Rückblick
Wir haben darüber gesprochen, wie man das Selbst auf gesunde Weise durch die aufeinanderfolgenden Stufen des Lam-rim entwickelt. Wir haben festgestellt, dass wir ein konventionelles Selbst haben; wir existieren. Das konventionelle Selbst kann irgendeinem Aspekt zugeschrieben oder durch irgendetwas repräsentiert oder als etwas verstanden werden, das wir jeden Moment erfahren. Die Bezeichnung „ich“ bezieht sich auf jeden Augenblick unserer Erfahrung, doch worauf es eigentlich ankommt, ist, wie wir das „ich“ wahrnehmen. Wie nehmen wir uns wahr? Wir nehmen uns selbst nur im Zusammenhang mit den Erfahrungen wahr, die im Laufe unseres Lebens von Augenblick zu Augenblick stattfinden, und wir können die Art, wie wir existieren, auf korrekte Weise oder auf inkorrekte Weise verstehen. Wenn wir unser konventionelles Selbst für etwas halten, das auf eine Art und Weise existiert, die in Wirklichkeit unmöglich ist, dann beziehen wir uns auf ein Selbst, dass zu verneinen ist. Um unsere Situation im Leben irgendwie zu verändern, um die Qualität unseres Lebens zu verbessern, um zu versuchen, Leiden und Probleme zu überwinden, brauchen wir ein gesundes Ichgefühl – bezogen auf das konventionelle „ich“ -, andernfalls kümmert es uns nicht, was wir erleben, und wir unternehmen keine Anstrengungen, um auf unser Leben achtzugeben.
Wenn wir gemäß der Reihenfolge des Lam-rim mit der Entwicklung von Verständnis und Einsichten beginnen, die einen stufenweisen Pfad bilden, dann fangen wir mit der Entwicklung von Wertschätzung für das kostbare menschliche Leben an, das wir gegenwärtig haben. Wenn wir es zu schätzen wissen, dass wir, wenigstens einstweilen, frei von schlimmeren Situationen sind, die uns davon abhalten würden, etwas Konstruktives mit unserem Leben anzufangen, und erkennen, wie reich unser Leben an Möglichkeiten ist, etwas Konstruktives mit uns anzufangen, dann wissen wir uns selbst – das konventionelle „ich“ – zu schätzen. Lassen Sie es mich genauer ausdrücken: Wir wissen die Situation zu schätzen, in der wir uns gegenwärtig befinden, und das führt dazu, dass wir uns selbst gegenüber eine positive Einstellung haben. Statt zu denken „ich Armer“ und uns über die Situation in unserem Leben zu beklagen, sind wir sehr dankbar für unsere Situation. Mit anderen Worten: Wir betrachten die positiven Qualitäten statt der negativen. Wir streiten nicht ab, dass es auch Nachteile in unserem Leben gibt. Nachteile gibt es in jedem Leben, aber es nützt uns nichts, uns darüber zu beklagen und darauf herumzureiten.
In den Lehren finden wir Richtlinien, wie man den Umgang mit einem spirituelle Lehrer pflegt: Man leugnet etwaige Mängel nicht, aber es hat keinen Nutzen, sich darauf zu konzentrieren. Man betrachtet vielmehr die guten Qualitäten, weil diese inspirierend sind. Desgleichen werden wir, wenn wir die guten Qualitäten der Situation in diesem kostbaren menschlichen Leben betrachten, dazu inspiriert, eine positive Einstellung zu uns selbst zu haben.
Wir erkennen auch, dass diese Situation, dieses kostbare menschliche Leben, das wir jetzt haben, nicht andauern wird. Der Tod wird mit Sicherheit kommen, und vorher – wenn wir so lange leben – das Alter, vielleicht Krankheit usw. Weil wir sehr dankbar für das kostbare menschliche Leben sind, das wir jetzt haben, und diese Wertschätzung ein warmes Gefühl für uns selbst hervorruft und wir wirklich den Wunsch haben, dass wir glücklich sein mögen, möchten wir nicht, dass diese Situation endet, wenn wir sterben. Wir möchten imstande sein, sie fortzusetzen. Wir haben festgestellt, dass – egal, ob wir nun bewusst an Wiedergeburt oder an ein Leben nach dem Tod glauben oder was immer wir für ein Glaubenssystem haben mögen – es immer darauf hinausläuft, dass wir denken wir würden ewig weiter bestehen, selbst wenn es nur im Sinne von „ich bin tot“ ist. Auch in dem Fall bin ich tot für immer und das Subjekt ist ein „ich“, das dieses Totsein – bzw. Nichts zu sein – erfährt. Und natürlich möchten wir, dass es uns im Nichts gut geht.
Wir möchten nicht unglücklich sein – das bedeutet, dass wir in Zukunft keine schlechteren Leben möchten. Wir haben angefangen, gut auf uns achtzugeben, und zwar nicht nur im Hinblick auf den jetzigen Augenblick, sondern auch im Hinblick auf die Zukunft, und nicht nur im Sinne des späteren Abschnitts dieses Lebens, sondern auch in künftigen Leben. Das ist eine noch konstruktivere gesunde Haltung in Bezug darauf, für uns zu sorgen. Die gesündeste Einstellung, die wir haben können, besteht darin, nach einer Möglichkeit Ausschau zu halten, wie wir Leiden und Probleme verhindern können.
Wir suchen also eine sichere Richtung, eine Möglichkeit, künftiges Leid zu verhindern, denn wir fürchten zu leiden, und das möchten wir keineswegs. Dann geben wir unseren Leben tatsächlich diese Richtung. Die Richtung wird von Buddha, Dharma und Sangha angezeigt. Auf der tiefsten Ebene bedeutet das, wahre Beendigung der Ursachen für die Probleme zu erreichen und damit die wahre Beendigung des Leidens, sowie das Verständnis, d.h. den wahren Pfad zu erlangen, der zu dieser Beendigung führt, so, wie dies die Buddhas vollständig erreicht haben, und wie es der Arya-Sangha teilweise erreicht hat.
Wir haben gesehen: Um diese sichere Richtung einzuschlagen, müssen wir als erstes die Ursachen beseitigen, die dazu führen, dass wir unglücklich sind – die Ursachen für das so genannte Leiden des Leidens, d.h. für offensichtliches Unglücklichsein und Schmerz, denn das ist es, woran wir denken, wenn wir schlechtere Wiedergeburten in Betracht ziehen, die wir möglicherweise erleben könnten – und so etwas wollen wir ganz bestimmt nicht erleben. Wir versuchen also zuerst, darauf hinzuarbeiten, dass wir die Ursachen für solche Erfahrungen loswerden, denn wenn uns wirklich etwas an uns liegt, nehmen wir uns selbst und das, was wir erleben werden, ernst.
Das heißt, dass wir verstehen müssen: Wenn wir erleben, dass wir unglücklich sind, so ist dies das Ergebnis destruktiven Verhaltens. Wenn wir Glück erleben, so ist dies das Ergebnis konstruktiven Verhaltens. Konstruktives Verhalten bedeutet, dass wir uns davon zurückhalten, wenn uns Anwandlungen überkommen, uns destruktiv zu verhalten. Wir können uns in Bezug auf destruktives Verhalten – z.B. Töten, Stehlen, Lügen, anderen sexuelle Gewalt antun usw. – klarmachen: Dies geschieht unter dem Einfluss störender Emotionen – unter dem Einfluss von Gelüsten und Gier oder Ärger oder Naivität. Wenn wir diese Arten von störenden Emotionen erleben, die uns veranlassen, zwanghaft auf destruktive Weise zu handeln, können wir feststellen, dass es sich um Geisteszustände handelt, die bewirken, dass wir unseren inneren Frieden verlieren – das ist die Definition einer störenden Emotion. Wir fühlen uns unruhig – im Grunde sind wir also unglücklich – und wir verlieren unsere Selbstbeherrschung und handeln deshalb zwanghaft. So wird eine störende Emotion definiert.
