Das konventionelle „Ich“: Eine Zuschreibung der 5 Aggregate

Wir haben über die Leerheit (Leere) gesprochen und haben gesehen, dass die Leerheit ein durch Negierung erkanntes Phänomen, eine Negierung, ist. Wir kennen es, indem wir etwas negieren. Drücken wir den Begriff Leerheit mit anderen Worten aus, könnten wir sagen, dass sie eine Abwesenheit von etwas ist. Es gibt viele verschiedene Arten von Abwesenheiten. Wir könnten über die vorübergehende Abwesenheit des Hundes im Raum reden. In diesem Fall könnte der Hund zurückkommen; er ist nur momentan nicht da. Doch bei der Leerheit geht es nicht um diese Art der Abwesenheit. Wir könnten über die Abwesenheit eines Monsters im Raum reden. In dem Fall ist das Monster etwas, das nie existiert und sich niemals im Raum befunden hat. Es ist nicht rausgegangen und wartet darauf, wieder hereinzukommen. Es gab nie ein Monster im Raum und es wird nie ein Monster im Raum geben. Das ist auch eine Art der Abwesenheit, aber bei der Leerheit geht es auch nicht darum. Was jedoch abwesend ist, ist eine unmögliche Existenzweise, und wenn es um eine Abwesenheit einer unmöglichen Art zu existieren geht, gibt es eine Basis dafür. Mit anderen Worten ist dies das Objekt, das frei davon ist, auf unmögliche Weise zu existieren. Es gibt viele verschiedene Existenzweisen, die unmöglich sind.

Zunehmend subtilere Objekte der Widerlegung durch die Leerheit in den Lehrsystemen 

Wenn wir die indischen Schulen der buddhistischen Lehrsysteme, der philosophischen Systeme, betrachten, so können sie stufenweise studiert werden, indem wir von einem zum nächsten gehen und immer subtilere unmögliche Existenzweisen widerlegen. Es ist nicht klar, ob die Menschen in Indien diese philosophischen Standpunkte auf diese Weise studiert haben. Aber die Tibeter taten es; sie haben sie stufenweise studiert. Man beginnt mit den gröberen Beschreibungen darüber, wie Dinge existieren, und arbeitet sich dann zu den immer subtileren und anspruchsvolleren Versionen durch. Das ist eine wirkliche hilfreiche Weise des Studiums, denn wir grenzen es auf ein immer präziseres Verständnis ein. Gewissermaßen entdecken wir, dass wir uns bestimmte Existenzweisen von Dingen vorstellen, und erkennen durch Logik, dass es unmöglich ist. Dann sehen wir, was übrigbleibt, wenn wir diese Projektion der unmöglichen Existenzweise ausschließen.

Es ist wichtig zu erkennen, dass es zwar bestimmte unmögliche Existenzweisen nicht gibt und niemals gab, die Dinge jedoch mit dem, was übrig bleibt, dennoch funktionieren. Mit dem, was übrig bleibt, erkennen wir dann, dass es noch eine subtiler Ebene unmöglicher Existenzweisen gibt, die wir projizieren. Diese sollten wir dann widerlegen und erkennen, was als nächstes übrig bleibt. Auf diese Weise gehen wir in unserem Verständnis der Leerheit immer tiefer und werden immer subtiler. Es ist ein großer Fehler, zu Beginn gleich zur anspruchsvollsten Erklärung der Leerheit zu springen, ohne diese Schritte durchzuarbeiten, denn dann erscheint uns die subtilste und tiefgreifendste Behauptung trivial, wenn wir sie ohne den Kontext betrachten, in dem wir sie verstehen würden. „Was ist das Selbst? Kann man das Selbst finden?“ „Es ist nicht in meinem Kopf. Es ist nicht in meinem Fuß. Es ist nicht in meiner Nase. Wo befindet sich das Selbst? Ich kann das Selbst nicht finden.“ Also was damit! Wir haben keinen Kontext dazu und dann erscheint es uns trivial. Es ist so offensichtlich und dann halten wir es für geringfügig. Das ist gewiss nicht das Verständnis der Leerheit.

Wir haben dieses schrittweise Studium, mit dem wir uns fortschreitend mit dem Verständnis der Leerheit befassen, um zum tiefgründigsten Verständnis zu gelangen. Der große indische Meister Shantideva macht in seinem Werk „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ den wichtigen Punkt, dass das tiefste Verständnis, das man als die Prasangika-Madhyamaka-Schule des indischen buddhistischen Gedankenguts kennt, und dessen Erklärung der Leerheit, das tiefgründigste und notwendigste ist. Ohne dieses Verständnis können wir im Grunde nicht einmal Befreiung erlangen, ganz zu schweigen von der Erleuchtung.

