Kurzer Rückblick auf die anfängliche Ebene
Wir haben über einen Menschen der anfänglichen Ebene der Motivation gesprochen. Der Vers dazu im Text ist folgender:
(3) Jeder, der großes Interesse daran hat, mithilfe von diversen Methoden lediglich das Glück des unkontrollierbar sich wiederholenden Samsara (zu erlangen), wird als Person der minimalen spirituellen Ebene bezeichnet.
Die Themen des korrekten Vertrauens in einen spirituellen Lehrer und der kostbaren menschlichen Wiedergeburt gelten für die Schulung aller drei Arten von Menschen: jene der anfänglichen, mittleren und fortgeschritten Ebene. Dabei geht es für jemanden auf der anfänglichen Ebene um Tod und Unbeständigkeit, das Leiden der drei niedere Daseinsbereiche, die Zufluchtnahme und die Übungen der karmischen Ursache und Wirkung, insbesondere das Einhalten ethischer Selbstdisziplin in Bezug auf das Begehen der zehn destruktiven Handlungen.
Halten wir uns auf dieser Basis zurück, die zehn schädlichen Handlungen zu begehen, können wir verhindern, in einen der drei niederen Bereiche zu fallen und dort wiedergeboren zu werden. Außerdem können wir sichergehen, entweder als menschliches Wesen oder als ein Gott wiedergeboren zu werden. Mit einer kostbaren menschlichen Wiedergeburt, wie wir sie bereits erzeugt haben, können wir diese Art von Ziel erreichen. Aber sogar wenn wir es erreichen, ist es nicht genug, auch wenn es sehr gut ist.
Fortschritt zur mittleren Ebene
Wo immer wir in der unkontrollierbar sich wiederholenden samsarischen Existenz wiedergeboren werden, welchen Reichtum oder welche hohe Position wir auch haben mögen, werden wir sogar als ein Weltenherrscher oder Gott mit diesem Reichtum und der Position nichts als Probleme und Leiden haben. Egal wo diese Geburt stattfinden mag, sie wird voller Probleme und Leiden sein. Wir müssen erkennen, dass alle Arten des weltlichen Glücks problematisch und von Natur aus leidvoll sind, und es ist notwendig, dem Trachten nach diesen Dingen den Rücken zuzukehren. Stattdessen sollten wir nach Befreiung von jeglicher Art der samsarischen Existenz streben.
Diese fortgeschrittenere Ebene der Motivation ist bekannt als die mittlere Ebene. Auf der anfänglichen Ebene haben wir bislang daran gearbeitet, in zukünftigen Leben weltliches Glück zu erlangen und nun, auf der mittleren Ebene, wenden wir uns auch davon ab und wünschen uns, von jeglichen Leiden aller Ebenen der unkontrollierbar sich wiederholenden samsarischen Existenz frei zu werden. Wir sehen, dass sie nichts als Leiden sind.
Das Leid des Leidens
Keine Gewissheit
Der erste Punkt in Bezug auf das Leiden ist, dass es keine Gewissheit in der unkontrollierbar sich wiederholenden samsarischen Existenz gibt. Egal wie reich wir sind, wie viel Besitztümer oder welche hohen Positionen wir auch haben, es sind alles Dinge, die nicht andauern. Es gibt keine Gewissheit, sie zu haben oder zu behalten, und so können wir sie jeden Moment verlieren und auf eine Stufe der großen Armut oder auf eine niedrige Position herabfallen.
Das ist etwas, das wir alle selbst erkennen können. Wir haben gesehen, dass es keine Gewissheit in diesem Leben gibt. Wir können es in diesem einen Leben beobachten: Jemand, der beispielsweise eine hohe Position in der Regierung hatte, fällt in Ungnade und landet vielleicht sogar im Gefängnis, aber dann später kommt er trotz allem wieder zurück und bekommt erneut eine hohe Position in der Regierung.
Außerdem können wir sehen, wie jemand, der früher unser enger Freund war, nach einem harten Schlagabtausch unser Feind geworden ist, den wir nicht mehr leiden können. Genauso kann es auch sein, dass wir zu Beginn unseres Lebens einen Feind hatten, den wir nicht mochten und der dann später unser enger Freund geworden ist. Diese Art der Ungewissheit in Bezug auf den Status ist etwas, das wir alle schon beobachtet haben.
