Wie man ein der Praxis gewidmetes Leben führt

Verse 17 bis 28

Vers 17: Das Leben in Einsamkeit

Ich will mein Leben verbessern, indem ich an einem zurückgezogenen Ort jenseits der Begrenzungen (der Städte) weile, und gleich dem Kadaver eines toten Wildes mich in Abgeschiedenheit verberge und anhaftungslos lebe.

Die Aussage dieses Verses gleicht dem, was Shantideva im achten Kapitel seines Textes schreibt:

(VIII.37) „Ich will in lieblichen, ergötzlichen Wäldern mit wenig Sorgen in Glück und Wohlbefinden in Abgeschiedenheit leben und alle Ablenkungen zum Schweigen bringen.
(VIII.38) Möge dieser Körper dort allein in Zurückgezogenheit weilen, ohne enge Freunde und ohne Konflikte. Wenn man meint, ich wäre schon tot, wird niemand zu trauern brauchen, wenn ich tatsächlich sterbe.“

Atisha bringt zum Ausdruck: Wenn wir uns wirklich weiter entwickeln und unser Leben verbessern wollen, ist es am besten, an einem zurückgezogenen Ort jenseits der Begrenzungen (der Städte) zu weilen. „Zurückgezogener Ort“ ist im Tibetischen die Bedeutung des Wortes „Kloster“: ein ruhiger Ort außerhalb der Städte. „Gleich dem Kadaver eines toten Wildes“ ist im Sinne des Verses von Shantideva zu verstehen: Wenn man uns bereits für tot hält, wird es keine Trauernden geben, die uns stören und die, wenn wir sterben, viel Aufhebens darum machen und erhebliche Unruhe um uns verbreiten.

Wenn wir uns in Abgeschiedenheit verbergen und anhaftungslos leben, werden wir unsere spirituelle Praxis gut üben können und damit unsere zukünftigen Leben verbessern. Natürlich kann nicht jeder so leben. Seine Heiligkeit der Dalai Lama erwähnt oft, dass nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Menschen geneigt ist, in Abgeschiedenheit zu leben und sich ganz der Meditation zu widmen. Für die meisten von uns ist es besser, innerhalb der Gesellschaft zu verbleiben und so gut wir können daran teilzunehmen, indem wir anderen helfen. Allerdings ist es hilfreich, sich ab und zu für eine Weile in Klausur zurückzuziehen und an einem ruhigen Ort zu verweilen, um dort zu meditieren, an Dharma-Texten zu arbeiten oder sonst irgendeiner konstruktiven Tätigkeit nachzugehen. Dafür kann es inspirierend sein, an die großen Meister der Vergangenheit – und auch einige der Gegenwart – zu denken, die so gelebt haben.

Vor allem für Anfänger ist eine relativ ruhige Situation empfehlenswert, weil dann weniger Ablenkungen vorhanden sind. Man sollte jedoch diesbezüglich keine übermäßig romantischen Vorstellungen von Indien oder Nepal haben – das sind keine ruhigen Orte. Es sind vielmehr sehr geräuschvolle Länder. In tibetischen Klöstern geht es extrem laut zu. Jeder rezitiert mit erhobener Stimme seine Praktiken. Doch auch, wenn wir uns allein an einen ruhigen Ort zurückziehen, kann es natürlich sein, dass wir eine Menge Lärm im Kopf haben. Es gibt keine Garantie dafür, dass, wenn äußerlich alles ruhig ist, auch innerlich Ruhe herrscht. Trotzdem ist eine ruhige Umgebung für viele Menschen recht hilfreich.

Vers 18: Faulheit überwinden

Eine stetige tägliche Praxis ausüben

(Dort) will ich immer stabil bei meiner Buddha-Form sein.

Dort“ das bezieht sich auf das Leben in Abgeschiedenheit an einem ruhigen, abgeschiedenen Ort. Dass Atisha hier die Übung erwähnt. „Immer stabil bei meiner Buddha-Form zu sein“, ist ein weiterer Hinweis auf die tantrische Praxis.

Um unsere Praxis zu festigen, sodass wir sie immer stabil aufrechterhalten können, brauchen wir eine tägliche Meditationsübung. Insbesondere wenn wir ein sehr geschäftiges Leben führen und vielerlei Aktivitäten nachgehen, ist eine gleichbleibende Praxis, die wir jeden Tag ausführen, sehr hilfreich. Ganz gleich, welche verrückten Vorgänge in unserem Leben ablaufen – wir haben dann diesen stabilen Geisteszustand, einen festen Ort, an den wir uns begeben können. Das gibt uns ein Gefühl von Kontinuität. So etwas ist sehr wichtig für die Stabilität.

Wenn wir unsere Praxis auf eine Buddha-Form, einen „Yidam“ ausrichten, wie es im Tantra der Fall ist, verlassen wir unser altes Selbstbild, das mit dem geschäftigen Leben verbunden ist, und wenden uns einem neuen Selbstbild zu, und zwar beruhend auf dem Verständnis von Leerheit, Bodhichitta und Entsagung. Das Selbstbild ist dann ein Buddha in Form einer Buddha-Gestalt wie etwa Avalokiteshvara oder Tara, die die Qualitäten verkörpert, welche wir anstreben.

Wenn wir uns an einen ruhigen Ort zurückziehen, ist es sehr wichtig, sowohl körperlich als auch geistig von aller Geschäftigkeit „Abstand zu nehmen“, wie Shantideva erklärt.

(VIII.89) „Nachdem ich unter diesen und anderen Gesichtspunkten die Vorteile davon erwogen habe, von all dem Abstand zu nehmen und so meine umherschweifenden Gedanken vollkommen zur Ruhe zu bringen, werde ich über Bodhichitta meditieren.“

Nicht nur unser Körper soll sich an einen abgeschiedenen Ort zurückziehen. Wir müssen auch unseren Geist aus all den gewöhnlichen Zusammenhängen und von all dem, woran wir hängen, lösen. Wir lösen den Geist von dem Selbstbild, das mit dem Ort verbunden ist, den wir nun verlassen haben. Dafür ist es sehr hilfreich, die Aufmerksamkeit auf eine Buddha-Gestalt zu richten. Das hilft uns, das samsarische Selbstbild durch eines zu ersetzen, das mehr dem „Nirvana“ entspricht, nämlich frei von den alten, negativen Assoziationen ist, wobei „negativ“ heißt: „mit störenden Emotionen verbunden“. Die Buddha-Gestalt steht für unsere zukünftige Erleuchtung, die wir mit Bodhichitta anstreben.

