Einleitung
Heute bin ich hier, um Belehrungen zu „Die drei Hauptaspekte des Pfades“, einem kurzen Text von Lama Tsongkhapa, zu geben. Was ich mit euch teile, ist nicht mein eigenes Wissen, sondern vielmehr das, was mir von meinen eigenen kostbaren Lehrern gelehrt wurde. Ich selbst habe keinerlei Verwirklichungen, aber ich werde mein Bestes tun, um diese Lehren an euch weiterzugeben.
Die Veranstalter haben mich gefragt, welches Thema ich gern unterrichten würde. Sie schickten mir viele E-Mails, aber ich habe nicht geantwortet. Bis gestern habe ich nichts gesagt, weil ich mir nicht sicher war, welche Belehrungen ich geben würde. Auch dachte ich, es wäre schön, wenn es eine Überraschung wäre. Ich liebe Überraschungen! Es ist ein wenig so, wie wenn man online etwas einkauft. Man wartet ganz gespannt auf das Paket und ist sich nicht sicher, ob die Einkäufe gut oder schlecht sein werden. Das Warten darauf ist schon die halbe Freude!
Am Ende habe ich mich entschieden, Belehrungen zu „Die drei Hauptaspekte des Pfades“ zu geben. Obwohl es sich um einen kurzen Text handelt, ist er doch in seiner Bedeutung ziemlich weitreichend. Es ist schwierig, ihn in so einer kurzen Zeit wirklich tiefgreifend zu unterrichten, aber es wird lohnenswert für uns sein, eine Diskussion über den Text zu haben. Für jene, die ihn bereits studiert haben, werden sich einige Dinge wiederholen, aber wenn es sich um einen kostbaren Text handelt, ist es immer gut, wenn es Wiederholungen gibt. Ich hoffe, es wird nützlich sein.
Eine korrekte Motivation erzeugen
Vor jeder konstruktiven Aktivität müssen wir eine korrekte Motivation erzeugen, besonders wenn es sich um eine Dharma-Aktivität handelt. Sie gehört zu den wichtigsten Dingen und ich bin mir sicher, die meisten von euch wissen das bereits. Ich muss also nicht viel über die Motivation sagen.
Heute ist der 25. April, was hier in Italien der Tag der Befreiung ist. Jeder hat einen freien Tag, manche Menschen gehen an den Strand, andere treffen sich mit Freunden oder gehen ins Restaurant, um etwas Schönes zu essen. Ihr habt euch jedoch alle hier im Lama Tsongkhapa Institut versammelt, um mein Gesicht zu sehen! Doch es gibt einen Grund, warum wir uns hier treffen. Wer immer ihr seid und wo auch immer ihr herkommt, ihr habt eure eigenen zeitweiligen und letztendlichen Ziele. Was immer ich auch unterrichte, ich bitte euch diesen Dharma-Lehren gut zuzuhören und sie zu überprüfen, ob sie mit euren Zielen übereinstimmen oder nicht.
Wenn ich sage: „bitte hört den Lehren gut zu“, meine ich damit nicht, dass ich so viel zu sagen hätte. Ich glaube nicht, dass ihr euch sofort ändern werdet, wenn ich etwas sage. Ich habe keine Erwartungen und Hoffnungen, eine tiefgreifende Änderung in eurem Leben zu bewirken. Aber mit den Gedanken der Lehren Seiner Heiligkeit des Dalai Lama werde ich versuchen, euch einen Geschmack des Dharma zu geben.
Wir können erkennen, dass wir heute in der Welt mit einer recht schwierigen Zeit konfrontiert sind. Jede Entscheidung, die wir treffen, macht einen Unterschied, und so ist es wichtig für uns die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wir können erkennen wie sich das Wetter ändert und wir haben vielleicht selbst miterlebt, wie durch Regen außerhalb der Saison Fluten und andere Wetterphänomene entstanden, die ungewöhnlich für Italien oder dem Himalaya sind, wo ich lebe. Tatsächlich passiert es auch überall sonst in der Welt. Wir können sagen, dass dies zu 90 Prozent von unseren Handlungen als Menschen abhängig ist und daher sollten wir sehr achtsam sein, wie wir handeln.
