Kritische Situationen und Erkenntnis der Leerheit

Vers 18 bis 24

Kurzer Rückblick

Wir haben dieses unglaublich kostbare menschliche Leben, die Grundlage, auf der wir Befreiung und Erleuchtung erreichen können. Eine Wiedergeburt mit diesen Voraussetzungen ist sehr selten. Dieses Leben vergeht rasch und kann jeden Augenblick vorbei sein. Es kommt also darauf an, uns dessen Vorteile voll und ganz zunutze zu machen. Dafür rät Togme-Sangpo zu einem Leben in Abgeschiedenheit, weit entfernt von unserem Heimatort, um auf dem Pfad weiterzukommen.

Im Laufe unseres Fortschritts baut jede der Motivationen des Lam-rim auf der vorhergehenden auf. Es ist wichtig, dass diese Motivationen aufrichtig und gefestigt sind; andernfalls wird das Ausmaß der nächsthöheren Ebene nur oberflächlich sein.

Zunächst streben wir bessere Wiedergeburten an, vor allem kostbare menschliche Wiedergeburten, damit wir den spirituellen Pfad, auf dem wir uns befinden, fortsetzen können. Indem wir Tod und Vergänglichkeit im Sinn behalten und wissen, dass es schwierig ist, Befreiung oder Erleuchtung in nur einem Leben zu erreichen, setzen wir es uns zum Ziel, ein weiteres kostbares menschliches Leben zu erlangen. Um das erreichen zu können, müssen wir dafür sorgen, dass wir gute Einflüsse in unserem Leben haben. Deshalb nehmen wir von irreführenden Freunden Abstand und halten uns an vollkommen qualifizierte spirituelle Lehrer.

Dann schlagen wir eine sichere Richtung in unserem Leben ein, indem wir Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha nehmen. Wir gehen in die Richtung wahrer Beendigungen und derjenigen Geisteszustände, die wahre Pfade sind – welche von den Buddhas vollständig und vom Sangha teilweise erreicht worden sind. Um sicherzustellen, dass wir in Zukunft keine schlimmeren Wiedergeburten erleben, halten wir uns von schädlichem Verhalten zurück.

Auch wenn wir in künftigen Wiedergeburten weiterhin ein kostbares menschliches Leben erlangen oder sogar eine Existenz im Götterbereich, werden diese Leben immer noch ein enormes Ausmaß an Leiden beinhalten. Es handelt sich immer noch um Samsara, und was auch immer wir an Annehmlichkeiten oder Glücksgefühlen erleben, sie sind sehr flüchtig. Sie sind nie dauerhaft und sie stellen uns nie vollständig zufrieden.

Das ist ein wichtiger Punkt, denn beim anfänglichen Ausmaß der Motivationen kann es leicht passieren, dass man viel Anhaftung an das kostbare menschlichen Leben entwickelt. Es mag sein, dass wir nur aus dem Grund dafür beten, vortreffliche Wiedergeburten zu erlangen, damit wir weiterhin mit unseren Freunden und spirituellen Lehrern zusammensein können oder immer Dharma studieren zu können, weil es so schön und angenehm ist. Das ist immer noch Anhaftung an Samsara. Es ist nicht nur so, dass die Annehmlichkeiten mit dem Leiden der Veränderung verbunden sind, sondern in jedem Moment ist auch das alles umfassende Leiden vorhanden. Wir erleben dauernd Verwirrung, und das wird das ständige Auf und Ab von Samsara immer weiter fortsetzen.

So schwierig es auch ist, aufrichtig und aus tiefstem Herzen danach zu streben, eine kostbare menschliche Wiedergeburt zu erlangen, noch schwieriger ist es, aufrichtig nach Befreiung von immer wieder unfreiwillig auftretender Wiedergeburt überhaupt zu streben, ohne am menschlichen Leben zu hängen. Die Rolle von Entsagung sollte auf keinen Fall unterschätzt werden: Es gilt, Samsara überhaupt aufzugeben. Ganz gleich, wie wundervoll unsere Dharma-Freunde oder spirituellen Mentoren sein mögen - all das ist vergänglich. Wir können nicht für immer mit jemandem zusammenbleiben. Milarepa konnte nicht für immer bei Marpa bleiben. Er musste sich von ihm lösen, und das ist das Schwierige bei Anhaftung.

Wir zielen auf eine kostbare menschliche Wiedergeburt ab als Sprungbrett zu Befreiung und Erleuchtung, bzw. als ein Schiff von großem Nutzen, wie Togme-Sangpo es ausdrückt, um uns über den Ozean von Samsara zu bringen, aber ohne dass wir an dem Schiff hängen. Wenn wir am anderen Ufer angekommen sind, gehen wir von Bord und zögern nicht, es zurückzulassen.

Die fortgeschrittene Ebene der Motivationen ist noch schwerer zu erreichen. Wenn man Befreiung erlangt hat, kann es leicht dazu kommen, dass man es einfach dabei bewenden lässt und die Erfahrung von unbeeinträchtigtem Glück genießt, die damit einhergeht. Mit dem fortgeschrittenen Ausmaß an Motivation jedoch denken wir an alle anderen, an unsere Mütter, und mit Bodhichitta streben wir nach einem umfassenderen Ziel. Mit Erkenntnis der Leerheit und Bodhichitta üben wir uns in den sechs weit reichenden Geisteshaltungen und arbeiten daran, Erleuchtung zu erlangen, um allen zu nutzen.

Dafür ist es notwendig, über die beiden Extreme, Samsara und Nirvana, hinauszugehen. Das ist wirklich sehr schwierig, die Voraussetzung dafür ist, zu erkennen, dass das kostbare menschliche Leben sowie auch die Befreiung nur Zwischenschritte auf dem Weg zur Erleuchtung sind. Ohne diese Trittsteine kann man Erleuchtung nicht erreichen.

Heute ist es relativ einfach, etwas über die aufeinanderfolgenden Stufen des Pfades zu lesen, zu hören und zu erfahren. Aber bloß dass wir von diesen Stufen Kenntnis haben, heißt nicht, dass es einfach ist, die aufeinander aufbauenden Ebenen der Motivation innerlich zu entwickeln bzw. aufrichtig zu empfinden. Das kann viele Jahre dauern! Sie wirklich tief zu empfinden ist eine große Errungenschaft; das gilt sogar schon für die anfängliche Ebene.

Es wird immer wieder betont, dass die einzige Möglichkeit voranzuschreiten darin besteht, die Lehren zuerst zu hören, sie anschließend zu studieren und darüber nachzudenken und dann darüber zu meditieren und sie in unser Leben zu integrieren. Nur durch diesen Prozess ist es möglich, diese Ebenen der Motivation aufrichtig zu empfinden und es nicht nur bei oberflächlicher Kenntnis davon zu belassen.