Uns unserer Unzulänglichkeiten erinnern, um über Faulheit hinauszugelangen

Und wann immer in mir ein Gefühl von Faulheit oder Erschöpfung entsteht, will ich meine eigenen Unzulänglichkeiten aufzählen

Solange wir noch nicht den Zustand eines Arhats erlangt haben, wird es für uns immer auf und ab gehen, wie ich schon oft erwähnt habe. Das ist die Natur von Samsara. Manchmal haben wir Lust zu meditieren, manchmal nicht. Manchmal verläuft die Meditation gut, manchmal nicht. Manchmal sind wir faul und erschöpft, manchmal nicht. Wichtig ist, dass wir dennoch weitermachen. Wie schon in einem früheren Vers beschrieben, betrachten wir diese Vorkommnisse wie eine Illusion. Machen Sie keine große Sache aus den Hochs und Tiefs. Machen Sie einfach weiter.

Um uns zu helfen, über Faulheit und Erschöpfung hinauszugelangen, rät Atisha, sich die eigenen Unzulänglichkeiten aufzuzählen. Mit anderen Worten: Wir erinnern uns daran, dass Faulheit und Erschöpfung Mängel sind. Sie sind Hindernisse – etwas, das wir überwinden wollen. Deshalb rufen wir uns unsere Motivation ins Gedächtnis, warum wir meditieren: Wir wollen über Zustände wie Faulheit, Entmutigung, Erschöpfung und Selbstmitleid hinausgelangen und unseren Geist darin üben, sich nicht völlig von Anhaftung, Ärger usw. ablenken zu lassen.

Indem wir uns daran erinnern, dass wir aus genau dem Grund hier sitzen, bekräftigen wir unsere Motivation: „Darum will ich ja meditieren – eben weil ich tatsächlich faul bin und keine Lust habe, etwas Konstruktives zu tun.“ Diese Verstärkung unserer Motivation gibt uns Kraft, weiterzumachen. Das gehört zur Ausdauer: Wir erkennen die Tatsache an, dass es in Samsara immer auf und ab geht, und akzeptieren diese Schwierigkeit. Wir machen uns darüber nichts vor. Wir drängen weiter; wir unternehmen entsprechende Anstrengungen.

Nachdem man sich die eigene Motivation in Erinnerung gerufen hat, um diese Unzulänglichkeiten zu überwinden, lautet der nächste Punkt:

Sich mit Selbstdisziplin verbessern

Und mich der essentiellen Punkte zur Zähmung des Verhaltens erinnern.

Diese Zeile bezieht sich auf ethische Selbstdisziplin, auf die Disziplin, unsere Fehler zu korrigieren. In diesem Zusammenhang wird erklärt, dass wir zunächst unsere Fehler und Unzulänglichkeiten erkennen müssen, wenn sie auftreten, und uns dann daran erinnern, sie selbst zu verbessern. Das wird oft als „der innere Guru“ bezeichnet. Wir brauchen nicht unbedingt eine äußere Autorität, die uns korrigiert. Wir brauchen keine Aufsichtsperson oder Eltern, die auf uns aufpassen; wir können selbst erkennen, wann unser Verhalten nicht mit dem im Einklang steht, was wir erreichen möchten, und wann wir uns so verhalten, dass es dafür nicht förderlich ist.

Und dann verbessern wir das einfach. Wir zögern und zaudern nicht lange; wir tun es eben – wie meine Mutter immer sagte: „geradewegs hinauf und hinunter.“ So wie wenn wir duschen, auch wenn das Wasser ein bisschen kalt ist „Na los, einfach drunterstellen und fertig.“ Entweder wir duschen oder nicht – und wenn ja, nur zu.

Vers 19: Freundlich und gütig sein, wenn wir anderen begegnen

Sollte ich jedoch anderen (Menschen) begegnen, will ich auf ruhige, freundliche und ernsthafte Weise sprechen, mich jeglichen Stirnrunzelns oder verschlossenen Gesichtsausdruckes entledigen und im Gesicht stets ein Lächeln tragen.

Auch dieser Vers erinnert stark an Shantidevas Text.

(V.71) „Daher werde ich mich in Selbstbeherrschung üben und werde stets ein Lächeln zeigen. Ich werde damit aufhören, die Stirn zu runzeln und mein Gesicht (missbilligend) zu verziehen; ich werde zu den umherwandernden Wesen freundlich sein und mich ihnen gegenüber ehrlich verhalten.“

Auch wenn wir in Abgeschiedenheit leben und üben, werden wir mit Sicherheit anderen Menschen begegnen. Im Umgang mit ihnen ist es wichtig, sich ruhig und freundlich zu verhalten. Wenn wir in unserer Praxis gefestigt sind, werden wir ruhig bleiben, und das wirkt auf andere entspannend.

Wichtig ist jedoch auch, nicht hölzern zu werden, wenn wir ruhiger geworden sind. Als ich nach etlichen Jahren in Indien zum ersten Mal wieder nach Amerika reiste, verbrachte ich dort einige Zeit bei meiner Schwester. Ihr Kommentar lautete: „Du bist zum Erbrechen ruhig geworden.“ Ich lief herum wie ein Zombie, blieb immer bedächtig und zeigte keinerlei emotionale Beteiligung – während meine Schwester eine sehr emotionale Person ist. Ruhig und freundlich zu sein soll nicht heißen, dass unser Gesicht ausdruckslos ist und wir wie ein Gespenst herumlaufen. Es ist wichtig zu reagieren und dies auch in unserem Gesichtsausdruck zu zeigen.

Was den Gesichtsausdruck betrifft, so heißt es im Text sich „jeglichen Stirnrunzelns oder verschlossenen Gesichtsausdruckes zu entledigen“. Dies gilt insbesondere, wenn solch ein Gesichtsausdruck aus Selbstgefälligkeit herrührt, etwa weil wir meinen, wir wären etwas Besonderes, weil wir „ein spirituelles Leben führen“, und mit missbilligendem Stirnrunzeln auf andere herabblicken – „Ach, Sie haben mit geschäftlichen Unternehmungen zu tun …“ – oder auf andere samsarische Aktivitäten – „Sie trinken Bier??“, „Sie haben immer noch nicht mit Weintrinken aufgehört?“ – und dabei diese geringschätzige Miene aufsetzen, die andere verächtlich macht.

Weiter heißt es: „und im Gesicht stets ein Lächeln tragen“. Das heißt nicht, ein werbewirksames Zahnpasta-Lächeln aufzusetzen und strahlend weiße Zähne zur Schau zu stellen. Atisha betont, dass es zugleich darauf ankommt, aufrichtig zu sein, sodass unsere Worte von Herzen kommen, und nichts vorzutäuschen, sich nicht aufzuspielen, nicht missbilligend aufzutreten oder Ähnliches in der Art. Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt: Es ist einfach eine Freude, ein anderes menschliches Wesen zu treffen und von Mensch zu Mensch mit ihm in Kontakt zu treten.

