Hintergrund zu Aryadevas Kapiteln über die Leerheit

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Einführung

Wir haben begonnen uns in zusammengefasster Form mit den sechzehn Kapiteln von Aryadevas Abhandlung in Vierhundert Versen zu beschäftigen und die hauptsächlichen Punkte durchzugehen. Wir haben festgestellt, dass die ersten acht Kapitel sich damit beschäftigen, wie man fehlerhafte Ansichten über die konventionelle Wahrheit beseitigt. Jetzt kommen wir zur zweiten Hälfte, zu den zweiten acht Kapiteln des Textes, und dort wird erklärt, wie man fehlerhafte Ansichten über die tiefste Wahrheit überwinden kann, also über Leerheit. 

Wie bereits erwähnt ist die zweite Hälfte des Textes sehr tiefgründig und deshalb schwer zu verstehen und es ist eine große Menge an Hintergrundwissen erforderlich, um sie wirklich zu verstehen. Der Grund dafür ist, dass es sehr viele verschiedene Lehrmeinungssysteme gibt, die unterschiedliche Meinungen dazu vertreten, auf welche Weise die Dinge existieren und auf welche Weise sich diese Existenz belegen läßt. Dies gilt sowohl für den Bereich der buddhistischen Lehrmeinungen als auch für den Bereich der indischen nichtbuddhistischen Systeme. Aryadeva bezieht sich auf die meisten dieser Systeme und widerlegt verschiedene Ansichten, die aus dem Blickwinkel der von ihm vertretenen Schule – der Prasangika-Schule innerhalb des Madhyamaka – fehlerhaft sind.

Diese Prasangika-Sichtweise wird von allen tibetischen Traditionen als die tiefgründigste Sichtweise betrachtet. Alle sind der Meinung, dass man diese Sichtweise benötigt, um tatsächlich Befreiung und Erleuchtung zu erreichen. Natürlich behaupten die anderen indischen Schulen auch, dass man mit ihrer Sichtweise die Erleuchtung erreichen kann.

Aryadeva erwähnt verschiedene nicht-buddhistische indische Schulen, mit denen er sich beschäftigt und deren Positionen er widerlegt. Einerseits Nyaya-Vaisheshika – Nyaya und Vaisheshika sind zwar zwei verschiedene Schulen, haben allerdings in vielen Punkten sehr ähnliche Ansichten – und dann die Samkhya-Schule und Vedanta. Aryadeva schränkt nicht genauer ein, auf welche Form von Vedanta er sich bezieht, aber es ist klar, dass es eine sehr frühe Form dessen sein muss, was später als Vedanta bezeichnet wird – etwas, was dann hauptsächlich auf den Upanishaden basiert. Er erwähnt auch kurz die Jain-Schule, welche ebenfalls eine nicht-buddhistische Schule ist, geht aber nicht auf ihre philosophischen Ansichten ein.

Bei den Anhängern des Buddhismus erwähnt er insbesondere verschiedene Annahmen der Vaibhashikas, ein wenig auch die der Sautantrikas und nur sehr kurz geht er auf Chittamatra-Punkte ein. Die Vaibhashikas und die Sautantrikas sind Hinayana-Schulen, Chittamatra ist eine Mahayana-Schule. Innerhalb des Madhyamaka gibt es in diesem Text keine offene Diskussion der Prasangika-Position im Gegensatz zur Svatantrika-Position, auch deshalb, weil man diesen Text innerhalb des Madhyamaka auf verschiedene Arten interpretieren kann. Aber einige Punkte, die der Text anspricht, kann man durchaus auf eine Widerlegung der Svatantrikas vom Blickwinkel der Prasangikas aus betrachten.

Diese verschiedenen Lehrmeinungssysteme sind alle sehr tiefgründig, sowohl die buddhistischen als auch die nicht-buddhistischen. In Anbetracht der begrenzten Zeit wird es allerdings weder mir jetzt noch Seiner Heiligkeit möglich sein, den gesamten Hintergrund zu erklären, der erforderlich wäre, um dem Text in seiner gesamten Tiefe zu folgen.

Was die Unterscheidung in Svatantrika und Prasangika betrifft ist es übrigens wichtig, sich vor Augen zu halten, dass erst die Tibeter diese klare Unterscheidung getroffen und diese Namen vergeben haben. Die Tibeter stützen sich dabei auf Madhyamaka-Kommentare eines indischen Meisters, der allerdings später als Nagarjuna und Aryadeva lebte. Was von Nagarjuna und Aryadeva gelehrt wurde kann sehr deutlich als Prasangika-Sichtweise interpretiert werden – und die tibetische Gelug-Tradition interpretiert dies definitiv so – aber die Werke von Nagarjuna und Aryadeva sind älter als diese klare Einteilung in verschiedene indische Kommentartraditionen (wie Svatantrika und Prasangika).

Es kann zusätzlich noch verwirrend sein, dass die verschiedenen Schulen, vor allem die verschiedenen buddhistischen Schulen, oft dieselben Begriffe für verschiedene Existenzweisen von Phänomenen und so weiter verwenden, dass allerdings dann diese einzelnen Begriffe von den verschiedenen Schulen unterschiedlich definiert werden. Das erschwert die Sache natürlich zusätzlich, denn wenn man die Definition innerhalb einer bestimmten Schule nicht kennt, dann kann es sehr schnell passieren, dass man eine falsche Definition zugrunde legt und der Schule dann eine Sichtweise zuschreibt, die dieser Schule gar nicht eigen ist. Dann kann die Diskussion sehr verwirrend werden. Es kommt außerdem noch hinzu, dass es in den verschiedenen tibetischen Traditionen jeweils unterschiedliche Interpretationen gibt, was jede der indischen Schulen gesagt hat. Das macht es noch komplizierter.

Wie gesagt weiß ich nicht, ob Seine Heiligkeit eine sehr umfassende Erklärung der Prasangika-Sichtweise der Leerheit geben wird – es könnte sein, dass das der Fall ist und wahrscheinlich wird er dies tun aber es gibt keine Garantie – einfach weil der Text in seinem Vorgehen dem folgt, was dann später als Prasangika-Methode oder Prasangika-Vorgehensweise bezeichnet wird. Diese Vorgehensweise besteht darin, dass man innerhalb einer fremden Position die Widersprüche aufzeigt. Es ist nicht so, dass man versucht, die eigene Position zu beweisen. Letzteres wäre der Svatantrika-Ansatz. In diesem Text ist es also so, dass die Madhyamaka-Sicht nicht einmal direkt erklärt wird. Aber es könnte sein, dass Seine Heiligkeit diesen Hintergrund ergänzt.

Wahrhaft erwiesene Existenz innerhalb der verschiedenen Lehrmeinungssysteme

Um wenigstens ein bisschen Hintergrund zu vermitteln, möchte ich zumindest einen einzigen Begriff erklären, von dem zu erwarten ist, dass er in den Erklärungen dann immer wieder auftauchen wird, auch wenn er im Text selbst nicht auftritt. Dies ist der Begriff „wahre Existenz“ (bden-par grub-pa), den ihr während der Erklärungen zweifellos immer wieder hören werdet. Dieser Begriff ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie die verschiedenen indischen Schulen unterschiedliche Definitionen für denselben Begriff haben.

Ein ganz grundlegender Unterschied ist, dass der Begriff „wahre Existenz“ bei den Vaibhashikas, den Sautantrikas und den Chittamatrin so verwendet wird, wie es die Worte nahelegen: Etwas wahrhaft Existierendes ist in diesen Schulen etwas, das wirklich existiert, so wie der Begriff es suggeriert.