Es gibt vier Schulen der buddhistischen Philosophie Indiens und eine von ihnen wird in zwei unterteilt: im Madhyamaka gibt es zwei Unterteilungen. Momentan haben wir keine Zeit, auf eine detaillierte Diskussion über all diese verschiedenen Schulen, sowie die Standpunkte dieser Schulen, einzugehen. Das ist ein ziemlich vielschichtiges und tiefgreifendes Studium. Doch ein Punkt, der meiner Meinung nach wichtig ist und den wir verstehen sollten, ist folgender: Wenn wir uns die vier tibetischen Traditionen des Buddhismus ansehen, merken wir, dass es in jeder andere Erklärungen zu diesen vier indischen Standpunkten gibt. Es ist nicht so, dass es nur ein Verständnis darüber gibt, was die Inder sagen. Das machte es noch komplexer. Sehen wir uns diese Standpunkte im Allgemeinen an, können wir sagen, dass es in den älteren Schulen des tibetischen Buddhismus, der Kagyü, Sakya und Nyingma, eine allgemeine Erklärung gibt, obgleich sie kleine Variationen haben. Tsongkhapa war dann ein radikaler, revolutionärer Denker. Er verstand diese Standpunkte der indischen Schulen auf ziemlich unterschiedliche Weise.

Die Erklärungen der Leerheit in den verschiedenen Lehrsystemen in Einklang bringen 

Wenn wir Bücher von verschiedenen Autoren und auch verschiedenen modernen Lamas in unserer eigenen Sprache lesen, in denen diese Standpunkte erklärt werden, ist es ausgesprochen wichtig herauszufinden, auf welche tibetischen Traditionen sie zurückzuführen sind, um nicht verwirrt zu werden, denn eine Kagyü- oder Sakya-Erklärung des Prasangika kann ganz anders sein, als eine Gelugpa-Erklärung. Eines der Dinge, die Seine Heiligkeit der Dalai Lama gern tut, ist, sich einen Überblick über all die verschiedenen Standpunkte aller unterschiedlichen Schulen zu verschaffen. Verfügt man über dieses breitere Wissen all der verschiedenen Traditionen, kann man erkennen, wie sie tatsächlich zusammenpassen und dass sie sich im Grunde nicht widersprechen. Die Dinge werden einfach von verschiedenen Standpunkten mit etwas anderen Definitionen betrachtet. Genau wie die Wissenschaftler versuchen, eine große gemeinsame Theorie zu finden, um alles erklären zu können, sucht Seine Heiligkeit immer nach einem Weg, die große gemeinsame Theorie zu finden, in der all die verschieden buddhistischen Erklärungen zusammenpassen.

Werden wir mit dieser Situation so vieler verschiedener Erklärungen und Systeme konfrontiert, ist es wichtig, sich nicht entmutigen zu lassen, sondern schrittweise daran zu arbeiten und zu versuchen, ein System nach dem anderen zu verstehen. Und je nach unserer Kapazität, lernen wir viele Systeme oder nicht so viele. Wichtig ist auch, nicht überheblich zu sein, wenn wir diese Systeme studieren. Überheblichkeit manifestiert sich, wenn wir denken: „Das ist eine niedrigere Erklärung, sie ist kindisch und dumm; nur Prasangika ist wirklich korrekt.“ Immerhin lehrte Buddha all diese Systeme, und die verschiedenen indischen Kommentare, die verfasst wurden, um die Systeme zu erklären, stammen von großen Meistern, die keine Idioten waren, wie mein Lehrer Serkong Rinpoche immer sagte. Es waren keine dummen Leute. Jedes dieser Systeme ist nützlich, um unsere Leiden, Probleme und Verwirrung zu mindern. Aus diesem Grund hat Buddha sie gelehrt.

