Bevor wir heute angefangen haben, hatte ich Sie gebeten, sich die wesentlichen Punkte in Erinnerung zu rufen, über die wir gestern gesprochen haben. Es ist sehr wichtig, so etwas zu tun, nachdem wir einen Vortrag gehört oder etwas gelesen haben. Mit „etwas gelesen haben“ meine ich jetzt nicht Zeitunglesen oder Lesen von Werbung in einer Ladenzeile, sondern Lesen von etwas, das wir lernen wollen, sei es Dharma oder irgendetwas anderes. Unmittelbar nach einem Vortrag versuchen wir, uns ins Gedächtnis zu rufen, was die wesentlichen Punkte waren – auf diese Weise wird ein tieferer Eindruck im Geist hinterlassen. Und am nächsten Tag überprüfen wir erneut, an was wir uns noch erinnern können.
Wir machen uns Notizen, weil unser Gedächtnis manchmal nicht so verlässlich ist, aber es reicht nicht aus, sich nur auf Notizen zu stützen. Wenn z.B. der Tod naht, können wir nicht einfach sagen: „Augenblick mal, ich muss erst meine Notizen dazu holen, worauf ich achten muss, wenn ich sterbe.“ Wir müssen das aktuell in Erinnerung haben, sodass wir es sozusagen jederzeit „zur Hand“ haben und augenblicklich darauf zurückgreifen können.
Wenn wir eine Art Unterweisung erhalten, sei es, dass wir einen mündlichen Vortrag hören oder einen Lehrstoff lesen, müssen wir bewusste Bemühungen unternehmen, das Gelernte zu verdauen, in Erinnerung zu behalten und es zu einem Teil von uns selbst machen, und nicht nur die Scherze oder lustigen Stellen im Gedächtnis behalten, sondern uns an das Wesentliche dessen erinnern, was wir gehört oder gelesen haben. Das ist ein Teil des Prozesses, der zur Meditation gehört. Meditation hat viele verschiedene Facetten, und eine davon ist das, was man „Rückblick“ nennt. Es geht also um so etwas wie eine „rückblickende Meditation“.
Ganz gleich, was für eine Art von Meditation wir üben, zuerst müssen wir uns an die Anweisungen dafür erinnern. Wir können uns nicht einfach hinsetzen und meinen. „Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt machen soll. Ich kann mich nicht erinnern, wie das geht.“ Auch für die einfachsten Meditationen, selbst wenn es z.B. nur darum geht, sich auf den Atem zu konzentrieren, müssen wir wissen: „Was tue ich jetzt?“, „Wie mache ich das?“ und „Warum mache ich das?“ Solch ein Rückblick ist also nicht nur eine intellektuelle Übung, sondern wirklich Teil des Prozesses, wie man etwas integriert.
Oft ist es hilfreich, das Gelernte in eigene Worte zu fassen. Als Übersetzer muss man sich jedes Wort merken, das gesagt wurde, um es übersetzen zu können. Aber für uns ist es auch wichtig, das Gelernte in eigene Worte zu fassen, um uns zu vergewissern, dass wir es verstanden haben. Das ist etwas, das wir entweder alleine tun können oder indem wir uns gegenseitig helfen, also zusammen mit einer anderen Person oder einer Gruppe, etwa in der Form, dass jemand etwas erklärt, und der nächste es dann wiederum mit eigenen Worten ausdrückt. Auf diese Weise helfen wir uns gegenseitig, etwas zu verstehen.
Tibetische Mönche und Nonnen üben so etwas in der Debatte. Im Grunde hinterfragen sie dabei gegenseitig ihr jeweiliges Verständnis, indem sie es herausfordern und versuchen klarzumachen, ob das Verständnis der anderen Person konsistent ist oder Widersprüche enthält. Es ist nicht unbedingt erforderlich, dass wir uns eingehend mit Logik und Debatte befassen, außer wenn wir den Inhalt wirklich sehr tief gehend erforschen wollen. Aber nichtsdestotrotz ist es sehr hilfreich, Dinge zu klären, indem wir uns einfach gegenseitig dazu befragen, wie wir es verstanden haben, und, falls wir es nicht ganz richtig verstanden haben, uns gegenseitig zu korrigieren oder auf die Tonbandaufzeichnung oder unsere Notizen zurückzugreifen. Dadurch wird unser Verständnis klarer und präziser.
Dabei spielt die Motivation eine große Rolle: dass man wirklich ein klares Verständnis gewinnen will. Wenn das nicht der Fall ist, geht man eben bloß zu einem Vortrag, sitzt im Zuhörerraum; was man hört, geht zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder heraus, und das war's. Vielleicht ist das Ganze für uns eher ein soziales Ereignis und mehr nicht. Verständnis muss man wirklich entwickeln wollen, und das hängt von unserer Motivation ab. Es gibt viele Ebenen von Motivation, und im Buddhismus gibt es ganze Lehrgänge darüber, wie man übt, eine immer stärkere Motivation zu entwickeln; wir brauchen also diesbezüglich jetzt nicht in alle Einzelheiten zu gehen.
