Fragerunde mit dem Dalai Lama zu Kalachakra

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Die Beziehung zwischen westlichen Menschen und Kalachakra

Dr. Berzin: Haben Abendländer eine besondere Beziehung zu Kalachakra?

Seine Heiligkeit: Ich frage mich, ob sie wirklich eine besondere Beziehung zu Kalachakra haben? Im Allgemeinen sind die buddhistischen Unterweisungen zum Wohle aller fühlenden Wesen, nicht nur für bestimmte.

Einige Menschen hegen Vorurteile dagegen.

Im Falle von Kalachakra geht es um Shambhala und den Krieg gegen die Invasion der Lalos. Es mag eine besondere Beziehung zu jenen gegeben haben, die zur Zeit der wohlbekannten muslimischen Invasionen in Indien gelebt haben. Ich frage mich, ob es allgemein eine Verbindung zu jenen Menschen gibt, die in kriegsgefährdeten Zeiten leben. Aber ob die westlichen Menschen ganz im Allgemeinen eine spezielle Beziehung zu Kalachakra haben, weiß ich nicht. Was hat Serkong Rinpoche dazu gesagt?

Westliche Menschen mögen Wissenschaft und Technologie, und Shambhala hat viel mit hoch entwickelter Technologie zu tun. Vielleicht liegt darin die Verbindung.

Ja, man kann sagen, dass es irgendwie solch eine Verbindung gibt. Aber was ist das Argument für eine solche Verbindung? Es gibt Ähnlichkeiten; aber ist es nicht so, dass die Menschen auf der ganzen Welt ständig über Krieg reden? Diese Begründung ist also nicht sehr präzise.

Die Beziehung zwischen Kalachakra und den westlichen Wissenschaften

Gibt es eine Beziehung zwischen Kalachakra und den westlichen Wissenschaften?

Ich würde sagen ja, es gibt eine.

Manchmal sprechen Sie, Ihre Heiligkeit, von Kalachakra als einen gemeinsamem Nenner zwischen Buddhismus und Wissenschaft, verstehe ich das richtig?

Nein. Das gilt nicht notwendigerweise nur für Kalachakra. Der grundlegende Glaube im Buddhismus ist, dass wenn etwas durch Logik belegt werden kann, dann müssen wir es akzeptieren und wenn etwas keine Logik hat oder es unlogisch ist, dann muss man es nicht akzeptieren. Sogar die Worte Buddhas müssen auf eine nicht-wörtliche Weise interpretiert werden, wenn sie keinen Sinn machen oder unlogisch sind.

Wir akzeptieren zum Beispiel das Zitat „A“ von Buddha, während wir „B“ nicht akzeptieren. Weshalb? Wenn wir uns, um die Worte des Buddha akzeptieren zu können, auf andere Aussagen des Buddha verlassen müssen, dann benötigen diese Aussagen des Buddha wiederum anderen Worte von ihm und das wäre eine unendliche Kette, nicht wahr? Deshalb müssen wir, aus praktischen Gründen, einige Worte des Buddha nur in ihrer interpretierten Bedeutung (tib. drang-don) annehmen und nur ausgewählte andere Aussagen des Buddha als endgültig oder eindeutig (tib. nges-don). Wenn das der Fall ist, dann bedeutet das, dass die letztendlichen Aussagen des Buddha sich in Übereinstimmung mit Logik befinden müssen.

Wenn also im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen etwas als Tatsache belegt werden kann, dann wird es akzeptiert. Die Wissenschaft arbeitet auf dieser Grundlage, nicht wahr? Ein Wissenschaftler führt beispielsweise ein Experiment durch und es passiert etwas. Dann führt jemand anderes das gleiche Experiment durch und er erhält dieselben Resultate. Diese Vorgehensweise lässt dann etwas zu einer Tatsache werden. So geht die Wissenschaft vor. Die grundlegende Haltung der Wissenschaft ist also: Wenn etwas verifiziert werden kann, dann wird es akzeptiert. Wenn es nicht verifiziert werden kann, dann wird es nicht akzeptiert.

Wenn das die Art ist wie Behauptungen hervorgebracht werden, dann hängt – wie ich bereits dargelegt habe – die Entscheidung in Bezug darauf, was endgültig ist und was nicht, davon ab, ob die Behautptung sich im Einklang mit Logik und Vernunft befindet. Zu entscheiden, was endgültig ist, kann nicht nur vom Glauben abhängen. Wenn das so ist, dann verhält es sich auch folgendermaßen: Wenn Wissenschaftler konkrete Ergebnisse oder Beweise dafür liefern, dass es keine künftigen Leben und keine Wiedergeburt gibt, dann müssen wir diese Position für uns als die grundlegende buddhistische Haltung akzeptieren. Die grundlegende Herangehensweise im Buddhismus basiert auf Fakten und Logik. Das ist der entscheidende Punkt.

Und zweitens gibt es spezifische Erklärungen, in denen der Buddhismus und die Wissenschaft übereinstimmen. Ein Beispiel: Der Buddhismus vertritt die Annahme, dass alle Phänomene bedingt sind oder durch andere Phänomene beeinflusst werden, die sich von Moment zu Moment verändern, ohne jemals zum Stillstand zu kommen. Alles ist kontinuierlich im Fluss, verändert sich fast unmerklich von Moment zu Moment und ist niemals statisch. Die Wissenschaftler stimmen auch damit überein, dass physikalische Phänomene sich fast unmerklich von Moment zu Moment verändern, ohne jemals still zu stehen – nämlich deshalb, weil sie aus Atomen bestehen – auch wenn sie auf einer übergeordneten Ebene so erscheinen, als würden sie sich nicht verändern. Es ist nicht nötig zu beweisen, dass die Phänomene scheinbar so bleiben wie sie sind, ohne sich zu verändern: Wir können das mit unseren eigenen Augen beobachten. Wenn wir sie also auf einem übergeordneten Level betrachten, dann scheinen sie sich nicht zu verändern, aber auf der subtilen Ebene tun sie es. Der Buddhismus und die Wissenschaften sind sich darin einig.