In den Madhyamaka-Schulen, also bei den Svatantrikas und den Prasangikas, ist es allerdings anders. Dort ist es so, dass sich der Begriff „wahre Existenz“ auf etwas bezieht, das überhaupt nicht möglich ist. Man denkt zwar, dass Dinge wahrhaft existieren, aber es ist nicht der Fall. Dies ist also eindeutig ein sehr großer Unterschied in der Verwendung von Begriffen.

Auch bei denen, die der Meinung sind, dass wahre existierende Phänomene tatsächlich vorhanden sind, gibt es noch mal verschiedene Definitionen von „wahrer Existenz“. Aber, bevor wir diese Diskussion weiter verfolgen, gibt es einen der Punkt, der ganz wichtig ist, damit man sein Verständnis dieser Begriffe etwas verfeinern kann. Worum es in diesen Diskussionen in den meisten Fällen geht ist nicht die eigentliche Existenz von etwas (das heißt, es geht nicht um die Frage, ob etwas existiert oder nicht), sondern stattdessen geht es um die Frage, wodurch die Existenz von etwas begründet oder bewiesen oder belegt wird. Deshalb übersetze ich den Begriff lieber als „wahrhaft erwiesene Existenz“ oder (das Gegenteil davon als) „nicht wahrhaft erwiesene Existenz“. Ich werde erklären, was damit gemeint ist.

Es gibt eine weitere Unterscheidung, die man verstehen sollte, weil dies immer wieder diskutiert wird und die entsprechenden Begriffe immer wieder verwendet werden. Ich weiß nicht, wie diese Begriffe dann dort übersetzt werden, aber ich übersetze sie als „funktionierendes Phänomen“ (dngos-po) und „nicht-funktionierendes Phänomen“ (dngos-med).

In der Regel sind funktionierende Phänomene das, was normalerweise als unbeständig bezeichnet wird, und nichtfunktionierende Phänomene sind die sogenannten beständigen Phänomene. Die Begriffe selbst bedeuten allerdings wörtlich eher „Phänomen“ und „Nichtphänomen“, und manchmal beziehen sie sich deshalb auf existierende oder nicht existierende Dinge. Wenn der Übersetzer also vielleicht etwas als existierend oder nicht-existierend übersetzt, oder als Phänomen und Nichtphänomen, dann ist das eine mögliche Übersetzung, aber das entspricht weniger der Interpretationsebene, die Aryadeva hier in diesem Text verwendet. Aryadeva spricht eher von funktionierenden und nicht funktionierenden Phänomenen. Aber bei Shantideva ist es zum Beispiel so, dass diese Begriffe teilweise so verwendet werden, dass sogar beide Bedeutungsebenen angesprochen werden und beide Bedeutungsebenen der Begriffe Sinn ergeben. 

„Funktionierend“ bedeutet, dass etwas eine Funktion hat – genauer, dass etwas eine Wirkung hervorbringt. Darüber hinaus ist es etwas, das üblicherweise als „bedingtes“ Phänomen bezeichnet wird, wobei ich die Übersetzung „beeinflusst“ vorziehe. (Ein funktionierendes Phänomen) ist also etwas, das von Ursachen beeinflusst und hervorgebracht wurde. Es wird durch Ursachen und Bedingungen hervorgebracht und auch wenn es entstanden ist, wird es von diesen beeinflusst und bringt eine Wirkung hervor. Deshalb ist es „unbeständig“, wobei ich die Übersetzung „nicht-statisch“ bevorzuge, mit anderen Worten: es verändert sich. Es kommt also zustande, es bewirkte etwas, es verändert sich. Es bleibt nicht statisch.

Ein nicht-funktionierendes Phänomen ist hingegen etwas, das nicht von Ursachen und Umständen hervorgebracht wurde. Es wird nicht „beeinflusst“ – nicht „bedingt“ – durch Ursachen und Umstände. Es tut nichts, mit anderen Worten es bringt keine Wirkung hervor. Es produziert nichts. Deshalb ist es „beständig“ im Sinne von „statisch“ – es verändert sich nicht.

Wenn man im Buddhismus von statischen und nicht-statischen Phänomenen spricht, sollte man außerdem bedenken, dass es in beiden Gruppen einige gibt, die ewig existieren und andere, die nur für eine begrenzte Zeitspanne existieren. Ein Bewusstseinskontinuum existiert ewig aber es verändert sich von jedem Augenblick zum nächsten Augenblick – es ist nicht-statisch. In diesem Sinne ist es „unbeständig“. Ein solches Beispiel eines ewig existierenden nicht-statischen Phänomens wie das Bewusstseinskontinuum einer Person zeigt sehr gut, warum wir recht präzise sein müssen, inwiefern es ein beeinflusstes Phänomen ist: Das Bewusstseinskontinuum einer Person entsteht nicht aus Ursachen – es wurde nicht (neu) von irgendetwas (anderem, das außerhalb dieses Kontinuums existiert) erzeugt; aber dennoch wird es durch Umstände beeinflusst. Mit anderen Worten: die Anwesenheit oder das Fehlen bestimmter Objekte beeinflussen es, weil sie beeinflussen, wessen sich eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt bewusst ist.

Es ist also beeinflusst aber es ist nicht von etwas anderem erzeugt. Deshalb ziehe ich die Begriffe „beeinflusst“ und „nicht beeinflusst“ vor. Ich halte sie für etwas klarer als die Begriffe „bedingt“ und „nicht bedingt“, wobei „bedingt“ und „nicht bedingt“ auch ganz in Ordnung sind. Ich weiß nicht, wie es dann übersetzt werden wird, aber dies sind auf jeden Fall sehr zentrale Begriffe, bei denen man ein klares Verständnis benötigt, weil sie immer wieder auftauchen und weil man nicht versteht, worum es geht, wenn man diese Begriffe nicht versteht.

Eine weitere Frage, die sich stellen könnte ist folgende: Wenn man von Phänomenen spricht, die ewig existieren, bezieht sich dies dann darauf, dass Phänomene ohne Anfang und Ende sind, oder nur darauf, dass man den Anfang und das Ende dieser Phänomene selbst nicht erfassen kann? Auch dies ist ein Punkt, der in buddhistischen Texten aufgegriffen wird. Es gibt dort das Beispiel von Brahma. Brahma ist ein Gott, der als erstes in einem bestimmten Universum zur Welt kommt, und der denkt, dass er und das Universum ewig sind und dass er der Schöpfer von allem wäre. Der Grund dafür ist aber, dass er noch eine geistige Einschränkung besitzt, die ihm nicht erlaubt, darüber hinaus zu blicken. Er kann nur seine eigene Existenz betrachten und sehen, wie dieses bestimmte Universum, in dem er ist, existiert hat, seit er existiert. Dort kann er keinen Anfang und kein Ende erkennen. Das bedeutet aber nicht, dass dieses Universum oder er selbst wirklich anfangs- und endlos ist – er kann nur nicht darüber hinaus blicken.
Man könnte also unterscheiden zwischen einem begrenzten Bewusstsein, dass aufgrund eines Fehlers denkt, etwas würde ewig existieren, (und etwas, das tatsächlich ewig existiert). Aber wenn ich vom Bewusstseinskontinuum spreche meine ich etwas, das tatsächlich weder einen Anfang noch ein Ende hat. Zumindest laut Mahayana-Ansicht ist es so, dass das Bewusstsein wirklich keinen Anfang und kein Ende besitzt. Im Hinayana gibt es allerdings eine andere Ansicht zum Bewusstseinskontinuum: Dort wird gesagt, dass das Bewusstseinskontinuum (zwar keinen Anfang besitzt, aber dass es) endet, wenn man die persönliche Befreiung oder die Erleuchtung erreicht hat und dann in dem entsprechenden Leben stirbt. Das wird als „Parinirvana“ bezeichnet. Im Mahayana wird das allerdings zurückgewiesen. Und auch Aryadeva erwähnt diesen Punkt und widerlegt ihn. Und es gibt eben auch in den Mahayana-Sutras und Mahayana-Kommentaren Stellen, wo es heißt, dass auch Arhats (d.h., jene, die Befreiung erreicht haben) noch geistige Einschränkungen besitzen, die ihnen eben nicht erlauben, über dieses Parinirvana hinaus zu sehen. Sie glauben, dass das Bewusstseinskontinuum mit dem Parinirvana endet, aber sie können einfach nicht darüber hinaus sehen.

