Hintergrund zu Aryadevas Kapiteln über die Leerheit

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Einführung

Wir haben begonnen uns in zusammengefasster Form mit den sechzehn Kapiteln von Aryadevas Abhandlung in Vierhundert Versen zu beschäftigen und die hauptsächlichen Punkte durchzugehen. Wir haben festgestellt, dass die ersten acht Kapitel sich damit beschäftigen, wie man fehlerhafte Ansichten über die konventionelle Wahrheit beseitigt. Jetzt kommen wir zur zweiten Hälfte, zu den zweiten acht Kapiteln des Textes, und dort wird erklärt, wie man fehlerhafte Ansichten über die tiefste Wahrheit überwinden kann, also über Leerheit. 

Wie bereits erwähnt ist die zweite Hälfte des Textes sehr tiefgründig und deshalb schwer zu verstehen und es ist eine große Menge an Hintergrundwissen erforderlich, um sie wirklich zu verstehen. Der Grund dafür ist, dass es sehr viele verschiedene Lehrmeinungssysteme gibt, die unterschiedliche Meinungen dazu vertreten, auf welche Weise die Dinge existieren und auf welche Weise sich diese Existenz belegen läßt. Dies gilt sowohl für den Bereich der buddhistischen Lehrmeinungen als auch für den Bereich der indischen nichtbuddhistischen Systeme. Aryadeva bezieht sich auf die meisten dieser Systeme und widerlegt verschiedene Ansichten, die aus dem Blickwinkel der von ihm vertretenen Schule – der Prasangika-Schule innerhalb des Madhyamaka – fehlerhaft sind.

Diese Prasangika-Sichtweise wird von allen tibetischen Traditionen als die tiefgründigste Sichtweise betrachtet. Alle sind der Meinung, dass man diese Sichtweise benötigt, um tatsächlich Befreiung und Erleuchtung zu erreichen. Natürlich behaupten die anderen indischen Schulen auch, dass man mit ihrer Sichtweise die Erleuchtung erreichen kann.

Aryadeva erwähnt verschiedene nicht-buddhistische indische Schulen, mit denen er sich beschäftigt und deren Positionen er widerlegt. Einerseits Nyaya-Vaisheshika – Nyaya und Vaisheshika sind zwar zwei verschiedene Schulen, haben allerdings in vielen Punkten sehr ähnliche Ansichten – und dann die Samkhya-Schule und Vedanta. Aryadeva schränkt nicht genauer ein, auf welche Form von Vedanta er sich bezieht, aber es ist klar, dass es eine sehr frühe Form dessen sein muss, was später als Vedanta bezeichnet wird – etwas, was dann hauptsächlich auf den Upanishaden basiert. Er erwähnt auch kurz die Jain-Schule, welche ebenfalls eine nicht-buddhistische Schule ist, geht aber nicht auf ihre philosophischen Ansichten ein.

Bei den Anhängern des Buddhismus erwähnt er insbesondere verschiedene Annahmen der Vaibhashikas, ein wenig auch die der Sautantrikas und nur sehr kurz geht er auf Chittamatra-Punkte ein. Die Vaibhashikas und die Sautantrikas sind Hinayana-Schulen, Chittamatra ist eine Mahayana-Schule. Innerhalb des Madhyamaka gibt es in diesem Text keine offene Diskussion der Prasangika-Position im Gegensatz zur Svatantrika-Position, auch deshalb, weil man diesen Text innerhalb des Madhyamaka auf verschiedene Arten interpretieren kann. Aber einige Punkte, die der Text anspricht, kann man durchaus auf eine Widerlegung der Svatantrikas vom Blickwinkel der Prasangikas aus betrachten.

Diese verschiedenen Lehrmeinungssysteme sind alle sehr tiefgründig, sowohl die buddhistischen als auch die nicht-buddhistischen. In Anbetracht der begrenzten Zeit wird es allerdings weder mir jetzt noch Seiner Heiligkeit möglich sein, den gesamten Hintergrund zu erklären, der erforderlich wäre, um dem Text in seiner gesamten Tiefe zu folgen.

Was die Unterscheidung in Svatantrika und Prasangika betrifft ist es übrigens wichtig, sich vor Augen zu halten, dass erst die Tibeter diese klare Unterscheidung getroffen und diese Namen vergeben haben. Die Tibeter stützen sich dabei auf Madhyamaka-Kommentare eines indischen Meisters, der allerdings später als Nagarjuna und Aryadeva lebte. Was von Nagarjuna und Aryadeva gelehrt wurde kann sehr deutlich als Prasangika-Sichtweise interpretiert werden – und die tibetische Gelug-Tradition interpretiert dies definitiv so – aber die Werke von Nagarjuna und Aryadeva sind älter als diese klare Einteilung in verschiedene indische Kommentartraditionen (wie Svatantrika und Prasangika).

Es kann zusätzlich noch verwirrend sein, dass die verschiedenen Schulen, vor allem die verschiedenen buddhistischen Schulen, oft dieselben Begriffe für verschiedene Existenzweisen von Phänomenen und so weiter verwenden, dass allerdings dann diese einzelnen Begriffe von den verschiedenen Schulen unterschiedlich definiert werden. Das erschwert die Sache natürlich zusätzlich, denn wenn man die Definition innerhalb einer bestimmten Schule nicht kennt, dann kann es sehr schnell passieren, dass man eine falsche Definition zugrunde legt und der Schule dann eine Sichtweise zuschreibt, die dieser Schule gar nicht eigen ist. Dann kann die Diskussion sehr verwirrend werden. Es kommt außerdem noch hinzu, dass es in den verschiedenen tibetischen Traditionen jeweils unterschiedliche Interpretationen gibt, was jede der indischen Schulen gesagt hat. Das macht es noch komplizierter.

Wie gesagt weiß ich nicht, ob Seine Heiligkeit eine sehr umfassende Erklärung der Prasangika-Sichtweise der Leerheit geben wird – es könnte sein, dass das der Fall ist und wahrscheinlich wird er dies tun aber es gibt keine Garantie – einfach weil der Text in seinem Vorgehen dem folgt, was dann später als Prasangika-Methode oder Prasangika-Vorgehensweise bezeichnet wird. Diese Vorgehensweise besteht darin, dass man innerhalb einer fremden Position die Widersprüche aufzeigt. Es ist nicht so, dass man versucht, die eigene Position zu beweisen. Letzteres wäre der Svatantrika-Ansatz. In diesem Text ist es also so, dass die Madhyamaka-Sicht nicht einmal direkt erklärt wird. Aber es könnte sein, dass Seine Heiligkeit diesen Hintergrund ergänzt.

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