Togme-Sangpo macht uns sodann mit den beiden Methoden zur Entwicklung von Bodhichitta bekannt und anschließend beginnt er, die Verhaltensweisen der Bodhisattvas zu erklären, zuerst im Hinblick darauf, wie man mit Schädigungen umgehen kann. In mehreren Versen beschreibt er, wie wichtig es ist, Geduld zu üben und nicht ärgerlich zu werden, und weist auf die Übung des Gebens und Nehmens hin. In dieser Übung nehmen wir das Leiden von anderen auf uns und widmen ihnen das positive Potenzial, das aus unseren eigenen konstruktiven Handlungen hervorgeht. Statt auf Schädigungen, die andere uns zugefügt haben, mit Vorhaltungen und Ablehnung zu reagieren, heben wir die guten Eigenschaften der anderen hervor. Eine weitere Methode besteht darin, diejenigen, die uns Schaden zufügen, als unsere Lehrer zu betrachten, welche es uns ermöglichen, unsere eigenen Unzulänglichkeiten zu erkennen und zu korrigieren.

Zwei kritische Situationen, in denen die Übung von Dharma notwendig ist

Im nächsten Abschnitt werden zwei schwierige Situationen genannt, die in unserer Übung des Dharma besondere Aufmerksamkeit und Sorgfalt erfordern, nämlich wenn etwas für uns überaus ungut verläuft oder aber wenn es äußerst gut läuft. Wenn etwas ungut verläuft, kann es sein, dass wir den Mut verlieren, und wenn es gut läuft, geschieht es leicht, dass wir überschwänglich, selbstgefällig und arrogant werden. Das ist ein Hinweis auf eine übersteigerte Reaktion auf die acht vergänglichen Angelegenheiten im Leben, die so genannten „acht weltlichen Dharmas“. Im Allgemeinen regen wir uns im Falle von unliebsamen Geschehnissen sehr auf und neigen zur Überschwänglichkeit, wenn etwas gut für uns läuft.

(18) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn wir in Armut leben und von anderen Menschen verachtet werden, von schlimmer Krankheit befallen oder von Geistern heimgesucht werden, uns nicht entmutigen zu lassen und stattdessen die negativen Kräfte und Leiden der anderen Lebewesen zu übernehmen.

Wir finden hier einen weiteren Hinweis auf die Praxis des Tonglen, mit der man das Leiden von anderen übernimmt und ihnen Glück zukommen lässt. Wenn wir sehr arm sind oder von anderen beleidigt oder herabgesetzt werden, wenn wir krank sind oder von Geistern heimgesucht werden, dann ist unsere Perspektive sehr eingeschränkt, solange wir nur an uns selbst denken. Wir werden dann von Gedanken wie „Ach ich Armer“ überwältigt, und so erleben wir dann zusätzlich zu den schwierigen Umständen alles mit einem großen Ausmaß an Unglücklichsein. Doch wenn wir an all die anderen denken, die ebenfalls solche Schwierigkeiten durchmachen, und unsere Perspektive über das „arme Ich“ hinaus ausweiten auf alle anderen, dann erleben wir diese Schwierigkeiten auf ganz andere Art.

Einige von uns haben so etwas vielleicht schon erlebt, möglicherweise als Teenager mit großen Problemen zu Hause. Vielleicht hatten die Eltern Alkoholprobleme und wir hatten das Gefühl, dass wir die einzigen auf der Welt wären, die derartige Probleme haben. Wir fühlten uns isoliert, allein und schrecklich unglücklich. Wenn wir aber erfuhren, dass es noch viele andere gab, die unter solchen Problemen litten, erweiterte sich unsere Perspektive erheblich. Wir konnten vielleicht eine Selbsthilfegruppe aufsuchen, in der viele Menschen ähnliche Probleme hatten, und fingen an, das Problem in größerem Rahmen zu sehen und als ein allgemeines gemeinsames Problem zu empfinden. Wir merken dann: „Ich bin nicht die Einzige, ich bin nicht allein damit“, und überlegen, wie man für alle eine Lösung finden könnte. Die Art und Weise, wie wir unser eigenes Problem erleben, ändert sich dadurch gewaltig!

Wir erweitern unsere Sichtweise und befassen uns damit, unsere Einstellung gegenüber uns selbst und anderen auszutauschen. Voraussetzung dafür ist, dass uns daran liegt, Leiden zu beseitigen, und unsere Denkweise sich in die Richtung entwickelt, dass wir die Grundlage, der wir das konventionelle „Ich“ zuschreiben, erweitern. Wenn wir sie über diese eine, einzelne Person, „mich“, hinaus ausweiten auf alle und die negativen Kräfte und Leiden der anderen Lebewesen übernehmen, lassen wir uns nicht entmutigen. Wir lassen uns nicht entmutigen, wenn wir an alle Wesen denken; den Mut verlieren wir vielmehr, wenn wir nur an uns selbst – „Ich Arme/r!“ – denken.

Wenn es unser Anliegen ist, Leiden zu beseitigen, und wir an alle als geeignete Basis für „ich“ denken, ist es sehr wichtig, dass wir dabei ein Verständnis der Leerheit des „Ich“ haben. Es ist nicht so, dass wir nun anstelle eines kleinen festen „Ich“ ein riesiges festes „Ich“ haben, das alle umfasst. Das ist es keineswegs, was wir anstreben; so etwas wäre ein großer Fehler in dieser Art von Übung. Es ist nicht so, dass „ich jetzt alle bin und nun die ganze Welt auf mich nehme“. Wenn wir so denken, werden wir womöglich noch mutloser.

Es ist natürlich eine riesige Aufgabe, jedes begrenzte Wesen auf der ganzen Welt zu befreien und zur Erleuchtung zu bringen, aber schon mit einer etwas geringeren Aufgabe können wir leicht den Mut verlieren, wenn wir im Sinne eines festen „Ich“ denken - „Wie soll ich das je schaffen?“ Doch ohne die falsche Vorstellung von einem festen „Ich“, welches getrennt wäre vom Ganzen und von der Aufgabe usw., tun wir es einfach. Das ist meines Erachtens der Schlüssel dafür, derart riesige Aufgaben zu übernehmen. Man tut es einfach.