Wenn wir unsere Sensitivität trainieren, gehört dazu auch, uns unseren Gesichtsausdruck bewusst zu machen. Wir versuchen zu bemerken, wenn wir die Stirn in Falten legen oder unsere Mundpartie angespannt ist. Wenn wir feststellen, dass unsere Gesichtsmuskeln auf irgendeine Weise verspannt sind, versuchen wir, den Gesichtsausdruck zu lockern und unser Gesicht zu entspannen. Das ist sehr wichtig, denn oft verzieht sich unser Gesicht automatisch zu einem Stirnrunzeln oder einem missbilligenden Ausdruck. Das teilt sich anderen mit. Wir selbst sehen es nicht, aber andere sehen es.

Andererseits kann unser Gesichtsausdruck durchaus auch zu weit ins andere Extrem gehen. Wir sehen das z.B. bei anderen, wenn wir etwas sagen und unser Gesprächspartner mit übertriebenem Gesichtsausdruck reagiert – das verschafft uns ein ziemlich unbehagliches Gefühl. „Den nimmt das ja mehr mit als mich!“

Vers 20: Großzügig sein und die Menschen, mit denen wir leben und lernen, nicht als Konkurrenten betrachten

Und wenn ich fortwährend anderen Menschen begegne, will ich all meine Knauserigkeit ablegen, mich stattdessen am Geben erfreuen und mich selbst von allem Neid befreien.

Manchmal wohnen wir mit anderen Menschen zusammen, sei es in einer Klausur mit Gleichgesinnten oder in einer Situation mit Menschen, die völlig andere Interessen haben. Wenn wir ihnen fortwährend begegnen, ist es gut, mit unseren Besitztümern nicht knauserig zu sein – „Das gehört mir und du sollst es nicht benutzen“, „Das sind meine Lebensmittel, die da im Kühlschrank stehen“, „Das ist mein Stuhl“ – das klingt wie bei den Sieben Zwergen: „Jemand hat auf meinem Stühlchen gesessen, jemand hat von meinem Tellerchen gegessen …“ Eifersüchtig darüber zu wachen, dass niemand etwas von unseren Sachen benutzt, schafft Missstimmung und beeinträchtigt die Beziehung zu den Menschen, mit denen wir zusammen leben.

Sich stattdessen am Geben erfreuen bedeutet Freude daran haben, etwas mit anderen zu teilen. Sich „von allem Neid befreien“ bezieht sich auf den Neid auf Besitztümer von anderen, etwa: „Ich möchte lieber deine Sachen benutzen, weil sie besser als meine sind“ – so etwas in der Art. Natürlich ist dieser Vers nicht immer leicht umzusetzen, denn es kommt auch vor, dass Leute uns ausnutzen wollen, lieber unsere Sachen als ihre eigenen benutzen usw. So etwas kostet eine Menge Geduld.

Interessant zu beobachten ist: Mit Menschen, die wir sehr mögen und die uns sehr nahestehen, sind wir bereit alles zu teilen, sogar unsere Zahnbürste. Mit anderen jedoch, denen wir uns nicht so nahe fühlen, wollen wir nicht teilen. Oft wollen wir nicht einmal mit ihnen an einem Tisch sitzen. Unsere Fähigkeit, den obigen Vers zur Anwendung zu bringen, hängt also weitgehend davon ab, dass wir eine ausgewogene Einstellung gegenüber anderen haben.

Wenn wir Grenzen setzen müssen, versuchen wir das beruhend auf dem Verständnis zu tun, was konstruktiv und was destruktiv ist. Wir lassen z.B. Kleinkinder nicht an unseren Computer, weil sie ihn vermutlich kaputtmachen würden, und wir stellen ihn auch nicht verantwortungslosen Leuten zur Verfügung, die nicht pfleglich damit umgehen würden. Doch im Rahmen dessen, was keinen Schaden bringt, ist es wichtig, zu teilen. Wie gesagt, das ist keineswegs einfach umzusetzen.

Der Schlüssel dazu ist: sich stattdessen am Geben erfreuen. Das ist ein Geisteszustand, in dem es uns froh macht, etwas mit anderen zu teilen. Die meisten von uns wissen, wie sich das anfühlt, weil sie es selbst schon erlebt haben. Wenn wir jemanden wirklich mögen, sind wir einfach froh, wenn wir ihm etwas geben können. Es freut uns, wenn er oder sie es annimmt und nützlich findet. Und dieses Gefühl, etwas teilen zu wollen, versuchen wir dann auch auf diejenigen auszudehnen, die uns nicht so nahestehen. Auf diese Weise – indem wir nicht knauserig sind, nicht neidisch auf das, was sie haben, und indem wir gern teilen – sind wir freundlich.

Was unsere Praxis betrifft, sollten wir hingegen so unbeugsam und hartnäckig sein wie ein Stier. Wenn jemand all unsere Zeit in Anspruch nehmen will und damit bewirkt, dass wir unsere tägliche Praxis vernachlässigen, müssen wir Grenzen setzen. Oder wenn jemand unsere Opferschälchen als Aschenbecher benutzen will, geben wir sie ihm nicht. In Bezug auf unsere Praxis ist es gut, hartnäckig zu bleiben und darauf zu achten, dass andere bestimmte Grenzen nicht überschreiten.

Geshe Ngawang Dhargye zitierte in diesem Zusammenhang ein tibetisches Sprichwort: „Überlass deinen Nasenring niemand anderem, behalte ihn selbst in den Händen.“ Stiere oder Wasserbüffel tragen oft einen Ring durch die Nase, an dem ein Seil befestigt ist, sodass das Tier folgen muss, wohin man es führt. Deshalb rät das Sprichwort: Überlass dieses Seil niemand anderen, behalte es selbst in der Hand“, mit anderen Worten: „Sei dein eigener Herr und bestimme selbst, was du tust.“ Weiter schreibt Atisha:

Vers 21: Geduld mit anderen

Um den Geist anderer zu schützen, will ich mich aller Streitigkeiten entledigen und stets Geduld üben.

Wir versuchen, andere zu erfreuen, sie glücklich zu machen und nicht mit ihnen zu streiten. „Streitigkeiten“ bedeutet: zu jemandem in Widerspruch treten und sich mit ihm zu zanken. Tsongkhapa sagte treffend: „Wenn man der anderen Person beistimmt, ist der Streit beendet.“ Wir bringen einfach Zustimmung zum Ausdruck: „Da hast du recht. Ich will nicht mit dir streiten.“ Dann hört der Streit auf. Auch dabei kommt es natürlich darauf an, worum es geht. Im Allgemeinen jedoch, vor allem, wenn der Gesprächspartner sowieso nicht bereit ist, zuzuhören, und völlig stur bleibt, sagen wir eben einfach „Ja, ja“, auch wenn er etwas Unverschämtes von sich gibt; es hat ja doch keinen Zweck, mit ihm zu streiten.

Das bringt uns zu jener Zeile, die ursprünglich aus Nagarjunas Text „Die kostbare Girlande“ (Skt. Ratnavali) stammt, wo es heißt, „die Niederlage auf sich nehmen und den Sieg den anderen überlassen“. Das ist eine der zentralen Stellen in der „Schulung der Geisteshaltung in acht Versen“.