Dieser Begriff, der vielleicht einfach nur als „Phänomen“ oder „Nicht-Phänomen“ übersetzt wird, ist also ein sehr entscheidender Begriff, der sehr bedeutungsvoll ist. Es ist also wirklich wichtig zu verstehen, was sich eigentlich dahinter verbirgt und welche Bedeutungen damit verbunden sind. Vielleicht wird es schlicht als „Phänomen“ und „Nicht-Phänomen“ oder als „Ding“ und „Nicht-Ding“ übersetzt, aber dann ist es wichtig, die entsprechende Bedeutung geistig zu ergänzen. Sonst könnte es entweder sehr verwirrend sein oder nicht viel bedeuten.

Wahrhaft erwiesene Existenz für Vaibhashika

Dann kommen wir zu dem Begriff der „wahren Existenz“ oder „wahrhaft erwiesenen Existenz“, oder wir können auch sagen „wahrhaft begründeten Existenz“. Bei den Vaibhashikas ist dies gleichbedeutend damit, dass etwas „substantiell erwiesen existiert“.

Hier muss man auch wieder aufpassen. „Substantiell begründete Existenz“ ist nicht das gleiche, wie substantiell eigenständig erkennbar zu sein. Bei dem Begriff waren wir gestern. Bestimmte Dinge sind – und ich lasse hier üblicherweise das Wort „substanziell“ weg, weil es zu verwirrend wäre – eigenständig erkennbar oder nicht-eigenständig erkennbar (das heißt, zugeschrieben erkennbar). Aber über dieses Thema spricht Aryadeva nicht wirklich.

Wenn man also den Begriff hört, den ich als „substanziell erwiesene Existenz“ übersetze, dann ist dieser für die Vaibhashikas gleichbedeutend mit „wahrhaft erwiesener Existenz“ und alles, das existiert, existiert (für die Vaibhashikas) auf diese Weise – sowohl funktionierende als auch nicht-funktionierende Phänomene. Und für die Vaibhashikas ist die Definition von „substanziell erwiesener Existenz“ und „wahrhaft erwiesener Existenz“, dass etwas eine Funktion erfüllt. Die Vaibhashikas sagen also sowohl, dass das, was ich als „funktionierende“ Phänomene übersetze, als auch das, was ich als „nicht-funktionierende“ Phänomene übersetze, beides eine Funktion erfüllt, in dem Sinn, dass ein statisches Phänomen zwar nichts anderes erzeugt aber die Funktion hat, als Objekt für eine Wahrnehmung davon zu dienen. Es erzeugt nichts anders, es wird nicht von etwas anderem erzeugt – also ist es in diesem Sinne nicht-funktionierend – aber trotzdem hat es die Funktion, dass es als Wahrnehmungsobjekt dient. Aryadeva haut den Vaibhashikas dann zwar mit dem Hammer auf den Kopf, wegen den logischen Unstimmigkeiten dieser Position, aber das ist die Vaibhashika-Ansicht, nach der alles wahrhaft erwiesene Existenz besitzt.

Dieser Punkt wird übrigens sehr wesentlich in Aryadevas Diskussion und generell auch in den verschiedenen Debatten zwischen den buddhistischen und nichtbuddhistischen Schulen in Indien, denn dort wird diese gesamte Analyse (ob etwas erwiesen ist oder nicht und ob etwas eine Funktion hat oder nicht) auf sehr zentrale metaphysische und philosophische Themen angewendet. Zum Beispiel: Was für Phänomene sind Raum, Zeit oder die allerkleinsten Teilchen, aus denen alles besteht? Bezogen auf diese Themen wird all dies diskutiert. Zum Beispiel: bewirkt Zeit irgendetwas? Nun, Zeit tut insofern etwas, als es vielleicht Zeit für unsere Kaffeepause ist. Die Zeit ist also die Ursache dafür, dass wir eine Pause machen. „Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt.“ „Deine Zeit ist abgelaufen.“ „Ich habe keine keine Zeit dafür.“

Wahrhaft erwiesene Existenz für Sautrantika

Bezogen auf die Sautrantikas gibt es bei den Gelugpas zwei verschiedene Interpretation, was Existenz – das heißt, wahrhaft erwiesene Existenz – bedeutet. Die Lehrbuchtradition von Jetsunpa sagt, dass „wahrhaft erwiesene Existenz“ bedeutet, dass etwas fähig ist eine Funktion auszuführen und deshalb besitzen nur funktionierende Phänomene wahrhaft erwiesene Existenz und nur diese besitzen substanzielle Existenz. Die Jetsunpa-Position wird von den Klöstern Sera Je und Ganden Jangtse vertreten – Geshes aus diesen Klöstern werden also üblicherweise diese Position erklären. „Wahrhaft erwiesene Existenz“ ist nach dieser Position gleichbedeutend mit „substanziell erwiesene Existenz“ – sowohl bei den Vaibashikas als auch bei der Jetsunpa-Interpretation von Sautrantika, außer dass die Sautrantikas dies nur auf funktionierende Phänomene beschränken. Denn es macht (aus Sicht der Sautrantikas) keinen Sinn, zu sagen, dass nicht-funktionierende Phänomene nicht-funktionierend sind, aber dass die Tatsache, dass sie als Wahrnehmungsobjekt dienen, doch als etwas zählt, was sie tun, sodass sie von diesem Blinkwinkel aus betrachtet doch funktionieren. Alle haben Probleme mit dieser Annahme des Vaibhashika-Systems. Laut Jetsunpa sind also für die Sautrantikas die sogenannten nicht-statischen Phänomene – das heißt, die funktionierenden Phänomene – wahrhaft existent und die statischen, nicht-funktionierenden Phänomene sind nicht wahrhaft existent, weil sie keine Funktion haben.

Die andere Interpretation der Sautrantika-Sichtweise innerhalb der Gelug-Tradition ist die Panchen-Interpretation. Diese wird in Drepung Loseling und in Ganden Shartse verteten. Die beiden Tutoren Seiner Heiligkeit – der jüngere und der ältere Tutor – kommen aus genau diesen beiden Klöstern. Seine Heiligkeit erklärt deshalb oft diese Position. Laut dieser Position bedeutet „wahrhaft erwiesene Existenz“ bei den Sautrantikas, dass etwas von seiner eigenen Seite her erwiesen ist oder von sich aus erwiesen ist. Dies gilt dann sowohl für die funktionierenden, nicht-statischen oder „unbeständigen“ Phänomene als auch für die nicht-funktionierenden, statischen oder „beständigen“ Phänomene. Beide haben (laut dieser Interpretation) wahrhaft erwiesene Existenz – das heißt, sie sind etwas, das wirklich existiert. (Die andere Interpretation von) Jetsunpa würde zustimmen, dass statische und nicht-statische Phänomene (gemäß dem Sautrantika-System) beide von ihrer eigenen Seite her erwiesen sind, aber sie nennen dies nicht „wahrhaft erwiesene Existenz“.