Ich lebe in Deutschland, und das Bild, das mir diesen Zusammenhang in den Sinn kommt, ist das Bild einiger Städte, die im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört worden waren. Man könnte sich fragen: Wie um alles in der Welt hat man diese Städte wieder aufgebaut? Wenn wir in Dresden gelebt hätten - das durch eine gewaltige Feuersbrunst vollkommen zerstört war -, würden wir uns dann bloß um unser eigenes kleines Haus kümmern? Nein, denn das wäre sinnlos ohne die Infrastruktur der Stadt. So können wir nicht leben, denn wir sind in vielerlei Hinsicht mit allen verbunden. Die Leute haben einfach die Ärmel hochgekrempelt und sich an den Wiederaufbau gemacht; sie arbeiteten zusammen, ohne sich von dem Gedanken abschrecken zu lassen: „Wie sollen wir das nur schaffen, die Stadt wieder aufzubauen?“ Sie taten es einfach, und irgendwann war es geschafft.

Die andere kritische Situation, die auftreten kann, ist, dass wir aufgeblasen und eingebildet werden, wenn uns etwas Großartiges widerfährt. Das wird im nächsten Vers angesprochen:

(19) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn wir mit wohlgefälligen Worten gerühmt werden und zahlreiche Wesen respektvoll den Kopf vor uns neigen, oder wenn wir in den Besitz von Reichtümern gelangen, die denen des [Reichums-Gottes] Vaishravana gleichen, niemals eingebildet zu werden, da wir erkennen, dass weltlicher Reichtum ohne Essenz ist.

Es mag sein, dass wir sehr reich werden oder dass die Menschen uns rühmen und loben, wie vortrefflich wir sind, was für erstaunliche Arbeit wir leisten, und sogar ihren Kopf vor uns neigen. Togme-Sangpo betont: Die Art, wie man verhindert, eingebildet zu werden, besteht darin, zu erkennen, dass das alles ohne Essenz ist. Berühmt zu sein und gepriesen zu werden kann sogar ein Hindernis sein. Denken Sie an berühmte Filmstars oder Sänger - sie können nicht einmal das Haus verlassen, ohne von Scharen aufdringlicher Paparazzi belästigt zu werden, die sie fotografieren wollen, oder von kreischenden Fans, die sie verfolgen und ihnen sogar die Kleider vom Leib reißen wollen! Schrecklich.

Auch wenn wir in einem anderen Bereich Berühmtheit erlangen, sind die Anforderungen an unsere Zeit umso größer, je bekannter wir sind. Wir haben mehr Arbeit, mehr E-Mails, mehr Verpflichtungen und Einladungen, und das kann völlig erdrückend sein. Wir können nicht mehr tun, was wir wollen, weil alle unsere Zeit in Anspruch nehmen, und uns bleibt keine Zeit mehr für uns selbst. Wenn wir außerordentlich reich sind, werden wir ständig von Leuten behelligt, die Geld wollen. Wir haben allmählich das Gefühl, dass wir nicht um unserer selbst willen geschätzt werden, sondern alle nur wegen unseres Geldes mit uns befreundet sein wollen.

Um zu vermeiden, dass wir eingebildet werden, ist es notwendig, all die Nachteile von Ruhm, Lobpreisungen und Geld zu erkennen, zusätzlich zu der Tatsache, dass all das ohne wesentliche Essenz ist. Diese vermeintlichen Vorzüge können uns kein endgültiges Glück schenken und sind alles andere als dauerhaft. So schnell, wie sie gewonnen sind, gehen sie wieder verloren. Das erinnert an das Beispiel der göttlichen Wesen im Buddhismus, die in wundervollen himmlischen Bereichen geboren werden, aber dann wieder herabfallen.

Um nicht den Mut zu verlieren, wenn etwas ungut verläuft, nehmen wir das Leiden anderer auf uns und entwickeln Mitgefühl mit denjenigen, die ähnliche Probleme haben. Wenn alles sehr gut läuft, ist es wichtig, nicht eingebildet zu werden und zu sehen, dass das Erreichte Nachteile hat und ohne wesentliche Essenz ist. Wenn wir Geld, Ruhm oder andere günstige Umstände haben, können wir sie nutzen. Obwohl wir erkennen, dass sie Nachteile haben, gibt es doch bestimmte Vorteile davon, die wir nutzen können, um anderen zu helfen, statt bloß selbstgefällig zu werden. Mit Geld kann man zum Beispiel allerlei spirituelle Projekte unterstützen.

Feindseligkeit und Anhaftung überwinden

Weitere schwierige Situationen, die es auf dem Bodhisattva-Weg zu bewältigen gilt, sind solche, in denen Feindseligkeit und Anhaftung in uns aufkommen. Beidem widmet Togme-Sangpo je einen Vers.

(20) Die Übung der Bodhisattvas ist, unseren Geistesstrom mit der Macht von Liebe und Mitgefühl zu zähmen, denn wenn wir unsere eigene Feindseligkeit nicht überwunden haben, mag es zwar sein, dass wir äußere Feinde bezwingen, doch sogleich werden sich wieder neue erheben und immer zahlreicher werden.

Auch Shantideva verwendet das Bild, das der eigentliche Feind ein innerer ist, nämlich unsere störenden Emotionen, nicht äußere Feinde, und erklärt dieses Thema in Verbindung mit Geduld als Möglichkeit, Ärger und Feindseligkeit zu überwinden. Togme-Sangpo erklärt es im Zusammenhang mit Liebe und Mitgefühl. Liebe, Mitgefühl und Geduld sind allesamt Kräfte, die Ärger entgegenwirken. Shantideva schreibt, dass wir unmöglich die ganze Erde mit Leder bedecken können, um zu vermeiden, dass Dornen unsere Füße verletzen. Tatsächlich brauchen wir nur unsere Füße in Leder zu kleiden, sodass wir überall hingehen können, ohne uns zu verletzen. Ähnlich gilt, dass wir nie alle äußeren Gegner beseitigen können, aber wenn wir den inneren Feind - Ärger - loswerden, können wir überall hingehen, ohne Schaden zu nehmen.

Unsere eigentlichen Gegner sind die inneren Hindernisse - unsere eigenen störenden Emotionen ‑; und die Kräfte, die ihnen entgegenwirken, werden mit bewaffneten Streitkräften verglichen, die in einem Kampf zum Einsatz kommen. Buddha stammte aus der Kriegerkaste, und deswegen finden wir allerlei martialische Allegorien im Buddhismus. Das wirkt oft abschreckend auf heutige Leser. Viele der nachfolgenden indischen Meister, wie z.B. auch Shantideva, haben weiterhin die Metapher des Kampfes benutzt, den es zu führen gilt. Auch tibetische Meister wie Togme-Sangpo folgten ihren Vorgängern in der Verwendung von Bildern wie „Macht von Liebe und Mitgefühl“.

