Mahamudra: Meditation über geistige Aktivität

Shamatha und Vipashyana

Alle Punkte, die wir diskutiert haben, sind für ein Verständnis der Mahamudra-Meditation von Relevanz. Mahamudra-Meditation hat zwei grundlegende Stufen: Die Praktiken zur Vollendung von Shamatha und die Praktiken zur Vollendung von Vipashyana.

Shamatha ist ein klarer, still gewordener und beruhigter Geisteszustand, der in der Mahamudra auf die konventionelle Natur der geistigen Aktivität ausgerichtet ist. In der Gelug-Kagyü-Tradition der Mahamudra konzentrieren wir uns auf das reine Erscheinungs-Hervorbringen und Wahrnehmen, das in jedem Moment unserer Wahrnehmung geschieht. Wir beginnen dies zuerst mit dem Sehen und dann mit anderen Arten der Sinneswahrnehmung, als nächstes mit dem Denken und danach mit geistiger Wahrnehmung, ohne begrifflich über das, was erscheint, nachzudenken. Ganz gleich, welche Art von geistiger Aktivität geschieht: Wir konzentrieren uns nicht auf ihren Inhalt.

Vipashyana ist ein außergewöhnlich empfänglicher Geisteszustand, der sich in der Mahamudra auf die tiefste Natur der geistigen Aktivität konzentriert. Er fokussiert sich auf die Leerheit der geistigen Aktivität – ihre Abwesenheit von unmöglichen, extremen Existenzweisen, wie zum Beispiel wahrer Existenz.

In Shamatha konzentrieren wir uns nicht auf den Inhalt unserer geistigen Aktivität, der ohnehin unrein ist. Da sie nicht unbegrifflich auf Leerheit ausgerichtet ist, ist der Inhalt zwangsweise mit Erscheinungs-Hervorbringen von wahrer Existenz und Greifen nach wahrer Existenz verbunden. Das bedeutet, dass unsere geistige Aktivität selbst während unserer Shamatha-Ausrichtung auf die konventionelle Natur der geistigen Aktivität immer noch unrein ist. Daher erweckt sie den Anschein, dass ihre eigene konventionelle Natur wahrhaft existiert, und greift danach, dass sie auf diese unmögliche Weise existiert. Dennoch ist dies weniger störend als das Erscheinungs-Hervorbringen von wahrer Existenz und Greifen nach wahrer Existenz, die während der Konzentration auf die sich ständig verändernden Inhalte unserer geistigen Aktivität auftreten. Die konventionelle Natur unserer geistigen Aktivität bleibt konstant. Sie ändert sich nie, auch wenn sie natürlich kein statisches Phänomen ist, weil sie sich in jedem Moment ein anderes Objekt nimmt.

Da sich die konventionelle Natur der geistigen Aktivität nie ändert und da die Ausrichtung auf sie nicht die üblichen störenden Emotionen hervorruft, wie im Falle der Ausrichtung auf ihre sich ständig ändernden Inhalte, ist es sehr viel einfacher, die Leerheit der konventionellen Natur der geistigen Aktivität zu erkennen als die Leerheit eines Inhalts der geistigen Aktivität. Das ist einer der wichtigsten Vorzüge der Mahamudra-Meditation.

Im Mahamudra-Vipashyana richten wir uns auf die Leerheit der konventionellen Natur unserer geistigen Aktivität aus. Nur das befreit uns von unserer unreinen geistigen Aktivität. Die bloße Tatsache, dass wir uns in der Shamatha-Meditation nicht auf unsere unreinen geistigen Aktivitäten fokussieren, befreit uns nicht von unreiner geistiger Aktivität. Es ist nur eine vorübergehende Atempause von der unreinen Art von geistiger Aktivität, die auf den Inhalt unserer geistigen Aktivität ausgerichtet ist, und das ist alles. Diese Pause gestattet uns jedoch, uns während der Vipashyana-Meditation besser auf die Leerheit unserer geistigen Aktivität fokussieren zu können, weil wir weniger störende Emotionen haben und unser Objekt der Ausrichtung konstant bleibt. In der Gelug-Kagyü-Tradition der Mahamudra, wie zum Beispiel im „Wurzeltext für die kostbare Gelug-Kagyü-Tradition der Mahamudra“ des ersten Panchen Lama, wird die Meditation auf diese Weise präsentiert.

Detaillierte Diskussion des Mahamudra-Shamatha

Die Praxis der Mahamudra-Shamatha-Meditation erfordert, die konventionelle Natur der geistigen Aktivität von ihren Inhalten unterscheiden zu können. Dies benötigt den Geistesfaktor (das Nebengewahrsein) des Unterscheidungsvermögens oder, wie es manchmal übersetzt wird, des Erkennens. Es ist eines der fünf Aggregate unserer Erfahrung. Der Geistesfaktor des Unterscheidungsvermögens fokussiert sich auf ein ungewöhnliches, ausschlaggebendes Merkmal von etwas, zum Beispiel auf etwas innerhalb unseres kognitiven Bereichs wie unseres Blickfelds, und unterscheidet es von den anderen Dingen in diesem Bereich. Dieser Geistesfaktor gestattet uns, uns auf einen Gegenstand innerhalb eines kognitiven Bereichs zu fokussieren, auf dies und nicht jenes, auch wenn wir dem, was wir herausheben, in der Sinneswahrnehmung keinen Namen beilegen. Ein einfaches Beispiel wäre, Licht von Dunkelheit zu unterscheiden oder die farbige Form des Gesichts eines Menschen von den farbigen Formen der Wand zu unterscheiden. Selbst einem Kleinkind oder einem Tier ist dies möglich.

Hier müssen wir in der Lage sein, in einem Moment der geistigen Aktivität die konventionelle Natur der geistigen Aktivität von ihren Inhalten zu unterscheiden. Das ist sehr schwierig. Es ist sehr schwer, tatsächliches bloßes Erscheinungs-Hervorbringen und Wahrnehmen zu unterscheiden.

Es ist nicht nur schwierig, bloßes Erscheinungs-Hervorbringen und Wahrnehmen als unser Objekt, auf das wir uns ausrichten, zu unterscheiden, auch der Prozess des Meditierens selbst ist ein schwieriger. Wie auch im Falle der Meditation über Liebe konzentrieren wir uns auf diese konventionelle Natur nicht als ein kognitives Objekt wie den Atem. Wir meditieren nicht in der Art, dass eine geistige Aktivität ein Objekt betrachtet, das von ihr unterschieden wäre und auf das sie sich konzentriert, wie wir es tun, wenn wir uns auf den Atem ausrichten. Wir begleiten lediglich das Objekt, auf das wir uns ausrichten, (die geistige Aktivität selbst) mit Unterscheidungsvermögen, Konzentration und so weiter, während es in einer Abfolge von Momenten auftritt. Aber anders als im Falle der Meditation über Liebe müssen wir das Objekt unserer Ausrichtung nicht neu erwecken. Die konventionelle Natur der geistigen Aktivität tritt die ganze Zeit von allein auf.