Darüber hinaus gilt auch die Relativität, also die Theorie, dass Dinge in Abhängigkeit voneinander entstehen. Alles was existiert, entsteht in Abhängigkeit oder relativ zu anderen Dingen. Auch darin stimmen die beiden Systeme überein. Auch wenn in den Wissenschaften keine unbeeinflussten (statischen) Phänomene untersucht werden, stimmen sie doch darin überein, dass zumindest Dinge, die eine Form und Dinge, die im Laufe der Zeit entstehen, alle in Abhängigkeit von anderen Faktoren entstehen. Ihre Identitäten sind im Zusammenhang mit anderen Faktoren entstanden.

Das aktuellste Thema, das von den Wissenschaftlern diskutiert wird, betrifft die Quantentheorie und die Quarks. Die Wissenschaftler haben diese Phänomene entdeckt und beginnen zu verstehen, dass dieses äußerst subtile Niveau der Materie auf das Engste mit dem Beobachter verbunden ist. Anders ausgedrückt: Das Bewusstsein, das diese Ebene als ihr kognitives Objekt erfasst, ist selbst in die Situation mit einbezogen, untrennbar mit dem Objekt verbunden.

Ein Beispiel: Die Zeit und die Größe eines Objekts ist relativ zu der Zeit und Geschwindigkeit des Objekts und des Beobachters. Die Richtung und die Geschwindigkeit des Beobachters in Relation zur Richtung und Geschwindigkeit des beobachteten Objekts beeinflusst die Wahrnehmung des Beobachters bzgl. der Lokalisation und den räumlich-zeitlichen Dimensionen des Objekts.

Wenn wir Wellen betrachten, handelt es sich dabei um Materie oder Energie? Auf der einen Seite handelt es sich um Materie und auf der anderen Seite bestehen Wellen aus Energie. Der Buddhismus bezeichnet diese Beziehung als: „zwei Tatsachen desselben Aspekts von einem bestimmten Phänomen“, und erläutert die Beziehung in der Weise, dass diese beiden Aspekte dieselbe essenzielle Natur miteinander gemein haben, aber verschiedene, konzeptuell voneinander getrennte Einheiten sind (tib. ngo-bo-cig ldog-pa tha-dad).

Die konventionelle Identität der Welle als Teil oder Energie ist eine Sache der geistigen Benennung. Das führt zu dem Schluss, dass die Unterscheidung, ob etwas ein Teilchen ist oder aber Energie, vom Beobachter abhängig ist und nicht objektimmanent ist, also nicht vom Objekt selbst abhängt. Das zeigt, welche enge Verbindung zwischen Wahrnehmung und Materie existiert.

Schon in der Vergangenheit hat man in der Wissenschaft darüber nachgedacht, ob es jenseits der Materie eine Kraft gibt – mag es sich dabei um Bewusstsein handeln oder nicht. Wir wollen diesen Punkt einmal näher beleuchten. Wenn in irgendeinem Lehrsystem, nicht nur in buddhistischen Schulen, behauptet wird, dass bestimmte Phänomene frei von Irrtum und Täuschung existieren, dann stellt sich die Frage, ob diese irrtumsfreie, ungetäuschte Existenz von der Wahrnehmung abhängt oder nicht; Wahrnehmung ist immer ein innerer Vorgang, kein äußerer.

Wahrnehmung ist das, was mit einem Objekt zusammentrifft und mit dem Objekt in Beziehung tritt; und Wahrnehmung ist auch das, was das Objekt als ungetäuscht oder getäuscht bezeichnet.

Die umfangreichste Erforschung und Erörterung der Themen Wahrnehmung und geistige Benennung finden sich unzweifelhaft im Buddhismus. Innerhalb des Buddhismus werden in den verschiedenen Traditionen des Abhidharma (spezielle Wissensgebiete) die Themen primäres Bewusstsein (tib. gtso-sems) und Geistesfaktoren (tib. sems-byung) ausführlich erläutert. Im Tantra, und insbesondere im Anuttarayoga-Tantra, werden grobe und subtile Bewusstseinsarten und die Beziehung zwischen Bewusstsein und den subtilen Energien, den Energiewinden, erörtert. Ich bin ganz sicher, dass im nächsten Jahrhundert der gemeinsame Nenner der westlichen Wissenschaften und der östlichen Philosophie deutlicher zu Tage treten wird, der darin liegt, dass beide Disziplinen sich über die Beziehung zwischen Bewusstsein (Wahrnehmung) und Materie Gedanken machen. In Bezug auf diese Themen werden sich östliche Philosophen und westliche Wissenschaftler am fruchtbarsten austauschen können.

Subtile Teilchen in den Kalachakra-Lehren

Gibt es im Kalachakra-System Aussagen, die ebenfalls für einen fruchtbaren Austausch zwischen den Disziplinen verwendet werden können, zum Beispiel die Erörterung der subtilen Teilchen?

Ja, das wären die subtilen Teilchen (tib. rdul phra-rab). Allgemein gesprochen, werden im Kalachakra Raumteilchen (tib. nam-mka'i rdul-tshan) erwähnt, ganz unabhängig davon, ob diese in Vasubandhus „Schatzhaus der speziellen Wissensgebiete“ (tib. Chos mngon-pa'i mdzod, Skt. Abhidharmakosha, engl. Treasure-House of Special Topics of Knowledge) erwähnt werden oder nicht. Im leeren Raum gibt es Raumteilchen, und diese bilden die reale Grundlage für die zunehmend gröber werdenden Teilchen. Die Raumteilchen bilden also die Grundlage für die vier Elemente Erde, Wasser, Feuer, Wind (Luft). Ein früheres Universum verschwindet und für ein Zeitalter lang herrscht Leere – genauer gesagt, gibt es zunächst die Zeitalter des Zerfalls, denen die Zeitalter der Leere folgen, und während der zwanzig mittleren Zeitalter der Leere erscheinen diese Raumteilchen. Darauf folgen dann die Zeitalter des Entstehens. Die Grundlage für das Entstehen von Raum, Wind, Feuer, Wasser und Erde sind dann diese Raumteilchen.

