlichen Orange und dessen wahrer Existenz hervor.
Die visuelle Wahrnehmung hat kein konzeptuell impliziertes Objekt. Sie hat jedoch ein beteiligtes Objekt, das auch als kognitiv erfasstes Objekt existiert.
- In Bezug darauf, was das geistige Erscheinungsbild zu sein scheint – eine Orange – ist eine allgemein verständliche Orange (das als kognitiv erfasste, existierende Objekt) ein existierendes Phänomen.
- In Bezug darauf, wie das geistige Erscheinungsbild zu existieren scheint – mit wahrhaft begründeter Existenz – ist wahre Existenz (das als kognitiv erfasste, existierende Objekt) ein nicht-existierendes Phänomen.
Das es die Existenzweise, wie ein beteiligtes Objekt zu existieren scheint – mit wahrhaft begründeter Existenz – nicht gibt, ist die Sinneswahrnehmung der trügerischen Erscheinung dieser Existenzweise verzerrt. Das liegt daran, das es die Sinneswahrnehmung einer Erscheinung von etwas Nicht-existierendem ist, wie in der Halluzination eines Einhorns.
- In der Halluzination eines Einhorns auf einer Wiese ist das Objekt der Ausrichtung eine Wiese (die existiert) und das beteiligte Objekt ist ein Einhorn (das nicht existiert). Es gibt jedoch kein wirkliches Einhorn als fokale Bedingung, die ihr Licht auf das Bewusstsein wirft. Das geistige Erscheinungsbild (das existiert) eines Einhorns entsteht einfach aus äußeren und inneren Ursachen für die Halluzination.
- In ähnlicher Weise ist in der Halluzination der wahren Existenz einer allgemein verständlichen Orange das Objekt der Ausrichtung die allgemein verständliche Orange (die existiert), und das beteiligte Objekt ist wahre begründete Existenz (die nicht existiert). Es gibt keine tatsächliche wahre Existenz als fokale Bedingung, die ihr Licht auf das Bewusstsein wirft. Das geistige Erscheinungsbild (das existiert) der wahrhaft begründeten Existenz entsteht einfach durch eine innere Ursache der Verzerrung – nämlich die Gewohnheit des Greifens nach wahrer Existenz.
Nicht-Gelug
Nicht-konzeptuelle Sinneswahrnehmung bringt keine Erscheinungen wahrer Existenz hervor. Sie bringt Erscheinungen nicht-wahrer Existenz hervor. Mit anderen Worten erscheinen ihre beteiligten Objekte (Momente von Sinnesdaten) nicht als „dies“ und „nicht das“, und werden nicht entschieden als „dies“ und „nicht das“ bestimmt (ermittelt).
- Erscheinungen wahrhaft begründeter Existenz treten nur in konzeptueller Wahrnehmung auf.
- Wenn konzeptuelle Wahrnehmung eine Erscheinung entschieden als „dies“ und „nicht das“ bestimmt, legt sie sie wahrhaft existierend als „dies“ und „nicht das“ fest.
Der Begriff „Erscheinungen von nicht-wahrer Existenz“ (tib. med-snang) wird in der Nyingma-Schule benutzt. In den regulären Sakya- und Karma Kagyü-Schulen benutzt man dafür den gleichbedeutenden Begriff „Erscheinungen von abhängig entstehender Existenz“ (tib. rten-’brel snang-ba).
- In diesem Zusammenhang bezieht sich das abhängige Entstehen gemäß dem regulären Sakya-Gebrauch darauf, abhängig von Teilen zu entstehen.
- Im Karma Kagyü bedeutet es, abhängig von mangelndem Gewahrsein (Unwissenheit) zu entstehen, wie in den zwölf Gliedern des anhängigen Entstehens.
- Einfachheitshalber werden wir hier den Nyingma-Begriff benutzen.
Sowohl Erscheinungen von wahrer als auch Erscheinungen von nicht-wahrer Existenz sind geistige Fabrikationen.
- Als eine der vier Kategorien „wahre Existenz“, „nicht-wahre Existenz“, „beides“ oder „keines von beidem“ kann ein Objekt nur durch eine konzeptuelle Wahrnehmung ihrer Leerheit wahrer Existenz als nicht-wahrhaft existierend ermittelt werden. Diese Leerheit ist ein mit Worten fassbares letztendliches Phänomen (tib. rnam-grangs-kyi don-dam).
- Daher ist die ontologische Kategorie „nicht-wahre Existenz“ eine geistige Fabrikation, eine metaphysische Entität und lediglich eine konzeptuelle Kategorie.
Die yogische nicht-konzeptuelle Wahrnehmung (tib. rnal-’byor mngon-sum) von dem nicht mit Worten fassbaren, letztendlichen Phänomen (tib. rnam-grangs med-pa’i don-dam) – nämlich Leerheit jenseits von Worten und Konzepten – bringt eine gereinigte Erscheinung (tib. dag-pa’i snang-ba) einer Existenzweise hervor, die gleichermaßen jenseits von Worten und Konzepten ist.
- Das nicht mit Worten fassbare letztendliche Phänomen ist im Grunde untrennbar von Leerheit und Erscheinung, da sowohl Leerheit als auch Erscheinung jenseits von Worten und Konzepten sind. Solch ein Phänomen kann kein Objekt konzeptueller Wahrnehmung oder nicht-konzeptueller sensorischer oder geistiger Wahrnehmung sein.
[Siehe: Mit Worten fassbare und nicht fassbare letztendliche Phänomene. Siehe auch: Unreine und reine Erscheinungen: Nicht-Gelug Darstellung]