Shamatha-Meditation erfordert die Geistesfaktoren der Aufmerksamkeit, Vergegenwärtigung, Wachsamkeit und Konzentration. Aufmerksamkeit oder ‚sich zu Geiste nehmen’ basiert auf Unterscheidung. Erst wenn wir in der Lage sind, das Objekt der Meditation zu unterscheiden, können wir auf es achten, wenn es geschieht. Was da geschieht ist die geistige Aktivität. Die geistige Aktivität wird von Aufmerksamkeit auf die konventionelle Natur der geistigen Aktivität begleitet, sonst könnte das Objekt nicht das Objekt unserer Konzentration sein. Es ist jedoch nicht so, dass es ein getrenntes ‚Ich’ gibt, das als Beobachter auf das Objekt achtet.

Man sollte im Sinn behalten, dass Aufmerksamkeit nicht dasselbe wie reflexives Gewahrsein (tib. rang-rig) ist, von dem in verschiedenen buddhistischen Lehrsystemen gesprochen wird. Reflexives Gewahrsein ist ein getrenntes Gewahrsein, das eine Wahrnehmung begleitet und die geistige Aktivität selbst sowie die Tatsache, dass sie trügerisch oder nicht trügerisch ist, erkennt. Es überprüft die Täuschung nicht, sondern nimmt sie einfach wahr. Zudem lässt reflexives Gewahrsein keine kognitive Erscheinung des Objekts der Wahrnehmung entstehen, das das reflexive Gewahrsein begleitet, wie ein Nebenbewusstsein wie Aufmerksamkeit es tun würde. Stattdessen lässt reflexives Gewahrsein nur eine kognitive Erscheinung des Primärbewusstseins und der verschiedenen Arten von Nebenbewusstsein der Wahrnehmung entstehen. Es ist für die Fähigkeit verantwortlich, sich später daran erinnern zu können, dass es diese Wahrnehmung hatte.

Die Gelug-Prasangika-Tradition akzeptiert nicht einmal die konventionelle Existenz des reflexiven Gewahrseins. Während sich primäres Bewusstsein auf ein kognitives Objekt konzentriert, nimmt es explizit sein Objekt der Ausrichtung wahr und implizit sein eigenes Auftreten und seine Täuschung oder Nicht-Täuschung. Dies gestattet eine spätere Erinnerung an die Wahrnehmung. Aufmerksamkeit fokussiert sich hier auf dasselbe Objekt der Ausrichtung wie das Primärbewusstsein – nämlich die konventionelle Natur der geistigen Aktivität, während sie auftritt. Da Aufmerksamkeit sich nicht auf die Inhalte der Wahrnehmung konzentriert, ist die Meditation unaufmerksam gegenüber den Inhalten. Sie achtet nur auf das bloße Erscheinungs-Hervorbringen und Wahrnehmen.

Was ist Vergegenwärtigung? Vergegenwärtigung ist der geistige Klebstoff, der am Objekt festhält und es nicht loslässt. Wachsamkeit wacht über den geistigen Halt; sie ist ein Teil der Vergegenwärtigung. Gibt es ein geistiges Festhalten an einem Objekt der Ausrichtung und wird dieser Halt aufrechterhalten, ist ein Teil dieses Halts automatisch Wachsamkeit gegenüber dem Zustand des Halts. Dazu braucht es kein separates ‚Ich’, das beobachtet und wachsam ist, um ihn zu überprüfen.

Es kann leicht geschehen, dass uns in unserer Meditation ein großer Fehler unterläuft, nämlich wenn wir uns unsere Meditation so vorstellen, als gäbe es da ein separates ‚Ich’ oder einen separaten Geistesfaktor ‚Wachsamkeit’, der aufpasst. Wir können paranoid werden und anfangen, auf dualistische Weise zu meditieren. Unsere Aufmerksamkeit ist geteilt: Ein Teil fokussiert sich auf das Objekt und ein Teil fokussiert sich auf das Achtgeben, darauf, den Polizisten spielen. Aber Wachsamkeit ist ein natürlicher Teil der Vergegenwärtigung.

Konzentration bedeutet, einem Objekt geistig treu zu bleiben, bei ihm zu verweilen. Gibt es ein geistiges Festhalten des Objekts (Vergegenwärtigung), gibt es auch ein geistiges Verweilen bei ihm (Konzentration).

Wenn wir von diesen drei Geistesfaktoren sprechen, ist es fast so, als sprächen wir über dieselbe Aktivität von drei verschiedenen Standpunkten aus. Die geistige Aktivität hält ihr Objekt und lässt es nicht los; das ist Vergegenwärtigung. Wenn sie das tut, bleibt sie beim Objekt; das ist Konzentration. Wenn sie das Objekt hält und dort bleibt, bedeutet das, dass Wachsamkeit beteiligt ist, so dass sie nicht loslässt.

Um zusammen zu fassen: in der Mahamudra-Shamatha-Meditation fokussiert sich die Aufmerksamkeit auf die geistige Aktivität, die geschieht, nicht auf ihren Inhalt. Sie ist nicht auf die Tasse gerichtet und fokussiert sich nicht auf die farbige Form, die Gestalt. Sie fokussiert sich nicht auf die Tatsache, dass die geistige Aktivität die Tasse sieht. Sie fokussiert sich nicht auf die Geistesfaktoren, die jeden Moment des Sehens der Tasse begleiten mögen: Emotionen der Anhaftung an sie als ‚mein’ und so weiter, weil auch das zum Inhalt gehört. Die Aufmerksamkeit richtet sich nur auf die geistige Aktivität selbst: das bloße Erscheinungs-Hervorbringen und Wahrnehmen. Es fokussiert sich auf die konventionelle Natur der geistigen Aktivität und wird begleitet von den Geistesfaktoren des Unterscheidens, der Vergegenwärtigung, der Wachsamkeit und der Konzentration.

Es ist offensichtlich, dass dies nicht sehr einfach ist, doch das ist es, was wir in Mahamudra-Shamatha-Meditation zu tun versuchen. Um hierbei erfolgreich zu sein, brauchen wir gewöhnliche und außergewöhnliche vorbereitende Übungen, sonst führt es zu nichts, wenn wir dies versuchen. Wir werden nicht einmal in der Lage sein, das korrekte Objekt der Konzentration für die Mahamudra-Meditation zu unterscheiden, und erst recht nicht, uns darauf auszurichten.

Vorbereitende Übungen

Wir brauchen eine sichere Richtung (Zuflucht), das heißt, wir müssen in unserem Leben in die sichere Richtung der dritten und vierten edlen Wahrheit gehen – der wahren Beendigungen und der wahren Pfade, die dazu führen. Die dritte und vierte edle Wahrheit sind die tiefgründigsten drei Juwelen.

Sichere Richtung ist ein komplexes Thema: Da gibt es die tiefsten drei Juwelen, die offensichtlichen drei Juwelen und die Repräsentationen der drei Juwelen. Die tiefsten drei Juwelen sind die dritte und vierte edle Wahrheit: wahre Beendigungen und wahre Pfade. In Hinsicht auf das Buddha-Juwel betrachten wir diese beiden Wahrheiten von dem Standpunkt aus, dass sie eine Quelle der Inspiration sind. Betrachten wir sie aus dem Blickwinkel des Dharma-Juwels, sind sie ein Quelle der tatsächlichen Errungenschaften. Betrachtet man sie aus der Sicht des Sangha-Juwels, sind sie eine Quelle des erleuchteten Einflusses.