Was können wir uns unter Raumteilchen vorstellen? Haben sie eine Form (tib. gzugs)?

So ist es wahrscheinlich. In den Madhyamaka-Texten und der Prajnaparamita-Literatur wird behauptet, dass es fünf Formen von Raumteilchen gibt, welche nur in der „Quelle der Wahrnehmung, die alle Phänomene sind“ (tib. chos skye-mched-gyi gzugs; Formen, die nur in Dharma-Quellen der Wahrnehmung auffindbar sind), zu finden sind. Dabei handelt es sich um Formen, die aus Ansammlungen stammen, um Formen, die entstehen, wenn man sie annimmt oder ablegt, wie etwa Gelübde, um Formen, die in der aktuellen Situation existieren so wie astronomische und mikroskopische Entfernungen zwischen den Dingen, um Formen, die gänzlich imaginiert sind so wie jene, die in Träumen wahrgenommen werden und um Formen, die daraus entstammen, dass man die Kontrolle über die Elemente gewinnt.

Diejenigen Formen, die aus Ansammlungen stammen, werden als subtile Teilchen beschrieben und haben eine sphärische Form (tib. zlum-bo). Diese stammt wahrscheinlich aus dem Prajnaparamita. Dort werden subtile Teilchen als Formen betrachtet, die nur in den Dharma-Quellen der Wahrnehmung (kognitiven Quellen des Dharma) enthalten sind. Sie können nicht mit dem Auge wahrgenommen werden. Sie haben eine Form, können jedoch nur geistig wahrgenommen werden, weil sie sphärisch sind. Dazu zählen unbestreitbar unsere heutigen Atome. Sie sind alle sphärisch, nicht wahr? Atome und diese Teilchen scheinen sich wirklich ähnlich zu sein.

Hinweis: Eine Form hat Gestalt und Farbe. Wenn man sagt, die Form habe eine Farbe, dann impliziert das, dass die Form eine bestimmte Frequenz von Wellenlängen hat, die mit einem Spektrometer gemessen werden können, genau wie das bei den Atomen oder Teilchen der Fall ist.

Und Raumatome?

Was ich gerade erklärt habe, bezog sich auf Atome wie sie im Abhidharma dargelegt werden; ich glaube die Teilchen, wie sie im Kalachakra-Tantra erklärt werden, sind sogar subtiler als das. Die Atome im Abhidharma – auf die man sich als die vier Elemente Erde, Wasser, Feuer, Wind bezieht – entsprechen den Erdteilchen im Kalachakra. Dies sind eigentlich die Partikel, die als Atome bezeichnet werden. Für die Raumteilchen im Kalachakra gibt es vier subatomare Teilchen, die subtiler sind als die Raumteilchen im Abhidharma. Was ihre essenzielle Natur ist (tib. ngo-bo – was sie wirklich sind), weiß ich nicht genau.

Es gibt jedoch in Maitreyas „Weitest gehendes immer währendes Kontinuum“ (tib. rGyud bla-ma, Skt. Uttaratantra, engl. Furthest Everlasting Continuum) einen wichtigen Punkt. Im Äußeren gibt es die Zerfallssequenz von Erde, Wasser, Feuer, Wind und Raum; und bei der Entstehungsabfolge werden nacheinander Wind, Feuer, Wasser und Erde erzeugt. Hinweis: Im Uttaratantra gibt es kein „Feuer“. Im Außen entwickeln sich die Elemente aus dem Raum und lösen sich auch darin wieder auf.

Genauso läuft es in unserem Inneren ab: Unsere leere Nature (tib. chos-nyid), als ein Faktor unserer Buddha-Natur (tib. de-gshegs-snying-po, ein Mutterleib, der den So-Gegangenen enthält), ist die Form, aus der die Dinge entstehen und in die die Dinge auch wieder zurückkehren. Wenn man dies innerlich auf den eigenen Geist anwendet, dann ist der Raum die geistige Aktivität des klaren Lichts oder die Leerheit des klaren Lichts oder der Raum des klaren Lichts.

Im Kalachakra-Tantra wird der Raum erörtert, der im raumgleichen geistigen Kontinuum (tib. mkha'i rgyud-pa bsdu-ba nam-mkha' cig) enthalten ist, also der Raum, der im blauen Tropfen enthalten ist (tib. thig-le mngon-po). Wenn man diesen Raum erkennt, dann kann dieser Raum vielleicht als Raumteilchen erklärt werden. Ich weiß das nicht sehr genau und nicht besonders gut. Wie dem auch sei, es handelt sich dabei auch um ein sehr spezielles Thema.

Sind diese Raumteilchen statisch (tib. rtag-pa, unveränderlich)?

Können die Raumteilchen wirklich unveränderlich sein? Nein, sie sind es nicht. Zijin Nyingpo (tib. gZi-byin snying-po) würde das in seinen Kommentaren erklären, wenn es das sicherer machen würde. Ich weiß es nicht.

Kalachakra und die Beschreibung des Universums

Ist es für Menschen aus dem Westen, die Vertrauen in den Buddhismus haben und sich für Wissenschaft interessieren, hilfreich Kalachakra zu studieren? Kann es für sie hilfreich sein, nach Übereinstimmungen zwischen Kalachakra und den Wissenschaften zu suchen?

Das weiß ich wirklich nicht. Im Kalachakra-Tantra werden viele Dinge erklärt. Ich interessiere mich zum Beispiel für Kalachakra und fühlen mich wohl mit den Lehren. Für mich passen die Lehren; ich bin geeignet dafür. Daher ist es für mich sozusagen angemessen das Kalachakra-Tantra zu studieren . Wenn Wissenschaftler das Kalachakra-Tantra allerdings nur schnell durchlesen, dann wird ihr Geist damit nicht zurechtkommen. Zu Beginn werden sie zur Darstellung des externen, des internen und des alternativen Kalachakra kommen, und das kann viele Komplikationen und Schwierigkeiten mit sich bringen. Ein Beispiel: Im ersten Kapitel des Kalachakra-Tantra „Die Sphäre der Welt“ (tib. 'Jig-rten-gyi khams), werden der Berg Meru und der Südliche Kontinent namens Jambudvipa dargestellt. Darüber etwas zu lesen kann ziemlich verwirrend sein und ein großes Durcheinander auslösen, da es sich um absoluten Blödsinn handelt, nicht wahr?

