Die fünf großen Argumentationsketten des Madhyamaka
Die Madhyamaka-Meister verwenden fünf große Argumentationsketten des Madhyamaka (dbu-ma’i gtan-tshigs chen-po lnga; fünf große Madhyamaka-Syllogismen), um die Leerheit von wahrer Existenz zu begründen. Diese fünf sind:
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Die Argumentationskette, dass Phänomene „abgelöst davon sind, entweder eine Einzahl oder eine Mehrzahl zu sein“ (gcig-du bral-gyi gtan-tshigs, der Syllogismus, dass etwas weder eins noch viele ist), wird benutzt, um die wesentliche Natur (ngo-bo) aller Phänomene zu analysieren. Von den drei Pforten zur Befreiung (rnam-par thar-pa'i sgo gsum), öffnet diese Argumentationskette den Zugang zur Leerheit von wahren Existenz (stong-pa-nyid) selbst. Das klassische Beispiel lautet: „Dem Diskussionsgegenstand – allen Phänomenen -, wie zum Beispiel einem Keimling, fehlt es an wahrer Existenz, da es sich weder um eine wahrhaft existente einzige Entität noch um wahrhaft existente mehrzahlige Entitäten handelt.“
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Die Argumentationskette namens „Vajra-Tröpflein“ (rdo-rje gzegs-ma’i gtan-tshigs, der Syllogismus der Vajra-Fragmente) wird benutzt, um Ursachen zu analysieren. Diese Argumentationskette wird „Vajra-Tröpflein“ genannt, weil sie falsche Ansichten über die Natur der Kausalität zerstört wie Wassertropfen, die einen Felsberg abschleifen. Von den drei Pforten zur Befreiung öffnet diese Argumentationskette den Zugang zur Erkenntnis der Abwesenheit von Merkmalen (wahrhaft existierender Ursachen) (mtshan-ma med-pa). Das klassische Beispiel lautet: „Dem Diskussionsgegenstand – wirksamen Phänomenen -, wie zum Beispiel einem Keimling, fehlt es an wahrhaft existentem Entstehen, da er weder aus einem (wahrhaft existenten) eigenen Selbst entsteht noch aus etwas (wahrhaft existentem) anderem noch aus beidem noch aus keinem von beiden – was gleichbedeutend ist mit: aus keinerlei Ursache“.
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Die Argumentationskette „Widerlegung des Entstehens von etwas, das bereits existiert oder noch nicht existiert“ (yod-med skye-’gog-gi gtan-tshigs). Diese Argumentationskette wird verwendet, um Wirkungen zu analysieren. Von den drei Pforten zur Befreiung öffnet diese Argumentionskette den Zugang zur Abwesenheit von Erwartungen (in Bezug auf wahrhaft existente Wirkungen) (smon-pa med-pa). Das klassische Beispiel lautet: „Dem Diskussionsgegenstand – wirksamen Phänomenen -, wie zum Beispiel einem Keimling, fehlt es an wahrer Existenz, da er nicht als etwas entsteht, das zur Zeit seiner Ursache wahrhaft existent, wahrhaft nicht existent, beides oder keins von beidem war.“
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Die Argumentationskette „Widerlegung der vier Möglichkeiten des Entstehens“ (mu-bzhi skye-’gog-gi gtan-tshigs) wird verwendet, um sowohl Ursachen als auch Wirkungen zu analysieren. Das klassische Beispiel ist: „Dem Diskussionsgegenstand – wirksamen Phänomenen – fehlt es an wahrer Existenz, da vom tiefgründigsten Gesichtspunkt aus (don-dam-par) eine (wahrhaft existente) Ursache weder eine noch viele (wahrhaft existente) Wirkungen hervorbringen kann, und viele (wahrhaft existente) Ursachen weder eine noch viele (wahrhaft existente) Wirkungen hervorbringen können.“
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Die Argumentationskette „Abhängiges Entstehen“ (rten-’brel-gyi gtan-tshigs), ist der König der Argumente (rigs-pa'i rgyal-po) und wird verwendet, um die Abwesenheit von wahrer Existenz aller Phänomene zu begründen. Das klassische Beispiel ist „Der Diskussionsgegenstand – wirksame Phänomene -, kann nicht als etwas erwiesen werden, das wahre Existenz hat, da sie auf abhängige Weise entstehen.“