Keine Zufriedenheit in Samsara
Der nächste Punkt über das Leid des Leidens ist, dass es in der samsarischen Existenz keine Zufriedenheit gibt. Egal wie viel Geld wir haben und auch wenn wir über das Vermögen eines gesamten Landes verfügen würden, hätten wir das Gefühl, dass es nicht genug wäre. Wir wären nicht zufrieden und würden uns nur wünschen, wir hätten mehr. In der samsarischen Existenz gibt es keine Zufriedenheit.
Ständiges Aufgeben unserer Körper
Ein anderer Punkt ist, dass wir immer wieder unsere Körper wechseln müssen. Seit anfangsloser Zeit wurden wir geboren und mussten dann sterben, unsere Körper aufgeben und erneut Geburt nehmen. Immer wieder kehren wir uns von unserem Körper ab und immer wieder werden wir wiedergeboren; das geht einfach endlos so weiter. Setzen wir unserer unkontrollierbar sich wiederholenden samsarischen Existenz kein Ende, wird sie sich in der Zukunft immer weiter so fortsetzen.
Das Leid des Leidens der Götter
Das trifft auch zu, wenn wir als ein Gott in einem der Götterbereiche wiedergeboren werden, in denen alles so schön und angenehm ist und wo der Boden zum Beispiel aus Edelsteinen besteht. Die Götter dort müssen keine grobe Nahrung zu sich nehmen, sondern können sich von vertiefter Konzentration ernähren, und sie müssen sich auch nicht dafür bemühen oder dafür arbeiten.
Je weiter man in die höheren Götterbereiche aufsteigt, desto größer wird das Glück; aber sogar diese Götter müssen immenses Leid durchgehen, wenn für sie der Zeitpunkt des Todes gekommen ist. Obwohl sie ihr Leben in großem weltlichen Glück verbringen, geschehen im Moment ihres Todes Dinge, die es niemals vorher gab. Sie beginnen schlecht zu riechen, ihre Blumengirlanden fangen an zu verwelken und die Schmuckstücke verblassen. Wenn all diese Zeichen auftauchen, deutet dies darauf hin, dass sie sterben werden und dann bedeutet das für sie ein hohes Maß an mentalem Leid. Die Wesen, die in den niederen Bereichen, wie den Höllen, wiedergeboren werden, müssen das höchste Maß an körperlichen Leiden durchgehen; was jedoch die Götter betrifft, so haben sie, wenn sie die Zeichen ihres nahenden Todes bekommen, das größte mentale Leid.
Vergleichen wir das mentale Leid einer Person aus einem armen Land zum Zeitpunkt des Todes mit dem einer sehr wohlhabenden Person aus einem reichen Land, so ist das mentale Leid der wohlhabenden Person viel größer. Das Maß an mentalem Leid für einen Bettler im Moment des Todes, der keinen Besitz hat und vollkommen arm und mittellos ist, ist viel geringer als für jemanden, der vermögend ist und viele Besitztümer hat. Daher steht das Maß an mentalem Leid, das wir in einer unkontrollierbar sich wiederholenden samsarischen Existenz haben, in unmittelbarem Vergleich dazu, wie viel materiellen Reichtum und Wohlstand wir haben.
Das Leid des Leidens der Menschen
Sehen wir uns als nächstes das Leiden der Menschen an. Zunächst gibt es da das unglaubliche Leiden beim Zeitpunkt der Geburt. Obwohl wir uns nicht daran erinnern, weil es geschehen ist, als wir noch ganz jung waren, ist der Zeitpunkt der Geburt dennoch mit den größten Leiden verbunden, die wir erfahren.
Wir sollten beispielsweise auch an die Leiden denken, die wir haben, während wir für neun Monate und zehn Tage im Mutterleib eingeschlossen sind. Wir können es nachvollziehen, wenn wir uns vorstellen, dass wir es kaum aushalten würden, wenn man uns nur für ein paar Tage in ein winziges Zimmer ohne Fenster und Türen einsperren würde. Wir würden es unerträglich finden. Stellt euch nur das Leiden vor, für neun Monate und zehn Tage so eingesperrt zu sein!