Neben diesen globalen Problemen haben wir noch, zusätzlich dazu, unsere eigenen Probleme mit unseren Familien, Beziehungen, dem Geld und anderen Dingen. Wenn wir unsere Situationen untersuchen, können wir verstehen wie viel wir tun müssen, um sie zu verbessern. Das ist etwas, das wir nicht nur für unser eigenes Wohl, sondern auch für das Wohl der gesamten Welt, aller Wesen und den Planeten tun sollten.
Bevor wir jedoch damit anfangen zu versuchen, etwas zu verbessern, sollten wir eine korrekte Motivation erzeugen. Wenn wir nach diesen Belehrungen wieder nach Hause gehen, sollten wir daran denken den Menschen zu helfen, die uns nahe stehen, wie unsere Eltern und Freunde, und wie wir freundlich und geduldig mit ihnen sein können. Dabei sollten wir uns vor Augen halten, dass wir dies nicht nur für uns, sondern für alle in der Welt tun. Solch eine Motivation wird großen Nutzen bewirken und unserem Leben großen Sinn verleihen.
Bevor wir mit den Dharma-Belehrungen beginnen, rezitieren wir für gewöhnlich das Zufluchts- und Bodhichitta-Gebet, um die Motivation zu erzeugen. Es gibt zwei Arten der Zuflucht: die kausale und die resultierende. Die kausale Zuflucht ist, wenn wir uns einem normalen Lehrer anvertrauen und uns auf ihn stützen, um eine sichere Ausrichtung im Leben zu haben. Das ist die Ausrichtung, wie sie von Buddha, Dharma und Sangha, den Drei Juwelen, gekennzeichnet wird. Mit dieser kausalen Zuflucht haben wir das Gefühl: „der Lehrer und ich sind voneinander getrennte Entitäten.“ Die resultierende Zuflucht ist, wenn wir uns auf unser eigenes unterscheidendes Gewahrsein stützen, nicht auf das unterscheidende Gewahrsein eines äußeren Lehrers. Wir verstehen, was gut ist, was schlecht ist, was getan und was nicht getan werden sollte. Doch bevor wir diese resultierende Ebene der Zuflucht erlangen, müssen wir uns natürlich auf einen geeigneten Lehrer stützen und die kausale Zuflucht erzeugen. Letztendlich geht es jedoch darum, die resultierende Zuflucht zu entwickeln und tatsächlich zu praktizieren, um Buddhaschaft zu erlangen. Das Gebet dafür ist:
Ich nehme die sichere Richtung bis zu meinem gereinigten Zustand von den Buddhas, dem Dharma, und der Höchsten Versammlung. Möge ich durch die positive Kraft meines Gebens und so weiter Buddhaschaft erlangen um den Wandernden zu helfen.
Die erste Zeile ist das Nehmen der kausalen Zuflucht. Wenn es heißt: „bis zu meinem gereinigten Zustand“, so bezieht sich ein gereinigter Zustand, ein Bodhi-Zustand, entweder auf Befreiung oder Erleuchtung. So wird es formuliert, weil sowohl Hinayana- als auch Mahayana-Praktizierende die kausale Zuflucht nehmen, während Hinayana-Praktizierende nur nach Befreiung und nicht nach Erleuchtung streben.
Die zweite Zeile ist das Nehmen der resultierenden Zuflucht und bezieht sich ausschließlich auf Mahayana. Mit dieser Zeile streben wir an, die tatsächliche Zuflucht für alle fühlenden Wesen zu werden, indem wir Bodhichitta, den Geist, der auf die Erleuchtung ausgerichtet ist, erzeugt und den Zustand eines Buddhas erlangt haben. Lasst uns diesen Vers in diesem Sinne dreimal rezitieren und heute eine gute Motivation für das Hören der Lehren erzeugen. Erinnern wir uns daran, welches Glück wir alle haben, heute hier zu sein und wie gern wir Erleuchtung zum Wohle aller fühlenden Wesen erlangen würden.