Ich habe Sie einmal sagen gehört, dass der Berg Meru die Milchstraße sein könnte.

Oh, das habe ich nur nebenbei gesagt. Das habe ich nicht wirklich ernst gemeint.

Allerdings wird in der Sakya-Tradition ein wichtiger Punkt in Bezug auf Kalachakra erläutert, und zwar im Zusammenhang mit den Unterweisungen zu „Lamdre“ (tib. lam-'bras, der Weg in Verbindung mit seinen Ergebnissen). Dieser Erklärung entsprechend, sind alle äußeren Phänomene vollständig im Körper einer Person vorhanden. Die Art des Fortbestehens (tib. gnas-tshul, die Existenzsweise, die essenzielle Natur, die Art des Verweilens/Überdauerns) des Körpers einer Person besteht auf die Weise, dass der Körper vollständig in den Energiekanälen (tib. rtsa-la tshang) enthalten ist. Die Art des Fortbestehens der Energiekanäle besteht darin, dass sie vollständig in den Silben enthalten sind. Die Art des Fortbestehens der Silben besteht darin, dass sie vollständig in den Bestandteil-Quelle-Energie-Tropfen (Khams) enthalten sind. Die Art des Fortbestehens der Bestandteil-Quelle-Energie-Tropfen ist, dass sie vollständig in den Energiewinden enthalten sind. Und der allerletzte Punkt davon ist, dass die Art des Fortbestehens oder des Existierens von allem vollständig im alles umfassenden grundlegenden Bewusstsein enthalten ist (tib. kun-gzhi rnam-shes, Skt. alayavijnana, Speicherbewusstsein).

Im Lamdre-System bezieht sich der grundlegende Geist auf das ursächliche Kontinuum des Alaya (tib. kun-gzhi rgyu'i rgyud), also auf die subtilste Ebene des klaren Lichts der geistigen Aktivität. Der grundlegende Geist bezieht sich nicht auf den grundlegenden Geist wie er im Chittamantra-Lehrsystem (der Nur-Geist-Schule) postuliert wird.

Wenn es heißt, dass alle äußeren Phänomene vollständig im menschlichen Körper enthalten sind, dann können wir dies von einem Blickwinkel aus betrachtet symbolisch verstehen. Die äußeren vier Kontinente und der Weltenberg Meru sind – symbolisch gesprochen – vollständig im menschlichen Körper enthalten. Im Kalachakra-System wird das in vergleichbarer Weise erläutert. Der Berg Meru ist die Wirbelsäule, während die Ebenen des sinnlichen Begehrens (also die formlosen Bereiche) Teile des Körpers sind – von den Fußsohlen bis zum Scheitel.

Der Berg Meru ist die Wirbelsäule, von der Hüfte bis zum Nacken. Die Ebene des sinnlichen Verlangens entspringt den Fußsohlen bis zu einem Drittel des Nackens hinauf, die Ebene der ätherischen (himmlischen) Formen geht von dort bis zur Stirn, und die Ebene der formlosen Wesen von der Stirn bis zum Scheitel.

Mit anderen Worten: In einem menschlichen Körper sind die drei Ebenen der samsarischen Existenz (die drei Existenzbereiche) von der Sohle bis zum Scheitel vollständig enthalten, genauso wie es im Kalachakra-System anhand der einunddreißig Bereiche der Weltensphäre erläutert wird. Deshalb können wir sagen, dass der menschliche Körper symbolische Entsprechungen enthält.

Auf der anderen Seite können wir die drei Bereiche auch auf eine andere Art erklären. Unsere geistige Aktivität hat viele grobe und subtile Ebenen oder Aspekte. Wenn man diese Situation betrachtet, entdeckt man z. B. grobe Gefühle, und unter diesen groben Gefühlen gibt es eines, das als Gefühl des Genusses bezeichnet wird.

Wie der fünfte Dalai Lama in „Die aufeinander folgenden Stufen des Pfades: Persönliche Unterweisungen von Manjushri“ (tib. Lam-rim 'jam-dpal zhal-lung) sagte, sind fühlende Wesen in karmische Handlungen verstrickt, um die Erfahrung von Gefühlen des Glücks und des Genusses zu machen. Jene Lebewesen, die versuchen, diese Gefühle durch destruktives Handeln zu erreichen, sammeln nicht-verdienstvolles Karma an (tib. bsod-nams ma-yin-pa'i las) und werden dadurch in einem der drei schlechten Wiedergeburtszustände wiedergeboren. Im Allgemeinen ist es jedoch so, dass jene Wesen, die in Gedanken hinter angenehmen sinnlichen Empfindungen herjagen, das Karma für eine Wiedergeburt in einem schlechteren oder besseren Daseinszustände auf der Ebene des sinnlichen Verlangens aufbauen in Abhängigkeit davon, ob sie destruktiv oder konstruktiv handlen.

Dann gibt es jene Lebewesen, die sich zwar von dem Verlangen nach angenehmen Gefühlen im Äußeren abwenden, die sich jedoch nach denjenigen angenehmen Gefühlen in ihrem Inneren sehnen, die durch vertiefte Konzentration entstehen (tib. ting-nge-'dzin, Skt. samadhi). Dadurch sammeln diese Lebewesen Karma an. Ein Lebewesen, das sich so verhält, erzeugt so Karma für eine Wiedergeburt auf der Ebene der ätherischen (himmlischen) Formen und zwar von der ersten bis zur dritten Stufe der geistigen Stabilität (tib. bsam-gtan, Skt. dhyana). Jene Wesen, die sich nach einem Gefühl des Gleichmuts sehnen, das in ihrem Inneren durch den Samadhi-Zustand entsteht, der jenseits des Empfindens von Genuss ist, erzeugen Karma für die Wiedergeburt auf der vierten Stufe der geistigen Stabilität auf der Ebene der ätherischen Formen.