Ich denke, diese martialische Bildersprache kann vor allem hilfreich sein, wenn es um unsere eigenen störenden Emotionen geht, denn tatsächlich ist damit ein innerer Kampf auszutragen. Wenn man sich die tibetische Übersetzung des Sanskrit-Wortes „Bodhisattva“ anschaut, wird ersichtlich, dass dort am Ende eine Silbe angefügt wurde, die den Ausdruck dahingehend verändert, dass er im Tibetischen die Bedeutung „der Mutige“ oder „der Tapfere“ bekommt. Dieser Sinngehalt ist eigentlich im Sanskrit nicht vorhanden. Das tibetische Wort für „Bodhisattva“ lautet „jang-chub sem-pa“. Der erste Teil des Wortes, „jang-chub“ (bodhi) bezieht sich auf die Erleuchtung. Der nächste Teil, „sem-pa“, würde dem Sanskrit-Wort „sattva“ entsprechen, wenn die Schreibweise „pa“ wäre. Doch die Tibeter haben für dieses „pa“ eine andere Schreibweise verwendet. Sie schreiben es „dpa‘ “, wobei der erste Buchstabe in der Aussprache stumm bleibt, die Schreibweise jedoch dem Wort eine andere Bedeutung verleiht. Es handelt sich also um ein Wort, das zwar genauso ausgesprochen wird wie „pa“, aber eine andere Bedeutung beinhaltet, nämlich: „der Mutige, Tapfere“.

Ich nehme an, wir kennen das, was in diesem Vers angesprochen wird, aus eigener Erfahrung. Es mag sein, dass wir in Bezug auf eine Person oder eine Situation unseren Ärger überwinden können, aber wir werden immer noch ärgerlich über etwas anderes, dem wir künftig begegnen. Die Angelegenheit ist keineswegs gelöst. Wir müssen uns also auf einen längeren Kampf gefasst machen.

(21) Die Übung der Bodhisattvas ist, alle Objekte, die unser Hängen an etwas und unsere Anhaftung anwachsen lassen, sogleich aufzugeben, denn die Objekte der Begierden sind wie Salzwasser: Je mehr wir davon zu uns nehmen, umso größer wird der Durst.

Wir haben das bereits im Zusammenhang mit dem Leiden der Veränderung festgestellt: Weltliche Annehmlichkeiten, Dinge, an denen wir sehr hängen und heiß begehren, werden uns letztlich nie zufrieden stellen. Es wird nie genug sein. Vielleicht haben wir eine Zeitlang genug zu essen und können unsere sexuellen Begierden stillen, aber nach einer Weile werden wir wieder mehr davon begehren. Das bezieht sich insbesondere auf Objekte, die unser Hängen an etwas und unsere Anhaftung anwachsen lassen. Es gibt einen Unterschied zwischen sehnsüchtigem Verlangen und Hängen an etwas und Anhaftung. Sehnsüchtiges Verlangen bezieht sich auf etwas, das wir nicht haben. Hängen an etwas und Anhaftung bezieht sich auf etwas, das wir haben und von dem wir nicht lassen wollen.

Wir alle haben etwas, woran wir wirklich hängen. Dabei fällt mir ein Freund ein, der unglaublich an Dharma-Büchern hängt und zwanghaft immer mehr davon kauft, obwohl er gar keine Zeit hat, sie zu lesen. Togme-Sangpo sagt, dass das Gegenmittel gegen all das darin besteht, von den Objekten abzulassen. Ich habe meinem Freund vorgeschlagen, dass er die Bücher doch an eine größere Einrichtung, wie etwa einem Dharma-Zentrum, weitergeben könnte, wo auch andere etwas davon hätten. Je mehr er sich mit diesen Bücher umgibt, umso stärker hängt er daran und umso mehr davon kauft er. Was auch immer es sein mag, woran wir hängen, sei es unsere Kleidung oder unsere Wohnung oder sonst irgendetwas - das beste Mittel, das Abhilfe schafft, ist, es mit anderen zu teilen. Wir können etliche ältere Kleidungsstücke, die wir nicht mehr tragen, verschenken, und wir können unsere Wohnung für gelegentliche gemeinsame Dharma-Aktivitäten mit anderen zur Verfügung stellen.

Togme-Sangpo weist auch darauf hin, dass die Objekte der Begierden, an denen wir so hängen, wie Salzwasser sind. Je mehr wir davon zu uns nehmen, umso durstiger werden wir. Je mehr solcher Objekte der Anhaftung wir anhäufen, umso mehr werden wir ihnen verhaftet, und wir haben nie genug. Wer ist denn beispielsweise der Meinung, er hätte genug Geld auf seinem Bankkonto? Wir wollen immer noch mehr.

Natürlich ist es nicht die am tiefsten greifende Lösung, einfach die Objekte aufzugeben, denn wir können dann immer noch begierig darauf sein, sie alle zurückzubekommen. Doch als anfängliche Methode, mit Anhaftung umzugehen, kann diese Vorgehensweise sehr hilfreich sein. In einem früheren Vers hat Togme-Sangpo erwähnt: Wenn wir sehr an unserem Heimatort hängen, wo uns einerseits die Anhaftung an Freunde aufwühlt wie Wasser, dann ist es am besten, den Heimatort zu verlassen. An diesem Punkt erinnert auch die Aussage dieses Verses.

Mir ist gerade ein Beispiel eingefallen, wie man dies anwenden kann. Nehmen wir einmal an, wir würden sehr an unseren Kindern hängen. Es gibt viele Eltern, die sich nicht von ihren Kindern lösen wollen, und je mehr sie mit den Kindern zusammen sind, umso mehr hängen sie an ihnen. Doch es ist natürlich wichtig, die Kinder ihre eigenen Wege gehen zu lassen, am Anfang, indem man sie zur Schule gehen lässt, ab und zu bei Freunden übernachten lässt, sie in einer anderen Stadt studieren lässt usw. Wir können nicht darauf bestehen, dass sie zu Hause bleiben und das Haus nicht verlassen. Wir müssen sie auch ihre eigenen Wege gehen lassen im Hinblick darauf, dass sie möglicherweise heiraten und an einen anderen Ort ziehen. Viele Eltern sind mit dem Partner ihres Kindes nicht einverstanden, egal wer es ist. Im Grunde ist es deswegen, weil sie an dem Kind hängen und es nicht fortlassen wollen.