Die „weniger anspruchsvollen“ Systeme mögen uns nicht von allem, von der tiefsten Ebene der Verwirrung, befreien können, doch sie sind in der Lage uns zu helfen, bestimmte Ebenen zu beseitigen, was unsere Leiden mindern und hilfreich sein wird. Wir sollten nicht so arrogant sein und meinen: „Wer braucht das schon? Warum sollte man es so betrachten und warum sollte ich mich damit abgeben?“ Shantideva wies auf diese Methode hin, sich immer tiefer mit diesen Systemen zu beschäftigen. Können wir ein bestimmtes Beispiel in einem System verstehen, in dem es eine ganz einfache Erklärung dazu gibt, sind wir auch in der Lage, das gleiche Beispiel in einem anspruchsvolleren System zu verstehen. Ich werde das anhand eines Beispiels erklären. Das Beispiel, das Shantideva nutzte ist: „alles ist wie eine Illusion“, was in all den verschiedenen buddhistischen Systemen akzeptiert wird. Buddha hat nicht gesagt, dass alles eine Illusion  ist, dass alles dasselbe wie eine Illusion ist. Er sagt: „alles ist wie eine Illusion“. Dinge sind in dem Sinne wie eine Illusion, dass sie auf bestimmte Weise zu existieren scheinen, tatsächlich aber nicht so existieren. Doch Shantideva sagt ganz klar, dass es ein großer Unterschied ist, ob wir jemanden in einem Traum töten oder jemanden töten, wenn wir wach sind.

Die Vaibhashika-Darstellung dessen, was wie eine Illusion ist 

Hier also ein Beispiel: Aus der Sicht des ersten Systems, dem so genannten einfachsten System der buddhistischen Lehrsysteme, handelt es sich dabei um den Standpunkt der Vaibhashikas. Sie weisen darauf hin, dass Objekte, wie dieser Tisch oder dieser Stuhl, solide zu sein scheinen, jedoch aus winzigen Teilchen bestehen. Unser Geist lässt sie also erscheinen, als wären sie solide. „Dieser Stuhl scheint solide zu sein, mein Körper scheint solide zu sein, doch tatsächlich bestehen beide aus Atomen, Elektronen, Quarks und viel leerem Raum. Es ist also wie eine Illusion, dass sie solide zu sein scheinen. Das ist unmöglich; es ist unmöglich, dass sie solide sind“.

Diese Dinge sind frei davon, als etwas Solides zu existieren, obwohl die Vaibhashikas nicht diese Terminologie benutzen, aber wir können es auf diese Weise verstehen. Aus Sicht der westlichen Wissenschaft würden wir dem zustimmen, dass dieser Stuhl und mein Körper gewiss keine soliden Objekte sind. Das ist nicht so schwierig. Der schwierige Teil ist das „dennoch“, was gleich danach kommt: und „dennoch“ falle ich nicht durch diesen Stuhl hindurch, wenn ich mich hinsetze. Obwohl mein Körper nicht solide ist, der Stuhl nicht solide ist, und sie aus winzigen Teilchen, Energiefeldern usw. bestehen, falle ich trotz allem nicht durch diesen Stuhl hindurch. Er trägt mich. Das ist das, was nicht so leicht zu verstehen ist.

Wie um alles in der Welt werde ich von diesem Ding getragen, das nicht solide ist? Es ist also wie eine Illusion, dass etwas solide zu sein scheint und dennoch funktioniert. Es braucht eine Weile, damit es einwirken kann, damit wir es wirklich verstehen, akzeptieren und auf allen Ebenen anerkennen können.

Habt ihr einmal über die Sprache nachgedacht? Wie versteht man denn etwas? Man hört jemanden sprechen, doch alles, was man in einem Moment hört, ist ein Konsonant oder ein Vokal, einen winzig kleinen Laut; und wenn die nächste Silbe ausgesprochen wird, hört man die erste Silbe nicht mehr, denn sie ist schon vorbei. Man hört also nie ein ganzes Wort in einem Moment, sondern nur winzig kleine Laute und erst gar keinen ganzen Satz. Es gibt also nichts Solides am Laut eines Satzes, aber dennoch, hier kommt das schwierige Wort, dennoch verstehen wir den Satz ganz deutlich. Das ist beachtlich, wenn man einmal darüber nachdenkt. Wie kann das funktionieren? Denkt einen Moment darüber nach.

Es ist schon komisch. Wir sitzen hier und fallen nicht durch den Boden. Wir hören nur winzige Laute auf einmal und verstehen dennoch etwas – hoffentlich. Das ist unglaublich. Diesen Vaibhashika-Standpunkt zu verstehen, ist also nicht so einfach. Wenn wir ihn jedoch verstehen können, kann er wirklich sehr hilfreich sein. Jemand sagt: „Du bist ein Idiot! Du bist blöd!“ Doch worum handelt es sich dabei? Um einen winzig kleinen Laut, eine Silbe nach der anderen. Was ist es also? Es ist nur ein Geräusch. Was ist so besonders daran? Das hilft uns, nicht wütend zu werden. Dennoch hat der andere etwas gesagt und wir halten inne und überdenken die Situation, doch es hilft uns, nicht wütend zu werden. Da ist ziemlich nützlich.