Unserem Leben eine sichere Richtung zu geben bedeutet, dass wir darauf abzielen, wahre Pfade und wahre Beendigungen der Kontinua unserer eigenen geistigen Aktivität zu erreichen. Wir praktizieren Mahamudra-Meditation nicht nur, weil es Spaß macht oder ‚abgefahren’ ist. Wir praktizieren sie, um uns der ersten und zweiten edlen Wahrheit als Inhalt unserer geistigen Aktivität zu entledigen. Wir zielen darauf ab, eine wahre Beendigung der ersten und zweiten edlen Wahrheit zu erreichen, indem wir stattdessen die vierte edle Wahrheit zum Inhalt unserer geistigen Aktivität machen. Daher ist sichere Richtung absolut essentiell.

Dann müssen wir das kostbare menschliche Leben würdigen, mitsamt der Intelligenz und der Fähigkeit, auf solch einer verfeinerten Ebene die Natur unserer geistigen Aktivität von ihrem Inhalt zu unterscheiden. Ein Tier könnte das nicht. Wir sind uns auch bewusst, dass wir unser kostbares menschliches Leben eines Tages verlieren werden und niemals wissen, wann. Wir müssen uns diese Fähigkeiten und Möglichkeiten also auf der Stelle zunutze machen, indem wir den Dharma praktizieren, wie zum Beispiel Mahamudra.

Auch Entsagung oder Verzicht ist von wesentlicher Bedeutung. Wem oder was entsagen wir? Wir entsagen der ersten und zweiten edlen Wahrheit. Entsagung bedeutet, sich von etwas abzuwenden, „Ich möchte davon frei werden“, und dem tatsächlich den Rücken zu kehren und es fallen zu lassen. Was müssen wir fallen lassen? Wir müssen in unserer Meditation den unreinen Inhalt jedes Moments unserer geistigen Aktivität und unsere Ausrichtung darauf fallen lassen. Wir müssen darauf verzichten. Wir müssen auf Wut verzichten, der Langeweile entsagen, dem Gefühl des Schmerzes in unseren Beinen. Ganz gleich, was der Inhalt sein mag, wir konzentrieren uns auf die konventionelle Natur der geistigen Aktivität selbst, die sie erscheinen lässt (das geistige Hologramm) und wahrnimmt. Lediglich das. Entsagung oder Verzicht ist hier also wesentlich, sonst bleiben wir im Inhalt verfangen und lassen uns von ihm stören.

Bodhichitta ist genauso essentiell. Bodhichitta ist auf die zukünftige Erleuchtung ausgerichtet, mit der unsere geistigen Kontinua überlagert werden können, und konzentriert sich auf die Erleuchtung mit der Absicht, sie zu erreichen und dadurch allen Wesen zu nutzen. Bodhichitta konzentriert sich also auf die vollständig erreichte dritte und vierte edle Wahrheit. Diese sind zwar noch nicht in unserer geistigen Aktivität vorhanden, doch wir haben die Faktoren der Buddha-Natur, die uns gestatten, die dritte und vierte edle Wahrheit zu erlangen. Bodhichitta zielt nicht auf die Erleuchtung des Buddha Shakyamuni ab. Es richtet sich nicht auf Erleuchtung im Allgemeinen. Es zielt auf unsere eigene, individuelle, subjektive zukünftige Erleuchtung ab, auf der Basis ihrer Ursachen, unseren Faktoren der Buddha-Natur.

Um richtig über Bodhichitta meditieren zu können, müssen wir sein Objekt, auf das es sich konzentriert identifizieren und unterscheiden. Es ist die dritte und vierte edle Wahrheit – in ihrem vollständigen Sinne, wie durch einen Buddha verwirklicht – die noch nicht in unseren geistigen Kontinua vorhanden sind, doch auf der Basis unserer Buddha-Natur entstehen werden, wenn unsere geistigen Kontinua alle Ursachen für ihre Vollendung erfahren haben.

Wir haben die Absicht, diese dritte und vierte edle Wahrheit im Laufe der Zeit zu vollenden. Warum? Weil wir allen Wesen nutzen wollen. Die Absicht besteht darin, sie zu erreichen, um allen Wesen so viel wie nur möglich helfen zu können. Das liegt daran, dass die Art, wie wir ihnen im Augenblick nutzen, unzulänglich ist. Wir durchschauen nicht alle Ursachen dafür, warum jemand in einer bestimmten Weise handelt. Wir haben keine Ahnung, was wir dieser Person beibringen sollen, um ihr zu helfen. Und wir haben keine Ahnung, was das, was wir lehren, für Auswirkungen haben wird – wir kennen weder die Auswirkungen auf diese Person noch auf alle anderen, mit denen diese Person in Zukunft sprechen oder in Interaktion treten wird. Welche Auswirkungen wird das, was wir lehren, auf seine oder ihre Kinder und die Menschen haben, mit denen die Kinder in der Zukunft sprechen oder mit denen sie interagieren werden? Nur ein Buddha weiß dies, denn nur ein Buddha hat das uneingeschränkte Erscheinungs-Hervorbringen und Wahrnehmen des abhängigen Entstehens. Ein Buddha sieht das Ganze. Der Grund, warum wir Buddhas werden müssen, ist, um anderen vollständig von Nutzen sein zu können. Es ist nicht nur damit wir uns so unserer störenden Emotionen und unseres Egogreifens entledigen können – auch ein Arhat entledigt sich dieser.

Wir brauchen auch Mitgefühl – den Wunsch, dass andere frei von der ersten und zweiten edlen Wahrheit sein mögen, indem sie in ihrer geistigen Aktivität die dritte und vierte edle Wahrheit vollenden. Mitgefühl intensiviert die Energie unserer Absicht, Erleuchtung zu erlangen. Wir brauchen auch ethische Disziplin und Konzentration, um Shamatha zu vollenden.

Am wichtigsten ist die Inspiration durch unsere spirituellen Lehrern, unsere Gurus. Inspiration wird of als ‚Segen’ übersetzt, doch das ist eine schreckliche Übersetzung aus einer anderen Religion. Ein besserer Begriff dafür ist Inspiration. Das Sanskritwort bedeutet einen Anstieg unserer Energie. In der Mahamudra-Shamatha-Meditation fokussieren wir uns auf die konventionelle Natur unserer geistigen Aktivität. Obgleich die Meditation nichtdual sein muss, könnte man sagen, dass sich die konventionelle Natur der geistigen Aktivität auf die konventionelle Natur der geistigen Aktivität fokussiert. Daher können wir die Meditation über die konventionelle Natur der geistigen Aktivität aus zwei Perspektiven heraus beschreiben: aus der Perspektive der konventionellen Natur als Objekt der Konzentration sowie aus der Perspektive der konventionellen Natur als das, was sich konzentriert. Mit anderen Worten: wir können die konventionelle Natur der geistigen Aktivität gleichzeitig als Objekt sowie wirkende Kraft oder gleichzeitig als Objekt wie Subjekt betrachten. Je mehr diese konventionelle Natur intensiviert wird, desto einfacher ist es, sie unter diesen beiden Gesichtspunkten zu unterscheiden.

