Das Rad scharfer Waffen: Die vier Abschnitte des Textes

Teil Eins: Gegenüberstellung von Bodhisattvas und gewöhnlichen Wesen 

Zwei Traditionen für das Entwickeln von konventionellem Bodhichitta

Um das Greifen nach einem Selbst sowie Selbstbezogenheit zu zerstören und Erleuchtung zu erlangen, wird in allen Texten des Geistestrainings Tonglen betont. Dabei handelt es sich um die Praxis des Gebens und Nehmens als Teil der Methode, die man als das Gleichsetzen und Austauschen unserer Einstellungen gegenüber uns selbst und anderen kennt, um konventionelles Bodhichitta zu entwickeln. 

Es gibt zwei Traditionen hinsichtlich des Entwickelns von konventionellem Bodhichitta, des Strebens: „Möge ich meine noch nicht erlangte Erleuchtung erlangen, um allen Wesen zu nützen.“ Um dies tun zu können, ist es notwendig, Fürsorge für alle zu entwickeln. Die eine Herangehensweise ist emotional basiert, während die andere eher rational ist. Bei beiden beginnen wir mit Gleichmut, indem wir unsere Gefühle ausgleichen und eine ebenbürtige Geisteshaltung gegenüber allen haben. Wir wollen nicht nur mit jenen arbeiten, die wir mögen.  

Der emotionale Ansatz zum Entwickeln von Bodhichitta

Nach diesem ersten Ausgleichen, mit Gleichmut als Grundlage, lautet die emotional basierte Methode – die siebenteilige Meditation über Ursache und Wirkung – wie folgt: „Alle sind schon einmal meine Mutter gewesen. Sie waren gütig und weil ich so große Dankbarkeit und Wertschätzung ihnen gegenüber empfinde, möchte ich diese Güte zurückzahlen. Wenn ich an andere denke, erwärmt dies mein Herz. Daher liegen sie mir am Herzen und es wäre furchtbar, wenn ihnen etwas Schlimmes zustoßen würde. Mögen sie glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen.“ Mit Mitgefühl denken wir dann: „Mögen sie frei von ihren Leiden und den Ursachen ihrer Leiden sein. Ich werde ihnen dies übermitteln.“ Mit einem außergewöhnlichen Entschluss treffen wir die Entscheidung: „Ich werde es tun, ich werde sie bis hin zur Erleuchtung führen.“ Dann kommen wir zum Bodhichitta: „Die einzige Möglichkeit, dies tatsächlich umzusetzen, besteht darin, all meine Begrenztheit loszuwerden und Buddhaschaft zu erlangen.“ In der Reihenfolge streben wir mit Bodhichitta an, Erleuchtung zum Wohle aller zu erlangen.

Diese Methode ist emotional basiert, da wir an die Güte aller denken und dass sie alle schon einmal unsere Mutter gewesen sind. Für viele von uns, die eher emotional funktionieren, ist diese Herangehensweise äußerst effektiv.

Der rationale Ansatz zum Entwickeln von Bodhichitta

Es gibt jedoch auch jene von uns, die keine so emotionale Neigung haben und für sie ist der eher rationale Ansatz zum Entwickeln von Bodhichitta effektiver. Er wird mit der Praxis des Gleichsetzens und Austauschens von uns selbst und anderen ausgeführt. Haben wir uns in Gleichmut gegenüber allen geübt, erkennen wir, dass alle in dem Sinne gleich sind, glücklich und nicht unglücklich sein zu wollen. In dieser Hinsicht ist weder an mir noch an anderen etwas besonders. Wir sind alle gleich und wenn wir auf dieser Basis nur an uns selbst denken und uns nur um das eigene Wohl kümmern, werden alle möglichen Nachteile entstehen. Niemand wird uns mögen und dann ist auch niemand offen dafür, unsere Hilfe oder unseren Rat anzunehmen; wir verursachen für uns und andere nur Probleme. Denken wir jedoch an andere und kümmern uns um ihr Wohl, macht uns das glücklich.

Daraus folgt dann: „Ich möchte meine Einstellung ändern und in erster Linie an andere denken. Es ist möglich, dies zu tun. Betrachte ich meinen Körper, der mir so wichtig ist, merke ich, dass er aus Teilen der Körper anderer Menschen, dem Samen und der Eizelle meiner Eltern, entstanden ist. In dem Sinne ist es gar nicht mein Körper, denn ich habe den Samen und die Eizelle nicht selbst erzeugt, aus denen er hervorgegangen ist. Was ist der Unterschied, die Nase meines Kindes oder die Nase des Betrunkenen auf der Straße mit meinem Finger abzuwischen? Es ist das Gleiche, denn beides sind lediglich Nasen. Wir sind alle gleich in dem Sinn, dass wir alle in der Lage sind, uns um das Wohl der anderen zu kümmern und ich kann meine Einstellung austauschen.“

Wir ändern unsere Einstellung mit Tonglen. Mit lebendigen Visualisierungen nehmen wir die Leiden anderer mit Mitgefühl auf uns: „Mögen sie frei von ihren Leiden und den Ursachen ihrer Leiden sein.“ Wir geben anderen unser Glück: „Mögen sie glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen.“ Wie bei der emotionalen Herangehensweise entscheiden wir uns, dies nicht nur in unserer Vorstellung zu tun. Dann kommt der außergewöhnliche Entschluss: „Ich werde Verantwortung übernehmen, es wirklich umzusetzen und um dies zu tun, muss ich Erleuchtung erlangen.“ Dann erzeugen wir die Bodhichitta-Ausrichtung.

Unsere geistigen Einstellungen uns selbst und anderen gegenüber gleichsetzen und austauschen 

Dieser Ansatz findet bei jenen Anklang, deren Neigung eher rational ist. Er baut nicht auf dem emotionalen Gefühl auf, dass jeder so gütig zu uns war und wir ihm daher helfen wollen. Vielmehr entwickeln wir Bodhichitta, weil wir alle gleich sind, und weil wir alle miteinander verbunden sind, ergibt es wirklich Sinn, an dem Wohl aller zu arbeiten. An mir ist also nichts Besonderes. 