Die drei Hauptaspekte des Pfades
Nun, da wir eine gute Motivation erzeugt haben, können wir für heute mit den Belehrungen zu „Die drei Hauptaspekte des Pfades“ von Lama Tsongkhapa beginnen. Die drei Hauptaspekte, die in dem Text behandelt werden, sind Entsagung, Bodhichitta und eine korrekte Sicht der Leerheit. Seine Heiligkeit der Dalai Lama unterrichtet diesen Text gern, bevor er Einweihungen gibt, denn diese drei – Entsagung, Bodhichitta und eine korrekte Sicht – sind die wichtigsten Lehren, die wir verstehen müssen, bevor wir mit der Tantra-Praxis beginnen. Entsagung ist besonders wichtig, da sie die Basis für die anderen zwei Aspekte – Bodhichitta und eine korrekte Sicht – ist.
Lama Tsongkhapa bezeichnete die drei Aspekte als grundlegend oder wesentlich und viele Lamas unterrichten sie als grundlegende Praktiken. Wenn wir das Wort „grundlegend“ hören, meinen wir vielleicht, diese Lehren wären nicht so wichtig, doch sie haben eine enorme Wichtigkeit. Seine Heiligkeit ist aufgrund seiner eigenen tiefgreifenden Erfahrungen besonders geschickt darin, Belehrungen über sie zu geben. Seine Heiligkeit und andere Lamas haben Verwirklichungen und sie wissen, worüber sie reden. Es ist notwendig, dass wir äußerst präzise sind, wenn wir diesen Lehren folgen, ansonsten besteht immer die Möglichkeit, sie zu missinterpretieren.
Verse der Ehrerbietung
Der Text beginnt mit einem Ausdruck der Verehrung.
Ich verneige mich vor meinen erhebenden, makellosen spirituellen Lehrern.
Zu Beginn eines Textes Ehrerbietungen zu erweisen, ist eine Tradition, die mit den großen Meistern und Gelehrten aus Nalanda in Indien ihren Anfang nahm. Die Weise, wie Tsongkhapa Ehrerbietungen erweist, ist jedoch etwas anders als es in den ursprünglichen indischen Texten normalerweise getan wird. Hier verbeugt sich Lama Tsongkhapa vor seinen erhebenden, makellosen Lamas. Erhebende und makellose Lamas sind jene, welche über die drei Qualitäten des Wissens, der Liebe und der Fähigkeit verfügen.
„Wissen“ bedeutet, dass die Lamas in der Lage sind, den wahren Pfad zur Erleuchtung zu zeigen. Für gewöhnlich würden wir die Bedeutung darin sehen, dass die Lamas geschickt in ihren Methoden sind und ihre eigenen Verwirklichungen erlangt haben, bevor sie Belehrungen dazu geben. „Liebe“ ist die innere Qualität der Warmherzigkeit. Manche Lamas können sehr gelehrt und geschickt im Unterrichten sein, doch es fehlt ihnen an innerer Wärme. In solchen Fällen ist es schwierig für die Schüler, ein Gefühl der Nähe zum Lama zu entwickeln und dann können sie sich nicht wirklich für das Wissen des Lamas öffnen. Die Qualität der Liebe ist somit etwas, das wichtig für einen Lama ist. Die dritte Qualität, die „Fähigkeit“, bezieht sich darauf, dass die Lamas wissen, wie sie handeln müssen, um unabhängig davon, wer zu ihnen kommt, einer Person mit einer bestimmten Art von Geist helfen zu können.
Mit dem Beginn des Textes erweist Lama Tsongkhapa allen Lamas Ehrerbietungen, die diese drei Qualitäten haben, indem er Verbeugungen darbringt. Es ist wirklich gut Ehrerbietungen zu machen und sich mit den drei Toren von Körper, Rede und Geist zu verbeugen. Zusätzlich zur Ehrerbietung ist die Verbeugung auch ein gutes Gegenmittel bei Arroganz. Wenn wir studieren und besonders wenn wir viel studiert haben – ich spreche hier aus eigener Erfahrung – haben wir zuweilen das Gefühl, wir wüssten bereits alles und es wäre nicht notwendig, den Text noch einmal durchzugehen. Ich glaube das zeigt, dass wir nach wie vor voller Arroganz sind. Mit dem Denkweise: „das weiß ich schon, es gibt hier nichts Neues für mich“, meinen wir, der Lehrer vor uns wüsste nicht mehr als wir. Wenn das wirklich der Fall ist und wir so viel wissen, ist das wunderbar. Dann gibt es nichts, um das wir uns sorgen müssten. In den meisten Fällen gibt es jedoch immer etwas Neues zu lernen. Es gibt immer einen anderen Blickwinkel, mit dem man es betrachten kann.