Die Inspiration von unseren Gurus intensiviert die konventionelle Natur unserer geistigen Aktivität. Unsere geistige Aktivität wird in gewisser Hinsicht brillanter , energetischer; sie erlebt einen Aufschwung. Je stärker und energetischer ihre konventionelle Natur ist, desto einfacher wird es, sie in jedem Moment der geistigen Aktivität zu unterscheiden und sich auf sie zu fokussieren. Und je energetischer die konventionelle Natur unserer geistigen Aktivität wird, desto intensiver wird sie als das Wahrnehmende in der Meditation. Natürlich kommt diese Intensivierung oder dieser Aufschwung aus einer gesunden Beziehung zu einem spirituellen Lehrer, nicht aus einer ungesunden. Ein gesundes Verhältnis zeichnet sich dadurch aus, dass es störende Emotionen beseitigt, und nicht, dass es sie vermehrt.

Positive Kraft (Verdienst) aufbauen

Zusätzlich zu den abgestuften Punkten des Lam-rim, aus denen sich die gewöhnlichen Vorbereitungen zusammensetzen, brauchen wir auch die außergewöhnlichen besonderen Vorbereitungen, um Erfolg in der Mahamudra-Meditation zu erzielen. Dazu gehören Niederwerfungen, Vajrasattva-Meditation, Darbringen des Mandala, Guru-Yoga usw.. Sie helfen uns, größere positive Kraft aufzubauen, oft ‚Verdienst’ genannt. ‚Verdienst’ ist nicht die beste Übersetzung, da es so klingt, als gelte es, Punkte zu gewinnen, und wenn wir genug angesammelt haben, gewinnen wir einen Grillofen. So ist es nicht. Es ist positive Kraft; sie wird stärker und stärker, so dass es uns als Resultat zum Beispiel tatsächlich möglich ist, die konventionelle Natur unserer geistigen Aktivität zu erkennen.

Es lässt sich ein bisschen mit sich selbst strukturierenden Netzwerken vergleichen. Bei einem offenem Netzwerk wie einem Organismus fließt Energie hinein und hinaus. Erreicht diese Energie eine bestimmte kritische Masse oder einen Punkt des Phasenwechsels, macht das ganze System einen Quantensprung und strukturiert sich neu. Ein einfaches Beispiel dafür ist: Wenn man als Rechtshänder seinen rechten Arm verliert, wird sich das Gehirn umorganisieren, so dass man die linke Hand zum Schreiben benutzen kann. Das System strukturiert sich neu. Das gleiche gilt für anorganische Systeme wie einen gefrorenen Teich. Wenn genug Wärmeenergie in das System Einlass findet, geht das feste Eis in einen anderen Aggregatzustand über und strukturiert sich zu flüssigem Wasser um.

Auf ähnliche Weise wird, wenn genug positive Kraft in das System der geistigen Aktivität Einlass gefunden hat, – das Netzwerk der Aggregate, die jeden Moment unserer Erfahrung ausmachen, – i rgendwann zu einem gewissen Punkt gelangen, an dem sich das Ganze umstrukturiert. An diesem Punkt sind wir endlich in der Lage, die konventionelle Natur der geistigen Aktivität korrekt zu erkennen. Später, wenn wir noch mehr positive Kraft haben, wird es sich noch einmal umstrukturieren und wir werden eine begriffliche Wahrnehmung von Leerheit haben. In der nächsten Phase der Umstrukturierung gelingt uns eine unbegriffliche Wahrnehmung von Leerheit. All diese Phasenwechsel brauchen eine enorme Menge an positiver Kraft.

Positive Kraft kann aus der Inspiration von unseren spirituellen Lehrern kommen, davon, dass wir eine sichere Richtung einschlagen, von Mitgefühl, von Bodhichitta oder ähnlichen Dingen. Die positive Kraft aus jedem muss in das System einfließen, in das Netzwerk unserer Aggregate, damit es zu den Quantensprüngen kommt. Mit diesen Sprüngen durchläuft das System fortschreitende Phasenwechsel und strukturiert sich neu, wie Eis sich in Wasser verwandelt und Wasser dann in Dampf. Irgendwann wird sich das Netzwerk so umstrukturieren, dass es die unreine Seite der geistigen Aktivität nicht mehr gibt: das Erscheinungs-Hervorbringen von wahrer Existenz und das Greifen nach wahrer Existenz. Mit einer wahren Beendigung der unreinen Seite erleben wir nur noch die reine Seite – für immer. Das ist Buddhaschaft.

Man sollte dabei im Sinn behalten, dass die konventionelle und tiefste Natur der geistigen Aktivität im Laufe dieses gesamten Evolutionsprozesses, in dem sich unsere geistige Aktivität auf verschiedenen Ebenen umstrukturiert, während wir auf dem Pfad voranschreiten, immer dieselbe bleibt.

Der Unterschied zwischen innewohnend, inhärent und individuell

Wir haben nicht genug Zeit für eine ausführliche Diskussion der Mahamudra-Vipashyana-Meditation über die leere Natur der geistigen Aktivität. Wir haben bereits einige diesbezügliche Punkte in unserer Diskussion über unreine und reine geistige Aktivität angesprochen. Doch ich möchte noch auf ein paar weitere Punkte hinweisen, die vielleicht hilfreich sind, speziell auf den Unterschied zwischen drei buddhistischen Begriffen: innewohnend, inhärent und individuell.

Etwas ist ‚innewohnend’, wenn es automatisch mit etwas anderem mitgeliefert wird. ‚Gleichzeitig entstehend’ ist die wörtliche Übersetzung des Begriffs. Gleichzeitig entstehend mit jedem Moment der geistigen Aktivität sind ihre konventionelle Natur und ihre tiefste Natur – was sie ist und wie sie existiert. Sie sind innewohnend, angeboren. Das ist in Ordnung; daran ist nichts verkehrt. Es ist einfach, wie die Dinge sind.

,Inhärent’, wie im Ausdruck inhärente Existenz bezeichnet etwas auf der Seite des Objekts, dass es aus eigener Kraft zu dem macht, was es ist – entweder unabhängig von geistiger Benennung oder in Verbindung mit geistiger Benennung. Gemäß der Gelug-Prasangika-Tradition ist etwas Innewohnendes wie die konventionelle Natur der geistigen Aktivität nicht inhärent. Das konventionelle ausschlaggebende Charakteristikum der geistigen Aktivität ist nicht etwas, das da in etwas steckt, wie eine verschlüsselte DNS in einem Gen, und das es aus eigener Kraft zur geistigen Aktivität macht, zu dem, was es ist. Es gibt kein solches inhärentes Ding.