Gestern haben wir mit der Erörterung der Leerheit begonnen und festgestellt, dass es bei der Leerheit um eine Abwesenheit von etwas geht, das nie da war. Und es geht nicht einfach nur um irgendetwas, das nie da war – etwa darum, dass der italienische Präsident nie in diesem Zimmer gewesen ist. Es wäre immerhin möglich, dass er irgendwann in diesem Zimmer gewesen ist – obwohl es nie der Fall war. Wir sprechen hier nicht um die Abwesenheit einer Person oder eines Gegenstands, etwa einem Auto, hier im Zimmer. Vielmehr geht es um die Abwesenheit von etwas, das unmöglich ist, und zwar nicht bloß eines unmöglichen Objekts, z.B. eines Monsters, sondern einer unmöglichen Art und Weise zu existieren. Dinge existieren. Manches existiert nicht – Monster z.B. gibt es nicht. Aber es gibt durchaus Dinge, die existieren, doch existieren sie nicht auf unmögliche Weise.
Das Kriterium dafür, ob etwas existiert oder nicht, besteht vom buddhistischen Gesichtspunkt aus darin, ob es gültig erkannt werden kann. Ein Verrückter kann denken, er wäre Napoleon oder Kleopatra, aber das ist nicht gültig, weil jeder ihm widersprechen würde: „Ach kommen Sie, Sie sind doch nicht Kleopatra.“
Wir haben auch über Projektion gesprochen – darüber dass der Geist etwas auf die verschiedenen Dinge projiziert. Manchmal bezieht sich das, was der Geist projiziert, darauf, was es ist. Wir können z.B. draußen auf dem Feld etwas sehen und der Geist projiziert darauf, dass das ein Mensch ist, doch wenn wir näher kommen, merken wir, dass es nicht stimmt, es ist nicht korrekt. Es ist eine Vogelscheuche. Die Projektion, dass das ein Mensch war, ist nicht korrekt. Aber es kann auch sein, dass wir etwas in der Ferne sehen, das nicht ganz klar ist – wir sind nicht ganz sicher, was es ist, und projizieren darauf, dass es ein Mensch ist, und dann näher herangehen und feststellen: Stimmt, es ist ein Mensch. Was wir projiziert haben, ist richtig.
Ich bin sicher, dass wir alle solche Erfahrungen gemacht haben, vielleicht nicht in Bezug auf einen Menschen und eine Vogelscheuche, aber so, dass wir z.B. in der Ferne jemanden gesehen haben, der auf uns zukommt, und gedacht haben, es wäre unser Freund, es aber nicht genau sehen konnten. Beim Näherkommen stellt sich manchmal heraus, dass es tatsächlich unser Freund war, und manchmal stimmte es nicht und es war jemand anders, der ihm ähnlich sah. Wenn wir jedoch über Leerheit sprechen, geht es nicht darum, dass wir projizieren, was etwas ist – z.B. unser Freund oder ein Fremder. Vielmehr geht es darum, dass wir projizieren, wie etwas existiert. Wir können das noch in subtilere Hinsicht erörtern, aber lassen Sie es uns zunächst einmal bei diesem Hinweis belassen.
Bei der Leerheit geht es also um die Abwesenheit einer unmöglichen Art zu existieren. Auch bezüglich der Existenzweise können wir etwas projizieren, was möglich ist, oder etwas, das unmöglich ist. „Projizieren“ ist in diesem Zusammenhang vielleicht ein etwas missverständliches Wort, denn es hat, zumindest im Englischen, einen Beiklang, als würde es sich um etwas handeln, das nicht korrekt ist und eigentlich nicht vorhanden ist. Nun wird es ein bisschen kompliziert, denn um etwas wahrzunehmen, um etwas zu sehen, zu hören oder zu denken, erzeugt der Geist gewissermaßen ein „geistiges Hologramm“ davon.
„Ein geistiges Hologramm“ – unter dem Gesichtspunkt wissenschaftlicher Überlegungen ist das sicherlich ein korrekter Ausdruck. Licht trifft auf die Stäbchen und Zapfen der Netzhaut, dadurch werden elektrische Impulse und chemische Abläufe zum Gehirn weitergeleitet, und irgendwie verwandelt das Gehirn sie in – was? – mir fällt kein anderer Ausdruck ein, um das zu beschreiben, als: ein mentales Hologramm, und das ist das, was wir sehen, nicht wahr? Es kann akkurat oder inakkurat sein – aber würden wir das eine „Projektion“ nennen? Ich weiß nicht. Vielleicht ist „Projektion“ keine sonderlich passende Bezeichnung dafür, oder?
Wenn ich zum Beispiel meine Brille abnehme, erzeugt mein Geist, wenn ich Sie anschaue, ein geistiges Hologramm von verschwommenen farbigen Flecken. Ist das nun akkurat? Nein, ist es nicht. Wenn ich die Brille wieder aufsetze, sehe ich ein geistiges Hologramm von menschlichen Körpern mit scharfen Umrissen. Einige Hologramme sind also akkurat und andere nicht. Niemand würde zustimmen, dass dieser Raum voller verschwommener farbiger Flecken ist, oder? Ist das also eine „Projektion“? Ich weiß es nicht. Wir stoßen hier auf Schwierigkeiten mit der Terminologie. In den buddhistischen Studien werden in Bezug auf die Begriffe ganz klare und präzise Unterscheidungen gemacht.