In gleicher Weise sollten wir das Leiden der Krankheit in Betracht ziehen. Dies ist etwas, das wir alle verstehen können und was wir nicht nur bei uns selbst beobachtet haben. Wir können auch viele andere Menschen in den verschiedenen Krankenhäusern sehen, die an schrecklichen Krankheiten leiden und furchtbare Unfälle hatten. Außerdem gibt es auch Menschen in Nervenheilanstalten, die große psychische Probleme und Störungen haben. Es gibt so viele Leiden, die damit verbunden sind, krank zu sein. Wir leiden nicht nur wegen einer Krankheit, wenn wir sie haben, sondern auch, weil wir uns Sorgen machen, eine Krankheit zu bekommen, die wir noch nicht haben.
Das nächste Leiden für uns Menschen ist das Leiden des Altwerdens. Das Altern ist eine Sache, die ganz langsam auf uns zukommt und die wir gar nicht gleich erkennen. Das Leiden des Alterns ist jedoch sehr groß und dauert eine lange Zeit an. Stellt euch vor, ihr wärt sechzehn oder siebzehn Jahre alt, würdet schlafen gehen und beim Aufwachen am nächsten Morgen auf einmal ganz alt sein. Das Leid, sich selbst so unmittelbar als einen alten Menschen zu sehen, wäre unvorstellbar. Es wäre so, als würden wir uns eine Maske aufsetzen.
Sind wir krank oder alt, können wir bestimmte Dinge nicht mehr essen, obwohl wir sie sehr mögen. Wir müssen Medikamente oder Dinge zu uns nehmen, die furchtbar schmecken, und in beiden Fällen ist dies mit großen Leiden verbunden.
Das Leiden der Geburt, des Alterns, der Krankheit und der Wiedergeburt in irgendeinem der niederen Bereiche sind alles Beispiele, die als Leid des Leidens, Leid des Elends, bekannt sind. Hierbei handelt es sich um grobe und offensichtliche Leiden.
Das Leiden der Veränderung
Es gibt auch eine subtilere Art des Leidens: das Leiden der Veränderung. Alle Arten von angenehmen materiellen Objekten, die wir haben mögen und von denen wir meinen, sie könnten uns glücklich machen, bringen uns im Grunde ein Glück, welches von Natur aus voller Leid ist. Gehen wir beispielsweise spazieren, wird dieser Spaziergang nach einer Weile zu Leid und wir wollen stehenbleiben und uns hinsetzen. Wir setzen uns also hin und ruhen uns aus, was uns anfangs ein Glücksgefühl gibt; dieses Glück hält jedoch nicht an. Es ist selbst auch problematisch und von Natur aus voller Leid.
Sich hinzusetzen ist nicht von Natur aus Glück. Das scheinbare Glücksgefühl, welches wir durch das Sitzen bekommen, ist ein Beispiel des Leidens der Veränderung. Wir sind spazieren gegangen und haben das Leid von zu langem Laufen erfahren, worauf wir uns hingesetzt haben, und obwohl uns das Hinsetzen wie eine Quelle des Glücks erscheint, verringert es lediglich das Leid des Laufens. Das Glück des Hinsetzens wiegt anfangs das grobe Leid des Laufens auf, aber dies tut es nur für eine kurze Weile.
Was wir empfinden, ist nicht die Natur des Glücklichseins, denn wenn es so wäre, würde es für immer bei diesem Glücklichsein bleiben. Das tut es jedoch nicht, denn nachdem wir etwas länger gesessen haben, beginnt unser Rücken wehzutun und wir fühlen uns nicht wohl. Dann haben wir das Gefühl, wieder aufstehen zu wollen. Dies zeigt ganz klar, dass unser Hinsetzen von Natur aus leidvoll ist. Es hat nichts mit Glücklichsein zu tun, nur weil es das Leid des Laufens leicht übertönt. An sich ist es also kein Glück sondern nur eine andere Art des Leidens.