‚Individuell’ bedeutet, dass es seine eigene Abfolge von Kontinuität hat, in der ein Moment auf den anderen folgt. Ein geistiges Kontinuum, ein Kontinuum der geistigen Aktivität, ist individuell in dem Sinne, dass es eine definitive Abfolge von Ursache und Wirkung gibt, die das Entstehen von nachfolgenden Momenten beschreibt. Die geistige Aktivität und ihr Kontinuum sind individuell.

So behält geistige Aktivität immer ihre innewohnenden Eigenschaften. Sie ist immer individuell, enthält jedoch nichts Inhärentes, das sie zu dem macht, was sie ist. Weder ihre Individualität noch ihre konventionelle oder tiefste Natur lassen geistige Aktivität als ‚geistige Aktivität’ existieren.

Zudem gibt es nichts Auffindbares in ‚mir’, wie etwa meine Individualität, die ich finden müsste und die mich aus eigener Kraft zu einem Individuum machen würde. Viele Menschen verbringen so viel Zeit und Mühe damit, diese einzigartige Sache zu finden, die mich zu ‚mir’ macht und nicht zu dir. Natürlich sind sie Individuen, aber sie meinen, sie müssten etwas inhärent Existentes und Einzigartiges finden, das sie zu Individuen macht. Dann fühlen sie sich gezwungen, dieser Individualität Ausdruck zu verleihen, als müsste man sie unter Beweis stellen oder demonstrieren, damit sie existiert. Es ist fast so, als ob sie das Gefühl haben, dass ihre Individualität dadurch, dass sie ihr Ausdruck verleihen, realer wird und sie selbst auch.

Das ist absurd. Konventionell stimmt es, dass ich ich bin und nicht du, doch es gibt nichts Auffindbares, Inhärentes in mir, dass mich aus eigener Kraft zu einem individuellen Menschen macht und zu dem, was ich bin. Dennoch bin ich ein Individuum. ‚Ich’ existiert wie eine Illusion, und doch funktioniere ‚Ich’. Das Gleiche gilt für unsere geistige Aktivität.

Hiermit beende ich unsere allgemeine Einführung in die Mahamudra. Ich habe sie auf einer leicht fortgeschrittenen Ebene vorgestellt, da ich denke, dass die meisten von Ihnen den Hintergrund haben, um folgen zu können. Ich bitte um Entschuldigung, wenn etwas unklar oder verwirrend war. Haben Sie irgendwelche Fragen?

Fragen

Weitere Details über die Reinigung von Karma

Während wir unbegrifflich völlig auf Leerheit konzentriert sind, reinigen wir dabei tatsächlich spezifisches Karma? Wenn wir aus unserer Konzentration herauskommen, ist dann ein Teil des Karma verschwunden und ein anderer Teil noch übrig?

Es ist nicht ganz so. Wir schwächen dadurch die Kraft unseres Greifens nach wahrer Existenz, so dass wir das erneute Auftreten des Greifens nach wahrer Existenz beenden können, das unsere karmischen Hinterlassenschaften und die Gewohnheiten des Karma aktivieren würde. Es ist nicht der Fall, dass wir nun zum Beispiel siebzig Prozent unseres Karmas losgeworden sind und uns jetzt noch dreißig Prozent bleiben. Es ist nicht der Fall, dass wir nun das Karma losgeworden sind, als Moskito wiedergeboren zu werden, aber immer noch das Karma für eine Wiedergeburt als Fliege haben.

In gewissem Sinne arbeiten wir daran, die Kraft oder Stärke der Gewohnheit des Greifens nach wahrer Existenz zu schwächen, die zu erneutem Auftreten von Erscheinungs-Hervorbringen von wahrer Existenz und Greifen nach wahrer Existenz führt. Das ist es, was wir abbauen. Das ist es, was wir reinigen.

Wenn die Kalachakra-Lehre diesen Prozess als ein Erschöpfen der Winde des Karma erklärt, können wir dies auf ähnliche Art verstehen. Wir schwächen die Energie hinter der unreinen geistigen Aktivität, die aus der Gewohnheit des Greifens nach wahrer Existenz heranreifen würde.

Vajrasattva-Reinigung

Reinigt Vajrasattva-Praxis Karma auf dieselbe Weise?

Die Vajrasattva-Praxis mit ihrer Wiederholung des Hundert-Silben-Mantras und der anschaulichen Visualisation der Reinigung ist nur eine vorübergehende und unvollständige Reinigung. Damit die Reinigung überhaupt funktioniert, ist es nicht ausreichend, nur hunderttausendmal die magischen Worte auszusprechen. Die Meditation muss mit vollendeter Konzentration, Motivation und so weiter ausgeführt werden. Wenn die Praxis auf diese Weise ausgeübt wird – und ein begriffliches Verständnis von Leerheit würde mit Sicherheit dabei helfen – können wir höchstens mit unseren karmischen Hinterlassenschaften reinen Tisch machen. An den Gewohnheiten ändern wir nichts.

Diese Reinigung ist jedoch nur eine vorläufige. Es gibt keine Garantie, dass wir nicht neue karmische Hinterlassenschaften aufbauen werden. Wir werden dies definitiv tun, weil wir uns noch nicht vom Greifen nach wahrer Existenz befreit haben. Die vorübergehende Reinigung gibt uns nur eine Atempause, um dadurch leichter zu einer Erkenntnis der Leerheit und so weiter gelangen zu können. Wir erreichen mit Sicherheit keinerlei wahre Beendigung.

Die Reinigung von Karma bei Hinayana-Arhats

Welche Ebene der Reinigung von Karma hat ein Hinayana-Arhat erlangt?

Dies hängt wirklich davon ab, welches System wir uns anschauen, ob von einem Hinayana-Standpunkt oder dem des Mahayana. Innerhalb des Hinayana gibt es den Theravada-Standpunkt und die Vaibhashika- und Sautrantika-Standpunkte wie sie vom Mahayana studiert werden. Innerhalb des Mahayana gibt es den Nicht-Prasangika-Standpunkt und den Prasangika-Standpunkt. Jedes System hat eine unterschiedliche Auffassung.

Hinayana ist ein allgemeiner, leicht abwertender Begriff, der von den Anhängern des Mahayana geprägt wurde, um achtzehn Schulen des Buddhismus zu bezeichnen. Auf dem zweiten Konzil nach dem Tode des Buddha teilte sich das Hinayana in Theravada und Mahasanghika. Auf dem dritten Konzil löste sich auch das Sarvastivada vom Theravada ab. Später teilte sich das Sarvastivada in Vaibhashika und Sautrantika.

Die verschiedenen Hinayana-Systeme teilen einige der Auffassungen in Bezug auf Karma.

• Keines von ihnen spricht von karmischen Gewohnheiten; sie gehen alle nur von karmischen Hinterlassenschaften (Samen) aus.

• Sie sind alle der Auffassung, dass Arhats eine wahre Beendigung allen Karmas erreicht haben. Sie erreichen diese wahre Beendigung nicht unmittelbar, wenn sie in ihrem Leben Nirvana (Befreiung) erreichen und Arhats werden. Sie erreichen es erst, wenn sie am Ende ihres Lebens ins Parinirvana verscheiden. Theravada und Vaibhashika sind der Auffassung, dass das geistige Kontinuum eines Arhat mit dem Parinirvana erlischt, Sautrantika geht davon aus, dass es sich ewig fortsetzt.