Wir sehen, dass etwas vom Tisch fällt – was sehen wir dabei tatsächlich? Es ist so ähnlich wie ein Film: In jedem Augenblick sehen wir das Glas in einer leicht veränderten Position. Dass das Glas vom Tisch fällt, auf dem Boden auftrifft und zerbricht, geschieht nicht gleichzeitig in einem Moment. Hier haben wir eine andere Art von geistigem Hologramm, das all diese Momente zusammengefügt und – was sehen wir? Wir sehen ein Glas vom Tisch fallen und zerbrechen.
Noch erstaunlicher ist der Prozess, wie wir Sprache verstehen. Wir hören nicht einmal ein ganzes Wort zur selben Zeit; wir hören nur nacheinander Vokale und Konsonanten. Und trotzdem können wir einen ganzen Satz hören, der einen gewissen Zeitraum braucht, während er gehört wird. Man hört jeweils nur einen winzigen Bruchteil davon und trotzdem entsteht sozusagen ein Audio-Hologramm, das der Geist erzeugt, denn wir verstehen ja die Bedeutung. Wenn wir genauer darüber nachdenken, merken wir, dass das ziemlich außergewöhnlich ist. Ist das eine „Projektion“? Wie wollen wir so etwas nennen? Auf jeden Fall ist es etwas, das vom Geist erzeugt wird, und zwar etwas überaus Nützliches, sogar Notwendiges – sonst könnten wir nicht miteinander kommunizieren.
Wir könnten in dieser Welt nicht leben, wenn wir nicht imstande wären, Abläufe geistig zusammenzufügen. Zum Beispiel: Ein Stein kommt auf mich zu – mein Geist fügt eine Sequenz von Augenblicken zusammen und ich erkenne: „Wenn er weiter so auf mich zukommt, wird er mich treffen!“ Also gehe ich aus dem Weg. Wir sind darauf angewiesen, dass diese geistige Fähigkeit funktioniert. Manchmal hören wir den Ausdruck „mentales Konstrukt“, und was ich eben beschrieben habe, sind mentale Konstrukte, aber viele davon sind nicht nur nützlich, sondern es ist unbedingt notwendig, dass unser Geist so funktioniert. Aus diesem Grund ist es erforderlich, das so genannte „unterscheidende Gewahrsein“ zu entwickeln, d.h. zu unterscheiden, was hilfreich ist und was nicht hilfreich ist, was korrekt ist und was nicht.
Verständnis der Leerheit beruht auf „unterscheidendem Gewahrsein“. Dieses Wort wird oft ziemlich frei als „Weisheit“ übersetzt. Aber der Begriff „Weisheit“ ist so vage, dass er kaum etwas bedeutet. Es gibt zahlreiche verschiedene, sehr genau definierte Begriffe im Buddhismus, die von vielen Leuten im Westen alle gleichermaßen als „Weisheit“ übersetzt werden. Es wird jedoch der buddhistischen Tradition keineswegs gerecht, etwas so grob zu vereinfachen. Wir sprechen hier von „unterscheidendem Gewahrsein“. Wir brauchen es, um zu unterscheiden, was korrekt und nicht korrekt ist, und zu verwerfen, was nicht korrekt ist, und zu erkennen, dass es sich nicht auf das bezieht, was tatsächlich der Fall ist.
Beim Verständnis der Leerheit geht es darum, zu unterscheiden, wie etwas existiert, und wie wir begründen, dass etwas existiert, bzw. wodurch erwiesen wird, dass etwas existiert – um den Kernpunkt etwas genauer und konkreter auszudrücken.
Lassen Sie uns zunächst etwas allgemeiner darüber sprechen. In Buddhismus ist von Geistesfaktoren die Rede, die unsere Wahrnehmungen begleiten – unsere visuelle Wahrnehmung, unsere Wahrnehmung von Geräuschen sowie auch unsere geistigen Denkprozesse usw. Damit gehen vielerlei Geistesfaktoren einher. Die Geistesfaktoren können z.B. so etwas wie „Unterscheiden“ sein. Ich unterscheide die farbige Form Ihres Körpers von der farbigen Form der Wand. In meinem Gesichtsfeld sehe ich viele farbige Formen und kann Gegenstände voneinander unterscheiden. Das wird manchmal als „Erkennen“ übersetzt, doch das ist eine völlig ungenaue Übersetzung. Es geht um „Unterscheiden“. Wir tun das in jeden Augenblick – wie könnten wir sonst unseren Aktivitäten nachgehen? Wir könnten die farbige Formen der Tür nicht von der Wand unterscheiden und würden gegen die Wand laufen. Wir müssen in unserem Wahrnehmungsbereich Gegenstände unterscheiden. Das ist unerlässlich, nicht wahr? Überlegen Sie: Was sehen wir? Sehen wir bloß farbige Formen? Wir sehen Gegenstände, nicht wahr? Woher wissen wir, wo wir die Abgrenzungslinie für eine bestimmte Gruppe farbiger Formen ziehen müssen, um sie von den farbigen Formen um sie herum zu unterscheiden?