Wir haben diesen eher rationalen Ansatz in der Praxis des Tonglen, in der wir unsere geistigen Einstellungen uns selbst und anderen gegenüber gleichsetzen und austauschen. Das wird in den Lojong-Lehren, den Lehren des Geistestrainings, hervorgehoben, die hier in „Das Rad scharfer Waffen“ begannen und später in Tibet mit den „Acht Versen des Geistestrainings“ (tib. Blo-sbyong tshig-brgyad-ma) und dem Geistestraining in sieben Punkten (tib. Blo-sbyong don-bdun-ma) fortgeführt wurden.
Hier, in „Das Rad scharfer Waffen“, geht es mit Tonglen, dem Geben und Nehmen, insbesondere darum, von allen anderen mit Mitgefühl die giftigen störenden Emotionen als Ursachen unseres Leidens, sowie die Leiden, die daraus hervorgehen, anzunehmen. Das findet man dann auch später im Geistestraining in sieben Punkten.

Pfauen und Krähen

In dem Text „Das Rad scharfer Waffen“, sowie auch in seinem zweiten Text „Peacocks’ Destruction of Poison“, benutzt Dharmarakshita das Bild eines Pfaues, der von giftigen Pflanzen lebt, um das Annehmen der fünf giftigen oder toxischen emotionalen Zustände des sehnsüchtigen Verlangens, der Wut, der Naivität, der Eifersucht und der Arroganz darzustellen.

Warum der Pfau? Ich denke, dies geht zurück auf das Bild Amitabhas. Amitabha befindet sich auf einem Thron, der entweder von einem oder von acht Pfauen an den verschiedenen Ecken gestützt wird. Amitabha repräsentiert die Reinigung von sehnsüchtigem Verlangen. Hier gibt es also ganz klar schon die Verbindung von Pfauen mit der Reinigung und Umwandlung von Verlangen durch das Bild Amitabhas.

Wegen unserer selbstsüchtigen Wünsche nach gewöhnlichen Freuden vermeiden wir es, die störenden Emotionen anderer anzunehmen. Sind wir noch immer süchtig nach diesen gewöhnlichen Freuden, werden sie uns zerstören, wie Krähen, die versuchen, sich von giftigen Pflanzen zu ernähren. Das ist ein Hinweis darauf, wie fortgeschritten diese Art der Praxis ist. Befinden wir uns also nicht auf einer reifen Ebene, wenn wir versuchen dies zu tun, werden sich unsere störenden Emotionen nur noch vermehren und das Gift wird uns zerstören. Dharmarakshita weist dann darauf hin, dass diese Wünsche nach gewöhnlichen Freuden auf unser Greifen nach einem falschen unmöglichen Selbst zurückzuführen sind und dazu führen, destruktiv zu handeln.

Der Pfau ist das Bild des Bodhisattvas und, wie die Pfauen nehmen Bodhisattvas das Leid aller auf sich, welches von den fünf Giften hervorgerufen wird. Wir wandeln diese Gifte in Nährstoffe um, indem wir sie nutzen, um das Verständnis der Leerheit zu erlangen. Wir richten uns auf die Leerheit der Person, welche diese störenden Emotionen erfährt und indem wir dies tun, zerstören wir unser Greifen nach einem wahren Selbst und können dann anderen Glück schenken.

Wer ist es, der die vier edlen Wahrheiten erfährt?

Die Betonung auf dem Zerstören dieser falschen Annahme, es wäre das falsche Selbst, welches die Leiden und die Ursachen das Leidens erfährt, ist absolut wesentlich in den allgemeinen buddhistischen Lehren. Das ist das Hauptaugenmerk auf den so genannten „fünf Pfaden“. Diese Pfade oder Arten des „Pfadgeistes“ werden für gewöhnlich als Pfade der Ansammlung, Vorbereitung, des Sehens usw. übersetzt; und worauf wir uns mit diesem Pfadgeist richten, sind die vier edlen Wahrheiten. Diesen Fokus kann man auf viele Ebenen des Verständnisses beziehen, aber am geläufigsten ist das Verständnis der Leerheit, welches die vier edlen Wahrheiten erfährt. Im Mahayana richten wir uns auch auf die Leerheit der vier Wahrheiten selbst. 

Wichtig ist es zu verstehen, wer das Leid erfährt und solch eine große Sache daraus macht. Wer ist es, der die Ursachen all dessen erlebt? Es ist kein wahrhaft begründetes, selbst-begründetes Selbst, welches sie erfährt, sondern nur das bloße konventionelle „Ich“. Durch das Greifen nach einem wahrhaft begründeten Selbst treten diese giftigen Emotionen hervor. Wer ist es, der in der Lage sein wird, eine wahre Beendigung davon zu erfahren? Wer ist es, der über die Gegenmittel – den wahren Pfad – meditieren wird, um sie zu überwinden? Um diese Art von „Ich“, mit dem wir auf dualistische Weise im Sinne eines soliden „Ichs“ denken, welches getrennt von alldem ist, wie: „ich Armer, ich leide“, geht es nicht. Wenn wir so denken, funktioniert das Anwenden der Gegenmittel nicht. Auch zu denken, wir wären so dumm, weil wir die Realität nicht verstanden haben, ist ebenfalls nicht die Art und Weise, dem buddhistischen Pfad zu folgen.

Worauf wir uns wirklich fokussieren sollten, während wir die Ebenen des Ablegens unserer Schleier durchlaufen, ist das Verständnis der tatsächlichen Natur des Selbst, welches die vier edlen Wahrheiten erfährt. Die Schleier sind das Zeug, welches uns daran hindert, die Realität zu sehen und welches all unsere Probleme verursacht. Um die giftigen Auswirkungen dieser störenden Emotionen zu beseitigen, müssen wir den Feind, das Greifen nach einem wahrhaft begründeten Selbst, dem falschen so genannten „wahren Selbst“ verstehen und es widerlegen. Wir denken, es würde wahrhaft existieren, aber das tut es nicht. Das falsche Selbst ist das, was wir widerlegen wollen und was als „Feind“ bezeichnet wird.

Es gibt kein falsches Selbst, welches diese Dinge erfährt. Ursache und Wirkung funktionieren nicht auf der Grundlage eines soliden „Ichs“, welches durch irgendetwas beeinflusst werden kann und versucht, Dinge zu kontrollieren. Das funktioniert nicht und es ist nicht derjenige, der tatsächlich Ursache und Wirkung erfährt.