• Alle Hinayana-Schulen stimmen überein, dass in der Zeit zwischen dem Nirvana und Parinirvana eines Arhat all seine verbliebenen karmischen Hinterlassenschaften zur Reife kommen müssen. Ähnlich der Mahayana-Auffassung, dass nach unbegrifflichem Erkennen von Leerheit die Früchte des negativen Karmas schwächer sind, reifen die verbliebenen karmischen Hinterlassenschafen eines Arhat nur in abgeschwächter Formen. Dennoch müssen sie alle zur Reife kommen, um sich von ihnen befreien zu können.

• Keine der Hinayana-Schulen ist der Auffassung, dass Greifen nach wahrer Existenz oder Erscheinungs-Hervorbringen von wahrer Existenz Ursachen von wahrem Leid sind und daher Dinge, derer man sich entledigen (die man aufgeben) muss. Karma wird lediglich durch das Greifen nach einer ‚ soliden’ Identität einer Person aktiviert. Alle störenden Emotionen entstehen aus diesem Greifen.

Die Theravada-Tradition macht keinen großen Unterschied zwischen Buddhas und Arhats. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass Arhats alles über das Dharma wissen, während Buddhas darüber hinaus alle geschickten Mittel kennen, um anderen zu helfen. Beide sind nicht allwissend in dem Sinne, dass sie alle Phänomene kennen würden, die man kennen kann, wie zum Beispiel welchen Weg man einschlagen muss, um zu einer bestimmten Stadt zu gelangen. Gemäß dem Theravada haben Arhats kein Greifen nach einer soliden Identität einer Person und keinerlei störende Emotionen mehr, sobald sie Nirvana erlangt haben. Dennoch reifen ihre verbliebenen karmischen Hinterlassenschaften immer noch im Zeitraum zwischen ihrem Nirvana und ihrem Parinirvana.

Mahasanghika und Sarvastivada sind der Auffassung, dass Arhats, auch wenn sie keine manifesten störenden Emotionen mehr haben, wenn sie Nirvana erlangen, doch immer noch nichtmanifeste haben. Diese sind es, die ihre verbliebenen karmischen Hinterlassenschaften aktivieren, bis hin zu ihrem Erlangen des Parinirvana. Diese Hinayana-Schulen vertreten also einen viel größeren Unterschied zwischen Arhats und Buddhas als das Theravada. Tatsächlich drehte sich die Abspaltung der Mahasanghika- von der Theravada-Tradition in erster Linie um dieses Thema: Wie ist die Tatsache zu erklären, dass Arhats in Träumen immer noch verführt werden und nächtliche Samenergüsse haben können? Die Sarvastivada-Tradition und daher auch die sich später daraus entwickelten Traditionen Vaibhashika und Sautrantika, stimmten mit der Mahasanghika-Position überein, dass Arhats begrenzter sind als Buddhas. Sie haben immer noch nichtmanifeste störende Emotionen.

Wie die Sautrantika-Tradition vertreten die Mahayana-Schulen, dass das geistige Kontinuum eines Arhats nach dem Parinirvana für immer fortbesteht. Doch abweichend von den Hinayana-Schulen ist das Mahayana der Auffassung, dass Arhats, auch wenn sie eine wahre Beendigung des Karma und seiner Hinterlassenschaften erreicht haben, zu keiner wahren Beendigung der Gewohnheiten des Karma gelangt sind. Sie haben auch keine wahre Beendigung der Gewohnheiten der störenden Emotionen erlangt. Die Hinayana-Schulen sprechen von keinerlei Gewohnheiten. Daher haben Arhats gemäß dem Mahayana die subtile Begierde und das Greifen nach dem Extrem des ruhigen Nirvana. Obgleich diese subtile Begierde und das Greifen nicht wirklich störende Emotionen sind, müssen sie dennoch überwunden werden, um weiter zur Buddhaschaft voranzuschreiten.

Gemäß den Nicht-Prasangika-Schulen haben sich Arhats noch nicht vom Greifen nach wahrer Existenz aller Phänomene oder seiner Gewohnheiten befreit. Dennoch haben sie wahre Beendigung des Karma und seiner Hinterlassenschaften erreicht. Daher stimmen sie mit dem Hinayana überein, dass es das Greifen nach einer soliden Identität einer Person ist, die karmische Hinterlassenschaften aktiviert, und dass Arhats frei von diesem Greifen sind.

Gelug-Prasangika und Karma-Kagyü-Prasangika sind der Auffassung, dass Arhats durch alleiniges unbegriffliches Erkennen der Leerheit einer soliden Identität einer Person keine wahre Beendigung von Karma und seinen Hinterlassenschaften erlangen können, wie es sowohl im Hinayana als auch den Nicht-Prasangika-Schulen vertreten wird. Damit Arhats eine tatsächliche wahre Beendigung von diesen, und damit Nirvana, erlangen können, müssen sie zu einer wahren Beendigung des Greifens nach der wahren inhärenten Existenz aller Phänomene gelangen. Somit brauchen sie das unbegriffliche Erkennen der Leerheit aller Phänomene entsprechend der Definition der Prasangika-Schule. Daher vertreten Gelug- und Karma-Kagyü-Prasangika, dass Greifen nach der wahren inhärenten Existenz aller Phänomene das ist, was Karma und seine Hinterlassenschaften aktiviert, und dass Arhats eine wahre Beendigung beider erlangt haben. Dennoch haben sich Arhats weder von den Gewohnheiten des Karma noch von den Gewohnheiten des Greifens nach wahrer inhärenter Existenz aller Phänomene befreit. Somit erleben sie immer noch das Erscheinungs-Hervorbringen von wahrer inhärenter Existenz und erfahren noch immer begrenztes Gewahrsein.

Spaltung der Sangha

Was geschah mit den verschiedenen Hinayana-Schulen? Als sie sich voneinander trennten, war das eine Spaltung des Sangha?

Getrennte Schulen mit unterschiedlicher Auffassung zu gründen ist keine Spaltung des Sangha, also keines der verabscheuungswürdigen Verbrechen wie das Töten eines Arhats, die als karmisches Resultat im direkt darauf folgenden Leben zu einer Wiedergeburt in der schlimmsten freudlosen Hölle (der Avichi-Hölle) führen. Den Sangha zu spalten wäre, was Buddhas Cousin Devadatta zu tun versuchte, als er sagte, Buddha sei zu nichts gut, man solle ihn und seine Lehren vergessen und stattdessen Devadatta folgen. Wenn Mönche und Nonnen infolgedessen ihre Robe ablegen, ihre sichere Richtung auf die drei Juwelen hin aufgeben und solch einer Person folgen: Das wäre eine Spaltung des Sangha. Bleibt man jedoch in der buddhistischen Glaubensgemeinschaft, erkennt weiterhin den Buddha und die monastische Disziplin des Vinaya an und unterscheidet sich nur in der Auslegung der Lehren des Buddha, oder in der Betonung eines bestimmten Aspekts seiner Lehren, und geht daher als separate Gemeinschaft seiner Wege – lediglich dies rechnet nicht als Spaltung der Sangha.