Wahrhaft erwiesene Existenz für Chittamatra

Als nächstes kommen wir zum Chittamatra-System und damit kommen wir zu den Mahayana-Schulen im Buddhismus. Chittamatra definiert „wahrhaft erwiesene Phänomene “ als Phänomene, deren Existenz durch auffindbare individuelle definierende Eigenschaften auf Seiten des Objekts erwiesen ist. Dies schließt sowohl funktionierende Phänomene – das heißt nicht-statische oder „unbeständige“ Phänomene – ein, als auch die Leerheit. Die Leerheit wird hier mit eingeschlossen. Die Leerheit wird allerdings in diesem System sehr anders erklärt als innerhalb der Madhyamaka-Sichtweise. Dem Chittamatra zufolge ist die Leerheit zwar ein nicht-funktionierendes, statisches Phänomen, aber trotzdem ist sie gleichzeitig wahrhaft existent, weil ihre Existenz aufgrund der Tatsache erwiesen ist, dass sie von ihrer eigenen Seite individuelle definierende Eigenschaften besitzt.

Die Existenz der Leerheit ist erwiesen durch eine individuelle definierende Eigenschaft (rang-gi mtshan-nyid-kyis grub-pa) von ihrer eigenen Seite her. Andere statische Phänomene - wie der Raum - haben dies nicht von ihrer eigenen Seite her. Das klingt wie die Definition von inhärenter Existenz? Ich wollte die Dinge nicht durch weitere Begrifflichkeiten noch komplizierter machen, also lassen wir „inhärente Existenz“ lieber beiseite. „Inhärente Existenz“ (rang-bzhin-gyis grub-pa) bedeutet wörtlich: Existenz, die aufgrund der eigenen Natur von etwas erwiesen ist – mit anderen Worten: selbst-erwiesene Existenz. Eigennatur ist etwas, das von der eigenen Seite (eines Phänomens) her existiert – durch eine individuelle definierende Eigenschaft (d.h. ein individuelles definierendes Merkmal). Aber ich erinnere mich nicht an die genauen logischen Durchdringungen und bin nicht sicher, ob jeder diese drei Begriffe gleichbedeutend verwendet wird: „erwiesen aufgrund von individuellen definierenden Eigenschaften“, „erwiesen aufgrund von Eigennatur“ und „erwiesen von seiner eigenen Seite her“. Deshalb sollten wir es nicht noch komplizierter machen. Für die Sautrantikas ist Existenz, die aufgrund von Eigennatur erwiesen ist nicht, gleichbedeutend mit wahrhaft erwiesener Existenz. Für die Prasangika sind dies Synonyme. Es ist also kompliziert.

Wahrhaft erwiesene Existenz für Madhyamaka

Dann kommen wir zu dem Madhyamaka-System, also Svatantrika und Prasangika. Dort gibt es es überhaupt nichts, das als wahrhaft erwiesen existiert. Dies ist vielmehr eine fehlerhafte Existenzweise im Madhyamaka System. Entsprechend definieren die Svatantrikas und Prasangikas natürlich diesen Begriff wahrhaft erwiesene Existenz auch anders. In beiden Systemen ist es wie folgt: wenn etwas als wahrhaft erwiesen existiert, dann ist es unabhängig von Zuschreibung erwiesen. Dies ist der gemeinsame Aspekt für beide Systeme.

Das heißt, etwas ist nicht durch die Tatsache erwiesen, dass es auf etwas zugeschrieben oder benannt ist, sondern wahre Existenz würde bedeuten, dass etwas nicht zugeschrieben ist.

Alles ist also im Zusammenhang damit erwiesen, worauf sich Bezeichnungen, Konzepte oder Worte beziehen. Einerseits gibt es eine Grundlage – beispielsweise die Aggregate (Körper, Bewusstsein, Emotionen und so weiter). Dann gibt es das Wort oder Konzept oder die Bezeichnung „Person“, und dies wird auf diese Aggregate zugeschrieben. Es gibt eine Person, aber sie ist zugeschrieben auf Grundlage der Kontinuität von Körper und Bewusstsein. Wahre Existenz – oder genauer wahrhaft erwiesene Existenz – wäre für die Madhyamikas etwas, das nicht auf diese Weise existiert: Nicht nur zugeschrieben. Und dies würde auch ein Ganzes betreffen, das auf Teile zugeschrieben ist.

Und laut Madhyamaka existiert nichts ohne Zuschreibung – nichts existiert wahrhaft. Man kann es vielleicht wie folgt sagen: Die Existenz der Dinge kann nicht wahrhaft erwiesen sein. Sie ist nur erwiesen in Zusammenhang mit Benennung. Geistiger Benennung. Geistige Benennung erzeugt die Objekte zwar nicht, aber wie belegt oder begründet oder beweist man, dass etwas existiert? Woher weiß man, dass etwas existiert. Was beweist, dass etwas existiert? Nun, es ist das, worauf ein Wort sich bezieht. Dieser letzte Punkt ist sehr wichtig und wird sehr oft missverstanden, wenn es um geistige Benennung geht. Wenn ich dich als „Person“ benenne, dann wirst du dadurch nicht als Person erzeugt. Ob ich dich als „Person“ benenne oder ob jemand anderes dich geistig als „Person“ benennt, spielt keine Rolle. Aber was ist eine Person? Eine Person ist nur das, worauf das Wort „Person“ sich bezieht, auf Grundlage der Kontinuität von Körper und Bewusstsein – das ist alles. Das begründet, was eine Person ist, aber es erzeugt die Person nicht. Die Person ist das, worauf das Wort oder Konzept sich, bezogen auf eine Grundlage, bezieht. Die Person ist weder das Wort noch ist sie die Grundlage.

Das klingt, als ob wir darüber sprechen, das alles in Bezug zu Sprache existiert. Aber dann stellt sich die Frage: Wenn ich dich als „du“ benenne, dann erzeugt dich das zwar nicht, aber gibt es ein Du? Was benenne ich?

Ja, es gibt ein konventionell existierendes Du, eine Person. Das ist ein weiteres wichtiges Thema, welches untersucht wird. Madhyamaka ist keine nihilistische Sichtweise. Sie werden oft beschuldigt, Nihilisten zu sein, aber sie sind keine Nihilisten. Es gibt tatsächlich ein konventionell existierendes Ich. Aber was begründet die Existenz dieses konventionellen Ichs? Es ist das, worauf das Wort „Ich“ verweist oder sich bezieht.

Ich will vor der Pause wenigstens noch zur Unterscheidung zwischen Svatantrika und Prasangika kommen, damit wir diesen Punkt dann erst einmal abschließen können, bevor ihr vielleicht schon wieder vergessen habt, was vorher erklärt wurde. In diesem Kontext der wahren Existenz bzw. dessen, was überhaupt nicht existiert, gibt es einen Unterschied zwischen Svatantrika und Prasangika.

Die Svatantrikas sind der Meinung: Ja, es stimmt, dass nichts einfach unabhängig von dem erwiesen sein kann, worauf sich Worte und Begriffe beziehen. Aber es gibt trotzdem auf Seiten der Benennungsgrundlage ein auffindbares individuelles definierendes Merkmal. Die Benennung zusammen mit diesem individuellen definierenden Merkmal ermöglichen dann beide gemeinsam, dass die Benennung eine korrekte Benennung ist. Es ist also nicht dieses definierende Merkmal allein, welches von seiner eigenen Seite belegt, dass etwas existiert, und auch nicht die geistige Benennung allein, die von ihrer Seite allein belegt, dass es existiert – beides ist erforderlich.