Ein anderes Beispiel ist das Essen, wenn wir großen Hunger haben. Wir essen und dadurch wird das Leiden des Hungers beseitigt; es ist allerdings nichts, was andauert. Das Einzige, was geschieht, ist, dass das offensichtliche manifestierte Leid des Hungers übertönt oder aufgewogen wird. Es hält nicht an, denn nach einer Weile werden wir wieder hungrig sein.
Genauso verhält es sich, wenn uns kalt ist, und wir in die Sonne gehen wollen. Wir stellen uns in die Sonne und dies übertönt das manifestierte Leiden der Kälte. Das Glücksgefühl, das wir bekommen, ist jedoch nichts Dauerhaftes und nachdem wir eine Weile in der Sonne gestanden haben, ist uns zu heiß und wir beginnen uns zu sorgen, eventuell einen Sonnenbrand zu bekommen. Wir gehen also wieder zurück in den Schatten, wo es kühler ist.
All dies sind Beispiele des Leidens der Veränderung. Was wir erleben, scheint Glück zu sein, aber tatsächlich ändert es sich und wird zu Leid. Daher handelt es sich dabei keineswegs um Glück, sondern nur um eine andere Form des Leidens. Das ist das so genannte „Leiden der Veränderung“.
Das alles umfassende Leiden
Die nächste Art des Leidens kennt man als das „alles umfassende Leiden“. Ein Beispiel wären unsere befleckten Aggregate. Unsere gewöhnlichen Körper sind zum Beispiel von Natur aus ganz automatisch eine Ursache des Leidens. Wir haben einen befleckten Körper, einen Körper, der krank wird und verschiedene Arten des Schmerzes und Leides erfährt, bloß weil er existiert. Das ist bekannt als das „alles umfassende Leiden“.
Für Arya-Wesen, die Edlen, erscheint das alles umfassende Leiden eines befleckten Körpers so schmerzhaft, wie ein Haar im Auge; und weil es so schmerzhaft ist, wollen sie es umgehend loswerden und beseitigen. Wir gewöhnlichen Wesen sind uns jedoch lediglich über das grobe Leid des Leidens gewahr. Wir sind uns nicht einmal über dieses alles umfassende Leiden bewusst und es erscheint uns so harmlos wie ein Haar auf unserer Handfläche.
Wir können Samsara, oder unkontrollierbar sich wiederholende samsarische Existenz, als ein Beispiel für alles umfassende Leiden betrachten. In samsarischer Existenz befindet sich unser Bewusstsein unter der Macht störender Emotionen und zwingender karmischer Impulse. Somit befindet es sich nicht unter eigener Macht und hat keine Kontrolle über sich selbst. Das ist ebenfalls ein Beispiel für alles umfassende Leiden.
Wie man sich von Leiden befreit
Wozu führt das Nachdenken über all diese Leiden? Es führt dazu, nach einer Methode zu suchen, sich selbst davon zu befreien. Dieses Leiden ist nichts Beständiges oder Statisches, sondern etwas, das sich ändert und unbeständig ist. Weil Leid unbeständig ist, handelt es sich dabei um ein so genanntes „beeinflusstes Phänomen“ (tib. ‘dus-byas-kyi chos, bedingtes Phänomen).
Dieser Begriff „beeinflusstes Phänomen“ bedeutet, dass es aus Ursachen entsteht. Fragen wir, welche Ursachen das sind, die zu Leiden führen, können wir sagen, dass es die zwanghaften karmischen Impulse sind, also Karma, die uns antreiben, zwingende destruktive Handlungen auszuführen. Was bewirkt, dass diese zwingenden karmischen Impulse entstehen? Sie entstehen durch die verschiedenen störenden Emotionen. Fragen wir uns, woher diese verschiedenen störenden Emotionen kommen, so kann man sagen, dass sie auf die drei grundlegenden störenden Emotionen zurückzuführen sind: sehnsüchtiges Verlangen, Feindseligkeit und naive Unwissenheit. Die Wurzel oder wesentliche Ursache ist die dritte, die naive Unwissenheit. Zwingende karmische Impulse und diese störenden Emotionen sind das, was man als die „zweite edle Wahrheit“, die wahren Ursachen des Leidens, kennt.