Haben wir also die Erklärung eines bestimmten Textes bereits gehört, können wir daher nicht wirklich sagen, dass wir ihn nicht noch einmal hören sollten. Können wir es so sehen, dass der Lehrer vielleicht eine andere Weise hat, ihn zu erklären, und uns andere Blickwinkel aufzeigen kann, wird das unsere Arroganz besiegen und wir werden in der Lage sein, ein viel besseres und breiteres Verständnis der Lehren zu bekommen. Besonders wenn wir neu im Dharma sind, ist es gut, die Motivation zu haben: „Weil ich den Text nicht kenne, muss ich geduldig und aufmerksam sein, ihn studieren und diese guten Eigenschaften entwickeln.“ Das ist eine gute Motivation, den Text zu lernen.
Wahrscheinlich langweilen sich viele von euch schon, also werde ich eine Geschichte erzählen! Ich habe im „Institute of Buddhist Dialectics“ in Dharamsala, Indien, studiert. Es befindet sich in der Nähe des Tempels Seiner Heiligkeit des Dalai Lama und wir hatten oft die Möglichkeit, Belehrungen Seiner Heiligkeit zu hören. Jedes Mal, wenn er Belehrungen gab, ging die ganze Klasse hin. Während dieser drei Jahre, die ich studierte, gab Seine Heiligkeit Belehrungen zum „Bodhicharyavatara, Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“. Einmal wusste einer meiner Freunde nicht, was das Thema der Lehren war und fragte jemanden. Es wurde ihm gesagt: „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ und mein Freund sagte: „Schon wieder? Wir haben diese Belehrungen doch schon gehört. Ich habe heute etwas anderes zu tun.“ Dazu habe ich nichts gesagt, aber es regte mich ziemlich auf. Ich hatte das Gefühl, dass es mich ja nichts angeht und ich wollte nicht mit ihm streiten, aber ich fühlte mich nicht gut deswegen. Ich empfand diese Einstellung wirklich furchtbar und irgendwann ging ich zu meinem Lehrer und fragte ihn, was in so einer Situation zu tun war. Er sagte, es geschieht, wenn wir zu arrogant sind.
Es gibt eine andere Geschichte über Atisha, einem der größten Meister in der tibetischen Geschichte, und einen seiner Schüler, Lama Dromtönpa. Lama Dromtönpa ging zu allen Belehrungen von Atisha und hörte immer wieder gut zu. Die Menschen fragten ihn, warum er ständig zu all diesen Belehrungen ging, denn er wusste ja bereits alles. Doch Lama Dromtönpa sagte, auch wenn er bereits etwas schon gehört hatte, gab es immer die Chance, dass er vielleicht etwas nicht verstanden hatte. Daher sollten wir die Belehrungen als Schüler immer wieder hören, ohne arrogant zu sein.
Ich denke an meine eigenen Lehrer und wie gütig sie gegenüber mir waren. Ich habe zwei Lehrer, einen jüngeren und einen älteren. Aus Arroganz verglich ich sie manchmal miteinander und kam zu dem Schluss, der ältere Lehrer sei nicht so geschickt wie der jüngere. Manchmal verstanden die Schüler einfach nicht, was er sagte, und ich dachte, es wäre ein Hinweis darauf, dass er kein geschickter Lehrer war. Eines Tages ging ich mit meinen zwei Lehrern zu Dharma-Belehrungen und danach sagte der jüngere Lehrer, es gäbe da einen Punkt, den er nicht wirklich verstanden hatte, woraufhin der ältere begann, alles ganz klar zu erklären.