Das ist eigentlich eine ziemlich tiefgründige Frage. Sind die Abgrenzungslinien von Seiten des Gegenstands begründet oder von Seiten des Geistes? Das ist ein sehr wichtiger Punkt, den es zu untersuchen gilt, aber die Überlegung greift noch tiefer. Vor allem, wenn wir anfangen, etwas auf mikroskopischer und noch kleinerer Ebene zu betrachten – wo sind da die Grenzen zwischen den Dingen? Da wird es recht interessant.
Es gibt noch überaus viele weitere Geistesfaktoren. In den buddhistischen Lehren werden verschiedene lange Listen davon angeführt – nicht immer identische Listen. Dazu gehört z.B. der Geistesfaktor „Empfindung“. „Empfindung“ bezieht sich im Buddhismus auf ein gewisses Ausmaß an Glücklich- oder Unglücklichsein oder etwas auf der Skala dazwischen. Es gibt ein ganzes Spektrum an Glück und Unglücklichsein, das unsere Wahrnehmungen begleitet. Das ist es im Grunde, was uns von Maschinen unterscheidet, z.B. von Kameras oder Computern. Computer verarbeiten Informationen; aber wir verarbeiten nicht nur Informationen, sondern es ist ein Ausmaß von Glücklich- oder Unglücklichsein dabei. Ein Computer empfindet kein Glück oder Unglück, Auch ein Roboter ist nicht glücklich oder unglücklich, während er sensorische Daten verarbeitet.
Wichtig ist im Zusammenhang mit den Aggregaten: Beim Aggregat „Empfindung“ geht es nur um die Variable „glücklich oder unglücklich“. Es hat absolut nichts mit Emotionen zu tun. Emotionen gehören zu einer anderen Kategorie. Das ist die Schwierigkeit mit unseren Sprachen: Wir können diese Unterschiede in unserer Sprache nicht griffig ausdrücken. Deswegen müssen wir manches eben etwas umständlicher ausdrücken: „Ein gewisses Ausmaß von Glück empfinden – das ist es, worum es dabei geht.“ Jede Sprache hat ihre eigenen Schwierigkeiten, diese Inhalte zum Ausdruck zu bringen. In manchen Sprachen ist es einfacher, in manchen nicht so einfach.
Das ist etwas, worauf wir in unserem Studium des Dharma wirklich achten müssen. Die meisten Missverständnisse, die Menschen in Bezug auf die buddhistischen Lehren haben, gehen aus ungenauen oder irreführenden Übersetzungen der Begriffe hervor. Das habe ich in meiner eigenen Erfahrung gemerkt, und die meisten Übersetzer haben es ebenfalls festgestellt. Und wir sollten nicht meinen, dass wir Abendländer die einzigen sind, denen diese Schwierigkeiten zu schaffen machen. Die Chinesen hatten enorme Schwierigkeiten, die Begrifflichkeiten zu verstehen, da ihre Sprache so ganz anders als die indischen Sprachen beschaffen ist.
Ein Geistesfaktor, den ich auf jeden Fall erörtern möchte, ist „Betrachtung“. Es handelt sich um das gleiche tibetische Wort wie für „Aufmerksamkeit“. Dieses Wort hat also zwei Facetten. Es bezieht sich auf die Art und Weise, wie wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas richten, und darauf, wie wir etwas betrachten. Wörtlich lautet die Bedeutung: „Wie man etwas geistig aufnimmt“. Es gibt „korrekte Betrachtungsweisen“ und „fehlerhafte Betrachtungsweisen“. Wenn in diesem Zusammenhang von „übereinstimmend“ bzw. „nicht übereinstimmend“ die Rede ist, so geht es darum, ob sie damit übereinstimmt, wie die Dinge tatsächlich sind, oder nicht.
Um die Leerheit zu verstehen, ist es wie gesagt – und nicht nur ich sage das – erforderlich, dass wir uns dem Verständnis schrittweise nähern. Zuerst müssen wir einige der üblichen fehlerhaften Arten verstehen, wie wir etwas betrachten, und erkennen, dass diese Betrachtungsweisen nicht korrekt sind. Wir treffen also Unterscheidungen und versuchen, die Dinge mehr in Übereinstimmung damit zu sehen, wie sie tatsächlich sind. Wenn von Leerheit die Rede ist, wird auch davon gesprochen, wie „Personen“ existieren – das ist ebenfalls ein schwieriges Wort, denn es bezieht sich nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Tiere, auf verschiedene Lebensformen, die ein Bewusstsein haben, und auf individuelle Wesen. Es wird also untersucht, wie wir als Person existieren, wie andere als Person existieren. Und es wird auch überprüft, wie Dinge existieren, z.B. Computer, Autos usw.
