Erkennen der zwei Wahrheiten gemäß Gelug-Lehrsystemen

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Um uns von den wahren Ursachen des Leidens zu befreien – der zweiten edlen Wahrheit müssen wir eine unbegriffliche Wahrnehmung von der Abwesenheit einer Art Seele erlangen, die unmöglich existieren kann (bdag-med, Selbstlosigkeit, Identitätslosigkeit), und zwar müssen wir diese Erkenntnis in Bezug auf jede der vier edlen Wahrheiten gewinnen. In der Terminologie des Mahayana bedeutet dies, eine unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit (stong-pa-nyid, Skt. shunyata, Leere) zu erlangen. Leerheit ist die Abwesenheit einer unmöglichen Existenzweise, und zwar im Hinblick auf einen Gegenstand, der leer davon ist, auf diejenige unmögliche Art und Weise zu existieren, die von dieser Leerheit negiert (widerlegt) wird.

Um eine unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit zu erlangen, ist es daher erforderlich, sowohl die Grundlage der Leerheit (stong-gzhi) als auch ihre Leerheit zu erkennen. Die Einteilung der Phänomene in zwei Wahrheiten (bden-gnyis) ist ein Klassifizierungsschema, das sich in allen Lehrsystemen (grub-mtha’) des indischen Buddhismus findet, um diese beiden Arten von wahren Phänomenen einzuordnen. Jedes Lehrsystem hat seine eigenen Kriterien, um die beiden Wahrheiten zu definieren, und somit klassifiziert jedes von ihnen die Phänomene anders. Trotzdem fallen die Leerheit und die Grundlage der entsprechenden Leerheit in allen Lehrsystemen immer in unterschiedliche Kategorien. Das ist stets der Fall, obwohl jedes Lehrsystem die unmögliche Art und Weise der Existenz, die durch die Leerheit negiert wird, anders definiert. Um zu wissen, wie man die Leerheit begrifflich und unbegrifflich wahrnimmt, damit wir uns von den wahren Ursachen unseres Leidens befreien können, müssen wir die Schritte kennen, die gemäß den Erklärungen eines jeden Lehrsystems den meditativen Prozess ausmachen, durch den man die Leerheit gründlich erkennt.

Hier werden wir diese Schritte erklären, wie sie in den Systemen des Sautrantikas, des Chittamatras und des Prasangika Madhyamakas beschrieben werden. Diese drei Systeme repräsentieren die drei Hauptvarianten der Erklärung. Auf die Svatantrika-Madhyamaka- Systeme werden wir lediglich einen Seitenblick werfen, da ihre Darstellung kein radikal anderes Schema beinhaltet. Überdies ist zu beachten, dass jede Tradition des tibetischen Buddhismus die Aussagen der indischen Lehrsysteme anders erklärt. Hier werden wir uns auf die Interpretation konzentrieren, die von der Gelug-Tradition dargelegt wird. Auch innerhalb der Gelug-Tradition folgen wiederum verschiedene Klöster den Lehrbuch-Traditionen (yig-cha) verschiedener großer Meister. Hier werden wir die Erklärungen erläutern, die der so genannten Jetsunpa-Tradition (rJe-btsun-pa) entsprechen. Diese Lehrbuch-Tradition wurde im 16. Jahrhundert von dem Meister Jetsun Chökyi Gyaltsen (rJe-btsun Chos-kyi rgyal-mtshan) gegründet, und ihr folgt man in den Klöstern Ganden Jangtse (dGa’-ldan Byang-rtse) und Sera Je (Se-ra Byes). Gelegentlich werden wir auch Hinweise auf wichtige, davon abweichende Erklärungen anderer Lehrbuch-Traditionen innerhalb der Gelug-Überlieferung geben.

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