Ich war überrascht, denn wir alle hatten die gleichen Belehrungen bekommen, doch diese Worte hatte ich nicht darin gehört. Woher hatte der Lehrer sie also? Ich stellte ihm diese Frage, und er sagte: „Durch meine Erfahrung habe ich es so verstanden.“ An diesem Punkt bedauerte ich meine arrogante Denkweise und erinnerte mich an diese drei gerade erwähnten Qualitäten des tiefen Wissens der Lehren, der Warmherzigkeit und des Verstehens des Geistes der Schüler. Der Lehrer muss gemäß des Geistes der Schüler unterrichten, damit sie die Lehren tatsächlich verstehen können. Nun wurde mir bewusst, dass diese Qualität meinem Lehrer nie gefehlt hatte. Ich hatte meine Lektion gelernt und von diesem Zeitpunkt an begann ich, meine beiden Lehrer als ebenbürtig im Wissen und ihrer Güte zu betrachten.
Es ist nicht einfach zu unterrichten. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich nicht von mir behaupten, Dinge gut zu erklären oder irgendwelche Verwirklichungen zu haben. Ich kann lediglich mit euch teilen, was ich selbst bereits gehört habe. Ich habe nicht die gleichen Qualitäten wie meine Lehrer. Gibt es also irgendeinen Nutzen in dem, was ich hier sage? Nun, ich hoffe, es wird einen Nutzen für euch haben. Lasst uns mit dem Text weitermachen.
Verse des Versprechens (etwas) zu verfassen
(1) Ich werde versuchen, so gut ich kann, den wesentlichen Sinn all der schriftlich niedergelegten Worte der Siegreichen zu erklären, den Pfad, der von den heiligen Nachkommen der Siegreichen gepriesen wird, den Übergang für die Glücklichen, die Befreiung wünschen.
Die drei Hauptaspekte des Pfades, die von Lama Tsongkhapa beschrieben werden – Entsagung, Bodhichitta und eine korrekte Sicht – sind der wesentliche Sinn all der schriftlich niedergelegten Worte der Siegreichen. Mit anderen Worten sind sie die Essenz des gesamten Buddhadharma. Der Buddha gab so viele Belehrungen. In der tibetischen Tradition haben wir den „Kangyur“, der die übersetzten Lehren des Buddhas enthält, und den „Tengyur“, die Übersetzungen all der indischen Kommentare dazu. Zusammen sind das über 300 Bände, doch die Essenz von ihnen allen sind diese drei Aspekte, über die Lama Tsongkhapa schreibt.
Der Buddha selbst besaß diese drei Qualitäten des Wissens, der Liebe und der Fähigkeit. Zunächst verstand er, dass alle fühlenden Wesen sich gleichermaßen wünschen, glücklich zu sein und Leiden zu vermeiden. Er entdeckte, dass der Grund für das Unglücklichsein und das Erfahren von Leiden der fühlenden Wesen in störenden Emotionen liegt. Die Wurzel störender Emotionen, also das, was sie hervorbringt, ist wiederum der selbstbezogene Geist, der Geist, der nach einem Selbst greift und der Geist, der nicht die Leerheit des Selbst versteht. Das Gegenmittel für solch einen Geist ist das unterscheidende Gewahrsein, das Leerheit erkennt. Wir müssen ein korrektes Verständnis der Leerheit entwickeln, damit wir uns darauf stützen können, um unsere Leiden zu beseitigen.
Wir alle haben die gleiche Fähigkeit und das Potenzial, uns selbst von Leiden befreien zu können. Das wird manchmal auch als „Buddhaschaft erlangen“ bezeichnet, das Potenzial in einem jeden von uns, Buddhaschaft zu erlangen. Hinter jeder Belehrung, die der Buddha über jeden einzelnen Punkt gab, hinter jedem Lächeln, das er zeigte und hinter jeder Handlung steckt die Motivation, uns beizubringen, wie wir uns selbst aus diesem Ozean des Leidens befreien können. Jede erleuchtende Handlung des Buddhas hat die Motivation, uns Leerheit zu lehren.