Können wir nun laut Shantideva dieses „dennoch“ verstehen, „es ist wie eine Illusion, aber dennoch funktioniert es“, mit dem einfachen Beispiel von Teilchen, sind wir vielleicht in der Lage zu verstehen, wie Dinge auf einer viel subtileren Ebene wie eine Illusion sind – nicht einfach frei davon, solide zu sein, sondern frei von einer viel subtileren unmöglichen Existenzweise. Unser Verständnis sollte stets mit diesen beiden Seiten einhergehen, dass es „frei davon ist, auf unmögliche Weise zu existieren“, was uns hilft, das Extrem zu vermeiden, mit dem wir meinen, Dinge wären solide, beständig usw., und immer zu bekräftigen, dass „sie dennoch funktionieren“, was uns hilft, das Extrem des Nihilismus zu vermeiden, mit dem wir sagen, dass „nichts existiert und einfach nichts da ist“. Nehmen wir uns einen Moment Zeit, das einwirken zu lassen.

Hört man im Vaibhashika hiermit auf, indem man sagt, dass es nicht als etwas Solides, Untrennbares existiert, aber aus Teilchen besteht und dennoch funktioniert? Hört es damit auf?

Zunächst vertritt man im Vaibhashika nur die Leerheit von Personen. Was ich hier erkläre, ist die Vaibhashika-Beschreibung von Phänomenen, doch dort wird es nicht im Sinne einer „Art der Leerheit“ diskutiert, sondern im Sinne von zwei Arten wahrer Phänomene. Eine Art sind konventionell wahre Phänomene, welches diese soliden Objekte wären, doch das sind nur die oberflächlich wahren Phänomene. Die Phänomene der tiefsten Wahrheit sind diese Teilchen, aus denen Dinge bestehen. Diese oberflächlich wahren Phänomene, die konventionell wahren Phänomene, diese soliden Objekte funktionieren, weil sie von Ursachen und Bedingungen beeinflusst werden und Wirkungen hervorrufen. Obgleich es im Vaibhashika-System notwendig ist, die zwei Arten wahrer Phänomene zu verstehen, ist es laut ihrer Beschreibung nicht wesentlich, um Befreiung von störenden Emotionen zu erlangen. Doch es ist notwendig, sie zu kennen.

Ich beschreibe es hier jedoch als eine Betrachtungsweise der Behauptungen des Vaibhashika und der darauffolgenden Schulen, um zu sehen, wie sich das Verständnis der Leerheit auf immer anspruchsvolleren Ebenen weiterentwickeln könnte, was allerdings nicht die traditionelle Weise ist, in der dieser Lehrstoff in Indien oder Tibet dargestellt werden würde. Doch diese Weise, auf die ich es beschreibe, wird in Shantidevas Erklärung der Methode angedeutet, auf die man ein Verständnis der Leerheit erlangt.

Wie man gleichsetzendes tiefes Gewahrsein in westlichen Begriffen der Leerheit beschreibt 

Eines der Dinge, die meiner Meinung nach den Buddhismus im Westen charakterisieren, ist eine Art des Erklärens, welche unsere westliche Schulung des Geistes nutzt. Ich betrachte es aus einer historischen Perspektive, wie sich der Buddhismus entfaltet und über die Jahrhunderte entwickelt hat, indem er sich von einer Gesellschaft zur nächsten verbreitete. Was kann eine westliche Gesellschaft tun, um einen Beitrag zu der Weise zu leisten, in der man die buddhistischen Lehren studiert und meistert? Das ist die Frage, die ich hier untersuche.

Es gibt fünf Arten des tiefen Gewahrseins, die manchmal als die fünf „Buddha-Weisheiten“ übersetzt werden, doch sie als Buddha-Weisheiten zu bezeichnen ist etwas irreführend, denn auch ein Regenwurm verfügt über diese fünf. Vielmehr geht es dabei einfach um den Mechanismus, die Struktur, auf die der Geist funktioniert. Einer dieser Mechanismen ist das individualisierende tiefe Gewahrsein: mit ihm betrachten wir individuelle Details – diesen individuellen Punkt, jenen individuellen Punkt usw. – als eine individuelle Sache. Betrachte ich euch im Raum, sehe ich jede Person als ein Individuum und nicht nur als eine Gruppe von Menschen. Die Tibeter spezialisieren diese Art des tiefen Gewahrseins. Ihr gesamtes Ausbildungssystem betont dies durch das Debattieren – das Debattieren über ganz individuelle Aspekte, ganz individuelle Punkte.