Wir wollen diesen Glauben an das falsche Selbst zerstören und unseren Geist dazu bringen, damit aufzuhören, eine Erfahrung zu erschaffen, als würde es dies tatsächlich geben. Wenn wir dann diesen falschen Glauben zerstört haben, wollen wir in der Lage sein, anderen ein Gefühl des Glücklichseins zu schenken. Wie man das macht, muss ausführlicher besprochen werden, denn es ist ziemlich schwierig, wobei eine der Schwierigkeiten darin besteht, dass uns das recht traurig machen kann, wenn wir das Leid der anderen auf uns nehmen und darüber nachdenken, wie furchtbar es ist, dass alle leiden. Das Schwierige ist hier, wie wir von dieser Traurigkeit dann plötzlich in einen anderen Gang schalten und den anderen Glück geben können. Wie wechseln wir von Traurigkeit zu Glück? Es ist nicht so, dass wir glücklich sind und andere leiden. Das ist der eigentlich Trick, um diese Tonglen-Praxis ausführen zu können. Wir werden darüber reden, wenn wir uns ausführlicher dem Kommentar des ersten Teils des Textes zuwenden.

Teil Zwei: Beziehung von karmischer Ursache und Wirkung 

Im zweiten Teil des Textes geht es darum, was uns daran hindert, die giftigen Emotionen anderer wie ein Pfau annehmen und ihnen Glück geben zu können, ohne davon vernichtet zu werden. In Indien, wo es viele Pfauen gibt, wächst ein bestimmter Strauch mit wunderschönen rot- und gelb-blättrigen Blüten. Tiere, wie Kühe, Schafe und Ziegen wissen, dass er giftig ist und rühren ihn nicht an. Ich weiß nicht, ob Pfauen ihn tatsächlich fressen, aber darauf bezieht sich dieser Text. Pfauen sind auch bekannt dafür, sich von giftigen Schlangen zu ernähren, aber darum geht es in diesem Text nicht.

Hindernisse beim Annehmen der Leiden anderer

Die fünf giftigen Emotionen, die oft in den drei wichtigen zusammengefasst werden: sehnsüchtiges Verlangen, Wut und Naivität, werden von unseren negativen Geisteshaltungen und negativen Gewohnheiten des Handelns mit reinem Eigeninteresse gestützt. Unser Feind, das Greifen nach einem falschen und unmöglichen Selbst, führt zu diesen drei Giften, welche Mechanismen sind, die uns scheinbar Sicherheit verleihen: „Wenn ich nur etwas bekommen und daran festhalten kann, wird mich das sicher machen.“ „Wenn ich nur dem entkommen kann, was mir bedrohlich erscheint, wird mich das sicher machen.“ „Wenn ich die Mauern um mich herum hochziehen und so tun kann, als würde es das nicht geben, wird mich das sicher machen.“ Nichts davon funktioniert, aber unter deren Einfluss lösen wir destruktive Impulse aus und das ist Karma. Wir begehen zwanghaft destruktive Handlungen, was dann zu Leid führt.

Wie Krähen werden wir von diesen drei Emotionen vergiftet, anstatt sie wie Pfauen umwandeln zu können. Weil wir in negativen Mustern destruktiven Verhaltens festhängen, können wir kein Tonglen praktizieren. Dieses destruktive Verhalten und die Hindernisse, die daraus entstehen, gilt es abzulegen, um genügend Mut zu haben, das Leiden und seine Ursachen anzunehmen. Das ist die Verbindung zum Tonglen. Was uns davon abhält, ist unser destruktives Verhalten, welches durch die Gifte hervorgerufen wird. Um die Gifte loszuwerden, müssen wir uns zunächst von dem schlechten Verhalten befreien, welches aus ihnen entsteht, und dann tiefer gehen und von den störenden Emotionen, den Giften selbst, frei werden.

Negatives Karma 

In diesem Abschnitt des Textes wird das Leiden als die scharfe Waffe negativen Karmas betrachtet, welches auf uns zurückgeschleudert wird, anstelle des Bildes vom Rad scharfer Waffen als Repräsentation des Verständnisses der Leerheit. Dieses Verständnis wird das Greifen nach einem wahren Selbst zerstören, welches zu diesen drei giftigen Emotionen, dem destruktiven Verhalten und Leiden führt; Dharmarakshita benutzt hier jedoch das Bild einer scharfen Waffe, um den Mechanismus des Karmas darzustellen, in dem unser destruktives Verhalten, welches auf den drei Giften beruht, Leiden hervorbringt. Es schädigt unser konventionelles Selbst und hindert uns daran, wie ein Bodhisattva zu handeln und diese drei Gifte aufzunehmen und sie umzuwandeln.

Das Bild eines Rades wird auf vielfache Weise benutzt: nicht nur um darzustellen, was unser Greifen nach einem Selbst vernichten wird und auch nicht nur als Rad des Dharma, welches wir danach drehen werden, wie in den Runden der Übertragung, sondern auch in Bezug auf die unkontrollierbar sich wiederholenden Muster, die auf Karma zurückzuführen sind. In diesem Sinne hat es große Ähnlichkeit mit dem Rad des Samsara.

Das Mantra Manjushris 

Gehen wir zurück zu Manjushri und betrachten das Mantra Manjushris – OM ARAPACANA DHIH. „Arapacana“ ist ein zusammengesetztes Sanskrit-Wort, in dem sich „ara“ auf das „Rad“, also das Rad des Samsara bezieht und „pacana“ auf „denjenigen, der reifen wird“. Hier geht es also darum, zur Reife zu gelangen und von dem Rad abzufallen, wie eine Frucht die vom Baum fällt, wenn sie ausgereift ist. Das ist es, was Manjushri tut. Das unterscheidende Gewahrsein der Leerheit wird die Wesen, die in diesem Rad des Samsara leiden, dazu bringen zur Reife zu gelangen und mit korrektem Verständnis und Weisheit werden sie, wie eine reife Frucht, die vom Baum fällt, vom Rad des Samsara abfallen. Dies wird uns aus dem Mantra Manjushris zuteil, der das Verständnis der Leerheit verkörpert und Dharmarakshita benutzt dieses Bild hier in „Das Rad scharfer Waffen“.

Außerdem handelt es sich bei „a-ra-pa-ca-na“ um die ersten fünf Buchstaben des Gandhari-Alphabets. Gandhara war ein Gebiet, welches sich im heutigen Nordwesten Pakistans und im Osten Afghanistans erstreckte und eine der ersten Regionen war, in denen sich der Buddhismus ausbreitete. Viele buddhistischen Schriften wurden in diese Sprache, Gandhari, übersetzt und gehören zu den frühsten buddhistischen Texten, die in geschriebener Form erschienen. Der Gebrauch der ersten Buchstaben dieses Alphabets könnte ein Hinweis darauf sein, dass Manjushri nicht nur in geschriebener Form erstmals in Gandhari erschien, sondern auch, dass es eine Verbindung zwischen ihm und der erleuchtenden Rede der Buddhas gibt. 