Eine Variable besteht darin, ob etwas „beständig“ oder „unbeständig“ ist – so werden die Worte normalerweise übersetzt. Wir betrachten oft Dinge, die unbeständig sind, als beständig. Aber wir müssen aufpassen mit diesem Wort; ich verwende es nicht besonders gern. Das Problem ist, dass diese Wörter zwei sehr verschiedene Bedeutungen haben können. Bei der einen geht es darum, ob etwas für immer währt oder nur für kurze Zeit, und bei der anderen darum, ob etwas sich verändert oder statisch bleibt. Das sind zwei ganz verschiedene Bedeutungen. Im Allgemeinen geht es im Buddhismus, wenn man den Begriff in diesem Zusammenhang verwendet, nicht darum, ob etwas ewig oder vorübergehend ist, sondern darum, ob es sich von Moment zu Moment ändert oder nicht, ob es zu Ende geht oder nicht, d.h. ob es eine massive Veränderung oder auch subtilere Veränderung von einem Augenblick zum nächsten durchläuft oder nicht.
Häufig geschieht es, dass wir eine fehlerhafte Betrachtungsweise haben. Etwas, das „nicht-statisch“ ist – so übersetzte ich den Ausdruck meistens – betrachten wir als „statisch“, also als etwas, das sich nicht ändert. Und die fehlerhafte Betrachtungsweise, die wir haben, kann entweder auf einer Lehrmeinung beruhen – mit anderen Worten, es handelt sich um etwas, was man uns gelehrt hat -, oder sie kann automatisch auftreten.
Nehmen wir z.B. eine Betrachtungsweise meines Körpers: „immer jugendlich“. Vage ist mir bewusst, dass ich eines Tages sterben werde, aber bis dahin ist mein Körper gemäß dieser Betrachtungsweise immer stark und gesund. Irgendwie habe ich ein Bild von mir wie im Alter von 25, obwohl ich 62 bin. Das ist weit verbreitet, nicht wahr? Ein 60jähriger Mann begegnet einer 25jährigen Frau und im Geiste hält der Mann seinen Körper immer noch für attraktiv, so als wäre er ebenfalls 25 – er hat keine rechte Vorstellung davon, wie er tatsächlich aussieht. Aufgrund dessen verhält sich entsprechend, hegt die Erwartung, dass die 25jährige Frau ihn attraktiv findet, und ist dann für gewöhnlich sehr enttäuscht und frustriert. Unser Körper ändert sich, wird immer älter, und das zu sehen ist eine korrekte Betrachtungsweise, die erforderlich ist. Aber manchmal wollen wir uns nicht einmal im Spiegel anschauen; wir haben einfach ein anderes Bild von uns. Das ist fehlerhaft.
Es kann sein, dass uns das durch Werbung oder Medien eingetrichtert wurde – „Benutzen Sie diese Schönheitscreme und Sie sind ewig jung“ – oder tun Sie was auch immer „und Sie sind ewig jung“. Wir können diese Vorstellung also „aufgrund von Lehrmeinungen“ haben, d.h. durch Propaganda, Werbung usw., oder wir haben einfach eine „automatisch auftretende fehlerhafte Betrachtungsweise“ – in dem Fall hat niemand sie uns beigebracht, sie tritt einfach von selbst auf -, und so geschieht es, dass wir ein Bild von uns als „ewig“ jung haben und nicht als „sich verändernd“. Wir vermischen dabei ein bisschen von der Bedeutung von „ewig“ mit „veränderlich“ – da wir erkennen können, dass wir sterben werden, meinen wir „abgesehen davon, ewig“.
Interessant ist: Wenn wir ein Teenager sind, betrachten wir jemanden, der 30 ist, als „alt“. Das ändert sich sehr bald: Wenn wir 30 sind, ist das nicht mehr „alt“, und „alt“ sind dann die Leute, die 50 sind. Auch das ändert sich, und noch wenn wir 80 sind, ist auch das nicht „alt“, denn „alt“ sind die 90jährigen. Meine Mutter hat in einer Seniorenwohnanlage gelebt, wo alle über 60 waren, und sie alle waren „jung“. „Alt“ waren die Leute im Altersheim – während diejenigen in der Seniorenwohnanlage natürlich jung waren. Bemerkenswert, nicht?
Wir haben also die fehlerhafte Betrachtungsweise, etwas, das nicht statisch ist, als statisch anzusehen. Das kann unser Körper sein, es kann unser Computer sein – „Der Computer wird funktionieren“, denken wir. Wir denken eigentlich nicht daran, dass der Computer allmählich immer älter wird, sich abnutzt und irgendwann abstürzt. Oder was ist mit unseren CDs und alten Videobändern und dergleichen? Wir meinen, sie würden sich nicht verändern, aber allmählich lässt ihre Qualität nach und sie sind nicht mehr funktionsfähig. Man legt die CD auf und der Klang ist nicht mehr klar, und irgendwann geht sie kaputt. Doch wir meinen, dass sie sich nicht verändert und immer gleich bleiben wird.
Die gleiche Einstellung haben wir in Bezug auf uns selbst. „So bin ich nun einmal, und du solltest dich besser damit abfinden“, sagen wir vielleicht zu jemandem. „Tja, so bin ich eben. Ich brauche dies und muss das haben, das liegt so in meiner Persönlichkeit, basta, das ändert sich nicht. Ihr müsst mich so nehmen, wie ich bin.“ Diese Art von Einstellung ist es, die wir erkennen müssen. Dabei handelt es sich nicht ganz um Verständnis der Leerheit im fachtechnischen Sinne, aber wir müssen in Bezug auf diese Einstellung erkennen: „So etwas ist unmöglich.“ Ein Körper bleibt nicht gleich, und auch eine Persönlichkeit bleibt nicht gleich. So etwas verändert sich. Eine Depression z.B. ist nicht die ganze Zeit über gleichbleibend. Fühlen wir uns in jedem einzelnen Moment gleichermaßen elend? Nein, das verändert sich. Selbst wenn wir eine so genannte Depression haben, geht es auf und ab.