(5) „Wenn andere mich aus Neid schlecht behandeln, mit Beschimpfung, Verleumdung und dergleichen, möge ich die Niederlage akzeptieren und anderen den Sieg überlassen“.

Das ist ein sehr bedeutsamer und hilfreicher Ratschlag. Wir nehmen die Niederlage auf uns: „Gut, ich habe mich geirrt. Du hast recht.“ Was macht das schon für einen Unterschied? Wir müssen nicht immer das letzte Wort haben. Darum geht es in der letzten Zeile des vorigen Verses in Atishas Text.

Auch dafür gibt es allerdings Grenzen. Wenn jemand drauf und dran ist, etwas Destruktives zu tun, müssen wir Grenzen setzen. Wenn jemand vorschlägt. „Lass uns Kängurus schießen gehen“, lehnen wir ab und sagen „Nein“. Aber wenn jemand sagt „Der Himmel ist grün“ und wir sagen „Nein, er ist blau“, braucht man darüber nicht zu streiten. Wen kümmert das schon? Diese Verhaltensweise ist insbesondere dann empfehlenswert, wenn jemand in einer politischen oder religiösen Angelegenheit überhaupt nicht zuhören will, was wir sagen. Was hätte das dann für einen Zweck, sich mit ihm zu streiten? Es wäre bloß müßiges Gerede, das sich endlos fortsetzen würde. Also sagen wir einfach: „Na gut. Lass uns jetzt über etwas anderes reden.“ Und damit ist die Sache erledigt.

Auch wenn jemand uns kritisiert oder auf Fehler hinweist, brauchen wir nicht zu streiten. Wir sagen: „Danke, dass Sie mich darauf hingewiesen haben“ – egal, ob das, was jemand vorbringt, nun stimmt oder nicht. Es hat keinen Sinn, eine Abwehrhaltung einzunehmen. Oftmals stimmt das, was jemand vorbringt, tatsächlich. Und erst recht, wenn jemand auf etwas hinweist, um uns anzugreifen oder uns eins auszuwischen, nehmen wir keine Abwehrhaltung ein. Wenn wir einfach antworten „Danke für den Hinweis“, löst sich der Gegensatz auf und der Streit hat ein Ende.

Wenn uns allerdings jemand beschuldigt, etwas getan zu haben, bedanken wir uns nicht, ohne zu überprüfen, ob die Anklage berechtigt ist. So etwas müssen wir natürlich überprüfen und dabei unser unterscheidendes Gewahrsein einsetzen. Wenn jemand behauptet: „Sie haben mir meinen Kugelschreiber weggenommen“ und das ist nicht der Fall, sagen wir nicht einfach „Danke“. Dann würde er uns auffordern, ihn zurückzugeben, und wir haben ihn ja gar nicht. Worum es geht, sind Situationen, in denen jemand unsere Fehler kritisiert, uns als gierig bezeichnet oder irgend so etwas. Dann sagen wir: „Tut mir leid. Danke, dass Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben. Ich werde das berücksichtigen“, ohne eine Abwehrhaltung einzunehmen.

Vers 22: Ein guter Freund und Lehrer sein

In unserer Freundschaft nicht wankelmütig sein

In Freundschaften will ich mich weder kriecherisch noch wankelmütig verhalten, sondern stets ein treuer und zuverlässiger Freund sein.

Diese Eigenschaften sind in Freundschaften wesentlich. Im Englischen gibt es den Ausdruck „Schönwetter-Freundschaften“; er bezieht sich auf Freunde, die nett sind, wenn alles bestens läuft und es uns gut geht, aber das Weite suchen und uns im Stich lassen, wenn wir in Schwierigkeiten stecken und nicht besonders unterhaltsam sind. Wenn andere negativ reden, Fehler machen oder uns irgendwie verletzen, ist es wichtig, ihnen zu wünschen, dass sie glücklich sein mögen.

Doch kriecherisch zu sein ist nicht von Vorteil. Damit ist gemeint, jemandem übermäßig zu schmeicheln. Manche Leute überschütten jemanden mit Liebenswürdigkeiten, vor allem, wenn er nett ist, und wenden sich von ihm ab, sobald er mal nicht nett ist.

In seiner Freundschaft wankelmütig zu sein bedeutet, seine Freunde häufig zu wechseln. Man wendet sich schnell von Freunden ab und sucht sich neue. Das ist dann wie eine neue Eroberung, insbesondere wenn sexuelle Faktoren eine Rolle spielen.

Solcher Wankelmut ist ein Zeichen dafür, dass die Freundschaft nicht stabil ist. Entweder sind wir nicht überzeugt, dass die betreffende Person wirklich unser Freund ist, oder wir sind nicht aufrichtig. Worauf dieser Vers hinweist, ist die Notwendigkeit, Freundschaften treu zu bleiben, und zwar nicht nur bei schönem Wetter, sondern auch in weniger angenehmen Situationen, und nicht nur, wenn die Freunde sich nett und freundlich verhalten, sondern auch, wenn sie Fehler machen.

Unsere Freunde respektieren

Ich werde mich davon befreien, andere zu beleidigen, und einen respektvollen Umgang wahren.

Manche Menschen sind nur zu denjenigen freundlich, die reich und mächtig sind, weil sie sich von ihnen etwas versprechen – Empfehlungen, Geld, Gelegenheiten, Sex oder was auch immer. Wenn sie merken, dass nichts zu holen ist, lassen sie sie schnell wieder fallen. Denjenigen gegenüber, die ihnen nicht von Nutzen sein können, verhalten sie sich beleidigend und geringschätzend und auf ihre Freundschaft legen sie keinen Wert.

Atisha hatte bei seiner Aussage auch das Kastensystem im Sinn. Es geht darum, Menschen nicht in Kasten oder Kategorien einzuteilen, nach dem Motto: „Ich kann nur mit jemandem aus meiner eigenen Kaste befreundet sein“ bzw. „Ich kann nur mit jemandem im gleichen Alter Freundschaft schließen“ oder „mit jemandem aus der gleichen Gesellschaftsschicht wie ich“ usw. Angemessen ist vielmehr, jedem gegenüber respektvoll zu sein. Ein jeder kann ein enger Freund für uns sein.

Doch was sollen wir tun, wenn Menschen unsere Gesellschaft suchen, nur um uns auszunutzen - Menschen, die nur etwas von uns wollen, und sich, wenn wir ihnen nicht mehr von Nutzen sind, von uns abwenden? Wenn wir uns als Bodhisattvas üben, sind wir zunächst einmal erfreut, wenn sie uns aufsuchen. Wir freuen uns, wenn wir ihnen helfen können. Wenn sie sich wieder abwenden, sind sie es, die etwas verlieren. Es ist ihr Verlust. Und es ist schade, dass sie für unsere Hilfe nicht mehr zugänglich sind.