Wenn wir nun, nachdem wir die Unterschiede zwischen der Ebene der ätherischen Formen und der Ebene der formlosen Wesen betrachtet haben, die Erscheinung aller Formen blockieren und dann über Nichts, über vollständige Leerheit oder ausdruckslose Leerheit, die so weit wie der Weltraum ist, meditieren und so weiter, dann sammeln wir dadurch Karma für eine Wiedergeburt in einem der vier göttlichen Bereiche an, d. h. wir sammeln Karma für den göttlichen Bereich des unbegrenzten Raums, den göttlichen Bereich des unbegrenzten Bewusstseins, den göttlichen Bereich des Nichts (oder der Leerheit) oder für den göttlichen Bereich des Gipfels der Existenz an.

Wenn wir es also von dieser Seite aus betrachten, lässt sich Folgendes feststellen: Da es grobe und subtile Stufen von geistiger Aktivität gibt, sammeln wir unter dem Einfluss von gröberen und subtileren Bewusstseinszuständen Karma an. Wir erzeugen also Karma durch grobe und subtilen Formen von Sinnesfreuden, wie auch durch das Verlangen danach, solche Sinnesfreuden zu erfahren. Durch die Kraft dieses Karmas werden die drei Ebenen der samsarischen Existenz überhaupt erst geschaffen und treten in Erscheinung.

Weil das so ist, wird erklärt, dass die drei Ebenen der samsarischen Existenz symbolisch im menschlichen Körper entstehen und vollständig enthalten sind. Wenn wir das auf eine Weise betrachten, könne wir dies als karmischen Einfluss verstehen. Der Geist oder die geistige Aktivität ist ein Aspekt der Buddha-Natur (tib. de-gshegs snying-po, die Quelle der wahren Transformation); und unter dem Einfluss unseres Geistes, bzw. basierend auf unserem Bewusstsein, sammeln wir Karma an. Anders ausgedrückt: Der Körper, den wir bei einer Wiedergeburt erlangen, kommt durch das Bewusstsein zustande, welches das Karma angesammelt hat, um einen solchen Wiedergeburtszustand zu erfahren.

Das Entstehung der physischen Körperform durch das Karma ist ein Umstand, aus dem wir auch den Ort auf der Ebene der sinnlichen Begierden erschaffen aus dem mit der Buddha-Natur ausgestattetem Bewusstsein, das Karma ansammelt. Das ist unzweifelhaft ein spezielles Thema.

Weil das so ist, haben der Berg Meru usw., wie sie im Kalachakra erläutert werden, in Wahrheit eine tiefere Bedeutung. Sie beziehen sich hauptsächlich auf die andauernde Situation des Körpers eines menschlichen Wesens auf dem Südlichen Kontinent (Jambudvipa). Die Darstellung des sich im Außen befindenden Jambudvipa ist im Kalachakra-System deshalb vorhanden, weil es nötig ist, die Beziehung zwischen den äußeren und inneren Welten zu beschreiben – jede dieser Welten symbolisiert die jeweils andere Welt und existiert parallel zur jeweils anderen Welt. In diesem Sinne ist es nicht notwendig, dass der Berg Meru auch in Wirklichkeit als ein gewaltiger Berg an einem separaten Ort existiert.

Serkong Rinpoche hat gesagt, dass der Berg Meru im Kalachakra-System so aussieht als würde der Berg über unserem Kopf hängen und auf einen drauffallen. Worauf bezieht sich das?

Im „Abhidharmakosha“ ist der Berg Meru ein Quader; hier im Kalachakra-Tantra wird er als rund beschrieben und so, dass er zu seiner Spitze hin immer größer wird. Jambudvipa ist an seinem Fundament rund, so dass es so scheint – wenn wir entlang des Berges Meru aufwärts blicken – als würde der Berg über unserem Kopf hängen. Es sieht so aus, als würde der Berg auf uns drauffallen.

Das Entdecken weiterer Analogien zwischen dem Kalachakra-Tantra und den Wissenschaften

Eine der Qualitäten, die ein Buddha besitzt, ist seine Fähigkeit, jede weltliche Lehre in einen Weg des Dharma zu verwandeln. Hierfür benötigt man jedoch die entsprechenden geschickten Mittel. Meine Frage bezieht sich darauf, wie wir diese Befähigung entwickeln können, um sie bereits auf unserem Praxisniveau zu verwenden, auf dem wir uns gerade befinden.

Ein Beispiel: Im „Sadhana-Kapitel“ (tib. sGrub-le) des „Kalachakra-Tantra“, werden der verborgene Vorgang des Yajna-Opfers und weitere Themen der Veden (tib. mchod-sbyin-la-sogs-pa rig-byed-gyi gsang-ba'i mtha') dargestellt. In dem Text wird folgendes erläutert: Wenn in den Veden davon gesprochen wird, Tiere zu opfern, dann ist dieser Punkt so zu verstehen, wie bei den Praktiken enger Bindung (tib. dam-tshig) im Guhyasamaja- oder Kalachakra-Tantra, bei denen man sich davon zurückhält, Leben zu nehmen. Das Leben zu nehmen hat hier eine metaphorische Bedeutung (tib. dgongs-can) und bedeutet, dass man die Winde, die das Leben unterstützen, auflöst.

Wenn in den Veden zudem vom unzerstörbaren Klang Nada (tib. mi-zhoms-pa'i sgra) gesprochen wird, dann müssen wir verstehen, dass sich dies auf den verwandelnden Tropfen (tib. mi-shigs-pa'i thig-le) und die Klangqualität des Raumelements bezieht.

An anderer Stelle, z. B. im „Kapitel über die Weltsphären“ (tib. Khams-le), wo der König dem weisen Rischi Suryaratha (tib Drang-srong Nyi-ma'i shing-rta) etwas über Astrologie beibringt, sagt er, dass wenn in den Veden davon die Rede ist, dass die Bereiche der Brahmanen 10.000.000 Yojanas groß wären, so sei das eine Lüge. Wir können also aus dieser Aussage schließen, dass manches, was in den Veden ausgesagt wird, symbolische Metaphern sind und dass manchmal auch Unwahrheiten oder Lügen behauptet werden.