Eine andere Art des tiefen Gewahrseins ist das gleichsetzende tiefe Gewahrsein und das ist das Gewahrsein, mit dem wir Muster erkennen, Dinge zusammensetzen und alle mit diesem gleichsetzenden Gewahrsein als ebenbürtig betrachten können. Mit dieser Art des Gewahrseins kann ich also einige Menschen in diesem Raum betrachten und sie gleichermaßen der Kategorie „Frauen“ zuordnen und andere gleichermaßen der Kategorie „Männer“ zuordnen. Das können wir alle, es ist nichts Tiefgreifendes. Sogar der Regenwurm ist dazu in der Lage. Er kann Dinge gleichermaßen der Kategorie „Nahrung“ zuordnen. In unserer westlichen Ausbildung bringt man uns bei, diese Art des Gewahrseins zu entwickeln. Wir werden geschult, Muster zu erkennen, wie sich etwas historisch entwickelt hat, Theorien, wie Dinge zusammenpassen und so weiter. Das ist unsere Besonderheit im westlichen Denken.

Indem ich die Vaibhashika-Erkenntnis auf diese Weise präsentiert habe, habe ich diese westliche Denkweise, das gleichsetzende tiefe Gewahrsein, genutzt, um zu versuchen, das Muster zu erkennen, wie wir ein Verständnis darüber entwickeln würden, dass „Dinge wie eine Illusion sind, aber dennoch funktionieren“, von einem indischen System zum nächsten. Der westliche Geist ist gut geeignet, um das Muster zu erkennen, wie es sich entfaltet, während der typische tibetische Geist aufgrund des tibetischen Bildungssystems ziemlich begrenzt dafür ist. Das ist es, was ich mit der historischen Entwicklung im westlichen Buddhismus meine. Welchen Beitrag können wir leisten? Wir können einen Beitrag leisten, indem wir das gleichsetzende tiefe Gewahrsein als pädagogisches Werkzeug nutzen, um uns zu helfen, die buddhistischen Lehren zu verstehen und zusammenzufügen. Es wird in Shantidevas Werk empfohlen und es ist durchaus etwas, das Seine Heiligkeit der Dalai Lama, der als ein Tibeter recht einzigartig ist, sehen kann und versucht, mit seiner gemeinsamen Theorie zusammenzufügen. 

Wie man das gleichsetzende tiefe Gewahrsein anwendet, ist eine weitere Art des tiefen Gewahrseins, das vollbringende tiefe Gewahrsein. Hier können wir mit dem Entwickeln westlicher buddhistischer Methoden helfen. Da wir Lehrer im Westen diese pädagogischen Werkzeuge entwickeln, um Muster zusammenzufügen und Trainingsprogramme zu erstellen, die mit diesen Mustern arbeiten, erleichtern wir damit dem westlichen Geist, sie zu verstehen und ihnen zu folgen. Auf dieser Grundlage gibt es meiner Meinung nach eine viel bessere Chance, dass Menschen in ihrer Praxis erfolgreicher sind, sie tatsächlich ausführen und verstehen, anstatt nur kleine Fragmente zu haben, die nicht zusammenpassen. Auf diese Weise sind sie in der Lage, die Praxis auch auf ihr Leben anzuwenden.

Ich denke, das sind wichtige Punkte, die wir verstehen sollten, wenn es darum geht, wie man sich mit den tibetischen buddhistischen Lehren auseinandersetzt und wie man einen Sinn in ihnen erkennt, denn sonst heißt es: „Wenn wir versuchen, diese Lehren zusammenzufügen, arbeiten wir ja nur an Konzepten und wir sollten nicht so konzeptuell sein.“ Dieses gleichsetzende tiefe Gewahrsein ist nicht unbedingt konzeptuell. Es kann konzeptuell sein und es ist nichts falsch an konzeptuellem Denken. Mit konzeptuellem Denken ordnen wir Dinge Kategorien zu und ich glaube, es ist unbedingt notwendig für uns zu versuchen, diese Muster zu identifizieren, um zu erkennen, wie die Lehren zusammenpassen. Wie gesagt besteht die traditionelle Weise des Lehrens darin, Teile des Puzzles zu bekommen und sie selbst zusammenzufügen. Und die meisten von uns wissen nicht wirklich, wie man sie zusammenfügt, aber wir haben das Training mit einer Art des tiefen Gewahrseins, dieses gleichsetzenden Gewahrseins, das uns helfen kann, sie zusammenzufügen.