Wenn wir mit einem verstörten Geisteszustand, der im Grunde ein unglücklicher Geisteszustand ist, destruktiv handeln, so ist das vergleichbar mit einem Beispiel, das mir mein Übersetzer in unserem Gespräch auf dem Weg hierher genannt hat: Es ist wie wenn man einen Stein aufhebt und ihn dann auf einer Stange platziert. Man führt also eine Handlung aus und das erzeugt, aus der kinetischen Energie dieser Handlung, dann die potentielle Energie für den Stein oben auf der Stange. Da ist eine potenzielle Energie vorhanden. So, wie in der Physik Vorgänge gemäß dem Gesetz der Erhaltung von Materie und Energie ablaufen, ist die kinetische Energie nun potentielle Energie. Durch verschiedene Umstände kippt die Stange und die potentielle Energie wandelt sich wieder in kinetische Energie um, wenn der Stein herunterfällt – wenn er auf dem Boden auftrifft, wird Hitze erzeugt oder was auch immer.
Übertragen auf unserem Zusammenhang: Die kinetische Energie – die Art und Weise, wie das karmische Potenzial reift – wird in weiteres destruktives Verhalten umgewandelt. Wenn wir uns den Beigeschmack dieses ganzen Prozesses klarmachen, in dem kinetische Energie in Potenzial übergeht und dann wieder zu kinetischer Energie wird – der ganze Prozess ist destruktiv, mit störenden Emotionen verbunden und unglücklich – dann wird ein bisschen nachvollziehbar, dass wir als Resultat von destruktiven Handlungen Zustände von Unglücklichsein erleben, denn die destruktive Handlung wird in einem Geisteszustand begangen, der nicht glücklich ist.
Auf dieser anfänglichen Ebene üben wir also Selbstbeherrschung: Wenn uns danach ist, uns auf destruktive Weise zu verhalten – wir empfinden eine Art Anspannung, die in die Richtung geht, dass wir lügen oder jemanden verletzen oder eine Gemeinheit von uns geben wollen -, dann halten wir uns davon zurück, weil wir erkennen, dass das nur noch mehr Unglück bzw. Leiden bewirken wird.
Wenn wir das tun, können wir zumindest für die nächsten Leben – ich meine, wir haben die Ursache ja noch nicht vollständig beseitigt, aber zumindest vorläufig – verhindern, dass es zu Zuständen schlimmerer Wiedergeburten und grobem Unglücklichsein kommt. Was wir also auf dieser Ebene hauptsächlich verhindern, sind schlimmere Wiedergeburten in unseren nächsten Leben. Wir werden immer noch, selbst wenn wir wieder ein kostbares menschliches Leben erlangen, Zeiten erleben, in denen wir unglücklich sind. Es ist nicht so, dass wir die Ursachen dafür vollständig beseitigt haben, aber zumindest können wir wieder ein kostbares menschliches Leben erlangen und unsere Bestrebungen fortsetzen. Das ist es, was wir eigentlich wollen – in der Lage sein, den spirituellen Weg fortzusetzen.
Unbefriedigendes, gewöhnliches Glück
Kommen wir nun zur mittleren Ebene. Gut, wir haben den Zustand einer Wiedergeburt, die im Wesentlichen glücklich ist. Aber rufen Sie sich in Erinnerung, was auf der anfänglichen Ebene abläuft, wenn wir konstruktiv handeln. Wenn wir uns konstruktiv verhalten, halten wir uns davon zurück, zwanghaft destruktiv zu handeln, wenn solch ein destruktives Ansinnen aufkommt. Das erfordert Willenskraft und Selbstbeherrschung; es findet im Rahmen einer gesunden Entwicklung des Selbst statt. Wie in dem einfachen Beispiel, dass wir morgens aufstehen und zur Arbeit gehen oder uns um unsere Kinder kümmern müssen, ist Selbstdisziplin nötig, um nicht einfach im Bett liegen zu bleiben, und Willenskraft, um aufzustehen. Beides beruht auf einem gesunden Selbstgefühl, mit dem man Verantwortung übernimmt. Aber auf einer Schicht unterhalb der Selbstbeherrschung und Willenskraft ist das starke Gefühl eines feststehenden „ich“ vorhanden – dass „ich das steuern muss, dass ich dies und jenes tun muss“. Es gibt also ein sehr starkes Ichgefühl und Einstellungen wie „Ich hätte imstande sein müssen, mich zu beherrschen“, falls wir es nicht konnten, und dann haben wir Schuldgefühle usw. Das geht in Richtung des falschen Selbst.
Das, was ungeachtet der Ursachen und Umstände und alles anderen, was vor sich ging, imstande gewesen sein sollte, Selbstbeherrschung zu üben, ist die Vorstellung von einem Selbst, das unabhängig von Ursachen und Umständen handeln sollte. Das ist jedoch unmöglich. Es handelt sich um eine so genannte störende Einstellung zu uns selbst – eine störende Einstellung in Bezug darauf, wie wir uns selbst sehen: „Ich sollte Herr der Lage sein – ganz gleich, was passiert.“ In diesem geistigen Zustand sind wir zwar insofern etwas ruhiger, als wir nicht unter dem Einfluss von störenden Emotionen wie Ärger oder Begierde usw. stehen – „Ich kann das jetzt steuern und beherrscht handeln“ – doch das Verhalten wird etwas zwanghaft. Es wird immer Karma erzeugt, verbunden mit dem zwanghaften Bestreben „Ich muss mich beherrschen.“ Das Beispiel, das wir verwendet hatten, war das des zwanghaften Perfektionisten – zwanghaft die Wohnung saubermachen, zwanghaft sehr rigide in Bezug auf Ethik sein.
Was für eine Art Glück erleben wir als Resultat dessen? Es ist ein Glück, das nicht andauert. Wenn man z.B. Perfektionist hinsichtlich des Sauberhaltens der Wohnung ist, putzt man sie, ist aber nie zufrieden damit. Man muss sie wieder putzen, und dann nochmals. Oder wenn man einen Text überarbeitet und perfektionistisch ist, weiß man nie, wann man aufhören muss; man ist nie zufrieden. Solch eine Art von „Glück“ wird „Leiden der Veränderung“ genannt. Das Gleiche gilt auch für andere Bereiche unserer Erfahrung: Alles Glück, das wir erleben, dauert nicht an. Es verändert sich. Man isst eine Mahlzeit und genießt sie, aber wenn man unablässig immer weiter und weiter essen würde, würde einem schlecht werden. Das ist kennzeichnend für unser Leiden der Veränderung, unser gewöhnliches Glück.
Falsche Vorstellungen von Selbst auseinandernehmen
Wir haben ein gesundes Ichgefühl im Sinne des konventionellen Selbst aufgebaut: Ich bin verantwortlich für meine Handlungen; ich bin verantwortlich für das, was ich erlebe, ich muss etwas tun, um die Ursachen für Unglücklichsein auszuräumen. Nun wollen wir auch noch die Ursachen für diese unbefriedigende Art von Glück beseitigen. Worin besteht dabei das Problem? Was ist die Ursache des Problems? Wir kommen zu der Erkenntnis, dass wir anfangen müssen, unsere falsche Vorstellung aufzubrechen, mit der wir uns selbst im Sinne des falschen „ich“ betrachten.