Ähnlich verhält es sich mit Aussagen im „Großen Kommentar zum Kalachakra-Tantra“ (tib. Tik-chen), wo Kedrubje (tib. mKhas-grub-rje dGe-legs dpal-bzang) erklärt, dass der Buddha manchmal gesagt hat, dass die Dinge inhärente Existenz hätten (tib. bden-grub), mit dem Gesagten dabei jedoch eine bestimmte Absicht im Sinn hatte und seine Aussage lediglich als Metapher zu verstehen sei. Der Buddha hat jedoch nie behauptet, dass es ein statisches, monolithisches, unabhängiges Selbst gäbe. Das wäre eine Lüge.

Wenn das der Fall ist, wie kann man dann, wenn man den Dharma im westlichen Kontext erklärt und über westliche Religionen und Wissenschaften spricht, zwischen symbolischen Metaphern und Lügen unterscheiden? Ich frage das deshalb, weil es sehr leicht ist, schöne Analogien für das Kalachakra-System zu entwerfen. Manche Aussagen im Kalachakra-Tantra und in den westlichen Religionen und Wissenschaften sind analog, aber manche Aussagen in dem einen oder anderen System sind schlichtweg Lügen oder Unwahrheiten.

Die Tantras und Sutras sind die letzte Autorität, nicht wir. Wenn es eine schriftliche Aussage gibt, dann müssen wir die Dinge nicht interpretieren.

Liebe im Christentum und im Buddhismus

Ist die Liebe, von der im Christentum gesprochen wird, vergleichbar mit unserer Liebe im Buddhismus? Kann man das so sagen?

Im Christentum wird die Liebe zu Gott und anderen Menschen gelehrt. Wenn die Christen sagen, dass man Gott lieben soll, dann meinen sie damit, dass man Gott im Herzen haben soll, ihn ehren und lieben soll. Auch im Buddhismus wird gelehrt, dass man Buddha gegenüber Respekt zeigt und Liebe für ihn empfindet. Das Christentum sagt, dass wir warmherzig sein sollen – jedoch nicht gegenüber allen Wesen wie etwa Wanzen oder Käfern – sondern vor allem für unsere Mitmenschen. Wenn man sehr ungenau über das Thema spricht, dann kann man die Liebe im Christentum schon wie unsere Liebe im Buddhismus verstehen.

Wenn im Christentum von einem Schöpfer die Rede ist, dann kann man sagen, das ließe sich so verstehen, wie wenn wir im Buddhismus über Leerheit sprechen. Doch auch wenn wir Gott in dieser Weise interpretieren, haut das nicht hin und ergibt keinen Sinn. Ein Beispiel: Wir können sagen, dass die Leerheit wie ein Mutterleib ist, der einen So-Gegangenen also einen Buddha (als einen Faktor der Buddha-Natur) enthält. Der So-Gegangene ist formlos, nicht vorstellbar und es gibt kein Wort dafür, so wie für Gott. Auch wenn wir das so sagen können, glaube ich nicht, dass das einen Sinn ergibt. Ich glaube nicht, dass das so in Ordnung ist.

Und in gleicher Weise kommt es zu Uneinigkeiten, wenn man über die Philosophie spricht. Der Buddhismus geht nicht von der Art Schöpfergott aus, wie er im Christentum beschrieben wird. Der Buddhismus akzeptiert diese Position nicht. Der Buddhismus würde sagen, dass in gewissem Sinne letztendlich das eigene Bewusstsein ein Schöpfer ist. Aber es gibt im Buddhismus keinen letztendlichen allmächtigen Schöpfer. Wir können das in dieser Weise ausdrücken und erklären.

Der wissenschaftliche Beweis, ob der Berg Meru existiert oder nicht

Wäre es also am Besten nicht zum Ausdruck zu bringen, dass in den Wissenschaften genau das ausgesagt wird, was auch im Buddhismus beschrieben wird?

Die Wissenschaften und der Buddhismus haben die gleiche Vorgehensweise, sich ihren Forschungsgegenständen anzunähern. Ich glaube, dass die Wissenschaften von diesem Blickwinkel aus betrachtet zu den gleichen Ergebnissen kommen wie der Buddhismus. Das ist eine der grundlegenden buddhistischen Einstellungen. Ein Beispiel: Es gibt zwei Arten von verzerrten, feindseligen Geisteshaltungen (tib. log-lta): jene Geisteshaltungen, die verfälschende Hinzufügungen sind (tib. sgro-'dogs) und jene, die vollkommen imaginär sind (tib. kun-brtags-kyi log-lta) Äquivalent zum Nichtanerkennen (tib. skur-'debs). Worauf beziehen sich diese Kategorien? Eine feindseligen Geisteshaltungen, mit der man glaubt, dass etwas, das tatsächlich existiert, nicht existiert, ist eine verzerrte Geisteshaltung, mit der man etwas zurückweist oder nicht anerkennt. Eine Einstellung, bei der man glaubt, dass etwas existiere, was in Wirklichkeit nicht existiert, bezeichnet man als eine verzerrte Geisteshaltung des Nichtanerkennens.

Wenn wir beispielsweise sagen, dass der Berg Meru nicht existiert, und er existiert dann aber doch, so handelt es sich dabei um eine verzerrte Geisteshaltung. Wenn der Berg Meru nicht existiert und wir behaupten, dass er doch existiert, dann handelt es sich dabei gleichermaßen um eine verzerrte Geisteshaltung. Das heißt also, dass wir eben das Ergebnis als wahr akzeptieren, das den Tatsachen entspricht. Noch ein Beispiel: Wenn da ein Elefant steht und wir ihn sehen können, dann sollten wir ihn auch tatsächlich sehen, weil er ja sichtbar ist. Wenn man diese Art von Argumentationskette fortführt, dann kann man sagen, dass wenn etwas existiert (und es sichtbar ist), dass wir es dann auch sehen sollten. Und wenn ein Objekt sichtbar sein soll, und wir das Objekt dann nicht sehen, dann existiert es auch nicht.