Das gilt insbesondere, wenn man Lehrer ist. Diesem Problem sehen sich zahlreiche westliche Lehrer gegenüber. Viele Menschen kommen und lernen für eine Weile bei ihnen, aber dann verschwinden sie und lassen sich nicht mehr blicken. Viele Lehrer sind sehr betroffen darüber. Sie fragen sich: „Warum kommen sie nicht mehr? Was ist passiert? Habe ich etwas falsch gemacht?“ In dem Fall ist es hilfreich, daran zu denken, dass es deren eigener Schaden ist, wenn sie nicht mehr kommen. Hier wird ihnen etwas zur Verfügung gestellt, und wenn sie nicht kommen, so hat das etwas mit ihrem Karma zu tun. Wenn jemand nur Nutzen aus uns ziehen wollte, so ist es sein eigenes Manko. Ob jemand mich nun ausnutzen möchte oder nicht – ich bin bereit, Menschen zu helfen.

Was das Ausnutzen betrifft – nun, wir geben, was angemessen ist. Wir geben nicht in übertriebenem Maße; das kann für beide Seiten von Schaden sein. Wir lassen nicht zu, dass jemand uns völlig auslaugt. Wir setzen Grenzen. Wie Ringu Tulku sehr freundlich sagte: So viele Menschen mögen uns um etwas bitten, doch wir können nur ein bestimmtes Ausmaß an Bitten erfüllen. Wir können uns noch nicht in Millionen Formen gleichzeitig vervielfachen; wir sind noch keine Buddhas. Nichtsdestotrotz versuchen wir, denen, die zu uns kommen, zumindest ein bisschen zu geben, irgendeine Kleinigkeit, sodass wir sie nicht völlig zurückweisen.

Zum Abschlagen von Bitten fällt mir ein Ausspruch von der Dame für Verhaltensfragen ein, die für eine amerikanische Zeitschrift Fragen über korrektes Benehmen beantwortet. „Madame Gute Manieren“ rät, in solchen Situation einfach zu sagen: „Tut mir leid“ und keine Entschuldigungen anzufügen. Wir brauchen keine Gründe anzugeben, warum wir eine Bitte nicht erfüllen können. Wir sagen nur: „Ach, es tut mir wirklich leid, aber das geht nicht; ich kann diese Bitte leider nicht erfüllen.“ Wenn wir erst anfangen zu erklären, werden wir nur in Einwände und Diskussionen verwickelt, und dann geraten wir in die Lage, uns verteidigen zu müssen. Besser ist es, einfach mit einem Ausdruck des Bedauerns höflich abzulehnen und es dabei zu belassen. Ein großer Guru, diese „Madame Gute Manieren“.

Ratschläge oder Unterweisungen ausschließlich mit der Motivation geben, jemandem zu helfen

Dann, wenn ich anderen richtungweisende Belehrungen gebe, will ich mitfühlend und hilfsbereit sein.

Wenn wir anderen Ratschläge oder Unterweisungen geben – was nicht unbedingt auf formale Weise zu geschehen braucht -, tun wir es freigiebig, nicht für Geld oder um Ruhm zu erlangen, und auch nicht, damit andere uns mögen oder auf uns angewiesen sind – Letzteres ist noch schlimmer. Wenn wir all das vermeiden, wird unser Rat aufrichtiger sein.

In Bezug darauf, welche Art von Dharma-Praxis wir ausüben sollen, schreibt Atisha:

Vers 23: Eine Dharma-Praxis wählen

Ich will den Dharma niemals verleugnen und meine Absichten an jenen ausrichten, die ich inbrünstig bewundere; ich will mich bemühen, während meiner Tage und Nächte immer wieder durch die Tore der zehn Dharma-Handlungen zu gehen.

Es gilt zu erkennen, dass Buddha zahlreiche verschiedene Methoden und Übungen lehrte; deswegen verleugnen wir keine davon. Wir sagen in Bezug darauf nicht: „Das ist nicht die Lehre des Buddha“ oder „Das ist nicht von Nutzen“ oder „Es ist falsch, das zu praktizieren.“ Wir sind aufgeschlossen und empfänglich für alle Lehren des Dharma.

Aus dem gesamten Spektrum buddhistischer Praktiken wählen wir etwas, das für uns geeignet ist, etwas, für das wir Bewunderung hegen und zu dem wir eine Verbindung spüren – sei es nun etwas im Stil der tibetischen Tradition, der Theravada-Tradition oder des Zen-Buddhismus, und innerhalb des tibetischen Buddhismus gemäß der Überlieferung von Padmasambhava oder Tsongkhapa oder dieser oder jener Überlieferung. Es spielt keine Rolle, was es ist. All diese Traditionen können uns zu Befreiung und Erleuchtung führen.

Entscheidend ist, das zu finden, was am besten zu uns passt, etwas, zu dem wir aufblicken können, das wir inbrünstig bewundern. Das Wort, das hier als „bewundern“ wiedergegeben ist, kann auch bedeuten: „fest überzeugt von etwas sein“. Wir sind fest überzeugt, dass es dies ist, was zu uns passt. Wir lassen uns nicht davon beeinflussen, wie populär es ist oder ob es unseren Freunden gefällt oder dergleichen. Wir sind hinsichtlich dessen, was zu uns passt, überzeugt, und widmen uns dem dann mit ganzem Herzen.

Die zehn Dharma-Handlungen

Während meiner Tage und Nächte die zehn Dharma-Handlungen“ zu üben bedeutet nicht, dass wir jeden Tag alle zehn Handlungen ausüben müssen. Und „während meiner Tage und Nächte“ heißt einfach, dass wir solchen Handlungen unsere Zeit widmen. Wir versuchen, unsere Zeit vor allem der speziellen Praxis zu widmen, die gut zu uns passt. Was für Arten solcher Handlungen können wir ausüben? Es gibt zehn Dharma-Handlungen:

  • „Abschriften von Dharma-Texten anfertigen“ – das bedeutet nicht, sie einfach zu fotokopieren. In früheren Zeiten bezog sich das darauf, die Texte abzuschreiben, denn es gab noch keine gedruckten Versionen, und einen Text mit der Hand abzuschreiben sorgte dafür, dass er mehr Menschen zur Verfügung stand. Obwohl heutzutage gedruckte Fassungen leicht erhältlich sind, kann es durchaus hilfreich sein, Texte abzuschreiben oder abzutippen, um sich mit ihrem Inhalt vertraut zu machen, insbesondere solche Texte, welche die Praxis betreffen, an der wir Interesse haben.
  • Den Drei Juwelen Gaben darbringen“ – diese Art von Darbringung ist immer förderlich. Wir können auch etwas mit der Motivation darbringen: „Möge ich gut praktizieren können.“
  • Armen und Kranken etwas geben“ – auch das ist allgemein üblich, etwas, das wir im Rahmen der Mahayana-Praxis auf jeden Fall tun.
  • Den Lehren lauschen“ die von etwas handeln, für das wir starke Bewunderung hegen oder Überzeugung empfinden.
  • Die Schriften lesen“ die von Inhalten handeln, die wir besonders bewundern.
  • Sich die Essenz der Lehren durch Meditation zu Herzen nehmen“ – das heißt, zu meditieren und sich intensiv mit derjenigen Praxis zu befassen, welche mit den Lehren oder dem Stil in Verbindung steht, die zu uns passen.
  • Die Lehren erklären“ – wenn wir imstande sind, eine Lehre, der unser Interesse gilt, zu erklären oder sie jemandem zugänglich zu machen und anderen zu erläutern, die auch daran interessiert sein könnten, so tun wir das.
  • Sutras rezitieren“ – es ist auch sehr inspirierend, Texte laut zu rezitieren, die etwas mit dem Thema zu tun haben, an dem wir interessiert sind – seien es Pujas, Lobpreisungen, Sutras oder was auch immer -, insbesondere wenn man sie gemeinsam mit einer Gruppe von Menschen rezitiert.
  • Über die Bedeutung der Texte nachzudenken“ die sich mit einem Thema befassen, an dem wir Interesse haben, sowie auch im Verlauf des Tages darüber nachdenken, wann immer sich die Gelegenheit dazu ergibt.
  • „Einspitzig über die Bedeutung der Lehren meditieren“ indem man sich hundertprozentig darauf konzentriert.

So verbringen wir unsere Zeit damit, eine bestimmte Art von buddhistischen Lehren, zu denen wir uns hingezogen fühlen, zu studieren und zu praktizieren. Dabei ist es jedoch wichtig, dass wir andere Arten von Buddhas Lehren nicht leugnen oder herabsetzen.

Natürlich könnte man diese Liste noch um viele andere Aktivitäten erweitern, z.B.: Aufzeichnungen von Unterweisungen transkribieren, sie für andere zugänglich machen usw. – auch das sind Dharma-Handlungen. Die beste Art, sich mit dem Inhalt einer Unterweisung vertraut zu machen besteht darin, sie nach dem Unterricht niederzuschreiben.

Vers 24: Die Widmung unserer positiven Kraft

Die positive Kraft der Erleuchtung und anderen widmen

Ich will all die heilsamen Taten, die ich in den drei Zeiten angehäuft habe, der unvergleichlichen Erleuchtung widmen, und meine positive Energie allen Wesen zuteil werden lassen.

Wenn wir die positiven Handlungen, die wir begangen haben, der Erleuchtung widmen, bauen wir Karma auf, das dazu beiträgt, unsere samsarische Situation zu verbessern. Deswegen ist es von großer Bedeutung, solche Handlungen – und zwar sowohl das, was wir in der Vergangenheit getan haben, als auch das, was wir jetzt tun, sowie das, was wir in Zukunft tun werden – der Erleuchtung zu widmen und diese positive Energie allen zuteil werden zu lassen. Wir widmen all das also nicht nur unserer eigenen Erleuchtung, sondern auch der aller anderen.

Außerdem teilen wir alle positive Energie, die wir haben, mit anderen. Wenn wir etwas gelernt haben, was uns eine gewisse Energie gibt, so teilen wir sie mit anderen. Wenn wir uns z.B. in Indien gut auskennen, dort Verbindungen haben und wissen, wo und wie man gute Voraussetzungen findet, um dort zu studieren usw., können wir diese Informationen auch anderen zukommen lassen. Das bedeutet, positive Kraft mit anderen zu teilen, und das Glück, das wir haben, mit anderen zu teilen, sodass auch sie davon profitieren. Als Mittel, diese positive Kraft zu vergrößern, erwähnt Atisha:

Die Darbringung des Gebets der siebengliedrigen Praxis um positive Kraft anzusammeln

Und will ständig das großartige Gebet der Sieben Zweige darbringen.

Auch Shantideva betont diese Praxis. Sie besteht aus (1) Verbeugung, (2) Darbringung von Gaben, (3) Fehler und schädliche Handlungen, die wir begangen haben, offen zugeben, (4) sich an positiven Qualitäten erfreuen, (5) um Lehren ersuchen, (6) die Lehrer ersuchen, uns nicht zu verlassen und (7) die Widmung.

Vers 25: Erleuchtung erreichen durch Vervollständigung der zwei Netzwerke

Indem ich so handle, will ich meine zwei Netzwerke von positiver Kraft und tiefem Gewahrsein zur Vollendung bringen und zudem in mir die zwei Verdunklungen erschöpfen.

Durch diese Art von Praxis – die siebengliedrige Praxis und weitere Meditation und Übung der zehn Dharma-Handlungen – bauen wir die zwei Netzwerke von positiver Kraft und tiefem Gewahrsein auf, die so genannten „Ansammlungen von Verdienst und Weisheit“, und verstärken sie. Im Verlauf dieses Prozesses verringern bzw. beseitigen wir die zwei Arten von Verdunkelungen: die emotionalen, die der Befreiung im Wege stehen, und die kognitiven, die Erleuchtung verhindern.

Ich habe einen menschlichen Körper erlangt – dies soll einen Sinn bekommen, indem ich die unvergleichliche Erleuchtung erlange.

Vers 26 und 27: Die sieben Juwelen der Aryas

In Vers 26 spricht Atisha nun von den sieben Juwelen der Aryas – den sieben Juwelen, die uns zu dem Zustand eines Aryas bringen, dem Zustand unmittelbarer Erkenntnis der Leerheit. Es handelt sich um die Juwelen, die zuvor schon kurz erwähnt worden sind.

Die Aufzählung der sieben Juwelen

Das Juwel des Glaubens an Tatsachen, das Juwel der ethischen Selbst-Disziplin, das Juwel der Großzügigkeit, das Juwel des Zuhörens, das Juwel des Sorgetragens dafür, wie mein Verhalten anderen erscheint, das des ethischen Ehrgefühls und das Juwel des unterscheidenden Gewahrseins – alles in allem sieben.
Diese heiligen Juwelen sind die sieben Juwelen, die sich niemals erschöpfen.

Sie werden uns niemals ausgehen. Wenn hier die Rede von „Juwelen“ ist, sollten wir uns darunter nicht irgendein Schmuckstück vorstellen, sondern eher eine Art Schatz, den wir immer weiter vergrößern können.

Je mehr unser Verständnis des Dharma und der Dharma-Lehren zunimmt, desto mehr wächst unsere Überzeugung von den Tatsachen, die darin gelehrt werden: (1) Das Juwel des Glaubens an Tatsachen wächst und der Schatz gewinnt dadurch immer mehr an Wert.

(2) Ethische Selbst-Disziplin bedeutet, sich immer mehr von negativen Verhaltensweisen zurückzuhalten und immer mehr mit positiven, konstruktiven Aktivitäten zu beschäftigen, indem man z.B. meditiert, anderen hilft usw. Auch dies häuft sich immer mehr zu einem Schatz an.