Lassen Sie mich das auf einfachere Weise erklären: Das falsche „ich“ besteht darin, dass wir das konventionelle „ich“ (ich tue dies, ich tue das, ich erlebe dies, ich erlebe jenes) so betrachten, als gäbe es eine Art feststehende Entität, „ich“, in meinem Kopf: der Urheber der Stimme, die dort spricht, etwas, das sagt: „Was soll ich jetzt machen und was werden die Leute von mir denken?“, das sich Sorgen um mich macht, und das dort hockt, als sei es der Betreiber einer Maschine, des Körpers – „Was soll ich jetzt machen – nun, ich tue das und das“ – und dann einen Knopf drückt und den Körper veranlasst, dies zu tun, oder die Sprechorgane veranlasst, jenes zu tun, und das all die Informationen auf Videoschirmen verfolgt bzw. aus Lautsprechern erhält, die von den Sinnesorganen gespeist werden – also eine zentrale Kontrollinstanz im Gehirn, die im Kopf in ein Mikrofon spricht, und die nur wir selber hören.
Das ist ganz und gar ein Fantasiegebilde, eine Fiktion. So etwas gibt es nicht. Auf diese Weise existieren wir nicht. Aber weil wir meinen, das wäre es, was wir sind, weil wir glauben, dass dieses „ich“ dort vorhanden wäre – nun, wie erleben wir es? – erleben wir es als etwas Unsicheres. Natürlich ist es unsicher, denn es existiert ja gar nicht; wie kann man sich dessen also sicher fühlen? Also folgen wir lauter Strategien, um zu versuchen, dieses kleine „ich“ sicher zu machen. „Wenn ich nur bestimmte Dinge für ‚mich‘ bekommen könnte, würde das ‚mich‘ sicherer machen.“ Deshalb haben wir sehnsüchtiges Verlangen nach vielerlei Dingen, und wenn wir sie haben, wollen wir sie nicht wieder loslassen – also entsteht Anhaftung; und wenn wir etwas haben, wollen wir noch mehr – also Gier. Dies oder das wird mir irgendwie Sicherheit verschaffen – „Wenn ich genügend Geld hätte“, „Wenn ich auf Facebook genügend „Gefällt-mir“-Meldungen kriege“ oder was auch immer – das wird „mich“ sicher machen. Aber das ist natürlich nicht der Fall. Das tut es nie.
Eine andere Strategie – es geht hier um die störenden Emotionen – besteht darin, Dinge von „mir“ fernzuhalten, die auf irgendeine Weise meine Sicherheit bedrohen. So entstehen Ärger, Abneigung, Feindseligkeit – diese Arten der störenden Emotionen. Oder Naivität: „Ich will einfach nicht an etwas denken, das bedrohlich sein könnte.“ Verleugnung – eine Art, Wände zu errichten.
„Irgendwie werde ich hinter der Wand von Leugnung und Naivität sicher sein.“ Aber natürlich sind wir nie sicher. Wir fühlen uns innerhalb der Wände immer unsicher, das irgendetwas sie durchdringen wird.
Das sind die störenden Emotionen, die wir haben. Wir fühlen uns unsicher, daher verwenden wir diese Mechanismen, und sie führen zu zwanghaftem destruktivem Verhalten, beispielsweise Stehlen, um zu bekommen, was wir uns wünschen, Töten, um etwas zu vernichten, das wir nicht wollen, oder dazu, sich einfach nicht mit etwas befassen aufgrund von Naivität. All das beruht auf der falschen Vorstellung vom Selbst – dem Glauben, wir würden als dieses falsche „ich“ existieren.
Der Glaube an dieses falsche „ich“ steckt auch hinter unserem konstruktivem Verhalten, jener Art besessenen, zwanghaften konstruktiven Verhaltens. Es gibt auch konstruktives Verhalten, das nicht zwanghaft ist, das nicht auf dem Glauben an dieses falsche „ich“ beruht, aber hier sprechen wir von karmischem Verhalten, von demjenigen, das eine gewisse Zwanghaftigkeit beinhaltet. Und was hinter diesem zwanghaften Perfektionismus steckt – den wir hier als Beispiel für zwanghaft positives Verhalten aufgeführt haben -, ist immer noch der Glaube an dieses falsche „ich“.
Störende Geisteshaltungen
Wir haben nicht unbedingt störende Emotionen; es gibt auch störende Geisteshaltungen. Störende Geisteshaltungen können den störenden Emotionen zugrunde liegen oder auch ohne diese auftreten. Diejenige störende Geisteshaltung, die am meisten vorherrscht, wird mit einem schwierigen Fachbegriff bezeichnet, nämlich „verblendete Auffassung in Bezug auf ein vergängliches Netzwerk“. Ich werde erklären, was das bedeutet.
- Das „Netzwerk“ sind unsere Aggregate – all die Bestandteile, die jeden Augenblick unserer Erfahrung ausmachen.
- Es ist „vergänglich“, d.h. es verändert sich die ganze Zeit.
- Und wir haben eine „verblendete Auffassung“ in Bezug darauf – eine inkorrekte Betrachtungsweise in Bezug auf das, was wir erleben; es ändert sich die ganze Zeit.
Und worin besteht diese Geisteshaltung nun eigentlich? Die Definitionen und Beschreibungen davon in den Texten legen nahe, dass es sich um etwas handelt, das man vielleicht folgendermaßen veranschaulichen kann: Ich verwende dafür gerne die Analogie, dass wir eine Art Netz haben, wie ein Fischer, und wir werfen das Netz „ich“ oder das Netz „ich als Besitzer von etwas, das mir gehört“, „ich als Besitzer von etwas, das mein ist“ aus.
Normalerweise denken wir daran als, beispielsweise, einen jugendlichen Körper, und dann werfen wir dieses Netz des „ich“ aus, das wir damit identifizieren: „Das bin ich“. Das halten wir fest – mit weiteren verblendeten, störenden Geisteshaltungen, z.B.: „das ist dauerhaft“ – und dann sieht man sich im Spiegel und sieht weiße Haare und sagt: „Das bin ich nicht.“ Wir haben ein festes Bild von „ich“. Wir haben das Netz „ich“ auf einen Bestandteil der Aggregaten geworfen, zum Beispiel unseren Körper, und identifizieren uns damit. Etwa: „ich – ich bin dick“, und dann machen wir zwanghaft Diät und versuchen abzunehmen; wir nehmen ein Kilo ab und sind ein bisschen glücklich, aber das Glück dauert nicht an, und wir müssen noch ein Kilo abnehmen. Diese Art von Geisteshaltung kann auch mit der Einstellung einhergehen, sich zwanghaft gut zu ernähren. Es ist nichts daran auszusetzen, sich gut zu ernähren, aber wenn es zwanghaft wird, beruhend auf der Vorstellung, dass „ich schlank sein muss“, dann würden wir das, westlich ausgedrückt, etwas neurotisch nennen.