Verhaltensbedingte Ursache und Wirkung

Der zweite Teil des Textes befasst sich hauptsächlich mit Folgendem: die vielen Arten des Leidens aufzuzählen, die wir erfahren und die uns daran hindern, anderen zu helfen; das destruktive Verhalten, welches auf Selbstbezogenheit beruht und die karmische Ursache ist; und die Art des konstruktiven Verhaltens, mit dem wir uns um das Wohl der anderen kümmern, was dem entgegenwirkt. Es handelt sich hierbei um eine wunderbare Lehre, weil sie uns hilft, die karmischen Ursachen für einige Arten des Leidens zu identifizieren, die uns widerfahren. Wenn wir in diese schwierigen Situationen geraten, müssen wir versuchen zu verstehen, was deren karmische Ursache ist und was wir tun müssen, um dem entgegenzuwirken. Es reicht nicht nur damit aufzuhören so zu handeln; vielmehr ist es notwendig, fast das Gegenteil von dem zu tun, um diesem Verhalten entgegenzuwirken. Das ist so hilfreich, denn wenn wir Lehren über Karma bekommen, fehlen uns meist all die ausführlichen Beispiele dazu, die wir in diesem Text finden. Im Grunde müssen wir es selbst herausfinden.

Untersuchen wir beispielsweise Verleumdung: wenn wir immer schlechte Dinge über andere sagen, ist das der Grund dafür, warum unsere Freundschaften nicht anhalten. Wir gehen Beziehungen mit anderen ein, aber sie enden immer; die Menschen verlassen uns usw. Lernen wir etwas über den karmischen Mechanismus, der dahinter steckt, beginnen wir, unser eigenes Verhalten zu untersuchen. Was tun wir denn, das so etwas hervorruft? Wir erforschen: „Wenn ich dieses Reifen durch jenes Verhaltensmuster erfahre, werde ich auch das Muster oder dessen Ursache auf zwanghafte Weise wiederholen. Sage ich negative Dinge über andere Menschen oder deren Freunde?“ Untersuchen wir uns selbst, erkennen wir vielleicht, dass wir dies tun. Wir kritisieren andere und das ist der Grund dafür zu erleben, wie unsere eigenen Freunde uns verlassen. 

Das ist ein Anhaltspunkt dafür, einfach mit diesem negativen Verhalten aufzuhören und stattdessen etwas Positives zu tun, um dem entgegenzuwirken. Wir sollten erkennen, dass es zwei Ebenen des konstruktiven Verhaltens gibt. Auf der ersten Ebene ist es so: Wenn wir das Gefühl haben, etwas Kritisches, wirklich Schädliches und Hässliches über den Freund einer Person zu sagen, damit sie sich von diesem Freund trennt und nur mit uns allein befreundet ist, tun wir es einfach nicht. Wir üben uns in Selbstbeherrschung. Es ist etwas anderes, wenn unser Sohn zum Beispiel mit Leuten zusammen ist, die sich Heroin spritzen und wir wollen, dass er damit aufhört, Gemeinschaft mit solchen Freunden zu haben. Hier haben wir eine andere Motivation. Aber wenn unsere Motivation darin besteht, nicht zu wollen, dass jemand mit einer Person befreundet ist, weil wir ihn selbst als Freund haben wollen, sollten wir einfach nichts sagen. Das ist die erste Ebene des Vermeidens von destruktivem Verhalten. Die zweite Ebene besteht darin, stattdessen etwas Positives zu tun, wie etwa, die positiven Eigenschaften anderer zu loben. 

Die Lehren über karmische Ursache und Wirkung sind ausgesprochen hilfreich und dieser zweite Teil des Textes deutet auf zahlreiche dieser Syndrome hin. Die Betonung liegt dann darauf, unser Verhalten zu ändern und durch die positiven Handlungen, die wir statt der negativen ausführen, unsere so genannten „Wurzeln der Tugend“, die Wurzeln unserer konstruktiven Handlungen aufzubauen. Wir schaffen positive Kraft, die uns wie eine Wurzel verankert. Auch wollen wir, dass unsere positive Kraft an Stabilität gewinnt, damit wir die Pflanze, die daraus wächst, an andere weitergeben können, um ihren Nutzen zu bewirken.

Teil Drei: Den wahren Feind erkennen und Yamantaka anrufen, um das Greifen nach einem Selbst zu vernichten 

Im dritten Abschnitt identifiziert Dharmarakshita den wahren Feind, der uns dazu bringt, auf diese destruktive Weise zu handeln, die zu solchem Leiden führt. Es ist unser Greifen nach einem wahren Selbst, einem Selbst, welches nicht im geringsten existiert. Wir rufen Yamantaka, dieses kraftvolle unterscheidende Gewahrsein der Leerheit an, um diesen Dämon unseres Greifens nach solch einem Selbst zu vernichten. In vielen Versen geht Dharmarakshita all die Probleme durch, die unsere Selbstbezogenheit und unser Greifen nach einem Selbst ausgelöst haben. Wir finden dies im Gleichsetzen und Austauschen unserer Einstellungen uns selbst und anderen gegenüber: in den Darstellungen dieser Lehren gibt es immer einen langen Abschnitt über die Nachteile und das Leiden, die durch Selbstbezogenheit entstehen. 

Hier geht Dharmarakshita auf diese Nachteile ein und wir rufen Yamantaka mit dem Vers an: 

Zerschmettere, ja, zerschmettere diese verderbliche Vorstellung, schmettere ihr genau auf den Kopf. Versetzte diesem Schlächter, dem „wahren Selbst", unserem Feind, den Todesstoß mitten ins Herz.

Das wird auf recht poetische Weise ausgedrückt, was vom Stil her sehr tibetisch ist. Dieser Stil, der so tibetisch anmutet, lässt uns vermuten, dass der Text nicht im Sanskrit verfasst, sondern einfach mündlich aus Indien überliefert und dann angepasst und in die tibetische Versform übersetzt wurde.