Leider können die meisten von uns nicht einfach einen Sprung machen und sofort ein Leerheitsverständnis entwickeln. Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen. Je Tsongkhapas geschickte Methode der Lehre in diesem Text besteht darin, uns einen stufenweisen Pfad zu zeigen. Indem wir diesem Pfad folgen, werden wir schließlich die Freiheit von einem Selbst verstehen und den Geist entwickeln, der zur vollen Erleuchtung führt. Daher sagen wir, dass es sich um den wesentlichen Sinn all der schriftlich niedergelegten Worte der Siegreichen handelt.
Wir sollten die Wichtigkeit der Leerheit nicht unterschätzen. Das eigentliche Ziel, die Verwirklichung der Leerheit zu erlangen, besteht darin in der Lage zu sein, Befreiung und Buddhaschaft zu erreichen. Befreiung und Buddhaschaft sind nicht dasselbe. Befreiung ist ein vorläufiges Ziel, während der Zustand der Buddhaschaft das endgültige, letztendliche Ziel ist. Das unterscheidende Gewahrsein, mit dem man Leerheit verwirklicht, ist eine notwendige Bedingung, um diese zwei Ebenen zu erreichen: die Ebene der Befreiung und die Ebene der Buddhaschaft. Nur wenn man jedoch mit Bodhichitta ausgestattet ist, kann man Buddhaschaft erlangen. Eine Verwirklichung der Leerheit allein bringt nur Befreiung, aber die Ebene eines Buddhas ist etwas, das nur mit den Verwirklichungen von Leerheit und Bodhichitta erlangt werden kann.
Die drei Arten des Leidens und die zwei Arten von Bodhichitta
Im Buddhismus sprechen wir von drei Arten des Leidens. Das erste ist das Leiden des Unglücklichseins, was manchmal auch als das Leid des Leidens bezeichnet wird. Das zweite ist das Leid der Veränderung, und das dritte ist das alles umfassende Leiden. Diese dritte Art ist die Wurzel der ersten zwei Arten des Leidens. Sie bezieht sich auf die Tatsache, dass wir befleckte Aggregate haben, welche die Grundlage aller anderen Arten des Leidens sind. Wegen ihnen leiden wir immer wieder. Es gibt keine andere Möglichkeit, uns von allen möglichen Leiden zu befreien, außer die Leerheit nichtkonzeptuell zu erkennen. Das Erkennen der Leerheit bringt uns sowohl Befreiung als auch Erleuchtung. Daher ist die Leerheit die wichtigste Verwirklichung, die wir machen müssen.
Es gibt zwei Arten von Bodhichitta: konventionelles und tiefstes Bodhichitta. Tiefstes Bodhichitta ist das unterscheidende Gewahrsein, mit dem wir Leerheit verwirklichen, während konventionelles oder relatives Bodhichitta das Streben ist, nicht nur Erleuchtung zu unserem eigenen Wohl, sondern zum Wohl aller fühlenden Wesen zu erlangen. Diese zwei Aspekte sind gleichermaßen wichtig und wir müssen über beide verfügen.
Wenn wir ein Leerheitsverständnis haben, verstehen wir auch, dass all die Phänomene der Gesamtheit der Existenz keine Essenz haben. Wir werden erkennen, dass das einzig wahre Glück, das wir haben können, die Ebene der Befreiung und Buddhaschaft ist. Gleichzeitig werden die Qualitäten, die wir entwickeln können, ohne Entsagung – der Entschlossenheit, frei von allen Leiden zu sein – keine großen Auswirkungen haben. Sie werden uns nicht direkt zur Befreiung und Buddhaschaft führen können. Es ist die Entsagung, die uns hilft, auf dem Pfad zur Buddhaschaft voranzuschreiten.
Normalerweise denken wir, Bodhichitta sei so großartig und die rechte Sicht der Leerheit sei so beachtlich. Natürlich müssen wir sie entwickeln, aber wir sollten die Entsagung nicht vergessen, denn sie ist genauso wichtig. Lama Tsongkhapa betont also hier mit der Zeile: der Übergang für die Glücklichen, die Befreiung wünschen, dass es ohne Entsagung keine Befreiung aus Samsara gibt. Daher ist der erste der drei Hauptaspekte des Pfades die Entsagung, gefolgt von Bodhichitta und der korrekten Sicht der Leerheit.