Nehmen wir die zwei Silben dieses tibetischen Wortes für die zweite edle Wahrheit – kun-‘byung – auseinander, welches ich mit wahre Ursachen des Leidens übersetze, so bedeutet es wörtlich „Erzeuger von allem“. „Alles“ bezieht sich hier auf alle Leiden. Die Betonung liegt darauf, dass zwingende karmische Impulse und störende Emotionen das sind, woraus alle Leiden hervorgehen. Daher kennt man sie als die wahren Ursachen des Leidens oder die edle Wahrheit der Ursachen des Leidens.
Warum nimmt man die naive Unwissenheit als Wurzel dieser störenden Emotionen und Leiden? Lasst uns das einmal untersuchen. Zunächst haben wir alle diesen Geisteszustand, mit dem wir uns auf das „Ich“ beziehen. Im Grunde gibt es zwei Arten des „Ichs“, die erscheinen. Da gibt es ein „Ich“, das tatsächlich existiert und ein „Ich“, das es nicht gibt. Genauer gesagt gibt es da das konventionell existierende „Ich“ und das „Ich“, welches widerlegt wird und das es nicht gibt. Es existiert in dem Sinne nicht, dass es nicht dem entspricht, was tatsächlich existiert, aber ungeachtet dessen erscheint es, als würde es existieren und dem entsprechen. Dieses falsche „Ich“, ein selbst-begründetes oder inhärent existierendes „Ich“, gibt es jedoch keineswegs. Doch unser Geist lasst ein „Ich“ erscheinen, welches selbst-begründet zu sein scheint und wir meinen, es müsse auf diese unmögliche Weise existieren, auf die es erscheint. Naive Unwissenheit ist die störende Emotion, mit der wir uns nicht bewusst darüber sind, dass diese Erscheinung nicht der Realität entspricht; wir glauben genau das Gegenteil, nämlich dass sie der Realität entspricht.
Einfach gesagt beziehen wir uns gedanklich auf ein selbst-begründetes „Ich“, was es eigentlich gar nicht gibt. Weil wir uns gedanklich auf so ein „Ich“ beziehen, denken wir dann „mein Freund“, was dazu führt, gegenüber der Person sehnsüchtiges Verlangen oder Anhaftung zu entwickeln. Auf der Basis dieses sehnsüchtigen Verlangens, erleben wir das Auftauchen zwingender karmischer Impulse, die uns dazu antreiben, zwanghafte karmische Handlungen zu begehen. Das negative karmische Potenzial, das durch diese Impulse und Handlungen aufgebaut wird, führt dazu, Leid zu erfahren.
Beziehen wir uns in ähnlicher Weise gedanklich auf die Kategorie eines wahrhaft begründeten „Ichs“, führt dies dazu, jemanden als „meinen Feind“ zu sehen. Wir entwickeln dann Feindseligkeit und Wut gegenüber diesem Feind und begehen daraufhin destruktive Handlungen, die zu Leiden führen. Die Wurzel all dessen ist unser Geisteszustand, mit dem wir nach einem nicht existierenden „Ich“ greifen, als wäre dessen Existenz wahrhaft begründet, und mit naiver Unwissenheit sind wir uns nicht im Klaren darüber, dass dies falsch ist, sondern meinen, es wäre wahr.
Wenn wir die Weise erforschen, wie unser Geist sein Objekt, dieses nicht existierende „Ich“, erfasst, so entdecken wir, dass das Objekt, nach dem wir greifen, in der Tat etwas ist, das es nicht gibt. Erkennen wir, dass das Objekt dieses Geistes nicht existiert – dass es so etwas nicht gibt –, ist das Verständnis dieser völligen Abwesenheit ein so genanntes „Verständnis der Leerheit (Leere)“ oder auch „Selbstlosigkeit“ oder „Identitätslosigkeit“.
Dieser Geist, der das Fehlen einer wahren Identität eines „Ichs“ versteht, wendet sich von der Geisteshaltung ab, mit der wir nach einem scheinbar wahrhaft existierendem „Ich“ greifen, oder kehrt sie um. Der Geist, der nach Dingen greift, als hätten sie eine selbst-begründete Existenz, und der Geist, der begreift, dass es solche Dinge keineswegs gibt, sind vollkommen gegensätzlich; der eine negiert den anderen.