Das konventionelle „Ich“ identifizieren 

Wenn wir von einer Abwesenheit unmöglicher Existenzweisen reden, können wir uns auf Personen, wie uns und andere, beziehen, darauf, dass wir nicht auf unmögliche Weise existieren, aber auch auf alles, auf alle Objekte und alles, einschließlich uns und anderen. Werden wir wütend oder begehren jemanden, tun wir es in erster Linie, weil wir unmögliche Existenzweisen auf das „Ich“ projizieren. „Du hast mich beleidigt!“ „Ich will, dass du mir gehörst!“ „Ich will, dass du mich magst!“ „Ich will dieses Objekt für mich haben.“ „Du hast gerade meinen Computer kaputt gemacht.“ Das Problem ist nicht der Computer. Das eigentliche Problem bin ich und dass er mir gehört.

Betrachten wir diese Schulen der indischen Philosophie, so heißt es in der ersten, dass die unmögliche Existenzweise von Personen anders als die unmögliche Existenzweise von Objekten ist. Doch dann erkennen wir in der tiefgreifendsten Erklärung, der Prasangika-Erklärung, dass die unmöglichen Existenzweisen von Personen und Objekten gleich sind. Im Prasangika stimmt man natürlich dem, was die so genannten niederen Schulen bezüglich einer Person für unmöglich halten, zu, doch es gibt noch eine subtilere unmögliche Existenzweise, die sich auf alles bezieht, auch auf „mich und dich“. Wir betrachten also, was eine unmögliche Existenzweise von Personen ist, und es ist wirklich wichtig, das zunächst zu verstehen.

Dazu ist es notwendig, dass wir verstehen, was das konventionelle „Ich“ ist. Wir haben ja über die Stufen zum Erlangen eines Verständnisses der Leerheit gesprochen. Zunächst gilt es, die Grundlage, das konventionelle „Ich“, zu verstehen, dass nicht existiert, dann das falsche „Ich“, das wir projizieren, und schließlich die Negierung dieses unmöglichen „Ichs“. Als erstens müssen wir das konventionelle „Ich“ erkennen, das existiert. Das ist wirklich überaus wichtig, denn wenn wir das konventionelle „Ich“, das existiert, nicht identifizieren und nur das falsche „Ich“ widerlegen, bleibt uns am Ende nichts übrig, was psychologisch äußerst gefährlich ist.

Sind wir zum Beispiel jung und haben uns in der Welt noch nicht richtig mit einer konventionellen Identität etabliert, meinen wir, es gäbe da nichts und wir fallen in das Extrem zu denken: „Warum sollte ich eine Ausbildung machen, warum sollte ich einen Job haben, warum sollte ich irgendetwas tun? Alles ist leer.“ Das ist ein großer Fehler. Sogar wenn wir älter sind, ein niedriges Selbstwertgefühl haben, nicht bestätigen können, dass das konventionelle „Ich“ existiert, und die unmögliche Weise einfach widerlegen, wird unser Selbstwertgefühl nur noch schwächer und wir denken: „ich bin nichts, ich tauge zu nichts“, und schließlich: „ich bin ein Nichts“.

Das konventionelle „Ich“ ist eine Zuschreibung der fünf Aggregate 

Um das konventionelle „Ich“ zu verstehen, ist es notwendig, die so genannten fünf Aggregate zu verstehen. Ich bezeichne sie als die fünf Aggregat-Faktoren, die jeden Augenblick unserer Erfahrung ausmachen. Anders ausgedrückt bedeutet es, dass jeder Augenblick unserer Erfahrung aus zahlreichen Dingen besteht, die sich ständig ändern. Dieses System der Aggregate ist lediglich ein System, um sich ändernde Phänomene zu klassifizieren, Dinge, die sich von einem Augenblick zum nächsten ändern und „nicht-statisch“ sind. Diese Gruppen existieren nicht irgendwo im Himmel in großen Schubladen. Es handelt sich hierbei einfach um ein konzeptuelles Klassifizierungsschema, das hilfreich ist, um zu verstehen, was in unserer Erfahrung stattfindet. Jeder Moment unserer Erfahrung besteht aus einem oder mehreren Dingen jeder dieser fünf so genannten Schubladen oder Kategorien.