„Alle Schuld auf eine Sache zu häufen“ oder alle Schuld einem zu geben, ist eine Zeile aus dem Text, die man später im „Geistestraining in sieben Punkten“ von Geshe Chekawa wiederfindet. Wir geben einer Sache, unserer Selbstbezogenheit, alle Schuld. Fragen wir zum Beispiel jemanden, etwas für uns zu tun, und er macht einen Fehler oder macht es falsch, geben wir einer Sache alle Schuld: „Ich war selbstsüchtig und faul. Ich wollte es nicht selbst tun und habe einen anderen gebeten, es zu tun. Aus diesem Grund ist es eigentlich meine Schuld, dass die Dinge nicht so gelaufen sind, wie ich es wollte. Ich kann die andere Person nicht wirklich deswegen beschuldigen.“ Bitten wir jemanden etwas zu tun, sollten wir erwarten, dass etwas schiefläuft. Tut er oder sie es richtig, ist es ein großer Bonus, aber wir sollten tatsächlich unserer eigenen Selbstbezogenheit und Faulheit die Schuld dafür geben, wenn sie es durcheinanderbringen. Vielleicht haben wir wichtigere Dinge zu tun, das ist etwas anderes; aber gehen wir mit der Einstellung heran: „Ich will es nicht tun, tu du es“, ist das Selbstbezogenheit.

Teil Vier: Die Wurzeln unserer positiven Handlungen anderen widmen 

Haben wir erst einmal unser Greifen nach einem Selbst und unsere Selbstbezogenheit vernichtet und alle Schuld dieser einen Sache gegeben, können wir im vierten Abschnitt des Textes die Wurzeln unserer konstruktiven Handlungen anderen widmen. 

Bei dem Rest dieses letzten Abschnittes geht es dann darum, was wir anderen geben, insbesondere unser Verständnis der Leerheit und des abhängigen Entstehens. Das ist es, was wir anderen geben wollen, damit sie ebenfalls ihr Greifen nach einem Selbst überwinden können. Daher raten wir dann allen Wesen, wie wir dieses Verständnis der Leerheit, insbesondere der Leerheit karmischer Ursache und Wirkung, zu erlangen. 

Leerheit von Ursache und Wirkung

Die Leerheit von Ursache und Wirkung ist außerordentlich wichtig. Obwohl karmische Ursache und Wirkung wie eine Illusion zu sein scheinen, wirken und funktionieren sie dennoch, und das müssen wir verstehen. Obwohl wir verstehen, dass Leiden und der ganze Prozess der Kausalität wie eine Illusion sind, enden mehrere Verse mit der Zeile:

Doch, obwohl sie bloße Erscheinungen sind, sage ich dir: „Wir müssen die (richtigen Handlungen) annehmen und ablehnen.“

Obgleich Dinge selbst-begründet zu existieren scheinen, als wären sie, wie ich es zuweilen beschreibe, in Plastik eingehüllt, ganz für sich und unabhängig von allem anderen, funktionieren sie dennoch. Auch wenn Ursache und Wirkung auf diese absurde Weise erscheinen, als wären sie selbst-begründet und hätten nichts miteinander zu tun, so bringen Ursachen dennoch Wirkungen hervor. Sie scheinen nichts miteinander zu tun zu haben und selbst-begründet zu sein, weil unser samsarischer Geist begrenzt ist und sie so erscheinen lässt. 

Schlussfolgerung des Textes

Der Text endet dann mit der Schlussfolgerung, dass wir, wenn wir konventionelles und tiefstes Bodhichitta so üben, Erleuchtung zum Wohle aller erlangen werden.

Zusammenfassung der Lehren und Übungen 

Das ist die allgemeine Struktur des Textes. Zunächst wollen wir wie Pfauen praktizieren, wie Bodhisattvas, die diese giftigen Geisteshaltungen des sehnsüchtigen Verlangens, der Wut und der Naivität annehmen. Wir wandeln sie um und lösen sie auf, damit sie uns keinen Schaden zufügen können; daraufhin sind wir dann in der Lage, anderen Glück zu schenken.

Was uns daran hindert, dies zu tun, ist das Leiden, welches wir als Resultat unseres destruktiven Verhaltens erfahren, das von diesen drei Giften herrührt. Wir sind wie Krähen, wenn wir die drei Gifte aufnehmen, die uns so viel Leid verursachen, und wollen dem ein Ende setzen können, denn wenn wir noch mehr von diesen giftigen Geisteshaltungen aufnehmen, wird uns das mit Sicherheit völlig vernichten.

Am Anfang gilt es also, mit diesem destruktiven Verhalten aufzuhören. Um anderen Glück zu schenken, müssen wir positive Kraft aufbauen, die wir an andere weitergeben können. Handeln wir auf dieser Ebene nicht mehr destruktiv und üben uns in konstruktivem Verhalten, ist es notwendig tiefer zu gehen und sich von dem Greifen nach einem Selbst zu lösen. Es ist der wahre Feind, der diese giftigen Geisteshaltungen in uns und unser zwanghaftes und destruktives Handeln verursacht. 

Sind wir es durch unser Verständnis der Leerheit (oder Leere) losgeworden, können wir auch anderen das gleiche Gegenmittel geben, welches dieses Gift neutralisieren und ihnen Glück schenken wird. Das Gegenmittel ist das Verständnis der Leerheit und des abhängigen Entstehens – obwohl Dinge nicht so existieren wie sie zu existieren scheinen, erfüllen sie dennoch ihre Funktion; Ursache und Wirkung funktionieren trotz allem. Wir wollen das Verständnis dieser zwei wahren Tatsachen anderen schenken und mit diesem Gegenmittel werden ihnen die giftigen Geisteshaltungen keinen Schaden bringen; sie werden in der Lage sein, Tonglen so zu praktizieren, wie die Bodhisattvas es tun.

Das ist die allgemeine Struktur des Textes. Vielleicht sollten wir erst einmal zur Ruhe kommen und versuchen, diese Struktur und das zu verinnerlichen, worum es in diesem Text geht. In diesem Text dreht sich alles darum, die giftigen Emotionen umwandeln zu können, was äußerst schwierig ist. Was uns daran hindert, ist diese Geisteshaltung: „Ich will dieses furchtbare Zeug von anderen nicht auf mich nehmen. Ich will meine Hände nicht schmutzig machen und habe selbst genug Probleme.“ Hierbei geht es nur um „ich, ich, ich.“ 

Als erstes wollen wir an den Problemen arbeiten, die wir durch unser zwanghaftes karmisches Verhalten erfahren. Wir wollen damit aufhören, auf diese destruktive Weise zu handelt und stattdessen konstruktiv tätig sein. Wir beginnen Veränderungen zu bewirken und neue, positivere neutrale Pfade in Bezug darauf anzulegen, wie wir Dinge betrachten. Dann gehen wir tiefer, um von dem Greifen nach einem Selbst frei zu werden, durch das all dies verursacht wird. 

Verfügen wir über ein stabiles Verständnis der Leerheit und haben genug positive Kraft aufgebaut, sind wir in der Lage, tatsächlich Tonglen auf korrekte Weise zu praktizieren. Wir können anderen Glück schenken, weil wir die Ursachen dafür geschaffen haben, etwas zu besitzen, was wir ihnen geben können. Das ist die Struktur, die wir in diesem Text finden.