Unterscheidendes Gewahrsein
Diesen Geist, der die Nichtexistenz solcher unmöglichen Objekte versteht, kennt mal als „unterscheidendes Gewahrsein (tib.shes-rab, Weisheit), das Leerheit begreift”. Verfügt ein Geist über bloße, nichtkonzeptuelle Wahrnehmung dieser Leerheit, ist dieser Geist als „wahrer Pfadgeist“, die edle Wahrheit des Pfades bekannt. Setzen wir unsere Meditation mit diesem wahren Pfadgeist fort, wird dieser Geist schließlich das geistige Kontinuum von allen karmischen Potenzialen und störenden Emotionen befreien.
Wurden sie alle beseitigt, ist diese Abwesenheit von karmischen Potenzialen und störenden Emotionen eine so genannte „wahre Beendigung“, die edle Wahrheit der Beendigung. Sie entsteht aus einer Ursache, welche der wahre Pfadgeist, die edle Wahrheit des Pfades ist. Diese zwei gelten als Ursache und Wirkung. Das Eine ist die Ursache des Anderen, das als dessen Resultat entsteht.
Die vier edlen Wahrheiten
Die vier edlen Wahrheiten können somit in zwei Seiten unterteilt werden. Die Zweiergruppe, über die wir gesprochen haben, ist die so genannte „gereinigte oder reinigende Seite der edlen Wahrheiten“, und die ersten zwei edlen Wahrheiten kennt man als die „verblendete oder verblendende Seite der edlen Wahrheiten“. Die ersten beiden edlen Wahrheiten sind das wahre Leiden und die wahren Ursprünge allen Leidens; die wahren Ursprünge allen Leidens sind das, was die erste, das wahre Leiden, hervorrufen. Die Tatsache, dass alle Phänomene auf diese Ursachen im Sinne der zwei Seiten der edlen Wahrheiten zurückzuführen sind, wurde von Buddha selbst zum Ausdruck gebracht.
Die drei höheren Schulungen
In den drei Arten von höheren Schulungen, bildet das unterscheidende Gewahrsein, das Leerheit versteht, die so genannte „Schulung in höherem unterscheidenden Gewahrsein“. Was als Ursache dafür dient und dem vorangehen muss, ist die Schulung in höherer Konzentration. Die Wurzel oder Grundlage, aus der diese zwei hervorgehen, ist die Schulung in höherer ethischer Selbstdisziplin. Ethische Selbstdisziplin zu wahren, sich zu beherrschen, keine der zehn destruktiven Handlungen zu begehen, ist daher etwas wirklich Grundlegendes, Wesentliches und Wichtiges, weil es als Basis dafür dient, woraus die anderen höheren Schulungen wachsen können. Ihre Notwendigkeit ist wie die eines Feldes, um Getreide anzubauen.
Bei den Übungen, die in den drei höheren Schulungen enthalten sind, handelt es sich um das Themengebiet der drei höheren Schulungen. Die Schriften, in denen über dieses Themengebiet der drei höheren Schulungen gesprochen wird, sind in den Drei Körben, den „Tripitaka“ enthalten.
- Das Themengebiet in Bezug auf die höhere ethische Selbstdisziplin findet man im Vinaya-Korb der Regel monastischer Disziplin.
- Was das Themengebiet der Schulung in höherer Konzentration betrifft, so werden die Schriften, die darüber sprechen, im „Sutra-Korb“ gesammelt;
- und die Thematik der Schulung in höherem unterscheidenden Gewahrsein findet sich in den Schriften des Abhidharma-Korbes.
Die drei höheren Schulungen sind somit eine Sache des „Tripitaka“ und in den Schriften dieser „Drei Körbe“ werden sie präsentiert und erklärt.
Die Dauer der Lehren Buddhas
Die Doktrin des Buddhas wird laut Vorhersage 5000 Jahre anhalten. Diese 5000 Jahre werden in 500-jährige Perioden unterteilt:
- Während der ersten dieser 500 Jahre gibt es viele große Arhats;
- während der zweiten gibt es viele, welche den Zustand von Nichtrückkehrer erlangen;
- und während der dritten Periode von 500 Jahren gibt es viele, welche den Zustand von Stromeingetretenen erreichen.