So folgte König Ashoka zum Beispiel dem Theravada. Irgendwann ging der Theravada mehr in Richtung Südindien, Sri Lanka und Burma. Später verbreitetes es sich von Burma nach Thailand und in andere Teile Südostasiens. Die Hochburg des Sarvastivada war der Norden Indiens, und in ihrem Gefolge nahmen die Vaibashikas und Sautrantikas in Nordwestindien, Kashmir und Punjab eine führende Position ein.

Klärungen zur Meditation

Sie sprachen von einer paranoiden Spaltung, die in der Meditation auftreten kann. Können Sie etwas mehr dazu sagen?

Die paranoide Spaltung der Aufmerksamkeit, über die wir gesprochen haben, kann in jeder Art von Konzentrations-Meditation geschehen, ob wir uns wie in der Mahamudra-Praxis auf den Geist fokussieren, auf ein visualisiertes Buddha-Bild oder unseren Atem.

Wir wollen auf ein Objekt konzentriert bleiben. Aufmerksamkeit bringt unsere geistige Aktivität zu dem spezifischen Objekt und befasst sich damit, wie wir es kognitiv aufnehmen und betrachten. Vergegenwärtigung ist der geistige Halt, wie ein geistiger Klebstoff. Konzentration ist das geistige Treubleiben oder Verweilen beim Objekt. Wachsamkeit ist das Alarmsystem, das aufspürt, wenn mit dem Halt etwas nicht in Ordnung ist. Der geistige Halt kann zu locker oder zu fest sein. Wachsamkeit funktioniert wie ein Alarmsystem, da es die Aufmerksamkeit dazu aktiviert, das Objekt wieder auf korrekte Weise aufzunehmen und einen korrekten geistigen Halt wiederherzustellen.

Die Gefahr der Paranoia, die in der Meditation auftauchen kann, entsteht, wenn der Fokus unserer Aufmerksamkeit zwischen dem Objekt der Konzentration und dem Zustand der Meditation geteilt ist. Statt unser Hauptaugenmerk auf das Objekt zu richten, es festzuhalten und nicht loszulassen, betrachtet ein Teil unserer Aufmerksamkeit und Konzentration den Zustand der Meditation, den Zustand der Konzentration. Wir hören vielleicht sogar völlig auf, auf das Objekt der Konzentration in unserer Meditation zu achten. Das Problem verschärft sich, wenn wir das Gefühl haben – und uns davon zum Narren halten lassen und daran glauben – es gäbe ein solides ‚Ich’, das von dem ganzen Prozess getrennt sei und ihn betrachtet. Es kann sogar zu einem solchen Dualismus ausarten, dass ein gestrenges ‚Ich’ ein meditierendes ‚Ich’ beobachtet, um sicherzustellen, dass letzteres die Sache nicht zu locker nimmt und unartig wird. Das ist dann echte Paranoia.

Es ist sehr wichtig, Meditation unter dem Gesichtspunkt der geistigen Aktivität anzugehen. Geistige Aktivität lässt die Erscheinung eines Objektes entstehen und nimmt es gleichzeitig wahr. Grundlegendes Bewusstsein, zum Beispiel geistiges Bewusstsein, nimmt lediglich wahr, um welche Kategorie von Objekt es sich handelt. Im Falle der Mahamudra-Shamatha-Meditation fällt bloßes Erscheinungs-Hervorbringen und dessen Wahrnehmung in die Kategorie der Arten, wie man sich einer Sache bewusst ist. Das grundlegende Bewusstsein wird von vielen Nebenarten von Bewusstsein oder Geistesfaktoren begleitet, die auch die gleiche kognitive Erscheinung hervorbringen und sie gleichzeitig wahrnehmen. Unterscheidungsvermögen gestattet der Aufmerksamkeit, sich auf die konventionelle Natur der geistigen Aktivität zu fokussieren und sie zum Objekt der Konzentration zu machen. Vergegenwärtigung hält das geistige Festhalten am Objekt aufrecht und Konzentration hält das Verweilen beim Festhalten am Objekt aufrecht.

Wachsamkeit ist lediglich ein weiterer geistiger Faktor, der das grundlegende Bewusstsein und die anderen Geistesfaktoren in dieser Anhäufung oder diesem Netzwerk begleitet. Es ist das Alarmsystem, das die Aufmerksamkeit auffordert, sich wieder auszurichten, wenn der geistige Halt zu fest oder zu locker geworden ist. Manchmal fordert Wachsamkeit einen Zipfel der Aufmerksamkeit auf, zu überprüfen, ob alles ‚lupenrein’ ist. Die meiste Zeit über sind Aufmerksamkeit, Vergegenwärtigung und Konzentration jedoch ganz auf das Objekt der Konzentration gerichtet, und Wachsamkeit ist automatisch vorhanden.

Dies sind subtile Punkte der Meditation, die aus der persönlichen Praxis heraus gelernt werden müssen. Was immer der Fall sein mag – wir müssen versuchen, auf nichtdualistische Weise zu meditieren. Sonst ist unsere Aufmerksamkeit geteilt, unsere Konzentration geteilt und wir werden paranoid vor lauter Selbstbeobachtung und Selbstüberprüfung.

Wie Seine Heiligkeit der Dalai Lama erklärt, ist Wachsamkeit tatsächlich ein angeborenes Merkmal der Vergegenwärtigung. Gibt es einen geistigen Halt am Objekt der Konzentration, bedeutet dies, dass Wachsamkeit vorhanden ist. Gibt es keinen geistigen Halt, gibt es keine Wachsamkeit. Wenn wir das Objekt der Konzentration verlieren, müssen wir die Geistesfaktoren des Unterscheidungsvermögens und des Erkennens benutzen, um dies festzustellen. Es ist nicht der Geistesfaktor der Wachsamkeit, der dies überprüft und ermittelt.

Uns stehen im Westen mittlerweile derart viele Meditationspraktiken zur Verfügung, zum Beispiel Vipassana-Achtsamkeits-Meditation. Wenn wir unser Verständnis dieser Methode auf einer allgemeinen Ebene belassen – der Ebene, auf der wir zum Beobachter werden und unsere Empfindungen, Gefühle, Emotionen und Gedanken beobachten – droht uns eine große Gefahr: Es kann sein, dass wir nicht richtig meditieren. Unsere Meditation könnte dualistisch werden und wir sind entrückt und distanziert gegenüber allem, selbst wenn wir nicht meditieren. Obgleich wir als Anfänger unsere Vipassana-Meditation auf diese Weise beginnen mögen, brauchen wir wirklich ein gewisses Verständnis von der Abwesenheit eines soliden Selbst, um korrekt meditieren zu können. Wir brauchen ein gewisses Verständnis von diesem Wort bloß, das zur Definition der konventionellen Natur der geistigen Aktivität gehört.