Geführte Meditation 

Wenn wir beginnen, über den Text nachzudenken, sollten wir uns fragen, ob all das einen Sinn ergibt. Wollen wir auf diese Weise in der Lage sein, anderen zu helfen? Vielleicht ist es hilfreich, ein paar Anleitungen zu geben, wie man dies üben kann: 

  • Um anderen zu helfen, muss ich damit aufhören, destruktiv zu handeln. Wenn ich destruktiv handle, komme ich in alle möglichen furchtbaren Situationen und kann niemanden helfen, wenn all meine Freundschaften auseinanderbrechen und niemand mit mir zusammenbleiben will. Wie kann ich anderen helfen, wenn sie nicht in meiner Nähe sein wollen? 
  • Ich muss mein eigenes Verhalten ändern. Wenn ich mein Verhalten geändert habe und positiver handle, muss ich mein Greifen nach einem Selbst beseitigen. Auch wenn ich auf positive Weise handle, könnte es ziemlich neurotisch sein. Ich könnte meinen: „Ich werde alle retten, ich bin der Märtyrer. Ich werde allen helfen und um dies zu tun muss ich perfekt sein. Ich bin so ein Heiliger.“ All das kann dazu führen, Arroganz zu entwickeln, was für viele Leute abstoßend ist. 
  • Ich muss das Greifen nach einem Selbst beseitigen. Nur wenn ich frei von diesem Greifen nach einem Selbst bin, der Einstellung, mir nicht die Hände schmutzig machen zu wollen, kann ich mich wirklich auf die Schwierigkeiten anderer einlassen, ohne mir ständig Sorgen um mich selbst zu machen.  

Mutter Theresa sagte ganz klar, wenn Menschen zu ihr kamen, um ehrenamtlich in Kalkutta mit den Leprakranken zu arbeiten: „Wenn ihr Angst davor habt Lepra zu bekommen, könnt ihr hier nicht arbeiten.“ Denken wir nur an uns und daran, uns bloß nicht selbst mit Lepra zu infizieren, werden wir natürlich niemanden berühren wollen usw. Von dieser Einstellung müssen wir frei sein, um tatsächlich helfen zu können.

Sind wir frei von dieser Geisteshaltung, stellt sich die Frage, wie wir anderen helfen? Wir tun es, indem wir ihnen helfen, Verständnis zu erlangen. Wir wollen ihnen das Verständnis vermitteln, das wir selbst entwickelt haben.

Ergibt das einen Sinn? Wir setzen die Kontemplation fort:

  • Dies muss ich zunächst verstehen und dann geht es darum, überzeugt davon zu sein, dass es korrekt ist. 
  • Ich möchte es tun und ich bin überzeugt, dass ich dazu in der Lage bin. 
  • Dann muss ich diese Denk- und Verhaltensweisen auf korrekte Weise zu nützlichen Gewohnheiten werden lassen – das ist Meditation. 
  • Um mich selbst damit vertraut zu machen, muss ich sie immer wieder durchgehen und mir vorstellen, das Leiden der anderen anzunehmen und ihnen ein korrektes Verständnis und Glück zu schenken.
  • Und schließlich ist es notwendig, mich vom Meditationssitz zu erheben und tatsächlich etwas zu tun, um anderen zu helfen. Darum geht es.

Denkt einmal darüber nach.

  • Am Ende dieser Kontemplation sollten wir wahrscheinlich zu der Schlussfolgerung und Entscheidung kommen: „Ich werde mein Bestes geben, nicht unter dem Einfluss von Gier, Wut und Naivität zu handeln.“

Das bedeutet natürlich in der Lage zu sein, zu erkennen und einzugestehen, wenn wir unter dem Einfluss dieser giftigen Emotionen, dieser toxischen Geisteszustände stehen.

Die Definition störender Emotionen 

Dafür ist es meiner Meinung nach äußerst hilfreich, sich an die Definition einer störenden Emotion oder eines störenden Geisteszustandes zu erinnern. Es ist schwer zu sagen, dass es sich bei allen um Emotionen handelt, denn in den asiatischen Sprachen haben wir kein entsprechendes Wort dafür. 

Eine störende Emotion ist ein Geisteszustand, bei dem wir unseren Geistesfrieden und unsere Selbstbeherrschung verlieren, wenn er auftritt.

Das ist eine recht gute Definition. Wenn wir so angehaftet an etwas oder jemanden sind, nach immer mehr davon gieren, einfach ständig daran denken und uns danach sehnen, ist unser Geist gestört. Wir haben keinen Geistesfrieden und verlieren die Kontrolle. Wir sagen und tun Dinge, die wir anschließend vielleicht bereuen. 

Das trifft besonders auf die Naivität zu, mit der wir meinen, es wäre egal, was wir tun und denken: „Ich kann ruhig etwas später kommen, es spielt keine Rolle. Es wird dir nichts ausmachen.“ Wir nehmen die Realität eines anderen und dessen Gefühle nicht ernst. Andere wollen jedoch nicht ignoriert werden und mögen es nicht, wenn man sie warten lässt. Es ist ganz einfach naiv, das nicht ernst zu nehmen. Das ist ein verwirrter Geisteszustand. Wir verlieren die Selbstbeherrschung und handeln ohne zu denken.

Störende Emotionen erkennen, wenn sie auftreten 

Uns geht es darum, dass wir versuchen zu erkennen, wenn wir uns etwas nervös oder unruhig fühlen. Vielleicht sagen wir etwas, aber fühlen uns nicht ganz wohl dabei. Diese Dinge können wir erkennen, wenn wir etwas sensibler in Bezug auf unsere Energie werden. Können wir dieses Unbehagen feststellen, ist das ein gutes Anzeichen dafür, dass eine störende Emotion dahintersteckt. Sind wir in der Lage, Dinge ausreichend zu entschleunigen – nicht unbedingt, indem wir etwas in Zeitlupe tun, sondern in Bezug auf unseren Geist – wird uns das erlauben zu erkennen, dass eine störende Emotion hochkommt, bevor wir tatsächlich etwas Dummes oder Gemeines sagen. Wir erkennen, dass wir innerlich etwas verspannt sind und sagen dann lieber nichts. Gemäß Shantideva Empfehlung, verharren wir wie ein Stück Holz. Wir könnten uns auch nach dem kraftvolleren Bild Yamantakas richten: „Höre auf! Tu es nicht!“

Das ist nicht so einfach, besonders wenn wir süchtig nach etwas sind – wie beispielsweise fortwährend auf unser Smartphone nach neuen Nachrichten zu schauen – oder ähnliches. Zuerst können wir das Gefühl haben: „Ich möchte einen Blick auf mein Telefon werfen.“ Dann, ohne darüber nachzudenken, tun wir es zwanghaft. Haben wir dieses Gefühl, unser Telefon in die Hand nehmen zu wollen, um nachzusehen, ob es etwas Neues gibt, weil wir ja nichts verpassen wollen, sind wir unruhig. Wir haben keinen inneren Frieden und verlieren die Selbstbeherrschung. 