Wenn man also darüber nachdenkt, ob der Berg Meru nun existiert oder nicht, dann kann man das mit Raumschiffen aus dem Weltall heraus untersuchen. Der Berg Meru sollte definitiv sichtbar sein, weil er als ein visuell wahrnehmbares Objekt beschrieben wird, also als ein Objekt, dass für die Sinnesorgane der Augen sichtbar ist. Wenn wir den Berg Meru nun nicht sehen, dann existiert er auch nicht. Es ist natürlich etwas völlig anderes, wenn es sich bei dem Objekt um etwas handelt, das zwar existiert, aber das nicht sichtbar ist. Aber wenn etwas existiert, dass sichtbar sein soll, und es kann dann von niemandem gesehen werden, dann können wir selbst feststellen, dass dieses Objekt offenbar nicht existiert. Wenn in den Schriften dennoch die Aussage getroffen wird, dass der Berg Meru existiert, dann kann es sich bei den Aussagen nur um eine interpretierbare Bedeutung handeln, es gibt keine andere Möglichkeit.

Wenn wir etwas wissenschaftlich untersuchen, dann sollten wir in der Lage sein, seine Existenz eindeutig zu bestätigen – zum Beispiel den Durchmesser der Sonne und des Mondes. Ich kann mich nicht an die genauen Daten erinnern, aber der Durchmesser der Sonne ist viel größer als der des Mondes. Wir können das mit gültiger visueller Wahrnehmung erkennen; die Größenrelationen wurde von anderen wahrgenommen. Im „ Abhidharmakosha“ wird jedoch gesagt, dass der Durchmesser des Mondes 50 Yojanas misst und der Durchmesser der Sonne 51 Yojanas – Mond und Sonne unterscheiden sich nach Aussage dieser Schrift also nur um einen Yojana.

Nun lassen wir einmal die Möglichkeit beiseite, dass der Berg Meru wohlmöglich doch existiert, aber nicht gesehen werden kann, (weil er unsichtbar ist). Wir können die Größe der Sonne direkt erkennen, und auch die Größe des Mondes. Wir können Sonne und Mond sehen, und wenn beide sichtbar sind, kann es nicht sein, dass wir ihre Größe nicht erkennen können. Wir können ihre Körper sehen. Wir können ihre Wärme spüren und wir können ihre Umlaufbahn feststellen, und wir können auch ihre Größe ermitteln. Weil wir sie betrachten können, können wir auch erkennen, dass es zwischen den beiden Gestirnen einen enormen Größenunterschied gibt.

Wenn also im Abhidharmakosha ausgesagt wird, dass die Durchmesser der beiden Gestirne von 50 bzw. 51 Yojanas sich nur um einen Yojana unterscheiden, dann muss das als zu interpretierende Bedeutung zurückgewiesen werden. Und zu sagen, dass das, was wir durch mathematische Berechnungen erkennen, nicht stimmt – dass es sich bei der mathematischen Berechnung um eine trügerische Erscheinung handelt – dem können wir nicht wirklich zustimmen. Ebenso können wir auch dem, was Vasubhadu im Abhidharmakosha sagt, nämlich dass die Größenangaben von 50 bzw. 51 Yojanas richtig seien, nicht zustimmen. Das ist eine grundlegende buddhistische Haltung: Wenn es eine wissenschaftliche Erkenntnis gibt, die bewiesen worden ist, dann müssen wir sie akzeptieren.

Wenn die Wissenschaft etwas nicht auffinden kann, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder dass es nicht gefunden wird, weil es nicht existiert, oder dass es tatsächlich existiert und nicht gefunden werden kann. Das sind zwei verschiedene Dinge. Ein Beispiel: Das Vorhandensein vergangener und künftiger Leben, und dass die Wissenschaft nicht in der Lage ist, dies zu beweisen. Die Wissenschaft kann sie einfach nicht entdecken, aber das bedeutet nicht, dass diese früheren und zukünftigen Leben nicht existieren.

Die Gültigkeit der Kalachakra-Darstellung des Universums und des Körpers als Basis für die Reinigung

Sowohl Kedrubje also auch Kedrub Norsang Gyatso (tib. mKhas-grub Nor-bzang rgya-mtsho) haben in ihren Kalachakra-Kommentaren ausgesagt, dass wenn die Basis für die Reinigung (tib. sbyang-gzhi) nicht als gültig erwiesen ist, dann ist es schwierig, die Gültigkeit des Pfadgeistes zu bestätigen, der die Reinigung vornimmt. Wenn das der Fall ist, wie kann man dann westlichen Menschen in geeigneter Form darlegen, dass die äußeren und inneren Grundlagen für die Reinigung im Kalachakra gültig sind?

Das gleiche wie für die äußere Umwelt, die als Basis gereinigt werden muss, gilt auch für die innere Situation. Die Reinigung muss nicht genauso vonstatten gehen, wie es im Kalachakra-Tantra beschrieben wird, aber allgemein muss eine Reinigung stattfinden. Es gibt eine äußere Umwelt: das ist das äußere Kalachakra. Und es gibt eine innere Situation: das ist das innere Kalachakra. So einfach ist das. Beide müssen gereinigt werden.

Aber speziell auf der Erzeugungsstufe meditieren wir in Analogie mit dem Berg Meru, den vier Elementen und so weiter.

Es gibt die vier Elemente: Erde, Wasser, Feuer und Wind. Es ist nicht nötig, dass sie so oder so sind. Das gilt auch für den Berg Meru. Es gibt Seiten und Richtungen in der Galaxis, und deshalb muss es auch ein Zentrum geben – das ist der Berg Meru. Er hat nicht notwendiger Weise diese oder jene Form und Größe.

Die Kalachakra-Meditation jedoch enthält eine Meditation mit dem Pfadgeist, der reinigt, und das in Analogie mit der Grundlage der Reinigung. Sollten wir es so erklären?