All diese sind Arya-Wesen oder Edle.
In den nächsten drei Gruppen von 500-Jahresperioden geschieht folgendes:
- In der vierten 500 Jahren gibt es hauptsächlich jene, welche die Schulung in höherem unterscheidenden Gewahrsein praktizieren und wahren;
- in der fünften jene, die in erster Linie die Schulung in höherer Konzentration bewahren;
- und in der letzten Periode dieser Gruppe gibt es jene, die hauptsächlich die Schulung in höherer ethischer Selbstdisziplin wahren.
Diese Zeitperioden kennt man auch als Zeitkapitel, die Kapiteln eines Textes, wie jenen des Werkes „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ ähneln. Die ersten drei 500-Jahresperioden sind bekannt als die Ergebnis-Kapitel – also mit anderen Worten die Kapitel des Ergebnisses oder der Früchte der Praktiken. Die zweiten Drei kennt man als die Praxis-Kapitel, während denen die Praxis jeder der höheren Schulungen überwiegt, eine nach der anderen, beginnend mit dem höheren unterscheidenden Gewahrsein. Momentan befinden wir uns im dritten dieser Kapitel, in der Zeit, in der die Schulung in höherer ethischer Selbstdisziplin vorherrschend ist. 300 oder mehr Jahre dieser 500-Jahresperioden sind bereits vergangen und es sind noch 200 Jahre übrig.
Danach werden die drei 500-Jahreskapitel der schriftlichen Texte kommen. In jedem werden die Schriften einer der „Drei Körbe“ überwiegen:
- zuerst kommt der „Abhidharma-Korb“;
- dann der „Sutra-Korb“;
- und an dritter Stelle der „Vinaya-Korb“.
Während dieser Perioden wird es niemanden mehr geben, der große Erkenntnisse aus der Praxis oder Verwirklichungen der Resultate haben wird. Die Menschen werden dann in erster Linie damit beschäftigt sein, diese Texte auswendig zu lernen und zu rezitieren.
Insgesamt gibt es zehn 500-Jahresperioden und wir haben bereits neun präsentiert. Die letzte ist:
- die Periode von 500 Jahren, in denen es den Buddhismus nur dem Namen nach gibt. Während dieser Zeit wird es Ordinierte geben, die nur dem Anschein nach Ordinierte sind. Sie werden also Roben tragen, aber das wird alles sein. Sie werden keine der Gelübde einhalten und diese wird die letzte Periode sein.
Die Zeit, in der die Lehren völlig verschwinden, ist noch nicht gekommen, und wenn wir nachrechnen, sind noch 2200 Jahre übrig, bis die Lehren komplett verschwunden sind. Daher müssen wir uns bemühen, jetzt Verwirklichungen der vier edlen Wahrheiten und insbesondere die Verwirklichung der Leerheit zu erlangen. Wenden wir allen weltlichen Freuden und Arten des Glücks den Rücken zu, wie es im nächsten Vers heißt, und erlangen diese Verwirklichung der Leerheit, werden wir in der Lage sein, die Wurzel der unkontrollierbar sich wiederholenden samsarischen Existenz zu durchtrennen.
Eine Person der mittleren spirituellen Ebene
Zusammenfassend sagt Atisha zur mittleren Ebene der Motivation:
(4) Jeder, der natürlicherweise den Freuden der zwanghaften Existenz den Rücken kehrt, negative karmische Impulse abweist und lediglich an seinem eigenen inneren Frieden interessiert ist, wird als eine Person auf der mittleren spirituellen Ebene bezeichnet.
Die Aussage: Jeder, der natürlicherweise den Freuden der zwanghaften Existenz den Rücken kehrt, und negative karmische Impulse abweist, bezieht sich auf jemanden, der auf einer mittleren Ebene arbeitet und sich von destruktiven Handlungen abgewandt hat. Dies ist jemand, der destruktiven Handlungen seinen Rücken gekehrt hat, indem er die Schulung in höherer ethischer Selbstdisziplin wahrt und von dort dann mit den anderen zwei höheren Schulungen weitermacht. Die Praxis der drei höheren Schulungen besteht darin, in der Lage zu sein, sich von den störenden Emotionen abzuwenden, die uns dazu bringen, destruktive Handlungen zu begehen.