Wir können uns natürlich fragen: Meint Togme-Sangpo wirklich, dass wir unseren Computer und unser Mobiltelefon aufgeben müssen? Das gibt uns ziemlich zu denken, denn das wird zunehmend zum Problem. Es gibt Leute, die sind so süchtig nach ihrem Smartphone, dass sie unablässig damit herumspielen, oder die den ganzen Tag den Computer und die Internetverbindung eingeschaltet lassen, um bloß ja keine Email zu verpassen, sobald eine eintrifft. Vielleicht sind sie so wie ich eine Art Nachrichten-Süchtige und schauen sich alle Naselang im Internet oder im Fernsehen die Nachrichten an. Viele Leute sind z.B. süchtig nach CNN und schauen sich immer wieder die gleichen Nachrichten an. Auch hier ist der Rat, davon abzulassen, äußerst hilfreich. Selbst ohne es ganz aufzugeben finde ich es schon schwierig, nur einmal am Tag meine Emails zu checken, nur einmal am Tag Nachrichten anzuschauen, und sie nicht den ganzen Tag über eingeschaltet zu lassen. Und das Smartphone nur zu benutzen, wenn man es braucht.

Ein letztes Beispiel im Zusammenhang mit dem Aufgeben von etwas, woran man hängt, ist das Einhalten einer Diät. Wenn wir Diät halten, aber sehr am Genuss von Schokolade oder Keksen usw. hängen, fällt es sehr schwer, nichts davon zu essen, wenn wir es im Haus haben. Die beste und wahrscheinlich einzige Möglichkeit, eine Diät einzuhalten, ist wohl, einfach keine Schokolade, Kekse und Kuchen einzukaufen und keine im Haus zu haben. Wenn sie nicht da sind, essen wir keine. Das ist nicht von der Hand zu weisen, oder? Ich bin sicher, wir kennen das alle aus eigener Erfahrung, wenn wir je eine Diät gemacht haben.

Tiefstes Bodhichitta entwickeln: die Erkenntnis der Leerheit

Der nächste Abschnitt befasst sich mit der Entwicklung von tiefstem Bodhichitta. Es gibt konventionelles bzw. relatives Bodhichitta: es ist auf Erleuchtung ausgerichtet, damit man allen Wesen nützen kann; und es gibt tiefstes Bodhichitta, das auf die Leerheit ausgerichtet ist, insbesondere auf die Leerheit des Geistes. Dies ist für die Bodhisattva-Praxis von wesentlicher Bedeutung.

(22) Die Übung der Bodhisattvas ist, [den scheinbar innewohnenden] Merkmalen der wahrgenommen Objekte und des wahrnehmenden Geistes keine Aufmerksamkeit zu schenken, in dem Wissen, wie die Dinge wirklich existieren: denn ganz gleich, wie sie erscheinen mögen – die Erscheinung entstammt unserem eigenen Geist. Und der Geist selbst ist von Anbeginn an ohne die extremen Vorstellungen, die er fabriziert.

Wenn im Buddhismus von Leerheit die Rede ist, bezieht sich das auf eine Abwesenheit von etwas, und zwar von etwas, das überhaupt nie vorhanden war. Das, was nicht da ist und nie vorhanden war, ist eine unmögliche Art und Weise, welche die konventionelle Existenz gültig erkennbarer Objekte begründen oder erweisen würde. Unmögliche Arten zu existieren gab es nie, nicht wahr? Das einfachste Beispiel dafür ist die Vorstellung: „Ich bin die wichtigste Person auf der Welt, und was mich als solche erweist, ist, dass ich der Mittelpunkt der Welt bin. Weil ich am allerwichtigsten bin, sollte alles immer nach meinem Willen gehen, und jeder sollte mich beachten und mögen.“ Das ist unmöglich. Auch wenn es uns so scheinen mag, weil wir uns so wichtig nehmen, kann niemand als der Mittelpunkt der Welt erwiesen werden; jeder ist leer davon, auf solche unmögliche Weise zu existieren, und so ist es auch niemals gewesen.

Um dieses Verständnis im tiefsten Ausmaß zu erlangen, ist es notwendig zu erkennen, dass man immer subtilere unmögliche Arten aufdecken kann, die konventionelle Existenz gültig erkennbarer Objekte als das zu erweisen, was sie zu sein scheinen. Die subtilsten Ebenen davon zu erkennen ist nicht ganz einfach. Deshalb müssen wir zuerst die gröberen Ebenen widerlegen und beiseite räumen, indem wir feststellen, dass sie nicht dem entsprechen, wie die Dinge tatsächlich existieren. Anschließend befassen wir uns dann mit subtileren und noch subtileren Ebenen.

Gemäß der Sakya-Philosophie können wir den Vers unter dem Gesichtspunkt betrachten, dass die Dinge uns so erscheinen können, als würde ein äußeres Objekt aus seiner eigenen Quelle stammen und unser Geist, der es wahrnimmt, aus einer davon völlig getrennten, eigenen Quelle. Wir könnten zum Beispiel denken, dass jemand ein schrecklicher Mensch ist, der von irgendwo dort draußen kommt, und dann sehen wir ihn so, als hätte er tatsächlich das innewohnende Merkmal, die schreckliche Person zu sein, die er zu sein scheint, und meinen, dass sie jedem auf diese Weise erscheint, nicht nur unserer eigenen Wahrnehmung. Der Text rät, dem keine Aufmerksamkeit zu schenken – es nicht zu beachten, sondern in dem Wissen, wie die Dinge wirklich existieren, ihre tatsächliche Seinsweise zu erkennen. Mit anderen Worten, zu erkennen: Ganz gleich, wie sie in solcher dualistischen Weise erscheinen – diese Erscheinung entstammt unserem eigenen Geist. Die Erscheinung dieser Person als schrecklicher Mensch und der Geist, der sie als schrecklichen Menschen sieht, stammen beide aus demselben karmischen Samen in unserem Geist und nicht auf dualistische Weise aus zwei verschiedenen Quellen.

Aber – und das ist ganz wichtig – es ist nicht so, dass der Geist ein wahrhaft existenter Projektor dieser Erscheinungen ist. Der Geist selbst ist ebenfalls leer davon, als wahrhaft auffindbare Entität zu existieren. Die reine Natur des Geistes ist so zu verstehen, dass er nicht von Natur aus solche geistigen Fabrikationen, solche lächerlichen Erscheinungen dualistischer Existenz projiziert. - Das wäre die Erklärung dieser Zeile gemäß dem Verständnis der Sakya-Tradition, und zweifellos entspricht das dem, was Togme-Sangpo meinte, als er dies schrieb, denn er war ein Anhänger der philosophischen Schule der Sakya-Tradition des tibetischen Buddhismus. Eine ähnliche Art der Erklärung von Leerheit finden wir in der „Schulung der Geisteshaltung in sieben Punkten“, zu der Togme-Sangpo ebenfalls einen Kommentar geschrieben hat. Auch jener Text erklärt die Leerheit vom Gesichtspunkt der Sakya-Tradition.