Die Prasangikas sagen im Gegensatz dazu: „Das gibt es überhaupt nicht“. (Für die Prasangikas) gibt es keine auffindbaren definierenden Eigenschaften auf der Seite des Objekts – es gibt nichts von Seiten des Objekts, das aus eigener Kraft dessen Existenz belegt oder beweist. Eine Existenz, die von der Seite des Objekts erwiesen ist (rang-gi ngos-nas grub-pa), durch die eigene Kraft (des Objekts), ist (für die Prasangikas) gleichbedeutend mit inhärenter Existenz – Existenz, die aufgrund von Eigennatur erwiesen ist.

Bei den Svatantrikas ist es so, dass dies alleine nicht ausreicht, um die Phänomene in ihrer Existenz zu begründen. Bei den unteren Schulen (außerhalb der Madhyamaka-Schule) ist es so, dass diese (individuellen definierenden Merkmale von der Seite des Objekts) sogar alleine unabhängig von geistiger Benennung als ausreichend betrachtet werden, um (die Existenz eines Phänomens) zu begründen. Das ist der wesentliche Unterschied.

Ich werde ein Beispiel geben, das dies vielleicht etwas verständlicher macht. Wir wollen die Farbe orange als Beispiel nehmen. Das Universum ist nicht von sich aus mit Farben ausgestattet. Es ist nicht so, dass Licht von sich aus als oranges Licht oder gelbes Licht oder rotes Licht und so weiter existiert. Was begründet dann, dass orange, gelb und rot existieren? Das sind die Worte „orange“, „gelb“ und „rot“.

Von der Seite des Universums her kann es keine Bedeutung eines Wortes geben, die unabhängig davon ist, dass dieses Wort existiert. Die Bedeutung eines Wortes existiert nur in Bezug zu einem Wort. Die Existenz von orange, gelb oder rot ist also nur erwiesen in Bezug dazu, worauf die Worte „orange“, „gelb“ und „rot sich beziehen, auf der Grundlage von Licht. Dann stellt sich die Frage: Was ist die Definition? Gibt es definierende Merkmale oder Eigenschaften auf der Seite des Lichts, oder nicht?

Und die Svatantrikas sagen ja, Wellenlängen von diesem Punkt bis zu jenem sind orange, Wellenlängen von jenem bis zu jenem Punkt sind rot und so weiter. Und in Kombination von dieser auffindbaren definierenden Eigenschaft, die aus eigener Kraft existiert, gemeinsam mit der Kraft einer geistigen Benennung, wie „orange“, „rot“ oder „gelb“, wird dann die Existenz von etwas begründet.

Die Prasangikas sagen aber: „Moment mal, das kann nicht stimmen.“ Auch diese definierenden Eigenschaften sind etwas, das sich jemand – mithilfe eines Konzepts – ausgedacht und dann ins Wörterbuch geschrieben hat, dass orange von dieser bis zu jener Wellenlänge reicht und rot von dieser Wellenlänge bis zu jener Wellenlänge. Auch das ist eine geistige Benennung. Es ist nicht der Fall, dass von der Seite des Objekts Abgrenzungen vorhanden sind. Es gibt keine kleine Markierung, die man auf einer Darstellung der Wellenlängen finden könnte. Es existiert ein bestimmtes Phänomen und wir haben es als „Wellenlänge“ bezeichnet. Jemand hat sich das Konzept einer Wellenlänge ausgedacht, um darauf zu verweisen. Und in diesem Zusammenhang gibt es sogar Messungen und so weiter. All dies beruht ausschließlich auf Konzepten und Worten, um seine Existenz zu belegen – es gibt nichts, das wir auf der Seite irgendeines Objekts wirklich auffinden könnte.

Wenn es heißt, dass man „nichts auffinden kann“, dann ist das damit gemeint. Man kann auf der Seite des Objekts nichts finden, das entweder aus eigener Kraft und vollständig eigenständig existiert, oder das gemeinsam mit geistiger Benennung etwas begründet oder zu dem macht, was es ist. Auch die Existenz von Worten ist nicht wahrhaft erwiesen: Jemand hat bedeutungslose Klangmuster verwendet und entschieden, dass dies ein Wort ist und hat ihm eine Bedeutung gegeben. Es gibt nichts, das inhärent in diesem Klangmuster vorhanden wäre. Ganz davon abgesehen, dass wir denken, dass es sich immer um das gleiche Wort handelt, egal, wie es ausgesprochen wird und in welcher Lautstärke und mit welcher Stimme – das ist auch ziemlich erstaunlich.

Dies sind die Themen, die sich hinter dem Wort „wahrhafte Existenz“ und dem Wort, das normalerweise als „inhärente Existenz“ übersetzt wird, verbergen, sowie hinter den Begriffen, die üblicherweise als „funktionierendes Phänomen“ oder „Ding“ und „Nichtphänomen“ oder „nicht-Ding“ übersetzt werden. Diese Worte werden einfach so innerhalb der Erklärung auftauchen und vielleicht kommt man dann überhaupt nicht damit zurecht oder es bedeutet einfach nichts. Wenn man aber diesen Hintergrund hat und ihn einbringen kann, und wenn man mit diesem Hintergrund vertraut genug ist, um ihn sehr schnell anwenden zu können, dann kann man die Tiefgründigkeit dieses Textes und der Diskussionen verstehen. Dieser Hintergrund – auch schon als Einführungsvortrag – gibt uns also eine Vorstellung, was man benötigt, um einen solchen Text auf bedeutungsvolle Weise zu studieren. Es ist ein fortgeschrittener Text.

Wenn etwas „auffindbar“ wäre, würde dies bedeuten, dass man danach sucht, was ein Phänomen wirklich ist – entweder gemäß der konventionellen Wahrheit oder gemäß der tiefsten Wahrheit, und dass man auf etwas zeigen könnte, das da auf der Seite des Lichts selbst vorhanden ist, und beispielsweise die Kraft hat, die Existenz von etwas zu belegen? Was ist eine Vibration? Eine Vibration von Licht ist etwas, das aus vielen Nanosekunden besteht. Aber während jeder Nanosekunde kann man nur auf eine davon zeigen. Und während einer anderen Nanosekunde, zeigt man auf eine andere. Man misst auch Dinge und so weiter. Aber es gibt nichts, worauf man wirklich zeigen könnte, was wirklich da ist. Und diese Energie – was ist denn Energie? Worauf zeigt man? Oder ist es ein Teilchen? – Es gibt nichts, worauf man wirklich zeigen kann. Seine Heiligkeit verwendet viele verschiedene Begriffe, die sehr ausdrucksstark sind, aber manchmal werden sie nicht wirklich übersetzt. Sie werden alle als dasselbe übersetzt: „inhärente Existenz“ oder „auffindbare Existenz“. Aber Seine Heiligkeit verwendet Begriffe, die sehr genau beschreiben, zum Beispiel: „Als wäre da etwas, das die Existenz beweist, das auf der Seite eines Objekts existiert, so als ob man mit dem Finger darauf zeigen könnte.“ Als ob es einen Ort gibt, auf den der Finger zeigt – als ob etwas von der Seite des Ortes her erwiesen ist, auf den der Finger zeigt. Solche Begrifflichkeiten findet man im Tibetischen. Es ist nicht einfach, dies auf elegante Weise zu übersetzen.

Alles ist wie eine Illusion

Die Person und der Finger – all diese Dinge existieren aber doch konventionell?

Das ist genau der Punkt. Die Nicht-Prasangika-Schulen sagen: „Moment, ihr seid Nihilisten. Die Konsequenz eurer Aussagen wäre, das nichts existiert.“ Das ist aber überhaupt nicht die Prasangika-Position. Deshalb sagt die Gelug-Tradition, dass die Prasangikas etwas annehmen und eine Position haben – nämlich dass es dennoch eine konventionelle Existenz der Dinge gibt. Es gibt Konventionen, und Worte beziehen sich auf etwas. Die anderen (tibetischen Traditionen) werfen ihnen (d.h. den Gelugpas) dann vor: „Wenn ihr sagt, sie beziehen sich auf etwas, dann meint ihr, dass es etwas gibt, das auffindbar ist.“ Und damit werfen sie ihnen vor, ins andere Extrem (des Eternalismus) zu fallen.