Was die Zeile: den Pfad, der von den heiligen Nachkommen der Siegreichen gepriesen wird betrifft, so wird das Wort „Nachkommen“ wörtlich mit „Söhne“ übersetzt. Doch tatsächlich bezieht sich der Begriff auf mehr als nur Söhne. Wir sollten daran denken, dass im „Herzsutra“ sowohl von spirituellen Söhnen als auch spirituellen Töchtern gesprochen wird. Daher geht es Lama Tsongkhapa hier sowohl um Söhne als auch um Töchter. Jeder, alle Frauen und Männer haben die Fähigkeit, gleichermaßen Befreiung und Buddhaschaft zu erlangen und gleichermaßen Bodhichitta zu erzeugen. Es gibt keine geschlechtsspezifischen Beschränkungen.
Dass die drei Aspekte die Grundlage für uns sind, das letztendliche Ziel der Buddhaschaft zu erlangen, wird somit nicht nur von den Buddhas, sondern auch von ihren Söhnen und Töchtern gepriesen. Die Söhne und Töchter der Buddhas sind die Bodhisattvas. Es ist nicht so, dass der Buddha voreingenommen ist, die Bodhisattvas besonders mag und sie somit als seine Söhne und Töchter bezeichnet. Vielmehr sind Bodhisattvas durch ihre intensive Praxis jene, die über natürlich entstehendes, müheloses Bodhichitta verfügen, den Wunsch, Erleuchtung zum Wohle aller zu erlangen. Daher wird gesagt, dass sie in der Familie der Buddhas geboren wurden und aus diesem Grund werden sie als Söhne und Töchter der siegreichen Buddhas bezeichnet. Solche Praktizierenden, die über reines Bodhichitta verfügen und den Wunsch haben Erleuchtung zu erlangen, preisen diesen Pfad und die Lehren, die alle fühlenden Wesen zur Buddhaschaft führen.
Bodhisattvas erkennen, dass Entsagung, der Wunsch Befreiung zu erlangen, ausgesprochen wichtig ist und dass es ohne sie auch keinen Wunsch gibt, Buddhaschaft zu erlangen. Sich die Befreiung zu wünschen ist also der erste Schritt auf dem Pfad. Es ist nicht möglich, ihn zu überspringen. Daher werden die Übungen, die uns auf die Stufen der Befreiung und Buddhaschaft führen, von den Bodhisattvas als untrennbar von einander und als ein Pfad gepriesen.
Dieser Pfad, der von den Buddhas und ihren Nachkommen gepriesen wird, findet keine Erwähnung bei den Shravakas, Pratyekabuddhas oder Arhats des Hinayana-Fahrzeugs. Sie habe die Verwirklichung der Entsagung – die Entschlossenheit, sich selbst aus Samsara zu befreien – doch sie verfügen nicht über Bodhichitta und erlangen somit keine vollständige Erleuchtung. Dieser Pfad, über den Lama Tsongkhapa hier spricht, ist für Bodhisattvas, die sich wünschen nicht nur Befreiung sondern Erleuchtung zu erlangen. Daher wird gesagt, dass die Buddhas und Bodhisattvas diesen Pfad preisen.
Welch ein Glück, dass wir Zugang zum Dharma haben
Fühlende Wesen, die die Fähigkeit und den echten Wunsch haben, die drei Ziele der Entsagung, des Bodhichitta und der korrekten Sicht zu erlangen, werden im Vers als die Glücklichen bezeichnet, da die Lehren darüber, wie man es tut, zugänglich sind und es Lehrer gibt, die sie unterrichten können.