Wenn wir den Vers mithilfe der späteren Interpretation durch die Gelug-Tradition betrachten, können wir noch eine andere Ebene des Verständnisses hinzufügen. Um das obige Beispiel zu benutzen: Es scheint, als gäbe es ein innewohnendes Merkmal, das in der Person zu finden ist und das ganz von sich aus die Tatsache begründet, dass sie mir als ein schrecklicher Mensch erscheint. Doch das sollten wir nicht weiter beachten, da es nicht dem entspricht, wie die Dinge wirklich sind. Die täuschende Erscheinung entstammt unserem eigenen Geist - entweder karmischen Potenzialen, die wir dafür aufgebaut haben, oder der ständigen Gewohnheit, etwas so zu erfassen und danach zu greifen, als würde es auf eine Art und Weise existieren, die es in Wirklichkeit unmöglich geben kann. Wie die Dinge wirklich existieren, ist folgendermaßen: Diese Person scheint ein schrecklicher Mensch zu sein - entweder aufgrund eines ihr eigenen Merkmals – schrecklich zu sein – in Verbindung mit der geistigen Etikettierung, die wir selbst vornehmen, nämlich indem wir sie mittels unserer begrifflichen Vorstellung von „schrecklich“ so benennen. Oder, auf noch tiefgründigerer Ebene: Sie scheint so zu sein einfach nur aufgrund der geistigen Benennung mittels unserer begrifflichen Vorstellung.

Und dazu kommt, dass der Geist selbst von Anbeginn an ohne die extremen Vorstellungen ist, die er fabriziert; das bedeutet, dass der Geist selbst leer von jeglicher unmöglichen Art zu existieren ist, die bloß geistig fabriziert ist. Das kann sich sowohl auf die konventionelle Natur des Geistes (nämlich die geistige Aktivität, die Erscheinungen hervorbringt und sie erkennt) als auch auf die tiefste Natur des Geistes (seine Leerheit) beziehen.

Man muss diesen Vers eingehend studieren; seine Bedeutung ist sehr tiefgründig. Auch wenn wir nicht viel von dieser Erklärung verstehen, können wir dennoch eine Wertschätzung dafür entwickeln, dass die Lehren über die Leerheit sehr tiefsinnig sind und dass es viele Ebenen gibt, auf denen man sie verstehen kann. So entwickeln wir Respekt dafür und Interesse daran, uns gründlicher damit zu befassen und zu versuchen, sie auf immer tiefer greifende Weise zu verstehen.

All das ist sehr wichtig im Hinblick darauf, dass wir versuchen, anderen zu helfen. Wenn wir denken, es gäbe dort draußen ein armes, leidendes Wesen – das so existiert, dass von seiner Seite aus etwas Auffindbares in ihm vorhanden ist, das es zu einem armen leidenden Wesen macht -, dann würde sich das nicht ändern, ganz gleich, was wir tun, um ihm zu helfen. Diese Punkte sind also wirklich von Bedeutung, nicht wahr?

Wenn wir uns mit Leerheit beschäftigen und versuchen, sie zu verstehen, gibt es zwei Phasen in diesem Verständnisprozess. In der ersten Phase ist unsere Konzentration vollkommen vertieft in das Verständnis: „So etwas – nämlich diese unmögliche Art zu existieren - gibt es nicht.“ Damit wir uns völlig vertieft auf die Erkenntnis „So etwas gibt es nicht“ konzentrieren können, muss unser Verständnis auf einer festen Überzeugung beruhen, die durch die Untersuchung und die logische Begründung zustande kommt, dass es diese Art von Existenz wirklich unmöglich geben kann.

Wenn wir z.B. einfach behaupten: „Es gibt keine Schokolade in meiner Wohnung“, kann es sein, dass wir nicht ganz überzeugt davon sind. Aber wenn wir überall in der Wohnung danach gesucht haben und keine Schokolade finden konnten, ist unsere Überzeugung, dass keine Schokolade da ist, sehr viel gefestigter. Oder wir können z.B. denken: „Es gibt nichts Interessantes im Fernsehen.“ Wir können zu diesem Schluss kommen, ohne überhaupt genauer hinzusehen, oder wir können alle Kanäle durchsuchen. Wenn wir alle Kanäle durchsuchen und nichts Interessantes finden, ist unsere Überzeugung, dass es wirklich nichts Interessantes im Fernsehen gibt, wesentlich stärker.

Das ist die erste Phase, die völlige Vertiefung in „so etwas gibt es nicht“ bzw. die Leerheit. Wenn wir uns darauf konzentrieren, ist das, was in unserem Geist erscheint, so ähnlich, wie das, was erscheint wenn wir uns darauf konzentrieren, dass „keine Schokolade im Haus“ ist. Was erscheint? Nichts erscheint, und wir verstehen, dass keine Schokolade da ist. In der Phase der völligen Vertiefung in die Leerheit erscheint also nichts.

Dann folgt die Phase, die im Anschluss daran erreicht wird. Sie wird manchmal „Nachmeditation“ genannt, aber das ist keine akkurate Übersetzung, denn eigentlich meditiert man noch. Im Anschluss an die vorherige völlige Versenkung sehen wir, dass alles wie eine Illusion ist. Obwohl es so scheint, als müsse es etwas Interessantes im Fernsehen geben, und obwohl man vielleicht immer noch das Gefühl hat, es wäre so, ist deutlich erkennbar, dass das nicht der Fall ist, und dass es dennoch so scheint, ist wie eine Illusion. Wenn wir das auf die Existenzweise der Dinge übertragen, heißt das: Obwohl etwas massiv von seiner eigenen Seite aus zu existieren scheint und auch so aussieht, ist das bloß wie eine Illusion. Eine Illusion erscheint, aber sie existiert nicht so, wie sie erscheint. Sie scheint etwas Festes zu sein, aber das ist sie nicht.

Dann fügt Togme-Sangpo noch zwei Verse an, in denen es darum geht, alles wie eine Illusion zu betrachten – zuerst im Hinblick auf Objekte, die uns gefallen, und dann im Hinblick auf Objekte, die ganz und gar nicht schön sind. Beide sind wie eine Illusion.

(23) Die Übung der Bodhisattvas ist, davon abzulassen, an gefälligen Objekten, auf die wir treffen, zu hängen und daran festzuhalten - sie vielmehr zu betrachten wie einen Regenbogen im Sommer: Er erscheint wunderschön, doch ist er nicht wahrhaft existent.