Die Unterscheidung zwischen der Verwendung der fünf Argumentationsketten im Svatantrika- und im Prasangika-System aus der Sicht der Gelug-Tradition
Gemäß Aussage der Svatantrika-Abteilung des Madhyamaka benutzen die fünf großen Argumentationsketten des Madhyamaka Bestandteile der Argumentationsketten, wie zum Beispiel „Keimling“ und „Leerheit“, die die Opponenten in der Debatte auf dieselbe Weise gültig wahrnehmen wie diejenigen, die die Argumentationskette verwenden. Nach der Gelug-Interpretation des Svatantrika bedeutet das, dass sowohl die Verfechter der These als auch die Opponenten definierende Eigenschaften (mtshan-nyid) gültig wahrnehmen, die auf Seiten dieser Gegenstände auffindbar sind und die die konventionelle Existenz dieser Gegenstände erweisen. Obwohl beispielsweise im Chittamatra- und im Svatantrika-System durch die Leerheit aller Phänomene verschiedene Objekte negiert werden (dgag-bya), akzeptieren beide Lehrsysteme auffindbare definierende Eigenschaften auf Seiten der Leerheit als Objekte gültiger Wahrnehmung.
Die Gelug-Prasangika-Position ist, dass diese fünf Argumentationsketten zwar verwendet werden können, um einem Opponenten die Leerheit von wahrer Existenz zu beweisen, allerdings nur mittels einer schlussfolgernden Wahrnehmung, die etwas beinhaltet, was anderen wohlbekannt ist (gzhan-la grags-pa’i rjes-dpag). Das heißt: durch eine schlussfolgernde Wahrnehmung, die Inhalte benutzt – wie zum Beispiel die auffindbaren definierenden Eigenschaften auf Seiten der Phänomene -, von denen nur der Opponent in der Debatte behauptet, dass sie Objekte gültiger Wahrnehmung sind. Nur diejenigen, die wahre Existenz vertreten, akzeptieren, dass wahrhaft auffindbare definierende Eigenschaften auf Seiten der Phänomene Objekte gültiger Wahrnehmung sind. Da im Prasangika-System nicht einmal die konventionelle Existenz solcher definierenden Eigenschaften akzeptiert wird, ist eine schlussfolgernde Wahrnehmung, die solche beinhaltet, bloß für diese Opponenten eine gültige Wahrnehmung.
Absurde Folgerungen
Zusätzlich zu diesen fünf großen Argumentationsketten des Madhyamaka benutzt das Prasangika-System auch die Argumentation mittels absurder Folgerungen (thal-'gyur, Skt. prasanga), um jemandem, der von wahrer Existenz überzeugt ist, dazu zu verhelfen, wahre Existenz als etwas Unmögliches zu verwerfen. Diese Methode benutzt Behauptungen, die der Opponent akzeptiert – etwa, dass Reiskeimlinge aus etwas anderem als sie selbst entstehen, nämlich aus Reiskörnern – , um dann absurde Schlüsse zu ziehen, die daraus folgen würden, wenn die Behauptung auf der Grundlage wahrer Existenz zutreffend wäre. Wenn ein wahrhaft existenter Reiskeimling aus etwas entstehen könnte, das wahrhaft als etwas anderes als er selbst existiert, dann würde sich daraus die absurde Folgerung ergeben, dass ein wahrhaft existenter Reiskeimling aus allem und jedem entstehen könnte, zum Beispiel aus einem wahrhaft existenten Gerstenkorn, denn auch dieses wäre etwas wahrhaft anderes als er selbst. Nachdem dem Opponenten die absurden Folgerungen aufgezeigt wurden, die sich aus seinen Behauptungen ergibt, wird der Opponent in der Debatte diese Behauptungen aufgeben – statt eine andere Behauptung zu akzeptieren, die durch eine formale logische Argumentationskette bewiesen wurde, wie es gemäß der Svatantrika-Methode der Fall wäre.