Das führt wiederum zu einem weiteren Thema, auf das ich eigentlich überhaupt nicht eingehen wollte und ich will dieses Thema nicht vertiefen, weil wir keine Zeit haben: Es wird gesagt, „alles ist wie eine Illusion.“ Aber was bedeutet das? Solche Dinge, die nicht existieren – zum Beispiel wahrhaft erwiesene Existenz – sind vom Standpunkt des Madhyamaka aus eine Illusion. Sie existieren überhaupt nicht. Konventionell existierende Dinge sind wie eine Illusion: Sie scheinen auf eine Weise zu existieren, auf die sie nicht tatsächlich existieren. Das ist ein wichtiger Unterschied, den man sich merken sollte. Es gibt einige Schulen, die sagen, dass alles eine Illusion ist. Einige Nicht-Gelugpa-Schulen drücken sich so aus. Dies bezieht sich auf die Erscheinung von wahrer Existenz. Wahre Existenz ist eine Illusion und existiert überhaupt nicht. Die Gelugpas sagen immer, (dass die konventionell existierenden Phänomene) wie eine Illusion (sind) – es gibt eine täuschende Erscheinung. Die konventionelle Wahrheit, die tatsächliche konventionelle Wahrheit von etwas scheint auf eine Weise zu existieren, wie sie nicht existiert – so wie das bei einer Illusion der Fall ist (die ebenfalls auf eine andere Weise existiert, als sie erscheint, aber dennoch vorhanden ist). Aber lasst uns dieses Thema nicht weiter vertiefen.

Wie gesagt gibt es keine Möglichkeit, vorher zu wissen, in welcher Tiefe Seine Heiligkeit all diese Themen diskutieren wird. Aber wenn man sich an früheren Erklärungen Seiner Heiligkeit orientiert, dann geht er bei all dem oft sehr gern in die Tiefe. Außerdem führt er auch sehr gern Dialoge mit Wissenschaftlern und genießt diese sehr- Also kann es auch sein, dass er vielleicht die Quantenphysik erwähnt, bei der es ebenfalls sehr viel um Interaktion des Geistes geht - der etwas betrachtet und etwas misst - und um die tatsächliche Existenz der Dinge. Bereitet Euch also darauf vor, dass Seine Heiligkeit auf eine sehr anspruchsvolle Weise unterrichten könnte.

Aryadeva’s acht Kapitel über die Leerheit

Jetzt wollen wir kurz den Inhalt der acht Kapitel über die Leerheit durchgehen. Wie ich schon erwähnt habe, ist es so, dass Aryadeva vor allem die Annahmen anderer buddhistischer und nicht-buddhistischer Systeme widerlegt. Ich hatte diese zahlreichen Schulen bereits erwähnt. Ich würde hier gern nur einige Punkte in jedem dieser Kapitel auswählen, um euch eine kleine Vorstellung zu geben. Wir haben wirklich keine Zeit, um irgendetwas im Detail zu erklären, aber ich bezweifle auch, dass Seine Heiligkeit das tun wird. Wenn man sich an anderen Erklärungen Seiner Heiligkeit orientiert, wird er voraussichtlich eine umfassende Erklärung der Leerheit selbst geben – ein wenig, wie ich das getan habe – aber es kann sein, dass er die einzelnen Schulen nicht durchgehen sondern bei der Prasangika-Position bleiben wird. Und dann wird er wahrscheinlich schnell durch die Verse gehen, ohne jeden einzelnen Punkt zu erklären, und vielleicht einfach hier und da etwas erklären, das er relevant findet. Aber wenn wir zumindest ein paar Beispiele für die Themen anschauen, die in Aryadeva’s Versen angesprochen werden, dann bekommt Ihr zumindest eine gewisse Vorstellung vom Themenumfang, den Aryadeva behandelt.

Kapitel 9: Aufzeigen der Methoden, um statische wirksame Phänomene zu widerlegen

Dies Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, ob es bestimmte Dinge geben kann, die statisch sind, aber dennoch etwas bewirken können, das heißt, die eine Wirkung hervorbringen können. Manche Schulen behaupten dieses, aber auf verschiedene Weise und bezüglich verschiedener Dinge, welche sie sowohl als statisch als auch als funktionierend betrachten. Und außerdem meinen sie, dass diese Phänomene wahrhaft erwiesene Existenz besitzen. Aryadeva verwendet zwar den Begriff „wahrhaft erwiesene Existenz“ nicht direkt im Text, aber den Annahmen all dieser Nicht-Prasangika-Schulen liegt die Auffassung zugrunde, dass alles wahrhaft erwiesene Existenz besitzt, so wie die Prasangikas diese definieren.

(9.1) Alle (funktionierenden Phänomene) entstehen tatsächlich als Wirkung (einer Ansammlung von Ursachen und Umständen). Daher gibt es nichts, das ein statisches (funktionierendes Phänomen sein könnte, welches ursachenlos ist und wahrhaft existiert). Außer den (zur) So(heit) Gegangenen Geschickten Weisen (Buddhas) gibt es niemanden (der gleichzeitig mit nichtkonzeptuellem Bewusstsein erkennt), wie die funktionierenden Phänomene (nicht-statisch und auch leer von wahrer Existenz sind).

Die Definition von funktionierenden Phänomenen ist, dass sie aufgrund von Ursachen und Umständen entstehen. Aryadeva erklärt, dass sie nicht statisch und wahrhaft existent sein können.

(9.2) Welche (funktionierenden Phänomene es auch gibt,) sie existieren nicht einfach überall und jederzeit, ohne (auf Ursachen und Umständen) zu beruhen. Deshalb gibt es nichts, das (als funktionierendes Phänomen) statisch (ist) – zu irgendeiner Zeit, irgendwo.

Funktionierende Phänomene sind von Ursachen und Umständen abhängig. Und sie existieren (deshalb) nicht überall, zu jeder Zeit.

(9.3) Es gibt keine funktionierenden Phänomene ohne Ursache und nichts Statisches, das eine Ursache besitzt. Was (ein statisches funktionierendes Phänomen) betrifft, das ohne Ursachen zustande kommt – es heißt, dass dies nicht einmal durch den Allwissenden (als Objekt einer gültigen Wahrnehmung) erwiesen ist.

Es kann kein funktionierendes Phänomen geben, das ohne Ursache ist. Deshalb ist es ausgeschlossen, dass es ein funktionierendes Phänomen gibt, das statisch ist.

Was Aryadeva wahrscheinlich im Sinn hat, auch wenn er es nicht direkt anspricht, ist die Vorstellung eines Schöpfergottes, wie er zum Beispiel in der nicht-buddhistischen Nyaya-Schule angenommen wird. Sie meinen, dass es einen Schöpfergott gibt, der einerseits statisch ist, also durch nichts beeinflusst, der aber andererseits die Welt erschafft und somit ein funktionierendes Phänomen ist. Es kann aber nichts existieren, das ein statisches und zugleich ein funktionierendes Phänomen ist, wie ein Schöpfer, weil alle funktionierenden Phänomene aus Ursachen und Umständen entstehen.