Dahinter steckt dieses Greifen nach einem Selbst, dieses solide „Ich“, das meint: „Ich will nichts verpassen, vielleicht gibt es ja eine wichtige Nachricht oder irgendetwas, das in der Welt passiert ist.“ Wir werden zu Nachrichten-Junkies und informieren uns fortwährend über die neusten Ereignisse. All das kommt durch dieses Greifen nach einem falschen „Ich“. Wir denken: „Ich bin so wichtig, ich muss es wissen. Ich will nichts verpassen. Ich möchte nicht ausgegrenzt werden.“

Wenn wir beginnen dies zu analysieren, ist es recht interessant, was hinter dieser Einstellung steckt, nichts verpassen zu wollen.

Vielleicht denken wir: „Ich will sehen, wie vielen Leuten dieses Bild, welches ich ins Netz gestellt habe, gefallen hat. Das ist, als ob es uns Sicherheit geben würde, wenn wir genug „Likes“ bekommen. Aber das tut es nie, oder? Wir wollen immer noch mehr. Das ist wirklich albern, wenn wir einmal darüber nachdenken. Es funktioniert nicht, aber wir denken, wenn mehr Leute sich das ansehen, wird es vielleicht funktionieren und dann werden wir uns eventuell besser fühlen. Dann erzählt uns jedoch jemand, dass man in Russland für wenig Geld „Likes“ kaufen kann und für alles, was man in die sozialen Medien stellt, einen ganzen Haufen „Likes“ bekommt. Diese ganze Sache beginnt dann ziemlich lächerlich zu werden.

Ich denke das ist ein gutes Beispiel, um zu verstehen, wie das Greifen nach einem Selbst hinter dieser zwanghaften Sucht steckt, „Likes“ oder die neuesten Nachrichten zu bekommen, und wie zwanghaft das ist. Unser Telefon oder Computer macht ein Geräusch, vielleicht vibriert unser Handy, wenn wir eine Nachricht bekommen und dann ist es wirklich schwer, keinen Blick darauf zu werfen.

Es ist wirklich wichtig zu versuchen, alltägliche Beispiele zu finden, um zu sehen, wie wir völlig unsere Selbstbeherrschung verlieren und ganz ohne Zweifel hindert uns dies daran, anderen zu helfen. Denken wir einmal darüber nach: Vielleicht kommt jemand zu uns, weil er Hilfe benötigt und beginnt, uns seine Probleme zu schildern. Aber dann fängt unser Smartphone an, dieses Geräusch zu machen oder zu vibrieren und wir nehmen es zwanghaft in die Hand und sehen nach. Das hält uns dann tatsächlich davon ab, der anderen Person zu helfen.

Dies auf alltägliche Beispiele zu beziehen, ist also recht hilfreich.

Fragen 

Das Urteilen ist ein Missverständnis in Bezug auf Karma

Sie sagten, ein großer Teil des Problems, anderen nicht zu helfen, ist diese Einstellung: „ich will damit nichts zu tun haben“ oder „ich bin zu beschäftigt“. Damit kann ich nicht viel anfangen, denn bei mir ist es anders. Ich habe immer die Neigung zu versuchen, der Welt zu helfen und mich dann nicht genug um mich selbst zu kümmern. Dabei habe ich das Gefühl, ständig herausfinden zu müssen, wer aufgrund seines Verhaltens diese Hilfe verdient und wer nicht, und betrachte dies als das größte Hindernis. Ich glaube, dass ich damit am Thema vorbeigehe und habe gehört, dass der religiöse Begriff des „Sündigens“ aus dem Bogensport stammt und bedeutet „das Ziel zu verfehlen“. Ich habe also das Gefühl, das Ziel zu verfehlen und meine mentale Energie und all meine Zeit damit zu verschwenden, eine korrekte Meinung über alles zu haben, wie beispielsweise die korrekte politische Überzeugung. Können andere das nachvollziehen?

Das Greifen nach einem Selbst kann sich auf viele unterschiedlichen Weisen manifestieren und in die verschiedensten Richtungen führen, wie: „Ich bin zu beschäftigt; was ich gerade tue ist wichtiger“, „Ich will meine Hände nicht schmutzig machen; das ist zu chaotisch“, oder: „Es ist mir zu viel, ich kann damit nicht umgehen.“ Hier sollten wir realistisch sein, denn es gibt Dinge, mit denen wir fertig werden und andere, die wir nicht bewältigen können. Dafür benötigen wir Unterscheidungsvermögen.

Hier geht es jedoch um das Urteilen, was grundsätzlich ein Missverständnis in Bezug auf Karma ist. Im Buddhismus gibt es keinen Richter. Es gibt kein „Ich“, welches getrennt von dem Ganzen ist, und urteilt, ob der andere meine Hilfe verdient oder nicht. Das ist eine ziemlich dualistische Betrachtungsweise. Es ist einfach eine andere Form des Greifens nach einem Selbst: da gibt es dieses „Ich“, welches getrennt von dem Ganzen ist und das „Ich“ urteilt, was gut und was schlecht ist. 

Wir treffen kein Werteurteil über Dinge, was gut oder schlecht ist, obwohl diese Wörter manchmal erscheinen. Sie haben jedoch nicht diesen schweren urteilenden Aspekt. Wir sollten realistisch sein, abwägen und jeden ernst nehmen. Wenn jemand über eine Sache, die wir als völlig trivial empfinden, klagt und deswegen leidet, ist es für ihn dennoch Leid.

Dieses Beispiel kam neulich hoch. Jemand beschwerte sich darüber, keine eigene Toilette im Zimmer zu haben und eine Toilette mit anderen Leuten teilen zu müssen.“ Diese Frau machte daraus ein furchtbares Problem. Für jemanden, der gar keine Toilette besitzt und ins Feld gehen muss, wäre das Problem dieser Frau einfach absurd. Ungeachtet dessen ist es für sie, die ein Zimmer mit eigener Toilette haben möchte, eine wirklich leidvolle Sache, wenn sie sich mit anderen eine Toilette teilen muss. 