Das Gleiche gilt für das, was „mein“ ist – verbunden mit: „ich, der Besitzer der Dinge, derjenige, der die Dinge beherrscht“. Das ist relevant in dem Beispiel, das wir zuvor genannt haben: Wir werfen das Netz „ich“ auf eine Situation, die wir erleben und meinen „Ich sollte imstande sein, das zu steuern“ – nämlich dieses feststehende „ich“, das der Steuermann im Kopf ist. „Ich sollte imstande sein, mich zu beherrschen, und wenn mir das nicht gelingt, bin ich Schuld daran.“ Das ist die störende Geisteshaltung, die dahinter steckt: das Netz „ich“ „ich, der Besitzer, ich der Beherrscher“ – auf etwas werfen, was wir erleben. Wir meinen: „Wenn ich alles unter Kontrolle bekommen kann, dann werde ich mich sicher fühlen.“ Nun vielleicht fühlt man sich ein paar Augenblicke lang sicher und ist ein bisschen glücklich, aber das dauert nicht lange, nicht wahr? Denn es ist unmöglich, alles unter Kontrolle zu haben. Man wirft das Netz „ich“ aus – „ich“, der Steuermann, „ich“, der Besitzer – „Ich muss jeden korrigieren; ich werde die Fehler von jedem korrigieren.“ Das mag etwas Positives sein, aber es ist ein bisschen übertrieben, nicht wahr? Und es ist unmöglich, dass keine Fehler mehr vorkommen werden, nicht wahr? Denn Fehler treten auf oder eine Situation wird chaotisch usw., beeinflusst von zahlreichen Ursachen und Umständen. Wir sind kein allmächtiger Gott. Das ist eine Fantasievorstellung.
Die störenden Emotionen, die hinter destruktivem Verhalten stecken – zwanghaftem destruktivem Verhalten – und die störenden Geisteshaltungen, die nicht nur hinter destruktivem Verhalten, sondern auch hinter unserem zwanghaften positiven, konstruktiven Verhalten stehen, beruhen allesamt auf dieser falschen Vorstellung von uns selbst, dem Glauben, wir wären dieses falsche „ich“ – einfach ausgedrückt: dieser kleine Steuermann in unserem Kopf – und würden auf diese Weise existieren. Und indem wir glauben, das wäre „ich“, fühlen wir uns unsicher. Deshalb versuchen wir entweder, ihm Dinge zukommen zu lassen, oder ihm Dinge fernzuhalten, Wände um es herum zu errichten, oder sein Werkzeug einzusetzen, sein Netz, auszuwerfen, um alles rundherum unter Kontrolle zu bringen. Aber keine dieser Strategien funktioniert, und das einzige, was man schafft, ist das unweigerlich immer wiederkehrende Auf und Ab von Samsara – Unglücklichsein, Glücklichsein, Unglücklichsein, Glücklichsein – in diesem Leben und in zukünftigen Leben. Das ist Samsara.
Denken Sie ein paar Augenblicke darüber nach und machen Sie sich klar, was wir das „falsche Selbst“ genannt haben, das Selbst, das widerlegt werden soll. Es beruht auf einer falschen Vorstellung und der Projektion von etwas, das nichts als ein Fantasiegebilde ist, das auf das konventionelle Selbst geworfen wird, genauer gesagt: darauf, wie es existiert. Es gibt ein Selbst, aber es ist nicht dieser kleine Steuermann, der in unserem Kopf am Schaltpult sitzt. Was wichtig ist: Das konventionelle „ich“ existiert. Das ist es, was von Belang ist, das, was wir auf den vorhergehenden Stufen aufgebaut haben. Wenn man einfach gleich zu dieser Stufe kommt das Selbst zu demontieren, ohne die vorhergehenden Stufen durchlaufen zu haben, dann resultiert die Beseitigung des vermeintlichen Steuermanns in unserem Kopf darin, dass nichts übrig bleibt. Dann kann man fälschlich zu der Einstellung gelangen: „Warum soll ich mich anstrengen, etwas zu tun? Ich existiere ja nicht.“ Das ist verkehrt. Es ist also ganz wichtig, die vorherigen Stufen zu durchlaufen, um ein gesundes Gefühl von „ich“ zu entwickeln, mit dem wir Verantwortung für unser Leben übernehmen und für das, was wir erleben.
Wie Karma und Wiedergeburt auftreten
Gut; nun beginnen wir, das zu entwickeln, was für gewöhnlich „Entsagung“ genannt wird. Es ist die Entschlossenheit, von diesem Auf und Ab, von Samsara, freizukommen. Um diesen Kreislauf von Unglücklichsein, unbefriedigendem Glück und Wiedergeburten, die eine Grundlage dafür bilden, zu durchbrechen, müssen wir überwinden, worauf dieser Kreislauf beruht. Warum geht er immer weiter? Warum haben wir – im Zusammenhang des Lam-rim gedacht – diese Art von Wiedergeburten usw., die immer wieder Grundlage dafür sind, dieses Auf und Ab von Unglücklichsein und unbefriedigendem Glück zu erleben? Um das herauszufinden, schauen wir uns den Mechanismus an, wie Wiedergeburt, wie dieses sich ständig wiederholende Syndrom, abläuft. Das wird in den „zwölf Glieder des abhängigen Entstehens“ beschrieben.
Hier in unserem Zusammenhang besteht keine Notwendigkeit, alle zwölf Glieder dieser Kette durchzugehen, aber wirklich von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang diejenigen Glieder der Kette, die die karmischen Potenziale aktivieren. Dazu gehört das, was für gewöhnlich als „Begierde“ übersetzt wird; aber wenn wir das Sanskrit-Wort betrachten, ist ersichtlich, dass es sich um den Ausdruck „durstig sein“ handelt.
Was in unserem täglichen Leben sowie auch Leben für Leben durch die Wiedergeburt abläuft, ist, dass wir dieses Unglücklichsein und unbefriedigende Glück erleben und uns selbst für ein feststehendes „ich“ in unserem Kopf halten. Wir sind am Verdursten, so sagt man auf Englisch, d.h. wir sind wirklich überaus durstig.
Unglücklichsein ist so, als wäre man sehr durstig; man möchte diesen Durst unbedingt loswerden: dieses Unglücklichsein. Die Intensität unseres Durstes und der Drang, wie sehr wir dieses Unglücklichsein, das dem unangenehmen Gefühl von Durst gleicht, loswerden wollen, kann natürlich in unterschiedlichem Ausmaß auftreten. Aber es ist die Mentalität, die vorhanden ist, wenn wir unglücklich sind – denn jeder möchte glücklich sein und niemand unglücklich.
Wenn wir extrem durstig sind und nur einen kleinen Schluck Wasser bekommen, ist das nicht genug, nicht wahr? Man will nach dem kleinen Schluck nicht aufhören, will sich gar nicht von der Wasserflasche trennen. Man will sie behalten. Das ist der Geisteszustand – eigentlich ist es eine störende Emotion – , in dem wir uns befinden, während wir Glück und Unglücklichsein erleben. Wir haben immer Durst.
Des Weiteren tritt etwas auf, das manchmal „Greifen“ genannt wird, aber dem Wortsinn nach handelt es sich eigentlich um eine herbeiführende Haltung – es ist das, was Wiedergeburt herbeiführt. Wir werfen eine störende Geisteshaltung aus – es gibt eine ganze Liste davon aber die Vorherrschende besteht darin, dass wir das Netz des „ich“ auswerfen: „Ich muss diese Situation irgendwie in den Griff kriegen und damit fertig werden; ich muss das loswerden.“ Wir identifizieren uns damit: „ich“ – „ich bin so unglücklich“, „mir geht es so miserabel“, „ich Armer“, und daraus folgt Depression und all das. Oder: „Ich habe solch einen Mangel an Glück, es bleibt mir immer versagt“ – all diese Dinge, die mit dem Auswerfen des Netzes von „ich“ und „ich, der Besitzer, der Erfahrende, der Steuernde“ dieses Glücklich- und Unglücklichseins verbunden sind.