(3) Das Juwel der Großzügigkeit beinhaltet, anderen materielle Dinge zu geben, sowie auch, anderen unsere Zeit und Energie zu geben, ihnen Rat und Unterweisungen zukommen zu lassen und Schutz vor Furcht zu gewähren. Schutz vor Furcht heißt nicht nur, sie aus Gefahr zu retten, wenn sie z.B. zu ertrinken drohen, sondern auch, ihnen die Sicherheit zu geben, dass sie von uns nichts zu befürchten haben. Sie brauchen nicht zu befürchten, dass wir etwas von ihnen wollen oder dass wir sie zurückweisen oder ignorieren würden. Wir besitzen Gleichmut – eine ausgewogene Haltung allen gegenüber -, und dies lassen wir ihnen zugute kommen. Wir schenken ihnen auch unsere Liebe: Wir wünschen, dass sie glücklich sein mögen. Diese Großzügigkeit können wir immer mehr erweitern und immer umfassender ausdehnen, sodass sie sich auf immer mehr Menschen erstreckt.

(4) Das Juwel des Zuhörens: Je mehr Lehren wir hören – und studieren, denn wir müssen natürlich auch darüber nachdenken und meditieren – und je mehr davon wir tatsächlich im Sinn behalten, umso mehr gewinnt auch der Schatz des Zuhörens an Wert.

(5) Das Juwel des Sorgetragens dafür, wie mein Verhalten anderen erscheint, und (6) das Juwel des ethischen Ehrgefühls: Diese beiden Juwelen beschreiben zwei Faktoren, die die Grundlage für ethische Selbstdisziplin bilden. Sie sind Bestandteil jeglicher konstruktiver Geisteszustände.

Ethisches Ehrgefühl bedeutet, dass wir uns selbst achten, Respekt vor unserer Buddha-Natur haben und deswegen dafür Sorge tragen, welches Licht unser Verhalten auf uns wirft: „Ich habe genügend Achtung vor mir selbst und meiner Buddha-Natur, um mich nicht blödsinnig zu benehmen und destruktiv zu handeln.“ Oft fehlt es Menschen an Selbstwertgefühl, insbesondere wenn sie unwürdig behandelt werden – was in regionalen Konflikten überall auf der Welt geschieht. Das führt dazu, dass ihnen schließlich egal ist, wie sie sich verhalten. Im Extremfall können Menschen dann zu Selbstmord-Attentätern werden oder Ähnliches. Sie haben keine Achtung vor ihrem eigenen Leben, kein Gefühl dafür, was sie wert sind, und so kommt es zu der Einstellung, man könne sich auch in die Luft jagen. Wenn man hingegen ein Gefühl für den eigenen Wert hat, eben diese ethische Selbstachtung, hält uns das davon zurück, zerstörerisch zu handeln. Wir erniedrigen uns nicht so weit, auf solche Weise zu handeln.

Ein weiterer Faktor besteht darin, zu berücksichtigen, wie unsere Handlungen anderen erscheinen. Wir haben genügend Achtung vor unseren Eltern, Lehrern und Freunden, vor der Religion, der wir angehören, vor der eigenen Geschlechtszugehörigkeit, vor dem Land unserer Herkunft usw., dass wir z.B. denken: „Was werden die Leute von meiner Familie denken, wenn ich mich so destruktiv verhalte“ oder „Was wirft das für ein Licht auf den Buddhismus, wenn ich dies oder jenes tue? – Ich bin ja schließlich ein praktizierender Buddhist“ oder „Was sollen andere denn für ein Bild von den Leuten meines Landes bekommen?“ usw.

Diese beiden Faktoren bilden wie gesagt die Grundlage für ethische Disziplin, und sie können an Stärke immer weiter zunehmen.

(7) Das Juwel des unterscheidenden Gewahrseins besteht darin, nicht nur unterscheiden zu können, wie die Dinge existieren und wie nicht, sondern auch unterscheiden zu können, was hilfreich und was schädlich ist, was nützlich und was zerstörerisch ist, und wie man seine Zeit gut nutzt und was Zeitverschwendung ist.

Das sind die sieben Juwelen, die sich niemals erschöpfen. Sie werden weder jemals zu Ende gehen noch können sie gestohlen werden.

Unsere Praxis geheim halten

Sie sollten gegenüber menschenähnlichen Wesen nicht erwähnt werden.

Der Ausdruck menschenähnliche Wesen bezieht auch Geister mit ein, z.B. schädliche Geister, die Störungen verursachen können. Im Grunde wird damit ausgesagt, dass wir nicht angeben sollen – etwa: „Ich habe überaus viel studiert“ oder „Ich bin sehr diszipliniert“ oder „Mein Glaube übertrifft alles“ – so etwas lädt Störungen geradezu ein. Wir bewahren diese Juwelen respektvoll im Inneren. Wir prahlen nicht damit herum. Wir brauchen sie uns nicht wie Schmuckstücke um den Hals zu hängen, um irgendjemanden damit zu beeindrucken. Sie sind etwas, das wir in uns tragen.

Der letzte Vers ist zweifellos der berühmteste aus diesem Text und wird häufig zitiert:

Vers 28: Die wichtigsten Punkte für Situationen, wenn man allein ist und wenn man mit anderen zusammen ist

Ich will immer wieder meine Sprache prüfen, wenn ich inmitten vieler bin, und wieder und wieder meine Geisteszustände, wenn ich alleine bin.

Das ist ein wunderbarer Ratschlag. Worauf müssen wir achten und was müssen wir gegebenenfalls korrigieren, wenn es beginnt, sich in eine destruktive Richtung zu bewegen? Wenn wir mit anderen zusammen sind, so ist es unsere Redeweise. Reden wir dummes Zeug? Sagen wir etwas, dass jemand anderen in seinen Gefühlen verletzt? Sagen wir etwas Falsches? Schneiden wir auf? Prahlen wir? Klagen wir? Was tun wir gerade? – Achten Sie auf Ihre Sprache. Wenn wir gerade drauf und dran sind, etwas Törichtes zu sagen, korrigieren wir, was wir vorhatten zu sagen oder halten den Mund.

Wenn wir allein sind, gilt unsere Aufmerksamkeit unserem Geisteszustand. Wir achten darauf, was wir denken und fühlen. Und wir beschränken unsere Wachsamkeit nicht nur darauf, was unsere diskursiven Gedanken sind, sondern auch auf die Stimmung, in der wir uns gerade befinden, und die Emotionen, die aufsteigen. Wenn wir etwas bemerken, was destruktiv und störend ist, versuchen wir, dem entgegenzuwirken.

Das ist der beste Ratschlag. Er fasst den gesamten Pfad zusammen. Mit diesem berühmten Vers endet der Text.