Es ist äußerst wichtig darüber nachzudenken, wie glücklich wir sind, Zugang zu diesen Lehren zu haben und somit fähig zu sein, unsere letztendlichen Ziele zu erreichen. Wenn wir jung sind, können wir nicht wirklich verstehen, was Realität ist. Alles scheint gut zu sein und wir genießen einfach unser Leben. Werden wir dann erwachsen, beginnen wir auf mehr Probleme zu stoßen und erkennen, dass das Leben nicht so ideal ist und ihm jeglicher Sinn fehlt, wenn es einfach nur so weitergeht. Wir fangen langsam an zu verstehen, wie Samsara funktioniert und wie sehr wir leiden. Das ist ein wirklich wichtiges Gefühl, das wir beachten sollten, denn es ist hilfreich,um uns später selbst zu befreien.
Stellt euch vor, zwei Menschen kommen auf uns zu. Einer von ihnen sagt, er hätte eine Methode, um uns vorübergehend von unseren Problemen zu befreien, während der andere uns einen endgültigen Weg zeigt, der uns vollständig und für immer von all unseren Problemen befreit. Natürlich würden sich alle von uns für den endgültigen Weg entscheiden. Man kann es damit vergleichen, krank zu sein. Wird uns eine Medizin angeboten, die uns nur vorübergehend hilft und eine andere, welche die Krankheit für immer beseitigt, würden wir uns für die zweite entscheiden, denn auch wenn sie teurer und schwieriger zu beschaffen ist, wird sie uns doch vollständig von unseren Leiden und unserer Krankheit befreien.
Buddhaschaft ist nicht nur Befreiung aus Samsara, sondern der letztendliche Zustand, der uns von allen Arten des Leidens, einschließlich dem Leiden des Greifens nach einem Selbst befreit. Auch wenn dieses Ziel weit entfernt und schwierig zu erreichen zu sein scheint, ist es wirklich wert, es anzustreben. Es bedeutet letztendliche Befreiung von jeder Art des Leidens und der Schmerzen, die wir haben. Den Wunsch zu haben, die Ebene der letztendlichen Befreiung zu erlangen, wir ebenfalls als überaus glücklich betrachtet.
Haben wir jedoch den Wunsch, unser eigenes Leiden zu beseitigen und achten nicht darauf, wie andere fühlenden Wesen leiden, ist das ziemlich selbstsüchtig. Gut, wir sind in der Lage, uns selbst zu befreien, aber was ist mit anderen fühlenden Wesen, die aus Verwirrung hinsichtlich der Realität weiter leiden werden? Aus diesem Grund benötigen wir Mitgefühl. Ohne Mitgefühl handeln wir selbstsüchtig, um das letztendliche Ziel zu erreichen. Haben wir Mitgefühl, sind wir jedoch in der Lage, das letztendliche Ziel der Buddhaschaft zu erlangen. Denken wir nur an uns selbst, können wir lediglich Befreiung erreichen und nicht mehr als das. Daher streben Bodhisattvas an, Buddhaschaft zum Wohle aller fühlenden Wesen zu erlangen, weil sie mit ihren Augen des Mitgefühls sehen, wie fühlende Wesen leiden.
Die Gesellschaft und die Welt zu verbessern, hängt generell von jedem Einzelnen von uns ab. Länder und Gemeinschaften sind voneinander getrennt, doch wir alle sind miteinander verbunden und unsere eigenen Verwirklichungen werden anderen fühlenden Wesen helfen. Wenn wir das verstehen, können wir somit nicht nur für uns selbst Befreiung anstreben, sondern den weitreichenden Wunsch haben, dass alle fühlenden Wesen frei von Leiden sein mögen. Wir können erkennen, wie bedeutend diese drei Hauptaspekte sind: Entsagung, Bodhichitta und die korrekte Sicht. Ohne die kostbaren Lehren würden wir keine Methoden kennen, um unsere eigenen Probleme und die Probleme anderer fühlenden Wesen zu beseitigen.
Daher sagt Lama Tsongkhapa:
Ich werde versuchen, so gut ich kann, den wesentlichen Sinn all der schriftlich niedergelegten Worte der Siegreichen zu erklären.
Mit einer starken Motivation des Mitgefühl war es Lama Tsongkhapas Wunsch, dass diese kostbaren Lehren so vielen fühlenden Wesen wie möglich gegeben wurden und daher versprach er, diesen Text zu verfassen. Wir, von unserer Seite, müssen nun diesen Lehren gut zuhören.