Diese beiden Glieder in der Kette des abhängigen Entstehens – der Durst und die herbeiführende Haltung, die das Netz „ich“ auf etwas wirft – sind das, was die karmischen Potenziale aktiviert. Als Resultat dieser Aktivierung (wie sie im Rahmen der zwölf Glieder beschrieben wird) nehmen wir dann zwanghaft Wiedergeburt an. Aber man kann das auch im Hinblick auf dieses Leben verstehen: Wir handeln zwanghaft, um diesen Durst loszuwerden, wir versuchen ihn auf die eine oder andere Weise zu löschen, was aber nie klappt. Die Wurzel von all dem ist natürlich unser fehlendes Gewahrsein, das erste Glied in der Kette des abhängigen Entstehens: unser fehlendes Gewahrsein in Bezug auf uns, nämlich in Bezug darauf, wie wir existieren. Diesen Glauben – dass wir dieses falsche „ich“ wären und auf diese Weise existieren: als solch ein kleines „ich“, das sich in unserem Kopf befindet und immer durstig und unsicher ist – müssen wir irgendwie loswerden. Denken Sie darüber nach.
Es ist sehr interessant, in uns selbst zu erforschen, wie unsere Einstellung zu Glück und Unglücklichsein ist. Das ist wirklich sehr aufschlussreich. Wie gehen wir mit Glück und Unglücklichsein um? Sind wir wie ein Verdurstender in der Wüste? Zunächst einmal müssen wir uns natürlich darum kümmern. Wenn wir uns nicht darum kümmern, tun wir gar nichts. Aber wir haben ein gesundes Selbstgefühl entwickelt, mit dem wir uns darum kümmern, was wir erleben. Aber kümmern wir uns zu viel, so wie ein Verdurstender in der Wüste, der unglaublich durstig ist? Darum geht es hier. Sie wissen schon, so ein Verzweifelter, der solch einen Durst hat, dass er nach allem Trinkbaren greift, in der Hoffnung, dass es ihn zufrieden stellt. Je mehr man dieses Bild untersucht, umso interessanter wird es. Vielleicht wird dieser Film mich glücklich machen, vielleicht wird diese Website mich glücklich machen, vielleicht wird dieser Mensch mich glücklich machen oder diese Mahlzeit. Wir haben immer Durst nach etwas.
Oder wir umgeben uns mit einer Wand von ständiger Musik von unserem iPad, damit wir an nichts denken müssen. Das ist wie hochgradige Naivität: eine große Wand um sich herum errichten, damit man sich nicht mit den Angelegenheiten des Lebens auseinandersetzen muss – vielleicht wird einen das glücklich machen. So braucht man nie wirklich über die eigene Situation nachzudenken und wenn man alles leugnet und mit ständiger Musik überschwemmt, wird einen das vielleicht glücklich machen. Was natürlich nicht der Fall ist. Man muss immer noch mehr Musikstücke hören, eins reicht nicht.
Fragen
Nur das falsche „ich“ negieren
Wirklicher Durst ist dauerhaft; man muss trinken, sonst hält man es nicht aus. Aber Sie sprechen von einer vorübergehenden Art von Durst, den man eine Weile hat, und dann wartet man und er vergeht wieder.
Eben deshalb ist es so wichtig, dass wir nicht das konventionelle „ich“ negieren, sondern nur das falsche „ich“. Eine vorläufige Art, mit diesem ganzen Syndrom von Glücklich- und Unglücklichsein und dem Durst usw. umzugehen, besteht in der Einstellung: „nichts Besonderes“. „Ich bin glücklich“ – nichts Besonderes; was erwarten wir denn vom Leben?“ „Ich bin glücklich, und das wird vorbeigehen“ – nun, das ist nichts Besonderes; was habe ich denn anderes erwartet?
Man macht also keine große Sache daraus, ob man glücklich oder unglücklich ist. Machen Sie keine große Sache daraus, dass sie Durst haben. Wenn ich Durst habe und etwas zu trinken da ist – gut, dann trinke ich es. Ich erwarte nicht, dass ich nie wieder Durst bekomme. Natürlich werde ich wieder Durst haben. Soweit es um das konventionelle „ich“ geht, ist nichts Besonderes daran, zu trinken, und es ist nichts Besonderes daran, Durst zu haben. Man kümmert sich eben darum – aber nicht mit diesem falschen Gefühl von „ich“: „Ohhh, wenn ich dieses wunderbare Getränk bekomme, wird alles bestens sein – nehmt mir das ja nicht weg!“ – wie ein Hund an der Futterschüssel, der sich dauernd umschaut, ob ihm jemand etwas wegnehmen will. Lassen Sie sich nicht von der Fernseh-Werbung für dumm verkaufen, in der jemand eine Flasche Sprudel oder so etwas emporhält: „der ultimative Durstlöscher“, der Sie von all dem befreit. Ich bitte Sie!
Ein tieferes Verständnis gewinnen
Was dieses konventionelle Selbst betrifft – Sie haben gesagt dass man wissen muss, wie das konventionelle Selbst existiert, aber ich denke, Wissen ist nicht genug, denn ich habe gemerkt, dass ich eigentlich nicht verstehe, was ich sehe. Wie können wir dafür sorgen, dass das funktioniert?
Ich denke, das eigentliche Problem ist hier die Art, wie wir das Ganze erfassen. Es gibt ein intellektuelles Verständnis und ein tieferes gefühlsmäßiges Verständnis, aber was sind eigentlich die Parameter, die dabei eine Rolle spielen? Das ist es, was wir untersuchen müssen. Ich denke, einer der Parameter ist die „Gewissheit“. Wie gewiss sind wir uns der jeweiligen Inhalte? Wie überzeugt sind wir, dass dies das konventionelle „ich“ ist und dass dies die Art und Weise ist, wie es existiert, und jenes die Art und Weise, wie es nicht existiert? Zuerst einmal müssen wir wirklich fest überzeugt sein, dass dies richtig ist.
Es gibt eine ganze Reihe von Geistesfaktoren, die daran beteiligt sind. Wir müssen den Unterschied feststellen zwischen der Art, wie es ist, und der Art, wie es nicht ist, daraufhin das unterscheidende Gewahrsein (tib. shes-rab) entwickeln – d.h. uns dieses Unterschiedes gewiss sein -, und dann die feste Überzeugung hervorbringen, sodass uns nichts ins Wanken bringen kann. Es gibt also einen Entwicklungsverlauf:
- Zuerst stellt man den Unterschied fest (tib. ‘du-shes) zwischen der Art und Weise, wie es ist, und der Art und Weise, wie es nicht ist.
- Darauf folgt unterscheidendes Gewahrsein (tib. shes-rab) – entschiedenes Gewahrsein der Unterschiede. Dieser Geistesfaktor fügt der Erkenntnis Gewissheit hinzu.
- Und schließlich feste Überzeugung – nichts wird diese Erkenntnis umwerfen; man ist ganz und gar überzeugt
Nun könnte man sagen: „Das ist immer noch eine intellektuelle Erkenntnis.“ Was fehlt? Nun, wir müssen tatsächlich mit diesem Verständnis handeln; das ist Teil des Prozesses, wie man Überzeugung gewinnt. Teil dieser ganzen Erörterung ist die Entwicklung der Überzeugung: Wenn ich in dem Glauben handele, ich wäre dieses falsche „ich“, führt das zu Unglücklichsein und Leiden; wenn ich diesen Glauben loswerde und einfach auf der Grundlage des konventionellen „ich“ handele, werde ich diese Art Leiden nicht erschaffen. Um wirklich Überzeugung davon zu gewinnen, müssen wir diese Erkenntnis tatsächlich in die Tat umsetzen und dann feststellen, dass die Resultate mit dem übereinstimmen, was in den Lehren gesagt wird. Erst dann ist man wirklich überzeugt.