Das wichtigste, was wir in jeder Konzentrations-Meditation tun müssen, ist, wie Seine Heiligkeit erklärt, am Objekt der Konzentration festzuhalten und es nicht loszulassen. Darauf richten wir all unsere Kraft. Sind wir in der Lage, dies zu tun, ist Wachsamkeit automatisch vorhanden. Konzentration ist auch automatisch vorhanden, weil unsere Aufmerksamkeit beim Objekt bleibt.

Nehmen wir ein praktisches Beispiel: Angenommen, wir machen eine Diät und unser Weg führt uns an der Bäckerei vorbei. Wir sehen all die köstlichen Kuchen im Schaufenster. Vergegenwärtigung beschreibt, wie wir unsere Konzentration aufrechterhalten. Es ist nicht so, als hätten wir einen separaten Polizisten in unserem Kopf, ein ‚Ich’ oder eine ‚Wachsamkeit’, die den Geist beobachtet und sagt: „Nein, nein, kehre zu deiner Diät zurück, erinnere dich an deine Diät.“ Stattdessen halten wir uns einfach an die Diät, an die geistige Disziplin, die Diät einzuhalten. Das ist es, was wir tun. Wir stärken unsere Achtsamkeit und fokussieren unsere Energien auf das Einhalten der Diät. Wenn uns dies gelingt, gehen wir nicht in die Bäckerei, kaufen keinen Kuchen und essen ihn nicht. Wachsamkeit ist hier einfach ein Teil unserer Aufmerksamkeit.

Energieprobleme in der Meditation

Als Sie die Energie des Festhaltens an einem Objekt erwähnten, ist damit das gemeint, was die Tibeter ,lung’ nennen, ein subtiler Energiewind?

Ja, das ist es. Lung ist der Begriff für Energiewind, einer der so genannten drei Körpersäfte. Wenn wir zu viel Lung in der Meditation erfahren, meint dies eine zu große Anspannung oder Frustration der Energie.

Energiewind ist eine weitere Möglichkeit, geistige Energie zu betrachten. Es ist die Energie, die geistiger Aktivität zugrunde liegt. Wenn wir zu angespannt festhalten, oder auf dualistische, paranoide Weise meditieren, ist der geistige Zugriff zu fest. Ist der geistige Zugriff zu fest, ist die Energie zu sehr angespannt: Das nennt man, ein lung-Problem zu haben. Die Energie ist eingeengt. Es ist so, als würden unsere Arterien verstopft und unser Blutstrom verengt sein, so dass wir hohen Blutdruck bekommen.

Das ist die Erfahrung von Lung. Wir fühlen uns ruhelos, immer auf dem Sprung, unsere Energie ist wie die eines hyperaktiven Kindes. Es ist zu viel Druck vorhanden. Es ist wichtig, sich zu entspannen, und es gibt viele Methoden, um dies zu tun. Zum Beispiel entspannt ein wunderschöner Ausblick in die Ferne die Energie, oder Lachen. Wenn wir ein sehr starkes Lung erleben, müssen wir eventuell sogar Medikamente nehmen. Tibeter schämen sich nicht, Lung-Medizin zu nehmen. Sie ist ziemlich effektiv.

Leerheit und Mitgefühl

Wie kann unbegriffliche Wahrnehmung zu einem Dienst zum Wohle aller Wesen werden?

Das ist ein wichtiger Punkt, und unterschiedliche Traditionen erklären dies auf verschiedene Weisen. Sprechen wir einfach in Begriffen der gewöhnlichen Mahayana-Sutra-Tradition, dann ist Mitgefühl absolut wesentlich für Leerheits-Meditation. Aufgrund von Mitgefühl und der Kraft des Mitgefühls, mit der wir in die unbegriffliche völlige Konzentration auf Leerheit eintreten, kommen wir aus der Konzentration wieder heraus, um Wesen zu helfen. Gäbe es kein Mitgefühl, bevor wir uns in Konzentration begeben, würden wir einfach in völliger Leerheit versunken bleiben. Das liegt daran, dass unsere Konzentration, wenn sie vollendet ist, nicht nur friedvoll sondern auch völlig glückselig ist. Doch weil wir von vornherein dieses Mitgefühl besitzen, ‚heben wir nicht ab’ vor Glückseligkeit und bleiben nicht in völliger Versunkenheit. Stattdessen wollen wir uns natürlich daraus herauskommen und anderen nutzen.

Karma-Kagyü erklärt, dass die positive Kraft, um unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit zu erreichen, das Vermeiden von destruktivem Verhalten und das Aufnehmen von konstruktivem Verhalten impliziert. Wenn wir Leerheit wahrnehmen, verstehen wir korrekt, wie verhaltensbedingte Ursache und Wirkung (Karma) funktionieren, basierend auf der Leerheit von Ursache und Wirkung, und wir gelangen zu der Überzeugung, das jeder aufgrund seines oder ihres destruktiven Verhaltens leidet. Daher handeln wir, je vertrauter wir mit Leerheit werden, umso konstruktiver. Wir werden ganz natürlich mitfühlender sein und anderen gegenüber konstruktiver handeln, indem wir ihnen helfen.

In Bezug auf die Dzogchen-Darstellung der Nyingma-Tradition ist Mitgefühl eines der Aspekte von Rigpa (des reinen Gewahrseins) – völlig unberührte subtilste geistige Aktivität. Noch genauer gesagt ist einer der Aspekte von Rigpa dessen Reaktionsfreudigkeit, die man als Mitgefühl bezeichnet.

Rigpa hat drei Aspekte. Einer ist ‚ursprüngliche Reinheit’. Dies entspricht den Worten bloß und Gewahrsein in der Definition der geistigen Aktivität. Reines Gewahrsein ist ein bloßes, nacktes oder bares Gewahrsein, das frei von jeglichen störenden Emotionen ist, frei von wahrer Existenz, frei von einem wahrhaft existenten ‚Ich’ und so weiter. Der zweite Aspekt ist Reaktionsfreudigkeit: Die Energie des reinen Gewahrseins richtet sich nach außen und reagiert auf das Leid aller Wesen. Der dritte Aspekt ist, dass reines Gewahrsein spontan Erscheinungen in Übereinstimmung mit seiner Reaktionsfreude hervorbringt. Daher entsprechen Reaktionsfreudigkeit und spontanes Hervorbringen von Erscheinungen dem Wort Klarheit in der Definition der geistigen Aktivität.

Der Punkt hier ist, dass Reaktionsfreudigkeit als ein angeborenes Merkmal des Rigpa, des reinen Gewahrseins, immer vorhanden ist. Die Energie richtet sich immer nach außen. Wenn wir völlig in Rigpa aufgegangen sind – im Dzogchen-Sinne, wie völlige Konzentration auf Leerheit – haben wir Zugang zu dieser Ebene des Mitgefühls, der Reaktionsfreude, die automatisch da ist. Unser gewöhnliches Mitgefühl, der Wunsch, dass alle Wesen frei sein mögen von Leid und seinen Ursachen, gibt dem seinen mitfühlenden Ton.

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