Es ist also sehr wichtig zu verstehen: „Die Dinge sind nicht statisch.“ Warum sind sie nicht statisch? Weil sie durch Ursachen und Bedingungen beeinflusst werden. Es mag sein, dass wir deprimiert sind und uns mies fühlen. Dann erzählt jemand einen Witz und wir lachen. Geht es uns genau in dem Moment, wenn wir lachen, schlecht? Offensichtlich nicht; wir werden beeinflusst von allerlei Umständen. Und weil wir beeinflusst werden, verändern wir uns von Augenblick zu Augenblick.
Lassen Sie uns einen Moment damit verbringen, darüber im Zusammenhang mit unserer eigenen Erfahrung nachzudenken. Haben wir ein statisches Bild von uns, von unserer Persönlichkeit, davon, wer wir sind, sowie von unseren Gegenständen – unser Computer mag ein gutes Beispiel sein -, unserem Auto? Nehmen wir uns ein paar Augenblicke Zeit, darüber nachzudenken. Und wenn wir – was vermutlich bei den meisten von uns der Fall sein wird – entdecken, dass wir ein Bild von uns oder diesen Gegenständen als statisch haben, nicht als sich verändernd, erkennen wir, dass das eigentlich lächerlich ist. Es bezieht sich nicht auf etwas Reales bzw. etwas, das korrekt ist. Und dann versuchen wir, den Glauben daran einfach zu stoppen: „So ist es nicht.“
Der Grund, warum ich vorhin in diesem Vortrag den Unterschied zwischen einem geistigen Hologramm und einer Projektion erwähnt habe, ist folgender: Wir sehen unseren Körper oder den Körper von jemand anderem; es ist ein geistiges Hologramm davon vorhanden. Das geistige Hologramm des Körpers ist nicht das Problem. Das Problem besteht darin, wie wir ihn betrachten. Wenn wir von Projektion im westlichen Sinne dieses Wortes sprechen, geht es um Letzteres. Existiert der Körper als etwas, das statisch ist, oder als etwas, das sich von Augenblick zu Augenblick verändert?
Noch besser für die Untersuchung geeignet ist das Beispiel: „unsere Beziehung“. Ist sie etwas, das auf feststehende Weise existiert, oder etwas, das sich von Augenblick zu Augenblick verändert? Das ist ein besonders klares Beispiel: wie wir denken, dass unsere Beziehung stabil und fest ist. Ist sie das wirklich? Das können wir nur hoffen. Im Buddhismus ist von subtiler und grober Unbeständigkeit die Rede. Die grobe Unbeständigkeit der Beziehung besteht darin, dass sie irgendwann tatsächlich enden wird. Entweder wir sterben oder unsere Partner stirbt oder wir trennen uns. Sie kann nicht für immer bestehen, sie wird enden. Ihre subtile Unbeständigkeit besteht darin, dass sie sich jeden Augenblick verändert und ihrem letztlichen Ende immer näher kommt. Warum endet sie? Weil wir uns begegnet sind. Wären wir uns nie begegnet, würde sie nicht enden. Dass wir uns gestritten und daraufhin getrennt haben, war nur der Umstand, der das Ende herbeigeführt hat.
Ähnliches gilt für die Frage: „Was ist die Ursache für den Tod?“ Die Ursache für Tod ist Geburt. Das heißt nicht, dass wir fatalistisch sind. Wir genießen die Zeit, die wir gemeinsam verbringen können und sind uns völlig darüber im Klaren, dass die Beziehung sich von Augenblick zu Augenblick verändern wird und irgendwann enden wird. Menschen entwickeln sich auseinander. Das ist ein wichtiger Punkt, über den wir nachdenken müssen. Wenn wir eine Beziehung, einen Körper, eine Persönlichkeit oder was auch immer als statisch betrachten, als etwas, das sich nicht verändert und für immer gleich bleiben wird, bringt uns das wirklich eine Menge Leiden ein.
„Statisch“ bedeutet: nicht durch etwas anderes beeinflussbar. Etwa wenn wir meinen, wir wären der einzige Mensch, der im Leben der anderen Person eine Rolle spielt. Doch sie wird beeinflusst, unsere Beziehung wird beeinflusst, z.B. dadurch, mit wem die andere Person zu tun hat, oder wenn sie ihre Arbeit wechselt, krank wird oder was auch immer – sie wird davon beeinflusst. Denken Sie darüber nach, und schlagen Sie dabei die Richtung einer Meditation über Leerheit ein – so, dass Sie erkennen: „Das ist unmöglich, so etwas gibt es nicht“ und sich dann darauf konzentrieren. Etwa wie: „Es gibt keinen Weihnachtsmann. Es gibt keinen Weihnachtsmann.“ Es gibt keine feststehende, sich nicht verändernde, ewig gleichbleibende Beziehung zu irgendjemandem. Das zu glauben wäre wie an den Weihnachtsmann zu glauben.