(9.4) (Ihr Vaisheshikas meint vielleicht, dass Kriterium, um etwas als) nicht-statisch (zu erkennen) sei, dass man sieht, dass es erzeugt wurde, während es statisch (ist), wenn (man) nicht (sehen kann, dass es) produziert wurde. (Aber) wenn man sieht, das etwas erzeugt wurde, (weiß man einfach, dass es) existiert. (Dass man nicht sieht, wie ein Atman – eine „Seele“ – erzeugt wurde), macht (dieses angebliche) statische Objekt nicht-existent.

Als nächstes widerlegt Aryadeva logische Fehler in anderen Systemen. Die Vaisheshikas meinen, wenn etwas erzeugt wurde, dann ist es unbeständig und wenn es nicht erzeugt wurde, dann ist es ein statisches Phänomen. Sie sind aus diesem Grund der Meinung, dass das „Atman“ – die Seele – nicht erzeugt wurde, also ist es ihrer Meinung nach etwas Statisches.

Aryadeva widerlegt diese Aussage, indem er drauf hinweist, dass etwas, das erzeugt wurde, zwar existiert, aber falls etwas nicht produziert wurde, besteht keine Durchdringung (das heißt, es folgt nicht zwingend), dass es als etwas Statisches existiert, denn Dinge, die nicht existieren, wurden auch nicht erzeugt.

Hier wird also eine formale Argumentation verwendet: Nur weil etwas nicht von Ursachen und Umständen erzeugt wurde bedeutet nicht, dass es zwangsläufig als etwas Statisches existiert; denn nicht existierende Dinge sind ebenfalls nicht erzeugt. Eure Argumentation, die beweisen soll, dass das Atman – also die „Seele“ – existiert, ist also fehlerhaft.

Hier sollte man bedenken, dass die allgemeine indische Logik nicht genau den gleichen Regeln und der gleichen Struktur folgt, wie die Logik von Aristoteles. Auch das ist ein tiefgreifendes und umfangreiches Studiengebiet, für das wir jetzt keine Zeit haben.

(9.5) Raum und so weiter werden nur von gewöhnlichen Leuten (wie den Vaibhashikas, welche die Texte des Buddha missverstehen) als statisch (und substanziell existierend) verstanden, (weil sie angeblich die Funktion erfüllen, als Objekt für ihre Wahrnehmungen zu dienen). Wer weise ist, betrachtet solche Dinge nicht als Objekte (von gültiger Wahrnehmung) – nicht einmal auf weltlicher (konventioneller) Ebene.

Als nächstes spricht Aryadeva über den statischen Raum. Und er erklärt, das dieser nicht mit der Begründung als substanziell betrachtet werden kann, dass er die Funktion erfüllt, als Objekt der Wahrnehmung des Raumes zu dienen. Dies ist eine Position der Vaibhashikas aber Aryadeva weist darauf hin, dass statische Phänomene überhaupt nichts bewirken können. Die Behauptung, dass etwas als Objekt einer Wahrnehmung dient und dass es dadurch bewiesen sei, dass es wahrhaft existiert, weil es etwas bewirkt, ist fehlerhaft.

(9.6) (Der Raum in den verschiedenen) Richtungen, wie (der östlichen) Richtung, verweilt nirgendwo. Dann ist es eindeutig, dass (der Raum in den) Richtungen tatsächlich Richtungen und andere (Unterteilungen, zum Beispiel) Teile besitzt. Deshalb kann er kein statisches funktionierendes Phänomen sein, wie die Vaisheshikas ihn definieren (– als etwas, das gleichzeitig all-durchdringend und teilelos ist.)

Der statische Raum kann auch nicht all-durchdringend und teilelos sein, wie die Vaisheshikas das behaupten. Den Vaisheshikas zufolge ist der Raum all-durchdringend – das heißt, er ist überall vorhanden – und statisch und ihrer Meinung nach hat er keine Teile. Das ist unlogisch, weil man Raum immer in verschiedene Richtungen unterteilen kann, beispielsweise in die Himmelsrichtungen Osten, Westen, Süden und Norden.

(9.7) Und jegliche (Zeit) die existiert und es ermöglicht, dass die Beobachtung eines funktionierenden Phänomens (zum entsprechenden Zeitpunkt) entweder auftritt oder verhindert (wird), muss unter dem Einfluss anderer (Faktoren) stehen (um als Ursache wirksam zu sein). Daher wird sie selbst zur Wirkung (und kann nicht statisch sein, wie die Vaidantikas meinen).

Das nächste Thema ist die Zeit. Es ist auch unlogisch, dass die Zeit statisch ist und es gleichzeitig ermöglicht, dass funktionierende Phänomene zu einem bestimmten Zeitpunkt entweder erscheinen oder nicht erscheinen, so wie Vedanta dies behauptet. Das heiß, es gibt einen bestimmten Zeitpunkt, wie den Frühling, und dieser ermöglicht es, dass Blumen erscheinen. Oder es ist Winter, und dieser macht es nicht möglich, dass Blumen erscheinen.

Auch das ist widersprüchlich, weil man wieder behaupten würde, dass etwas existiert – in diesem Fall die Zeit – welches einerseits statisch ist und andererseits eine Funktion ausführt.

Sind Zeit und die Jahreszeiten nicht verschiedene Dinge? Eine Jahreszeit ist eine bestimmte Zeit. So wie 12:00 Uhr – Mittagszeit, das erlaubt es uns, etwas zu essen. Oder es ist 10:00 Uhr – es ist nicht Zeit, etwas zu essen. Wir sprechen davon, dass ein bestimmter Zeitpunkt erlaubt oder nicht erlaubt, das etwas geschieht.

Wie gesagt haben wir nicht die Gelegenheit, jedes einzelne dieser Argumente im Detail zu diskutieren. Aber ihr merkt wahrscheinlich – man könnte mit jedem einzelnen dieser Themen schon eine ganze Unterrichtsstunde verbringen, wenn nicht noch mehr.

(9.12) (Die Vaisheshikas behaupten, dass es allerkleinste Teilchen gibt und behaupten, dass diese statisch und teilelos sind. Wie sollten diese ein Objekt bilden?) Jedes (dieser Teilchen) würde bestimmte Seiten besitzen, welche die Ursache sind (dass sich ein Objekt bildet, wenn sie aufeinander treffen, und andere Seiten, bei denen dies nicht der Fall wäre) – (deshalb) würde (es) verschiedene (Teile) besitzen. Wie sollte es logisch sein, das etwas, das verschiedene (Teile) besitzt, statisch wäre (so wie ihr es definiert?)

Wenn man allerkleinste Teilchen betrachtet, so können diese nicht gleichzeitig statisch sein aber trotzdem Objekte bilden, so wie die Vaisheshikas dies behaupten. Der Grund dafür ist, dass das Zusammentreffen von solchen Teilchen als Ursache für die Erzeugung von materiellen Objekten dient und deshalb sind solche Teilchen funktionierende Phänomene.

Die Vaisheshikas akzeptieren selbst, dass Objekte aus diesen allerkleinsten Teilchen bestehen. Aber wenn sie statisch wären, wie sollte ihr Zusammentreffen dann die Ursache für ein materielles Objekt sein?

Wäre dies auch für Sautrantikas der Fall? (Dass) die allerkleinsten Teilchen (als statisch betrachtet werden)?

Ist dies die Sautrantika-Position? Nein, denn im Vaibhashika- und Sautrantika-System sind die allerkleinsten Teilchen nicht-statisch. Sie werden dort nicht als etwas Statisches betrachtet.