Wenn wir auf schöne Objekte treffen, seien es schöne Menschen oder schöne Dinge, die uns gefallen, so lautet der Ratschlag, zu erkennen, dass sie nicht mit innewohnenden, auf ihrer Seite auffindbaren Merkmalen existieren, die sie zu etwas Schönem machen. Diese Dinge sind nicht von sich aus wundervoll, sodass sie uns veranlassen, sie haben zu wollen. Es gibt nichts, das sie aus eigener Kraft zu etwas Schönem und dermaßen attraktiv macht, und das unabhängig von allem anderen wäre. Obwohl die Objekte so erscheinen mögen, als seien sie von sich aus schön, attraktiv und wundervoll, gilt es zu erkennen, dass sie nicht wahrhaft so existieren. Das ist unmöglich; sie erscheinen nur so, ähnlich wie eine Illusion. Die Analogie, die hier genannt wird, ist ein Regenbogen. Ein Regenbogen ist schön und scheint von sich aus gegenständlich und schön zu sein, aber es gibt nichts Festes daran. Je näher wir ihn untersuchen, umso deutlicher wird: Wir finden dort nichts auf seiner Seite.

Das Wort, das in diesem Zusammenhang eine wichtige Bedeutung hat, ist „wie“. Die Dinge sind wie eine Illusion. Es wird nicht behauptet, dass alles Illusion sei. Das ist ein großer Unterschied. Es gibt einen großen Unterschied zwischen einer Illusion und etwas, das wie eine Illusion ist. Shantideva verwendet das Beispiel eines Magiers, der die Illusion eines Pferdes heraufbeschwört. Die Illusion eines Pferdes zu töten oder ein wirkliches Pferd zu töten wirkt sich ziemlich unterschiedlich aus hinsichtlich der karmischen Folgen. Die Folgen unterscheiden sich beruhend darauf, ob die Handlung des Tötens jemandem schadet, z.B. einem wirklichen Pferd. Wichtig ist also, zu verstehen, das alles wie eine Illusion ist, so wie ein Regenbogen im Sommer.

Auf diese Weise versuchen wir, uns von Anhaftung und dem Greifen nach etwas zu befreien. Damit ist hier das automatisch auftretende Greifen und Anhaften gemeint, das wir ganz automatisch empfinden, selbst wenn wir schon eine anfängliche Erfahrung von unbegrifflicher Erkenntnis der Leerheit gemacht haben. Eine solche Erfahrung befreit uns von einer Anhaftung, die möglicherweise darauf beruht, dass wir Lehrinhalte nicht-buddhistischer Philosophien gelernt haben, aber jene automatisch auftretende Anhaftung haben wir dann immer noch. Wir müssen uns also noch weiter mit der Leerheit beschäftigen.

Wir verstehen also allmählich, dass die Methode, die Togme-Sangpo zwei Verse zuvor erwähnt hat – nämlich, sich von Objekten zu trennen, die unser Hängen an etwas und unsere Anhaftung anwachsen lassen – nur eine vorläufige Lösung ist. Die am tiefsten greifende Lösung besteht darin, tatsächlich die Leerheit dieser schön erscheinenden Objekte zu verstehen und zu erkennen, dass sie nicht auf die unmögliche Art existieren, dass sie von sich aus inhärent schön und attraktiv sind.

(24) Die Übung der Bodhisattvas ist, widrige Umstände, auf die wir treffen, als Trugbilder anzusehen, denn vielerlei Leiden sind wie der Tod unseres Kindes im Traum – wie aufreibend, derlei trügerische Erscheinungen für wahr zu halten!

Dieser Vers nimmt Bezug auf die gegenteilige Situation, in der wir auf etwas treffen, das wir unangenehm finden, bzw. auf widrige Umstände. Auch diese gilt es wie Illusionen anzusehen. Die Erscheinung, dass diese unangenehmen Dinge und widrigen Umstände von sich aus wahrhaft als widrig und schrecklich erwiesen wären, ist trügerisch. Trügerisch bedeutet, dass die Art und Weise, wie sie erscheinen, nicht der Art und Weise entspricht, wie sie eigentlich existieren. Die Erscheinung trügt uns, weil wir denken, dass die Dinge so existieren, wie sie erscheinen.

Die Leiden, die wir erfahren, als von sich aus inhärent entsetzlich und schrecklich anzusehen und dann das Gefühl zu haben, dass wir so etwas nicht verkraften können, ist vergleichbar mit einer Erscheinung vom Tod unseres Kindes im Traum. Wenn wir im Traum erleben, dass unser Kind stirbt, so scheint das natürlich real und entsetzlich zu sein, aber dann wachen wir auf und merken, dass es nur ein Traum war. Die Erscheinung im Traum ist trügerisch, denn sie scheint real zu sein und wir glauben das, obwohl es nicht der Fall ist. Ähnlich erscheinen uns sogar dann, wenn wir wach sind, die Dinge auf trügerische Weise – obwohl das nicht dasselbe ist wie im Traum. Dieser Vers bezieht sich speziell auf widrige Umstände und darauf, dass die schwierigen Dinge, die uns widerfahren, als wahrhaft existent usw. erscheinen, obwohl sie es nicht sind. Eine solche Art zu existieren ist unmöglich.

Die widrigen Umstände, die wir erleben, scheinen so entsetzlich und schrecklich vor allem durch die Kraft der geistigen Benennung als „entsetzlich“ und „schrecklich“. Was ist eine schreckliche Situation eigentlich? Sie ist etwas, auf das wir mit der Benennung „schrecklich“ Bezug nehmen. Aber auf ihrer eigenen Seite ist nichts vorhanden, das sie „schrecklich“ macht. Schließlich haben wir und die Menschen in unserer Gesellschaft ja die begriffliche Vorstellung von „schrecklich“ aufgebracht. Wir haben sie definiert und können sie im Wörterbuch nachschlagen, und so verwenden wir sie, um bestimmte Dinge zu bezeichnen. Aber die ganze Begriffsvorstellung von „schrecklich“ ist - wie zwei Verse zuvor erklärt wurde - etwas, das vom Geist hervorgebracht ist. Es kann durchaus gültig sein, eine bestimmte Situation als eine schwierige Situation, sogar als eine schreckliche Situation zu bezeichnen – insofern gültig, als jeder in unserem Umfeld dem zustimmen würde -, und wir alle verwenden diese Terminologie. Konventionell kann sie durchaus gültig sein. Aber es scheint nur so, als wäre auf Seiten der Situation etwas vorhanden, das sie „schrecklich“ macht. Das ist trügerisch, denn das ist nur eine Erscheinung, die wie eine Illusion ist. Wenn wir also diese betrügerischen Erscheinungentrügerischen Erscheinungen für wahr halten, dann reiben wir uns nur unnütz auf, wie Togme-Sangpo sagt.