In jedem Moment verfügen wir über die Form eines physischen Phänomens. Das kann eine farbige Form sein, etwas Visuelles, oder auch ein Klang, ein Geruch, ein Geschmack oder eine körperliche Empfindung, und es können die kognitiven Sensoren sein, wie ich sie nenne. Sie sind wie die lichtempfindlichen Zellen der Augen, die geräuschempfindlichen Zellen der Ohren, die geruchsempfindlichen Sensoren der Nase und so weiter. Im Grunde reden wir hier über den Körper, die verschiedenen physischen Dinge im Körper, durch die wir in der Lage sind, Sinnesdaten zu empfangen. Jeder Moment unserer Erfahrung im Leben beinhaltet eines oder mehrere Dinge aus dieser Kategorie, sogar wenn wir schlafen.

In jedem Moment gibt es da eine Art des Bewusstseins. Im Buddhismus sprechen wir nicht von Bewusstsein im Allgemeinen, wie wir es im Westen tun, sondern von Sehbewusstsein, Hörbewusstsein, Riechbewusstsein, Geschmacksbewusstsein, Körperbewusstsein und geistiges Bewusstsein. Man kann es damit vergleichen, welchen Fernsehkanal wir gerade eingeschaltet haben. Befinden wir uns im Sehkanal, dem Hörkanal, dem Riechkanal oder einem anderen?

Jeder Augenblick unserer Erfahrung ist mit einer Ebene des Empfindens verbunden und das Empfinden ist hier ein ganz spezifischer Geistesfaktor. Bei diesem Geistesfaktor geht es nur darum, einen gewissen Grad an „glücklich“ oder „unglücklich“ zu empfinden. Er hat nichts mit Emotionen zu tun.

Dann gibt es in jedem Moment ein Auseinanderhalten: ich bezeichne es als „auseinanderhaltendes Gewahrsein“. Oft wird dieser Begriff als „Erkennen“ übersetzt, doch das ist wirklich ziemlich irreführend und falsch, denn der Begriff ist hier viel zu komplex. Worum es geht, ist beispielsweise in dem visuellen Sinnesbereich eine farbige Form von einer anderen farbigen Form unterscheiden zu können. „Wie unterscheide ich die farbige Form deines Gesichtes von der farbigen Form der Wand?“ Um dieses Auseinanderhalten geht es. Das bedeutet nicht, dass wir wissen was es ist und es bedeutet auch nicht, dass wir dem einen Namen geben, es bezeichnen oder ähnliches. Es geht einfach darum, wie wir Dinge in einer Art kognitivem Bereich auseinanderhalten. Ohne das ist es unmöglich, uns etwas gewahr sein zu können.

Der fünfte Aggregat-Faktor ist hier „alles andere“, also alles andere, was sich verändert und Teil unseres Momentes der Erfahrung ist. Hier haben wir all die Emotionen, sowohl die positiven als auch die negativen, sowie all die Geistesfaktoren, die uns helfen, Dinge zu kennen, wie Konzentration, Aufmerksamkeit, Schläfrigkeit und dergleichen. Alles andere befindet sich in dieser letzten „Schublade“. Ich nenne sie das Aggregat der anderen beeinflussenden Variablen. Alles andere, das eine Variable ist, die unsere Erfahrung verändert und beeinflusst. Wörtlich ist es mit der Bedeutung des Sanskrit-Wortes „Samskara“ verbunden. Es ist etwas, das etwas anderes beeinflusst.

In jedem Moment befinden wir uns in einem oder mehreren Kanälen. Es gibt eine große Diskussion darüber, ob wir gleichzeitig sehen und hören können, und es gibt verschiedene Meinungen dazu. Wir befinden uns jedenfalls in einer Art Bewusstseinskanal, es gibt einige Objekte, einige physische Formen, über die wir uns bewusst sind und es gibt ein Auseinanderhalten verschiedener Merkmale innerhalb des Sinnesbereiches, sowie einen Grad des Glücklichseins und alles andere, all die Emotionen, Konzentration und so weiter. All dass ändert sich ständig und es ändert sich unterschiedlich schnell.

Was ist nun das „Ich“? Das „Ich“ ist eine Zuschreibung all dessen, um gewissermaßen die Kontinuität all dieser sich ändernden Faktoren von einem Moment zum nächsten zu integrieren. Doch es ist nicht etwas Physisches. Es ist nicht etwas, das eine Weise ist, sich etwas gewahr zu sein, auch wenn wir sagen: „ich kenne dies“ oder ich sehe dich“. Und man kann es auch nicht mit einem Bewusstsein vergleichen. Es ist eine Zuschreibung dieser sich ständig ändernden Faktoren. Es ist kein geistiges Konstrukt; es projiziert nicht einfach etwas auf die Aggregate. Es ist sowohl nicht-konzeptuell als auch konzeptuell gültig erkennbar.