Wenn wir also diese Zusammenhänge wirklich richtig verstehen – warum setzen wir dieses Verständnis dann nicht in die Tat um? Wir forschen nach: „Vielleicht empfinde ich immer noch unentschlossenes Schwanken. Ich bin mir nicht ganz sicher. Ich habe meine Zweifel.“ Wir sind nicht wirklich überzeugt. Nun könnten wir das Ganze beruhend auf Vermutungen ausprobieren: „Ich nehme an, dass es stimmt; also werde ich es ausprobieren und sehen, was geschieht.“ Warum tun wir das nicht? Trägheit vielleicht – dann schauen wir uns all die Arten von Trägheit an und die möglichen Gründe dafür, dass man träge ist: Angst, schlechter Einfluss von anderen, die sagen „ach, das ist doch blöd“ usw.
Diese Art von Verständnis zu gewinnen, die mehr transformierende Wirkung hat, hängt von vielerlei Ursachen und Umständen ab. Mystifizieren Sie es nicht – ich schätze, so lautet das passende Wort -, machen Sie keine mystische Angelegenheit daraus: „Ooh, jetzt kommt ein Gefühl tiefer Verwandlung …“ Es ist keine mystische Erfahrung. Zu diesem Punkt zu gelangen, ist eine sehr rationale Entwicklung, und ich denke, der wesentliche Parameter dabei ist, wie überzeugt man ist, wie sicher man ist, dass es stimmt.
Entsagung, unterscheidendes Gewahrsein und ethische Selbstdisziplin
Als nächstes entwickeln wir dann Entsagung. Wir verstehen den ganzen Mechanismus dieser zwanghaft immer weiter auftretenden Wiedergeburten und auch das sich zwanghaft wiederholende Auf und Ab von „glücklich“ und „unglücklich“ innerhalb eines Lebens. Entsagung bedeutet: „Ich habe das alles gründlich satt; ich bin dessen ganz und gar überdrüssig, und ich will aufhören damit, ich will da raus.“ Das erfordert ein sehr starkes Gefühl von konventionellem „ich“, das die Willenskraft und die Entschlossenheit hat, tatsächlich etwas zu tun, um Befreiung zu erlangen. Ohne dieses starke, gesunde Gefühl eines konventionellen „ich“ wird man nichts unternehmen. Bitte schenken Sie diesem Punkt gebührende Aufmerksamkeit. Auf die Befreiung hinzuarbeiten erfordert ein enormes Maß an Willenskraft, die Entschlossenheit: „Ich werde etwas tun“ und die Zuversicht, dass ich es tun kann.
Wir verstehen: Um Befreiung zu erlangen, brauchen wir unterscheidendes Gewahrsein, durch das wir die Überzeugung gewinnen, dass jenes falsche „ich“ – die missverstandene Art und Weise, wie das Selbst, „ich“, existiert – nicht etwas Realem entspricht. Es gibt das konventionelle „ich“: Es ist das, was einem individuellen Kontinuum sich stets verändernder Augenblicke der Aggregate als Bezeichnung zugeschrieben werden kann. Es geht ewig weiter; das ist kein Problem. Aber es existiert nicht auf die unmögliche Weise die wir uns in Bezug auf das falsche „ich“ vorstellen. Das ist es, was wir widerlegen müssen. Diesen Glauben müssen wir loswerden.
Wir brauchen höhere Konzentration, um diese unterscheidende Erkenntnis und das entsprechende Verständnis im Zentrum unserer Aufmerksamkeit zu behalten. Und wir brauchen ethische Selbstdisziplin, mit der wir diese Vergegenwärtigung entwickeln – Vergegenwärtigung ist der geistige Klebstoff – um diesen Geisteszustand aufrechterzuhalten, sowie Wachsamkeit, um zu überprüfen: Schweife ich ab oder nicht? Wir entwickeln diese Faktoren durch ethische Selbstdisziplin im Hinblick auf das gröbere Verhalten von Körper und Geist; und die Stärke, die daraus hervorgeht, können wir für den Geist nutzen, um Konzentration zu entwickeln, und diese dann nutzen, um darauf konzentriert zu bleiben, wie wir eigentlich existieren – auf die Leerheit, die Abwesenheit unmöglicher Existenzweisen. Für höhere ethische Selbstdisziplin, höhere Konzentration und höheres unterscheidendes Gewahrsein brauchen wir also ein starkes, gesundes Gefühl von „ich“.
Welches „ich“ versuchen wir zu befreien?
Das Wesentliche ist hier: Welches „ich“ versuchen wir zu befreien? Wir müssen verstehen, wie das „ich“ existiert, das wir befreien wollen. Es ist nicht so, dass wir das falsche „ich“ befreien wollen und dass das falsche „ich“ dann befreit wäre. Wir wollen das konventionelle „ich“ befreien. Aus diesem Grund besteht die erste Ebene des Verständnisses, das wir brauchen, darin, das Selbst zu verstehen, das in den anderen, den nicht-buddhistischen indischen Traditionen postuliert wird, denn auch sie lehren Methoden, Befreiung zu erlangen. Doch es stellt sich heraus, dass das, was sie befreien wollen, ein falsches „ich“ ist.
Das „ich“, nach dessen Befreiung sie streben, ist ein „ich“, ein Selbst, das von dem Ganzen getrennt ist; sie streben nach Befreiung eines Selbst, das getrennt von dem ganzen samsarischen Auf und Ab ist und die Macht darüber hat, sich zu befreien. Es ist sehr interessant, darüber nachzudenken. Es wird angenommen, es gebe ein „ich“, das das alles steuern kann: Nun werde ich mich von dem Unglücklichsein und dem unbefriedigenden Glück befreien, ich werde nicht mehr in diesem Kopf sitzen – wer will schon an diesem dummen Schaltpult sitzen – und ich werde befreit sein.
Das ist gar nicht so komisch wie es zunächst klingt, denn wenn wir uns wirklich überprüfen, stellen wir fest, dass das normalerweise die Vorstellung ist, die wir davon haben, wen wir da eigentlich befreien wollen, nicht wahr? Wir versuchen, ein falsche „ich“, ein falsches Selbst, zu befreien.
Lassen Sie uns die Charakteristika des falschen Selbst betrachten. Wir wollen ein Selbst haben, dass nicht von diesen störenden Emotionen und der Zwanghaftigkeit von Karma beeinflusst ist. Das ist in Ordnung. Aber wenn wir im Sinne des falschen „ich“ denken, dann ist das, was wir erlangen wollen, ein „ich“, das von gar nichts beeinflusst wird.
Wir sprechen hier von drei Charakteristika der verkehrten, auf Lehrmeinungen beruhenden Sichtweisen bezüglich des Selbst. Das erste ist die Annahme, es wäre statisch. In den Texten wird es „beständig“ genannt, aber wir haben gesehen, dass man im Buddhismus im Sinne eines ewigen Selbst denkt; „beständig“ ist hier also nicht im Sinne von „ewig“ zu verstehen. Es bedeutet „statisch“, d.h. unbeeinflusst von allem. Das ist der wichtige Punkt: dass es nicht von irgendetwas beeinflusst ist, ein Phänomen, das durch nichts bedingt ist.