Das führt zum Thema der Prioritäten, wem wir zuerst und wie wir helfen sollen. Hierbei handelt es sich um eine schwierige Frage und es gibt verschiedene Richtlinien, die ich gehört und bekommen habe: 

  • Finde heraus, für was du die größten Fähigkeiten besitzt und was nicht so viele andere Menschen machen. 
  • Gibt es Menschen, die eine Verbindung mit dir haben und die empfänglich für deine Hilfe sind? 
  • Und mit einem etwas egoistischen Aspekt könnten wir uns auch die Frage stellen: Was mache ich gern?

Das sind die Kriterien, die man nutzen kann, um zu entscheiden, wie und wem man hilft; andernfalls gibt es einfach so viel, was man in der Welt tun kann, dass es schwer wäre, sich zu entscheiden. Es gibt so viele Menschen, die Hilfe benötigen. Wie können wir uns entscheiden? Welche Hilfe können wir anbieten? Wofür bin ich am kompetentesten? Vielleicht gibt es nicht viele andere, die dies tun; es wird also wirklich gebraucht. Und wären die Menschen empfänglich für meine Hilfe? Ob ich die Qualifikationen dafür habe, steht ganz klar an erster Stelle. Und wenn wir es nicht gerne tun, wenn es eine große Last für uns ist und wir es nicht aus vollem Herzen tun, merken die Menschen dies. 

Wir sollten jedoch nicht voreingenommen sein. Es gibt einen Unterschied, ob wir voreingenommen sind oder unser unterscheidendes Gewahrsein nutzen, um herauszufinden, was hilfreich ist, sowie was wir tun können und was nicht. Manchmal wird unterscheidendes Gewahrsein mit „Weisheit“ übersetzt, aber dadurch bekommen wir kein klares Bild davon, worum es geht. Wir wollen auf nicht wertende Weise zwischen dem unterscheiden, was realistisch und dem was nicht realistisch ist, und uns ausschließlich mit der Realität auseinandersetzen.

Konventionelle und tiefste sowie relative und absolute Wahrheit

Sie benutzen die Begriffe konventionell und tiefste; handelt es sich hier um dasselbe, was in anderen Texten als relativ und absolut bezeichnet wird? Ich finde Ihre Übersetzung hilfreich, weil, so wie ich es verstehe, innerhalb des konventionellen Bereiches Training stattfindet, in dem wir nach wie vor unseren konzeptuellen Geist benutzen. Ist das korrekt? Und bedeutet dies, dass es in diesem Text in erster Linie um konventionelles Bodhichitta und nicht um so genanntes „absolutes Bodhichitta“ geht? Dabei bezieht sich der Text auch auf Manjushri; hier kommt also Weisheit mit hinzu, die mit dem Absoluten verbunden ist. Könnten Sie dazu etwas sagen?

Zunächst ziehe ich den Begriff „konventionelle Wahrheit“ dem der „relativen Wahrheit“, sowie „tiefste Wahrheit“ dem der „absoluten Wahrheit“ vor. „Absolute Wahrheit“ oder „letztendliche Wahrheit“ deutet darauf hin, dass es dort drüben eine Art transzendente Sache gäbe, die völlig festgeschrieben ist und mit nichts anderem etwas zu tun hat. Vielmehr geht es aber um die tiefste Wahrheit von allem, darum, wie Dinge existieren, also um die Abwesenheit dieser unmöglichen Existenzweisen, von denen wir meinen, sie würden die Existenz von allem begründen.

Konvention hat etwas mit der Welt der Erscheinungen zu tun. Wir befassen uns mit der Welt der Erscheinungen, wenn wir uns mit konventionellem Bodhichitta auseinandersetzen, denn wir wollen Erleuchtung erlangen und erscheinen in verschiedenen Formen, um anderen zu helfen und ihnen von Nutzen zu sein. Wie begründen wir, dass all diese Erscheinungen existieren und funktionieren? Sie existieren in dem Sinne konventionell, dass wir Begriffe, Konzepte und Bilder für sie haben, und sie sich auf etwas beziehen. Das ist eine Konvention; die Menschen einigen sich auf etwas.

Es gibt die Konvention „Ich“, das „Selbst“. „Ich“ bezieht sich auf etwas; es bezieht sich auf mich, obwohl es nichts auf Seiten meines Körpers, innerhalb meines Gehirns, in meinen Emotionen oder ähnlichem gibt, das einem solidem „Ich“ entspricht. Das ist die tiefste Wahrheit in diesem Zusammenhang. So etwas gibt es nicht. Wie begründen oder wissen wir dennoch, dass es so etwas gibt? Weil es das Konzept „Ich“ gibt; aber obwohl es das Konzept „Ich“ gibt, ist es nicht nur ein Konzept. Dieses Konzept „Ich“ bezieht sich auf etwas beruhend auf all diesen Teilen, die sich jeden Augenblick unterschiedlich schnell ändern. Daher gibt es nichts Festes, was fortwährend da ist. Wir können nirgends die definierende Eigenschaft des „Ichs“ lokalisieren; aber es gibt diese Konvention. 

Mit konventionellem Bodhichitta befassen wir uns mit der Welt der Erscheinungen. Es gibt die Konvention „Du“, es gibt die Konvention „Ich“, und es gibt die Konvention „Helfen“. Komme ich zu dir, um dir beim Aufstehen zu helfen, gibt es einen ersten Schritt, einen zweiten Schritt, ein Zureichen meiner Hand und so weiter. Was davon ist das „Helfen“? Man kann nicht sagen, irgendein individueller Teil davon wäre einzig und allein das „Helfen“. „Helfen“ ist nicht einfach nur das Anheben und Absetzen des Fußes, um auf den anderen zuzugehen. 

Aus diesem Grund benutze ich Vorstellung des Ganzen im Gegensatz zu den Teilen. Es gibt so etwas wie ein Ganzes, das wir als „Aufstehen-Helfen“ bezeichnen können. Es bezieht sich darauf, tatsächlich etwas zu tun. Man kann dieses „Helfen“ jedoch nicht in irgendeiner der winzigen Mikrosekunden-Bewegungen des Dorthin-Gehens finden. Es ist eine Konvention und das ist konventionelle Wahrheit. Konventionelles Bodhichitta befasst sich damit. 

Wir wollen auf verschiedenste Weise erscheinen, um anderen zu helfen und somit ziehe ich diese Begriffe vor, um es klarer auszudrücken.

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