Wie man diese Punkte ins Alltagsleben integriert

Ich denke, es könnte hilfreich sein – insbesondere, da der Text nicht übermäßig lang ist -, ihn jeden Tag oder jeden zweiten Tag zu lesen, um sich mit den verschiedenen Punkten vertraut zu machen. Wenn wir das tun, dann werden wir uns an den jeweiligen Punkt erinnern, wenn in unserem Alltag eine Situation auftritt, die damit zu tun hat, denn wir haben ja immer wieder darüber gelesen und die entsprechenden Punkte sind uns dann vertraut.

Man kann nicht sagen, dass einer der Punkte in diesem Text wichtiger ist als ein anderer. Sie alle haben damit zu tun, dass wir lernen, wie man Bodhichitta entwickelt: was dafür förderlich ist und vor allem, was nicht förderlich dafür ist. Wenn wir erkennen können, was nicht förderlich ist, dann versuchen wir, den jeweiligen Ratschlag zur Anwendung zu bringen. Wenn wir uns z.B. einsam fühlen und an anderen Menschen hängen, können wir daran denken, dass es uns eigentlich von unserer Praxis ablenkt und diese beeinträchtigt, wenn wir eine Menge Zeit mit ihnen verbringen. Und wenn viele Menschen um uns sind, überlegen wir, wie wir ihnen von Nutzen sein können. Jeder Aspekt dieser Lehren bezieht sich auf eine andere Situation. Wenn eine solche Situation auftritt und wir einen dieser Punkte darauf anwenden können, tun wir es.

Es ist sehr gut, so etwas jeden Tag zu lesen. Es muss nicht unbedingt dieser Text sein; wenn wir einen Text kennen, den wir besonders hilfreich finden, können wir den lesen. Und je nachdem, wie unser Tag verläuft, wird uns der ein oder andere Punkt in den Sinn kommen, der relevant dafür ist, und dann können wir innehalten und einen Moment darüber nachdenken. Das ist die Art und Weise, wie man so etwas übt. Es ist so ähnlich, als würde man eine Reihe von Mantras rezitieren, indem man die Perlen einer Mala durch die Finger gleiten lässt. Wir können diese Verse lesen und dabei die verschiedenen Punkte durchgehen. Auf diese Weise erinnern wir uns fortwährend daran. Ich meine, so erlangen wir am meisten Vertrautheit damit.

Und dann befassen wir uns mit diesen Punkten. Es gibt viele Möglichkeiten, das zu tun. Ich persönlich tue das, indem ich sie übersetze. Wenn man die Lehren oder dergleichen übersetzt oder niederschreibt, kommt man nicht umhin, daran zu denken. Wenn wir uns im Unterricht Notizen machen, können wir sie z.B. zu Hause noch einmal durcharbeiten und ausführlicher übersichtlicher aufschreiben. Das gibt uns Gelegenheit, darüber nachzudenken, insbesondere im Hinblick darauf, wie sie auch anderen von Nutzen sein könnten. Ob sie es dann tatsächlich sind, ist nicht entscheidend, wichtig ist, dass die Motivation dazu vorhanden ist. Es ist ziemlich schwierig, sich bloß hinzusetzen und in der Meditation über diese Punkte nachzudenken und dabei dauerndes Interesse und intensive Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Doch wenn wir die Lehren aufschreiben oder übersetzen, gibt uns das Gelegenheit, tiefer gehend darüber nachzudenken.

Ich finde Übersetzen dafür äußerst hilfreich. Ich arbeite gerade an einer neuen Übersetzung von Shantidevas Text und habe dabei sowohl auf das Sanskrit-Original als auch auf die tibetische Übersetzung zurückgegriffen. Obwohl ich diesen Text schon vor etlichen Jahren langsam und gründlich unterrichtet habe, gehe ich ihn nun nochmals durch. Ich beschäftige mich mit jedem einzelnen Wort sowohl in der Sanskrit- als auch in der tibetischen Version und ringe bei jedem Wort um die Entscheidung, wie es am besten zu übersetzen ist. Ich versuche, nachzuvollziehen, wie die Tibeter es verstanden haben und wo die Unterschiede zwischen den Versionen in den beiden Sprachen liegen usw. Dadurch ist mir der Text noch erheblich vertrauter geworden, sodass ich inzwischen viele Verse auswendig kann. Einen Text oder einen Teil eines Textes jeden Tag zu lesen und in immer wieder durchzugehen ist sehr hilfreich. Man lernt ihn dann viel besser kennen.

Es gibt viele solcher kleinen Tricks. Ugyen Tseten Rinpoche gab ein sehr gutes Beispiel dafür. Er sagte, dass er während seiner täglichen Rezitationen – die alle Tibeter durchführen – jede Zeile bzw. jeden Satz dreimal hintereinander rezitiert. Wenn wir die Rezitation auf diese Weise üben, wiederholen wir gedanklich tatsächlich jeden Punkt. Wir können unsere Rezitationen sehr schnell erledigen, insbesondere wenn wir sie schon seit Jahren täglich lesen, aber die Gefahr dabei ist, dass wir sie mit hoher Geschwindigkeit durchlesen, ohne über irgendetwas davon nachzudenken. Doch wenn wir uns jeden Satz oder jede Zeile einzeln vornehmen und sie dreimal rezitieren, bevor wir zur nächsten übergehen, dann nehmen wir uns die Zeit, tatsächlich darüber nachzudenken oder zu visualisieren, was damit jeweils zum Ausdruck gebracht wird. Das ist ein sehr hilfreicher Rat von einem großartigen Lama, Ugyen Tseten Rinpoche – der mittlerweile 90 Jahre alt ist und aus der reichhaltigen Erfahrung seines Lebens spricht.

Wenn wir also einen Text wie diesen lesen, können wir diesen Ratschlag darauf anwenden. Wenn wir Zeit dazu haben, können wir jede Zelle dreimal rezitieren, sodass wir tatsächlich an die Bedeutung denken. Wenn das zu schwierig ist, müssen wir nicht den ganzen Text lesen, sondern können uns einfach nur jeweils ein paar Verse vornehmen. Shantideva bringt die Absicht in seinen ersten Versen zum Ausdruck: „Ich schreibe dies, um meinen Geist damit vertraut zu machen, und wenn jemand anderes es hilfreich findet – umso besser.“ Es kommt in unserer Praxis nicht auf die Quantität an, sondern auf die Qualität.

Zusammenfassung

Ich bin sehr froh, dass ich Gelegenheit hatte, diese Lehren und diese Erläuterung von Geshe Ngawang Dhargye mit Ihnen zu teilen. Ich habe seine Erläuterung 1973 erhalten, also vor vielen Jahren. Zum Glück habe ich mir Notizen gemacht. Und wenn Sie sich ebenfalls Notizen gemacht haben, dann werden Sie auch nach 30 Jahren noch imstande sein, sie anderen zu erklären – der nächsten Generation. Es sind sehr kostbare Lehren und sie sind äußerst hilfreich.

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