Wenn wir uns z.B. im Dunkeln den Fuß an einem Möbelstück stoßen, tut das weh. Klar, es tut weh, aber es ist unnütze Energieverschwendung, wenn wir das ins Extrem treiben - „Oh weh, oh weh, da ist mir etwas ganz Fürchterliches passiert!“ -, auf und ab hüpfen und ein Riesentheater machen. Dadurch fühlen wir uns bestimmt nicht besser und es ist zu nichts nütze. Es verlängert nur unser Leiden. Ich stoße mir den Fuß, Ursache und Wirkung, und es tut weh. Na und? Sonst noch etwas? Was erwarten wir denn von Samsara?

Fragen

In Vers 21 ist von Objekten die Rede, die unser Hängen an etwas und unsere Anhaftung anwachsen lassen. Was ist der Unterschied zwischen diesen beiden Ausdrücken und Verlangen und Begierde?

Im Buddhismus gibt es viele Fachbegriffe, die ähnlich scheinen, aber sie haben jeweils spezielle Definitionen und Verwendungsweisen. An etwas zu hängen bedeutet, an etwas festzuhalten, das wir mögen. In der Sakya-Tradition werden vier wesentliche Dinge genannt, an denen man nicht hängen soll: die Dinge dieses Lebens, die Dinge zukünftiger Leben, unsere selbstsüchtigen Ziele und unmögliche Arten zu existieren. Der Begriff „an etwas hängen“ wird auch im Zusammenhang mit begrifflicher Wahrnehmung benutzt. Wenn wir an etwas denken, indem wir es als Bestandteil einer begrifflichen Kategorie erfassen, z.B. wenn wir an unser Haustier als „Hund“ denken, so heißt es, dass das Objekt, an dem diese begriffliche Wahrnehmung hängt bzw. sich in diesem Fall festmacht, unser Haustier ist.

Anhaftung besteht dann, wenn wir etwas, das wir für wünschenswert halten, bereits haben, dessen gute Qualitäten übertreiben und es nicht mehr hergeben wollen. Verlangen tritt auf, wenn wir etwas, das wir wollen, nicht haben, auch wieder dessen gute Qualitäten übertreiben und danach verlangen, es zu bekommen. Begierde ist der Ausdruck, der [im Sanskrit] wörtlich „Durst“ bedeutet und speziell in Bezug auf Gefühle von Glück oder Unglücklichsein verwendet wird. Wenn wir einen kleinen Schluck Glück erleben, sind wir so durstig, dass wir überhaupt nicht mehr davon lassen wollen. Und wenn wir uns unglücklich fühlen, dürsten wir danach, dass es aufhört.

Die buddhistische Psychologie beinhaltet eine sehr ausgefeilte Analyse der verschiedenen Geisteszustände. Es gibt darin eine große Menge feiner Unterscheidungen, und unglücklicherweise haben wir in unseren Sprachen nicht immer spezielle Begriffe dafür. Wenn wir die ursprünglichen Begriffe und ihre Definitionen kennen, können wir genau verstehen, wovon im Text die Rede ist.

Ich finde es wirklich schwierig, die Lehre von der Leerheit zu verstehen, aber als ich die klaren Beispiele hörte, die Sie gaben, war mir das völlig einleuchtend: „Ja, alles ist wie ein Traum.“ Doch wenn ich dann tatsächlich den Situationen im Alltag gegenüberstehe, ist es sehr schwierig, dieses Verständnis zu integrieren. Wie können wir das bewerkstelligen?

Die einzige Art, das zu integrieren, ist, darüber zu meditieren, das heißt, sich immer wieder damit vertraut zu machen, es zu üben und so viel wie möglich daran zu denken. Sobald wir etwas mithilfe von Meditation verstanden haben, können wir unterscheidend feststellen, dass die Situationen, denen wir gegenüberstehen, wie Illusionen sind. Je mehr wir dieses Verständnis anwenden, umso natürlicher wird es für uns werden und umso weniger werden wir uns durch das Auf und Ab von Samsara aus der Fassung bringen lassen.

Ein Beispiel, das mir kürzlich passiert ist: Vor einer Weile wurde ich nach Bogota, Kolumbien, eingeladen, um vor der Reise nach Mexiko dort einen Kurs zu geben. Seine Heiligkeit der Dalai Lama würde ein paar Wochen später dorthin kommen, und die Mitglieder der dortigen Dharma-Gruppe sagten, es würde ihnen helfen, sich darauf einzustimmen und vorzubereiten. Das vorgeschlagene Datum fiel auf Ostern, und ich fragte, ob sie denn genügend Zeit haben würden, solch einen Kurs zu organisieren und tatsächlich daran teilzunehmen, und man versicherte mir, dass das kein Problem sei. Ich betrachtete das Ganze ein bisschen wie einen Traum und maß ihm keinen übermäßigen Realitätsgehalt bei. Ich kaufte ein Flugticket, traf ein paar Vorbereitungen und das war‘s.

Ein paar Wochen vor der Abreise erhielt ich eine E-Mail mit dem Inhalt, dass es zu schwierig war, zwei Vortragsreisen - eine für Seine Heiligkeit und eine für mich – zu organisieren. Sie würden also wohl absagen müssen, aber ich machte ihnen keine Vorwürfe und schrieb nur zurück: „Das hab ich ja gleich gesagt, dass das wohl zuviel würde.“ Ich erkundigte mich, was die Stornierung des Flugtickets kosten würde und erwägte die Unannehmlichkeiten, die für die Teilnehmer hier in Mexiko entstehen würden. Auch das war keine große Sache. Ich war nicht glücklich oder unglücklich darüber.

Als ich den Schülern in Mexiko von den Stornogebühren für den Flug und den erhöhten Kosten erzählte, antworteten sie, dass ich dennoch kommen solle. Auch darüber war ich weder besonders glücklich noch unglücklich. Gut, ich würde also fahren, und nicht weiter viel darüber nachdenken.

Zwölf Tage vor der Abreise erhielt ich dann eine E-Mail aus Kolumbien, in der mitgeteilt wurde, dass man inzwischen nachgefragt hatte, wer denn überhaupt kommen könnte, und dass niemand, nicht einmal der Übersetzer, Zeit hatte. Sie hatten festgestellt, dass sie wirklich absagen mussten. Es war wie eine Illusion, und daher war ich weder glücklich noch traurig. Ich stornierte das Flugticket und kaufte ein anderes nach Mexiko. Ich litt nicht darunter und ich war auch nicht überschwänglich. Keine große Sache, bloß wie ein Traum, ohne dass man weiter darüber nachdenken musste. Wenn wir die Lehren über die Leerheit und darüber, dass alles wie eine Illusion ist, auf diese Weise anwenden können, ist das unglaublich wirksam, aber natürlich erfordert das eine gewisse Vertrautheit mit diesem Thema.





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