Lasst es mich an einem Beispiel beschreiben, das es verständlicher macht. Was ist eine Apfelsine? Ich sehe dieses Objekt auf dem Tisch liegen. Was sehe ich? Ich sehe einen orangen Ball; ich sehe einen orangen Kreis, eigentlich eine orange Kugel. Bin ich in der Lage, Dinge in drei Dimensionen wahrzunehmen, sehe ich eine orange Kugel. Ist eine Apfelsine eine orange Kugel? Ich könnte eine orange Kugel zeichnen, aber das ist keine Apfelsine. Ich rieche etwas. Ist die Apfelsine ein Geruch? Nein, das ist sie nicht. Ich kann etwas in meiner Hand halten und meine Augen schließen. Dann fühle ich etwas, eine physische Form. Ist das die Apfelsine oder ist das eine physische Form, eine physische Empfindung? Es ist eine physische Empfindung. Ich könnte etwas in meinen Mund stecken und kann es schmecken. Ist dieser Geschmack die Apfelsine? Ist das alles, was eine Apfelsine ist? Ich könnte die Apfelsine nehmen und sie gegen die Wand werfen. Dann würde ich ein Geräusch hören. Ist das die Apfelsine? Ich kann meine Augen schließen und an einen orangen Ball denken. Ist das die Apfelsine? Was ist die Apfelsine?

Eine konventionelle Apfelsine ist eine Zuschreibung auf der Basis all dieser Dinge: der farbigen Form, eines Geruchs, eines Geschmacks, einer physischen Empfindung usw. Auf der Basis dieser verschiedenen Sinnesinformationen, auf der Basis all dieser Dinge gibt es „eine Apfelsine“. Doch nichts davon ist für sich eine Apfelsine, wie beispielsweise eine orange-farbige Form. 

Gibt es so etwas, wie eine Apfelsine? Ja, natürlich gibt es sie. Ich sehe diese farbige Form. Ich sehe nicht nur diese farbige Form, ich sehe eine Apfelsine. Ich sehe eine farbige Form dieses Körpers uns sehe eine Person. Ich sehe nicht nur eine farbige Form und sehe nicht nur einen Körper. Ich sehe eine Person. Doch die Person, die ich sehe, ist nicht nur eine farbige Form. Fachlich ausgedrückt ist sie eine Zuschreibung auf der Grundlage dieser farbigen Formen.

Dasselbe gilt für das „Ich“. Es gibt immer bestimmte Formen, die gesehen werden, es gibt Bewusstsein, Gefühle des Glücklichseins, des  Unglücklichsein und all diese anderen Dinge, doch nichts davon ist das „Ich“, obwohl wir denken mögen „ich bin mein Körper“ oder „ich bin mein Geist“, aber im Grunde ist das ziemlich merkwürdig. Das „Ich“ ist also eine Zuschreibung auf der Grundlage all dieser Dinge, die sich ständig ändern. Wie eine Illusion scheint es, als gäbe es da ein solides „Ich“. Es scheint, als würde ich Sascha sehen. Was sehe ich? Ich sehe ein paar farbige Formen. Dennoch ist es Sascha und er ist eine Person, kann sprechen und alle möglichen Tricks und Dinge tun. Hier haben wir unseren „dennoch“-Faktor. Es ist wie eine Illusion. Es scheint, als gäbe es da ein solides Ding ganz für sich. Diese orange-farbige Kugel scheint eine Apfelsine zu sein, aber dennoch kann ich sie essen, sie macht mich satt und schmeckt gut. 

Nehmen wir uns einen Moment Zeit, darüber nachzudenken. Das ist überhaupt nicht einfach, aber ich denke, wenn wir das Beispiel der Apfelsine nutzen, kann uns das helfen, auf diese Weise über „etwas“ nachzudenken, wie darüber, dass die Apfelsine eine Zuschreibung auf der Basis all dieser verschiedenen Sinnesinformationen ist. Das kann man dann mit dem „Ich“ vergleichen, das eine Zuschreibung all dieser verschiedenen Aggregate ist, die jeden Moment unserer Erfahrung ausmachen. Und das „Ich“ tut etwas; es ist das „Ich“, das redet, zuhört, sitzt und geht. Es ist wahr. Es ist nicht nur der Mund, der redet und es ist auch nicht so, dass einfach nur ein Geräusch da ist. 

[Meditation]

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