Wenn Atisha davon spricht, negative karmische Impulse abzuweisen, sollten wir nicht nur an die destruktiven karmischen Impulse denken, die uns dazu treiben, die zehn destruktiven Handlungen zu begehen. Es gehören auch die störenden Emotionen dazu, die sie bewirken.
Wenn Atisha schreibt, lediglich an seinem eigenen inneren Frieden interessiert zu sein, so bezieht sich das auf die Tatsache, dass solche Personen selbst Befreiung erlangen können, wenn sie sich auf diese Methoden stützen. Solch eine Person wird als eine Person auf der mittleren spirituellen Ebene bezeichnet.
Meditieren wir tatsächlich auf diese Weise und arbeiten nur an unserem eigenen Wohl, erlangen wir die so genannte „niedrigste Art der Befreiung“. Mit anderen Worten sind wir in der Lage, nur uns allein zu befreien und nicht all die anderen, wie es mit dem Erreichen des Zustandes der Erleuchtung der Fall sein würde.
Der Pfad der Praxis einer Person der mittleren Ebene wird als ein herkömmlicher Pfad bezeichnet. Mit anderen Worten sollten wir nicht den Aspekt dieser Ebene der Motivation annehmen, in dem die eigene Befreiung als letztliches Ziel angesehen wird. Stattdessen sollten wir jene Aspekte der mittleren Ebene der Motivation entwickeln, die auch für die fortgeschrittene Ebene der Motivation gelten. Dabei handelt es sich um das Abwenden von weltlichen Belangen, weltlichen Freuden und Glück, sowie von unkontrollierbar sich wiederholender samsarischer Existenz.
Entsagung, die Entschlossenheit frei zu sein
Es gibt zwei Arten der Entsagung, der Entschlossenheit frei zu sein:
- die Entschlossenheit frei zu sein, mit der wir uns abwenden von der völligen Beschäftigung mit diesem Leben und der unermüdlich Arbeit nur für dieses Ziel; sowie
- die Entschlossenheit, frei zu sein, mit der wir uns abwenden von der völligen Beschäftigung zur Verbesserung zukünftiger Leben und der unermüdlichen Arbeit nur für dieses Ziel.
Haben wir uns von der völligen Beschäftigung mit diesem Leben abgewandt, können verhindern, in einen der drei niederen Bereiche zu fallen. Entwickeln wir nicht die zweite Art der Entschlossenheit frei zu sein, mit der wir uns auch von der völligen Beschäftigung mit zukünftigen Leben abwenden, werden wir nicht in der Lage sein, jeglicher unkontrollierbar sich wiederholender samsarischer Existenz und dem Wunsch, als ein Mensch oder Gott wiedergeboren zu werden, den Rücken zuzukehren. Wir werden keine Befreiung erlangen können.
Der Zustand der Befreiung von unkontrollierbar sich wiederholender samsarischer Existenz ist etwas, das wir auf der Arbeitsgrundlage der kostbaren menschlichen Wiedergeburt, die wir alle haben, erreichen können. Nur von unseren eigenen Leiden frei zu werden, ist jedoch nicht genug. Mit dieser kostbaren menschlichen Wiedergeburt, die wir haben, sollten wir nicht einfach nur daran arbeiten, uns selbst von allen Leiden zu befreien; wir sollten uns auch bemühen, alle anderen ebenfalls von Leiden zu befreien. All die Schwierigkeiten, unter denen wir selbst leiden, haben auch alle anderen. Jeder hat die gleichen Probleme.
Sind wir uns jedoch nicht über all unsere eigenen Leiden bewusst und haben nicht die Entschlossenheit frei von ihnen zu sein, werden wir uns nicht mit der gleichen Entschlossenheit über die Leiden der anderen bewusst werden können. Der Geist, mit dem wir uns auf die Leiden der anderen mit dem Wunsch richten, sie mögen frei von diesen Leiden sein, so wir dies auch für uns selbst wünschen, nennt man „Mitgefühl“.