Wir beenden jetzt unsere Meditation. Gibt es vielleicht Fragen, die dazu aufgekommen gekommen sind?
Fragen
Basiert ihre Erklärung der Leerheit auf den Lehren Nagarjunas?
Wir sind noch nicht genauer auf die spezielle Art der Negierung eingegangen, die auf Nagarjuna zurückgeht – aber: Ja, sie basiert auf den Lehren Nagarjunas.
Es scheint, dass Leerheit auf zwei verschiedene Arten erklärt wird – die eine, so wie die Ihre, kann uns helfen, besser im Leben zurechtzukommen: Die Vergänglichkeit der Dinge in Betracht zu ziehen wird uns helfen, sie auf angemessenere Weise wahrzunehmen. Und die andere Art der Erklärung, wie diejenige Nagarjunas, besagt, dass die Dinge nicht existieren.
Wenn wir uns aufmerksamer anschauen, was Nagarjuna sagt, stellen wir fest: Es ist nicht so, dass es die Vergänglichkeit oder die Veränderung von Augenblick zu Augenblick nicht gäbe. Die Frage ist nur, wie wir das verstehen. Gibt es etwas, das sich vor uns befindet, begründet allein durch sich selbst, und sich von Augenblick zu Augenblick verändert, oder was läuft da ab? Gibt es irgendeine Grundlage, die von Augenblick zu Augenblick fortbesteht? Verhält es sich wie bei einem Gepäckstück, das sich auf einem Laufband fortbewegt und das natürlich von Augenblick zu Augenblick seine Position verändert, aber doch immer dasselbe Gepäckstück ist? Man kann im Verständnis des Veränderungsprozesses noch wesentlich tiefer gehen. Nagarjuna streitet nicht ab, dass Dinge sich verändern. Er hinterfragt: „Wie funktioniert das eigentlich; wie existiert etwas?“ Nagarjuna spricht darüber, wie Veränderung funktioniert. Ist es eine unmögliche Art und Weise, auf die etwas funktioniert und stattfindet, oder was ist tatsächlich der Fall? Er streitet nicht völlig ab, dass sich alles von Augenblick zu Augenblick verändert.
Es mag richtig sein, dass sich die Dinge von Augenblick zu Augenblick zu verändern, aber das ist sehr schwer zu erkennen – vielleicht zu schwer. Wäre es nicht hilfreicher zu betrachten, dass die Dinge sich in einem menschlichen Zeitrhythmus ändern? Zum Beispiel zu glauben, unsere Beziehung sei völlig statisch, ist das eine Extrem und es ist falsch; doch andererseits ist es sehr schwer zu erkennen, dass sie sich von Augenblick zu Augenblick verändert. Könnten wir sie, sozusagen als Mittelweg, korrekt als etwas betrachten, dass sich in einem den Menschen entsprechendem Zeitrhythmus verändert?
Das ist sicherlich die Art und Weise, wie wir uns dem Verständnis der Unbeständigkeit und der Veränderung annähern können. Zuerst müssen wir die grobe Unbeständigkeit erkennen, nämlich dass die Beziehung irgendwann schließlich enden wird, entweder mit dem Tod oder sonst irgendwie, und in Bezug auf Gegenstände dass der Computer schließlich kaputtgehen wird. Wir beginnen die Betrachtung also mit einer eher offensichtlichen, längeren Zeitspanne, und anschließend können wir vielleicht unsere Beziehung mit jemandem z.B. in dem Zeitraum betrachten, bevor wir geheiratet haben, dann in dem Zeitraum, in dem wir verheiratet waren und noch keine Kinder hatten, und daraufhin in dem Zeitraum, nachdem wir Kinder hatten bis hin zu der Zeit, als sie erwachsen waren und zuhause auszogen. Natürlich verstehen wir, dass die Beziehung sich in längeren Zeitperioden verändert hat, und dann können wir allmählich die Betrachtung fortsetzen bis hin zu ihrer Veränderung von Augenblick zu Augenblick. Verständnis umfasst mehrere Stufen und muss schrittweise erfolgen.
Um erkennen zu können, dass Dinge sich von Augenblick zu Augenblick verändern, muss man ein gutes Gespür entwickeln. Ich denke, in einer Beziehung ist das etwas einfacher, denn während wir z.B. ein Gespräch mit jemandem führen, können wir erkennen, dass die Stimmung wechselt und dass sich die Emotionen verändern. Manchmal besteht eine gute Kommunikation, manchmal versteht man nicht so recht, was die andere Person sagt oder tut. Speziell am Beispiel einer Beziehung ist es meiner Meinung nach etwas einfacher, die augenblicksweise Veränderung zu beobachten, als etwa bei unserem Computer oder an unserem Körper.
Doch kehren wir zurück zu der Frage bezüglich Nagarjuna, der stets hinterfragt und analysiert, z.B. mit der Fragestellung: „Gibt es irgendeine Substanz, die im Laufe dieser Veränderung gleich bleibt?“ Milch z.B. wandelt sich in Joghurt um und Joghurt wandelt sich im Käse um. Gibt es eine Substanz, die sich in drei verschiedene Dinge verwandelt hat und trotzdem dieselbe ist? Sind Milch, Joghurt und Käse dasselbe? Oder sind sie völlig unverbunden? Wie funktionieren Ursache und Wirkung?