Die Verwirrung betrifft Folgendes. Es ist nicht so, dass man erkennen muss, dass das Selbst von nichts beeinflusst wird; was wir wollen, ist, dass das Selbst nicht von den störenden Emotionen und Geisteshaltungen beeinflusst wird. Aber wir werden natürlich weiterhin von Mitgefühl und Fürsorge für andere beeinflusst sein; es gibt Vieles, wovon wir weiterhin beeinflusst werden. Doch die falsche Auffassung besteht darin, dass das falsche Selbst unbeeinflusst von allem sein könne. Das ist die Art von Selbst, das man in den nicht-buddhistischen Lehrsystemen zu befreien meint – ein Selbst, das nicht von irgendetwas beeinflusst wird, das wenn es befreit ist von all dem getrennt ist, völlig abgesondert von allem.
Wir betrachten hier die anfängliche Widerlegung, nämlich die eines Selbst, das (1) „beständig“ – so wird das Wort meistens übersetzt -, (2) „eins“ und (3) „unabhängig“ ist. Schauen wir uns das genauer an.
(1) „Beständig“ bedeutet eigentlich statisch, also nicht von irgendetwas beeinflusst. Im Buddhismus möchte man, dass es im Grunde nicht von Unwissenheit und von störenden Emotionen, von mangelndem Gewahrsein, beeinflusst wird. Aber es kann nicht etwas sein, das von gar nichts beeinflusst werden kann.
(2) Das zweite Charakteristikum lautet „eins“. Was bedeutet das? „Eins“ bedeutet, dass es keine Teile hat, eine Monade ist. Die nicht-buddhistischen Lehrsysteme, die hier hauptsächlich widerlegt werden, sind die der Samkhya- und der Nyaya-Vaisheshika-Philosophie. Die Samkhyas und Nyayas behaupten, das Selbst sei unteilbar, eine Monade und würde das gesamte Universum umfassen. Die Vaisheshikas sagen, das Selbst sei eine unteilbare Monade, jedoch in der Größe eines winzigen Partikels, wie ein Funke von Leben. Nun müssen wir überlegen, was um alles in der Welt der Begriffsinhalt des Fachausdrucks „teilelos“ ist. Was bedeutet es, wenn etwas eine Monade ist? Was ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung?
Wir geben also „teilelos“ in unsere interne Suchmaschine ein und stoßen auf die Vaibhashika-Aussage darüber, welches die tiefgründigste und welches die konventionelle Art von wahren Phänomenen ist. Darin wird das Wort „teilelos“ erläutert. Auf diese Weise verstehen Buddhisten also die Bedeutung von „teilelos“. Vaibhashika ist der Name eines der buddhistischen Lehrsysteme. Die Definition des Wortes „teilelos“ lautet: Wenn man etwas analysiert, das teilelos ist, bleibt seine eigene, wahre, auffindbare Identität erhalten. Bei etwas, das Teile hat, bleibt hingegen seine Identität nicht erhalten, wenn man es analysiert. Zum Beispiel: Hier steht ein Tisch, und er hat Teile. Wenn man ihn analysiert und auseinandernimmt und all die Teile betrachtet, ist ersichtlich, dass keiner der Teile der Tisch ist. Seine Identität als Tisch bleibt also nicht erhalten.
Doch etwas, das teilelos ist – als Beispiel dafür wird der letztendlich kleinste Partikel angeführt -, kann nicht unterteilt werden. Man versucht ihn zu analysieren, und, egal was man tut, er bleibt dieser Partikel, denn er hat keine Teile. Er behält seine Identität. Wenn man das von dem befreiten Selbst behauptet – worin besteht dann der Fehler? Der Fehler besteht darin, dass diese Aussage impliziert, das Selbst – das befreite Selbst – würde keiner Basis zugeschrieben, die Teile hat.
Das Selbst – das konventionelle Selbst – wird dem Körper, dem Geist, den Emotionen und all diesen Komponenten zugeschrieben, die sich dauernd verändern. In diesem Sinne hat es also Teile – ähnlich wie ein Tisch, der allen seinen Teilen zugeschrieben wird. Es hat also all diese Teile: Körper, Geist, Emotionen usw. Wenn das Selbst hingegen dieses eine, teilelose Etwas wäre, könnte die Grundlage, der es zugeschrieben wird, keine Teile haben. Es könnte nicht „mich“ als Sechsjährigen, als 16jährigen, als 25jährigen usw. geben. Es könnte nicht „mich“ in Verbindung mit Körper, Geist, Emotionen, dem was sich empfinde usw. geben. Es müsste eine teilelose Monate sein. Aber das ist unmöglich. Die Anhänger jener indischen Lehrsysteme versuchen, etwas zu befreien, das keine Teile hat – das also nicht aus diesen Komponenten besteht (im Samkhya-System wären es die Komponenten „rajas“, „tamas“ und „sattva“ die drei „gunas“). Um solch ein Selbst handelt es sich gemäß den nicht-buddhistischen Lehrsystemen nicht. Im Buddhismus sagt man nicht, dass es den drei „gunas“, den o.g. Bestandteilen zugeschrieben wird, sondern den Aggregaten.
Einfach ausgedrückt: Jene anderen Systeme sagen, dass Selbst würde nicht aus irgendwelchen Bestandteilen bestehen, es wäre teilelos. Bitte denken Sie nicht, dass Selbst, dass wir zu befreien versuchen, würde nicht aus irgendwelchen Bestandteilen bestehen. Das Selbst besteht aus Körper und Geist und Emotionen, es verändert sich mit dem Alter usw. Es besteht aus etwas. Wenn wir es analysieren – Ist der Körper das Selbst? Ist der Geist das Selbst? -, dann zeigt sich, dass im Hinblick auf die Teile, die Identität des Selbst nicht erhalten bleibt.
(3) Die dritte Qualität, die wir widerlegen wollen, ist ein Selbst, das unabhängig von Körper und Geist ist, also ein Selbst das getrennt von einem Körper und einem Geist, getrennt von einer Grundlage für die Zuschreibung, existieren kann. Das ist es, was die Samkhyas und die Nyaya-Vaisheshikas befreien wollen. Demnach würde es sich um ein Selbst handeln, das völlig getrennt vom Universum ist, getrennt von Körper und Geist, getrennt von allem – es hat keine Grundlage für seine Zuschreibung. Es ist also nicht dasselbe wie die physische Basis des Empfindungsvermögens, die gemäß westlicher Terminologie dem Gehirn entsprechen würde. Im Gehirn wird Glücklichsein und Unglücklichsein, das oben beschriebene Samsara, empfunden. Das Gehirn ist die physische Basis für dieses Empfindungsvermögen. Befreit aber wird gemäß jenen indischen Lehrsystemen nur das Selbst. Ein Selbst, das passives Bewusstsein ist, nicht mit einem Gehirn verbunden – so wird man von Leiden und unbefriedigendem Glück befreit. Man muss nur erkennen, dass man getrennt vom Gehirn ist; das ist nur der Körper, der all die Funktionen erfüllt – wer will das schon? Und so wird man zum befreiten Selbst – ein Selbst, das nichts empfindet. Passives Bewusstsein wäre demnach ein befreites Selbst, aber es nimmt eigentlich nichts wahr. Es ist einfach nur da.
In glückseliger Selbstvergessenheit.
Nicht glückselig, das wäre eine Empfindung. Ohne Empfindung. Es ist das Gehirn, wo Empfindung stattfindet. Interessanterweise hätten viele Menschen gern einen solchen Zustand. Empfindung ist etwas Physisches. Der Standpunkt der Samkhyas ist, dass es sich dabei lediglich um ein Abfeuern von Elektronen und Neuronen usw. handelt, einen elektro-chemischen Prozess, der sich im Gehirn abspielt. Es ist etwas Physisches. Aber das Selbst ist gemäß jenen Lehrsystemen nichts Physisches, es ist von all dem abgesondert.