Ja. Erkläre es auf jeden Fall. Diese Dinge sind wichtig. Man muss jedoch nicht erklären, wie viele Felsen auf der Spitze des Berg Meru sind, genauso wie man nicht erklären oder schätzen muss, wie viele Bäume es auf der Erde gibt oder wie viele Berge. Allgemein gesprochen gibt es jedoch diese Welt (Jambudvipa). Diese Grundannahme für die Reinigungspraxis vorzunehmen ist wichtig.

Um beispielsweise unsere Aggregate zu reinigen, müssen die Energiekanäle gereinigt werden, aber deshalb muss man weder diese noch jene Energiekanäle genau abzählen. Ebenso müssen wir unsere Aggregate reinigen, aber deshalb müssen wir nicht die Anzahl der Atome oder Moleküle innerhalb unserer Aggregate erläutern, feststellen oder kennen.

Wir können also daraus schließen, dass die Angaben zur genauen Anzahl der Energiekanäle usw. im Kalachakra-System als veranschaulichend zu sehen sind. Diese Veranschaulichung ermöglicht es uns, mit den Kanälen parallel im astrologischen Kontext, im medizinischen System und im Meditationssystem zu arbeiten und eine genaue Anzahl von Buddhafiguren zu visualisieren, die wiederum ein bestimmte Anzahl von Armen und so weiter haben. Die tatsächliche Anzahl an Kanälen ist jedoch nicht rein willkürlich festgelegt. Es gilt die Autorität des Buddha und der Schriften. Wir brauchen einen mittleren Weg, um mit diesen Aussagen umzugehen: Weder sollten wir zu dem Extrem neigen, dass wir die Schriften absolut wörtlich nehmen, so als wären sie ein Dogma, noch sollten wir ins andere Extrem fallen, dass wir die Aussagen der Schriften als vollkommen willkürlich ansehen, und keinen Respekt vor ihnen haben und denken, dass sie keinen Sinn ergäben.

Ein Beispiel: Wir haben 12 Milliarden Gehirnzellen in unserem Körper. Es ist nicht nötig, 12 Milliarden Wege zu haben, um diese Gehirnzellen zu reinigen. Wir nutzen also die veranschaulichenden Zahlenangaben, die der Buddha als akzeptierte Autorität ausgewählt hat. Er hatte viele weitere Intentionen im Sinn als er die Zahlenangabe auswählte. Die autorisierten schriftlichen Texte erwähnen 51 Geistesfaktoren (tib. sems-byung). Das sind nicht wirklich alle Geistesfaktoren, die es gibt, sondern nur eine veranschaulichende Auswahl, die zu einem ganz bestimmten Zweck getroffen wurde.

Wir stellen uns also einfach vor, dass der Körper über Energiekanäle, Energiewinde und über Bestandteil-Quelle-Energietropfen verfügt, und dass diese drei gereinigt werden müssen. Genauso gibt es eine äußere Umwelt, die vier Elemente, die Kontinente und Subkontinente und auch sie müssen gereinigt werden.

Was kann es nun heißen, dass der Berg Meru rund ist? Das ist schwierig zu erklären. Die Milchstraße hat ein Zentrum, aus dem heraus sie entsteht. Die Milchstraße hat eine Ausdehnung von einer Milliarden Lichtjahren, also hat sie auch ein Zentrum. Wir können also das Zentrum der Milchstraße als den Berg Meru betrachten; dann könnte die Form stimmig sein, weil sich die Milchstraße an der Spitze wölbt und die Spitze rund ist.

Kalachakra und die tibetische Medizin

Die auf das Innere bezogenen Kalachakra-Lehren erläutern die Energiewinde und so weiter. Welche Verbindung gibt es zwischen den inneren Kalachakra-Lehren und der tibetischen Medizin?

Das weiß ich nicht genau. In den Zertifikaten, die man nach Abschluss des Studiums der tibetischen Medizin erhält, wird das Kapitel „Die Bedeutung des tiefgründigen Inneren“ (tib. Zab-mo nang-don) erwähnt; ein Unterkommentar des dritten Karmapa Rangjung Dorje (tib. Kar-ma-pa Rang-byung rdo-rje) im zweiten Kapitel des Kommentars „Das verdichtete Kalachakra-Tantra“ (tib. bsDus-rgyud) von Pundarika, dem „Unbefleckten Licht“ (Dri-med 'od, Skt. Vimalaprabha). Aufgrund dieser Erwähnung frage ich mich, was die Verbindung ist zwischen dem Studium der Medizin und dem Studium dieses Kommentars ist. Ich hatte gehofft, sie zu erkennen. Wenn es sich hier um Erklärungen zu den Energiekanäle, Energiewinde und Energietropfen handelt, wie in der Vollendungsstufe des Kalachakra, dann wissen wir auf dieser Grundlage, dass es eine allgemeine Verbindung zur tibetischen Medizin im Sinne dieser Punkte gibt. Mehr weiß ich nicht.

Wenn du nun fragst, welche spezifischen Punkte in der tibetischen Medizin aus dem Kalachakra stammen, dann ist da zum Beispiel das Rezept wie man eine der wertvollen Pillen Ngulchu-Tsode (tib. dngul-chu rtso-sde) aus Quecksilber herstellt. Dieses Rezept stammt aus der Schrift „Das verdichtete Kalachakra-Tantra“. Es wird auch im „Zwei-Kapitel-Tantra von Hevajra“ (tib. rTags-gnyis) erwähnt, aber ausführlicher im Kalachakra-System erklärt. Die Herstellung der Ngulchu-Tsode-Pillen stammt aus der Praxis des Nyingma-Mahasiddha Drubtob Orgyen Lingpa (tib. Grub-thob O-rgyan gling-pa) aus dem 14. Jahrhundert. Er war ein großer Kalachakra-Praktizierender und hatte schon große Verwirklichung erreicht. Das ist die Verbindung. Aber über eine allgemeinere Verbindung mit der tibetischen Medizin weiß ich nichts.

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