Genauso können wir untersuchen: Gibt es eine Beziehung, die grundsätzlich „unsere Beziehung“ ist und sich verändert – z.B. „bevor wir geheiratet haben“, dann „nachdem wir verheiratet waren“ usw.? Machen wir ein Ding daraus? Dann entwickeln wir seltsame Gedenken wie „Du bist nicht in Verbindung mit unserer Beziehung“ und „Was bedeutet deine Beziehung für unsere Beziehung?“, und das Ganze wird ziemlich seltsam. Gibt es eine grundsätzliche Beziehung, die geblieben ist, was sie war, und haben sich nur die Umstände verändert? Oder „ist unsere Beziehung jetzt, seitdem wir Kinder haben, eine völlig andere?“
Wir beginnen also mit unserem Verständnis auf gröberen Ebenen, in Bezug auf etwas, das schließlich verlischt und enden wird, dann in Erwägung kleinerer Zeitspannen und dann noch kleinerer: von Augenblick zu Augenblick, bis wir schließlich auf die umfassende Untersuchung eingehen müssen: „Wenn die Dinge sich von Augenblick zu Augenblick ändern, wie funktioniert dann Ursache und Wirkung?“ und die Analyse dann sehr tiefgründig und subtil wird.
Wenn wir unsere Projektionen loswerden, können wir immer klarer erkennen, wie die Dinge wirklich sind. Ich frage mich: Wie sind sie denn in Wirklichkeit?
Nun, die Sache ist die: Wenn man am Verständnis der Leerheit arbeitet, sich mit der Realität befasst und zwischen Realität und Fantasie unterscheidet und differenziert, muss man verschiedene Stadien des Verständnisses durchlaufen. Wenn wir ein sehr grobes falsches Verständnis widerlegt und entsprechende Projektionen aufgelöst haben, müssen wir schauen, was übrig bleibt. Wenn wir akzeptieren können, was übrig bleibt, z.B., dass die Dinge nicht dauerhaft und statisch sind, sondern sich von Augenblick zu Augenblick ändern – nun, zuerst einmal erkennen wir dann, dass sie enden werden. Der Computer wird irgendwann kaputtgehen, das Auto wird irgendwann kaputtgehen. Diese Tatsache müssen wir akzeptieren. Dann schauen wir, was übrig bleibt.
Was übrig bleibt, ist etwas, das eine bestimmte Zeitlang dauern wird. Eine Beziehung wird eine Zeit lang dauern. „Ich verstehe, dass unsere Beziehung sich ändern wird, wenn wir verheiratet sind oder wenn die Kinder ausziehen und studieren werden usw.“ Dann können wir erkennen: „Gut, sie durchläuft solche größeren Veränderungen“, und was übrig bleibt, ist: „Es handelt sich jeweils um einen vorübergehenden Zeitraum.“ Anschließend fangen wir an, uns mit dem zu befassen, was übrig ist: „Was ist nun meine falsche Auffassung in Bezug darauf?“ und beseitigen diese.
Schließlich verstehen wir, dass sie sich von Augenblick zu Augenblick verändert. Aber was bleibt dann übrig? „Gut, sie verändert sich eben ständig von einem Augenblick zum nächsten und dann wieder zum nächsten“ – und: „Was für ein falsches Verständnis habe ich nun in Bezug darauf?“ Nun, dass es etwas Festes gibt, das weitergeht und bloß eine augenblicksweise Veränderung erfährt – und dann müssen wir auch diese Vorstellung loswerden. Und so gehen wir immer tiefer und tiefer in unseren Überlegungen und Betrachtungsweisen.
Wenn wir gleich zu Anfang zum allersubtilsten Verständnis springen und nicht diese Stufen durchlaufen, dann wird das in fast allen Fällen dazu führen, dass wir es einfach nicht begreifen und es uns banal erscheint. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir lesen bestimmte Texte, sagen wir, Texte der Kagyü-Tradition, und darin wird die Frage aufgeworfen: „Wo ist dein Geist? Welche Farbe hat dein Geist? Dein Geist ist nicht grün, er ist nicht gelb. Befindet er sich in deiner Nase? In deiner Achselhöhle?“ Nun gut, wir können unseren Geist nicht finden und er hat keine Farbe, und am Ende der Untersuchung sagen wir: „Na und? Natürlich befindet sich mein Geist nicht in meiner Nase, und er ist nicht grün oder blau. Was soll das?“
Diese Untersuchung bewirkt nichts, sie hilft uns nicht. Doch wenn sie am Ende eines langen, allmählichen Prozesses von Untersuchungen gestellt werden, haben diese Fragen eine tiefgründige Bedeutung. Dann versteht man, worauf sie hinauslaufen. Man kann nicht mit dem Endpunkt beginnen, denn dann klingt das alles belanglos – man fragt: „Na und?“
Tja, wie ist es nun wirklich? Es gibt zahlreiche verschiedene Ebenen, wie man das beantworten kann.