Der Standpunkt der Nyaya-Vaisheshikas ist, dass das Selbst kein Bewusstsein hat. Die Samkhyas sagen, es hätte passives Bewusstsein; die Nyayas sagen: Es ist ohne Bewusstsein, ohne Eigenschaften. Bei ihnen wird etwas, das Bewusstsein hat, „Geist-Partikel“ genannt; und das Selbst ist nicht mit einem „Geist-Partikel“ verknüpft. Bei den Nyaya-Vaisheshikas fallen mir immer diese Baukastensysteme ein, die wir in Amerika haben – Bausätze mit kleinen Stäben und Kugeln, die man auf die Stäbe aufstecken kann. Die Kugeln haben kleine Löcher, und man kann viele verschiedene Sachen mit den Stäben verbinden. Das entspricht in etwa der Vorstellung, die die Nyaya Vaisheshikas von den Dinge haben. Es gibt ein Selbst, und auf der anderen Seite gibt es Geist-Partikel, Körper, Empfindungen – ähnlich wie diese kleinen Kugeln, die mit Stäben verknüpft sind, und die Stäbe stellen verschiedene Arten von Beziehungen dar – Besitz oder was auch immer. Errungenschaften und so etwas. Es handelt sich um eine sehr physische Vorstellung davon, wie die Dinge miteinander verbunden sind. Und es heißt, das Selbst sei etwas, das nicht mit irgendetwas verbunden ist. Alles, was man tun muss, ist, es aus den Verbindungen herauszulösen – es vom Geist-Partikel zu trennen, von allem zu trennen – einfach die Stecker herausziehen – und da ist es dann, befreit. Man hat all die Stecker herausgezogen, somit ist kein Bewusstsein mehr damit verknüpft; und auf diese Weise beendet man die Empfindung von Unglücklichsein und unbefriedigendem Glück.
Also das ist es nicht, was wir befreien wollen – dieses falsche „ich“. Das Selbst, dass wir befreien wollen, das konventionelle Selbst, ist eines, das von etwas beeinflusst wird. Im befreiten Zustand ist es nicht mehr beeinflusst von störenden Emotionen, sondern von positiven Faktoren, und es kann mit anderen interagieren. Es ist nicht teilelos; es ist nicht ohne Körper und Geist usw. Es hat immer noch Körper und Geist und Empfindungen – positive Empfindungen und Emotionen. Und es erlebt etwas; es erlebt allerdings nicht Unglücklichsein und unbefriedigendes Glück, sondern eine reine Art von Glück oder es kann sich auch – wenn wir lediglich vom befreiten Zustand sprechen – um eine neutrale Art von Empfindung handeln, etwa wenn man sich in tiefer meditativer Versenkung befindet. Es wird also weiterhin Empfindungen erleben – reine Empfindungen.
Wenn wir nach Befreiung streben, ist es sehr wichtig, dass wir danach streben, das konventionelle „ich“ zu befreien und nicht das falsche „ich“, ein „ich“, das es gar nicht gibt. Die tiefere Ebene, die wir hier widerlegen müssen, ist ein Selbst, das ganz allein für sich erkannt werden kann, ohne dass gleichzeitig damit eine Grundlage erscheint. Der Fachbegriff dafür lautet: „ein eigenständig erkennbares Selbst“.
Ich verwende dafür immer folgendes Beispiel: Ich will, dass die Leute „mich“ um „meiner selbst“ willen lieben, nicht wegen meines Geldes, nicht wegen diesem oder jenem – einfach „mich“, um „meiner selbst“ willen: als wenn dieses „ich“ etwas wäre, das ganz allein um „seiner selbst“ willen geliebt werden könnte. Aber es kann gar nicht für sich allein wahrgenommen werden, und ebenso wenig kann es für sich allein – nur um „seiner selbst“ willen – geliebt werden. Es ist immer mit einer Grundlage verbunden.
Wenn wir also den Ausdruck verwenden: „Ich kenne mich selbst“ oder „Ich möchte mich selbst kennen“ – wie kann man sich einfach nur selbst kennen? Man kennt sich im Zusammenhang mit seinen Erfahrungen und seinem Geist und seinem Körper – mit all dem. Auf diese Art kennt man sich. Diesen Komponenten wird das Selbst zugeschrieben. Dasselbe gilt für die Frage: „Wie befreie ich mich?“ Stellen Sie sich das nicht als ein Selbst vor, das unabhängig von all diesen anderen Komponenten wahrgenommen werden kann. Es ist immer mit einer Grundlage verbunden. Erinnern Sie sich – zu Beginn des Kurses hieß es „Denken Sie an sich selbst.“ Und die einzige Art, wie wir an uns denken konnten, war entweder in Verbindung mit dem mentalen Klang des Wortes „ich“ oder einem geistigen Bild oder einem Gefühl oder irgendetwas. Man kann nicht bloß „ich“ denken ohne irgendetwas als Grundlage dafür. Ebenso wenig kann ich „mich“ befreien, ohne an „mir“ zu arbeiten – wobei „mir“ einer Grundlage zugeschrieben wird und gleichzeitig als diese Grundlage wahrgenommen wird.
Was folgt daraus? Daraus folgt: Wenn ich versuchen will, Befreiung zu erlangen, muss ich in Verbindung damit an meine Erfahrungen im Alltag denken und an die tatsächlichen Schwierigkeiten, die ich zu bewältigen habe, und an das „ich“, das dem zugeschrieben wird. Das ist die Art und Weise, wie wir daran arbeiten, Befreiung für das Selbst zu erlangen. Es ist nicht so, dass wir dabei an ein abstraktes Selbst denken, ohne dass in Verbindung damit irgendetwas anderes erscheint – das geht gar nicht – , und solch ein imaginäres Selbst befreien würden. Wenn wir diese Vorstellung haben, verbinden wir unsere Meditation nicht mit dem Leben, mit unserem täglichen Leben.
Wenn wir uns mit den drei höheren Schulungen befassen, um Befreiung zu erlangen, ist es also sehr wichtig – auch wenn wir dieses konventionelle Ichgefühl brauchen, das mit Willenskraft und der Entschlossenheit verbunden ist, sich zu befreien -, aufzupassen, dass es nicht mit dieser Einstellung „Ich werde meinen Geist beherrschen“, „Ich werde mein Verhalten beherrschen“ und „Ich werde mich selbst befreien“ geschieht, so, als wäre ein feststehendes „ich“ vorhanden, das all das tut und sich befreit – als ginge es um solch ein feststehendes, von all dem getrenntes „ich“.
Lassen Sie uns das einen Augenblick verdauen. Es ist natürlich eine Menge, was zu verdauen ist. Und dann können wir zu Mittag essen und das verdauen. Ich meine, wir können das alles in einem kurzen Satz zusammenfassen: Versuchen Sie nicht, ein falsches Selbst zu befreien, denn das existiert gar nicht; wir arbeiten daran, ein konventionelles „ich“ zu befreien.
Gut, lassen Sie uns aufhören und zu Mittag essen. Möge jegliche positive Kraft, jegliches Verständnis, die aus all dem entstanden sind, sich immer weiter vertiefen und als Ursache für die Befreiung und Erleuchtung eines jeden wirken – eines konventionellen „jeden“, nicht eines unmöglichen „jeden“.