Aber ist die Vaisheshika-Position klar? Sie stellen sich das so vor, dass es eine bestimmte Anzahl von Teilchen im Universum gibt. Diese Teilchenanzahl ist festgelegt. Diese Teilchen kommen zusammen, um bestimmte Objekte zu bilden und sich wieder zu trennen, um dann andere Objekte zu bilden und sich wieder zu trennen. Aber es gibt nur eine bestimmte Anzahl von Teilchen – diese ist statisch und sie verändern sich auch nicht. Dies ist ihre Position. Aber das ist widersprüchlich, denn wenn sie zusammen kommen und irgendeine Form bekommen und ein Objekt bilden, dann tun sie etwas. Also kann man nicht behaupten, dass sie nicht-funktionierend und statisch sind.

(9.13) (Die Objekte, welche) das Ergebnis des (Zusammentreffens dieser statischen Teilchen sind, die) als Ursache rund sind, haben nicht (dieselbe runde Form oder dieselbe Größe). Deshalb ist es (auch) unlogisch, dass (solche) Teilchen sich mit ihrer gesamten Natur (mit einander) verbinden (indem sie gleichzeitig auf allen Seiten mit einander verschmelzen, um ein Objekt zu bilden).
(9.14) (Ihr meint vielleicht, dass sie nicht tatsächlich auf allen Seiten verschmelzen, weil) ihr nicht akzeptiert, dass der Ort, der von einem Teilchen eingenommen wird, auch von einem anderen (eingenommen) werden kann. Aber damit (wärt ihr gezwungen, zu akzeptieren, dass ein grobes, sichtbares Objekt gebildet wird, wenn sie sich so treffen, dass zumindest einige Seiten nicht auf einander treffen, denn) es ist nicht akzeptabel, dass (jedes) der ursächlichen (Teilchen) und der resultierenden (Objekte, die von ihnen gebildet werden,) beide die gleiche Größe besitzen. (Aber falls einige Seiten auf einander treffen und andere nicht, dann können diese Teilchen nicht teilelos sein).

Aryadeva erklärt weiterhin, dass diese Teilchen auch nicht teilelos sein können, wie das von den Vaisheshikas behauptet wird. Wenn es teilelose allerkleinste Teilchen gäbe, dann wäre es so, dass sie sich nicht einfach nur auf einer Seite treffen oder berühren könnten. Um aufeinander zu treffen, müssen sie an einer Seite auf einander treffen.

Shantideva wiederholt dieses letzte Argument bei der Widerlegung der Vaibhashika-Position von allerkleinsten Teilchen, die teilelos sind aber eine Funktion besitzen. Dasselbe Argument kann also verwendet werden, um entweder statische nicht-funktionierende teilelose Teilchen oder nicht-statische funktionierende teilelose Teilchen zu widerlegen. Wenn diese Teilchen ein Objekt bilden, müssen sie an einer Seite auf einander treffen. Shantideva verwendet diesbezüglich sehr viele Argumente und Aryadeva tut dies auch. Auch bezogen auf die Wissenschaft ist dies ein wichtiger Punkt: kann man die allerkleinsten Teilchen oder die allerkleinsten Bestandteile der Materie, der Energie und so weiter finden? Der Buddhismus meint, das dies nicht der Fall ist – egal wie klein etwas ist, es lässt sich immer noch in weitere Teile unterteilen.

(9.22) Würde (das Atman oder „Selbst“ die Natur von) Bewusstsein (besitzen, so wie die Samkhyas es behaupten,) welchen Sinn hätte es dann (diesen Zustand zu erreichen, denn ihnen zufolge gäbe es) zum Zeitpunkt der Befreiung, wenn man von Verlangen befreit ist, (keine Objekte, die es wahrnehmen könnte). Und falls es existieren würde aber nicht bewusst wäre, dann wäre es eindeutig nicht der Fall (in ihrem System, weil sie meinen, dass es ein „Selbst“ gibt, welches die Natur von Bewusstsein besitzt aber statisch und beständig ist).

Aryadeva widerlegt als nächstes die Samkhya- und Nyaya-Position zum befreiten Zustand des „Selbst“ – eines befreiten „Selbst“, das ihnen zufolge wahrhaft existiert und statisch ist. Wir sprechen hier also weniger über ein „Selbst“, das etwas tut, sondern nur über das Konzept im Allgemeinen. Die Samkhyas meinen, dass dieses Selbst „bewusst“ ist – also sich Dingen bewusst ist, während es laut Nyaya normalerweise nicht bewusst ist.

Der Samkhya-Position zufolge ist das „Selbst“ nachdem man die Befreiung erreicht hat, vollständig getrennt oder isoliert vom gesamten Universum aber es besitzt weiterhin Bewusstheit. Und Aryadeva meint, dass dies unsinnig ist. Man kann kein Bewusstsein haben, ohne dass es etwas gibt, dessen es sich bewusst ist. Die Annahme einer befreiten, beständigen Seele, die Bewusstsein ist, ohne dass es etwas gibt, dessen sie sich bewusst ist, ist widersprüchlich.

(9.23) Falls das befreite „Selbst“ (wahrhaft) existieren würde (und selbst wenn) es (in diesem Zustand) als (etwas) existieren würde (das nur) das Potenzial für Bewusstsein besitzt, dann (wäre dies trotzdem unsinnig, weil es nicht wirklich bewusst wäre und deshalb euren Definitionen widersprechen würde). Und würde ein (wahrhaft) existierendes „Selbst“ nicht (mit Bewusstsein) existieren, (wenn es befreit ist) dann wäre es nicht (vernünftig), dass man jemals überlegt hätte (von) wiederholter samsarischer Existenz (befreit zu werden, denn wäre es wahrhaft existent und statisch, so könnte es niemals irgendwie bewusst gewesen sein).

Als nächstes folgt die Nyaya-Position, derzufolge die „Seele“ oder das „Selbst“ überhaupt kein Bewusstsein besitzt – weder im Zustand der Befreiung noch davor. Das Selbst ist dort eher wie eine kleine Sache, die zum Beispiel in den Kopf einer Person eintritt und dann Dinge aktiviert und diese verwendet, um irgendetwas wahrnehmen zu können.

Aryadeva schreibt: Wenn man von einer „Seele“ spricht, die selbst keine Bewusstheit besitzt, wie sollte sie dann jemals darüber nachgedacht haben, auf die Befreiung hinzuarbeiten? Sie könnte überhaupt nichts tun und könnte auch keine derartigen Gedanken haben, weil behauptet wird, dass die Seele ganz für sich existiert – unabhängig von einem Bewusstsein oder Gehirn.

Man muss also verstehen, worum es hier geht. Es geht um die Annahme eines „Selbst“, das statisch ist aber trotzdem etwas tut. Den Samkhyas zufolge hat das statische „Selbst“ immer noch Bewusstsein, wenn es befreit ist. Aber wenn es Bewusstsein gibt, muss dieses Bewusstsein etwas tun – es muss etwas erkennen. Und wenn es nichts erkennt, dann ist diese Behauptung unsinnig.

Und bezüglich der Nyaya-Position sagt Aryadeva, dass es unsinnig ist, dass die „Seele“ oder das „Atman“ überhaupt nichts erkennt, und dass sie befreit werden kann und nichts erkennt. Wie könnt ihr also sagen, dass die „Seele“ erkennt oder sich bewusst ist, dass ich auf die Befreiung hinarbeiten möchte? Wenn man sagt, dass die „Seele“ von sich aus überhaupt nichts erkennt und dass diese dann mit einem Bewusstsein verbunden wird, welches erkennt und Befreiung erreichen möchte, dann ist dies lächerlich. Denn dann müsste man sagen, dass das Bewusstsein und nicht die „Seele“ die Befreiung erreichen möchte. Es kann also keine „Seele“ geben, die irgendetwas tut – die beispielsweise die Befreiung erreichen möchte – aber trotzdem statisch ist.

Das sind also die wesentlichen Punkte im neunten Kapitel.3

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